Die besten Ärzte - Sammelband 2 - Stefan Frank - E-Book

Die besten Ärzte - Sammelband 2 E-Book

Stefan Frank

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Beschreibung

Willkommen zur privaten Sprechstunde in Sachen Liebe!

Sie sind ständig in Bereitschaft, um Leben zu retten. Das macht sie für ihre Patienten zu Helden.
Im Sammelband "Die besten Ärzte" erleben Sie hautnah die aufregende Welt in Weiß zwischen Krankenhausalltag und romantischen Liebesabenteuern. Da ist Herzklopfen garantiert!

Der Sammelband "Die besten Ärzte" ist ein perfektes Angebot für alle, die Geschichten um Ärzte und Ärztinnen, Schwestern und Patienten lieben. Dr. Stefan Frank, Chefarzt Dr. Holl, Notärztin Andrea Bergen - hier bekommen Sie alle! Und das zum günstigen Angebotspreis!

Dieser Sammelband enthält die folgenden Romane:

Chefarzt Dr. Holl 1766: Heute denk ich nicht ans Sterben
Notärztin Andrea Bergen 1245: Dr. Bergen, kommst du uns besuchen?
Dr. Stefan Frank 2199: Emilys großer Tag
Dr. Karsten Fabian 142: Und euch soll ich verlassen?
Der Notarzt 248: Die Zukunft der Sauerbruch-Klinik?

Der Inhalt dieses Sammelbands entspricht ca. 320 Taschenbuchseiten.
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Seitenzahl: 578

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Impressum

BASTEI ENTERTAINMENT Vollständige eBook-Ausgaben der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgaben Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG Für die Originalausgaben: Copyright © 2015 by Bastei Lübbe AG, Köln Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller Verantwortlich für den Inhalt Für diese Ausgabe: Copyright © 2019 by Bastei Lübbe AG, Köln Covermotiv von © iStockphoto: wavebreakmedia ISBN 978-3-7325-8235-8

Katrin Kastell, Hannah Sommer, Stefan Frank, Ina Ritter, Karin Graf

Die besten Ärzte 2 - Sammelband

Inhalt

Katrin KastellDr. Holl - Folge 1766Agnes Augusti könnte die ganze Welt umarmen. Die erfolgreiche Eventplanerin steht kurz vor ihrer Hochzeit mit dem Stararchitekten Leo Steinmetz, den sie über alles liebt. Das Paar ist überglücklich und träumt von einem großen Haus, in dem eines Tages das Lachen vieler Kinder erschallt. Es könnte alles nicht schöner sein, wenn nur diese furchtbaren Migräneanfälle nicht wären, unter denen die junge Frau seit Jahren leidet. Doch noch mehr beunruhigt Agnes die Tatsache, dass sie noch nicht schwanger ist, obwohl sie und ihr Verlobter schon seit Monaten nicht mehr verhüten. Als sie zu einer gynäkologischen Untersuchung zu Dr. Holl in die Berling-Klinik geht, gesteht Agnes ihm zögernd, dass sich die Migräneanfälle verschlimmert haben. Ehe sie sich versieht, macht der Neurologe Dr. Hildner eine Magnetresonanztomografie, und dann die niederschmetternde Diagnose: ein Tumor!Jetzt lesen
Hannah SommerNotärztin Andrea Bergen - Folge 1245Völlig außer Atem erreichen Nora und Jan die alte Scheune, als auch schon prasselnder Regen niedergeht. Blitze zucken über den eben noch blauen Himmel, und Donner rollen grollend über das Land. Das Picknick am Rhein ist sprichwörtlich ins Wasser gefallen! Doch im Halbdunkel der verlassenen Scheune findet sich die hübsche Nora plötzlich in Jans Armen wieder, und während draußen das Gewitter tobt, erleben die beiden leidenschaftliche Stunden des Glücks. Beide hoffen, einen Weg zu finden, um für immer zusammenbleiben zu können - Doch als ihre kleine Tochter Trixi auf Jans Ferienhof einen tragischen Unfall erleidet, erhebt Nora schwere Vorwürfe gegen Jan! Ein böses Wort ergibt das andere, und zornig und zutiefst verletzt verlässt Nora mit ihrem Kind den Hof, um nach Hamburg zurückzukehren. Aber die Sehnsucht nach Jan soll sie von nun an nie mehr loslassen -Jetzt lesen
Stefan FrankDr. Stefan Frank - Folge 2199Eigentlich könnte Emilys Leben sehr schön sein: Sie ist achtzehn Jahre jung, gesund, attraktiv und wird mit ein bisschen Glück bald ihr Medizinstudium beginnen können. Doch leider schwebt über dem Haus in Grünwald, in dem sie mit ihrer Mutter Bettina lebt, eine große dunkle Wolke. Seit Jahren schon wird ihre Mutter vom Hass auf ihren Nachbarn Eric Schönfeld zerfressen. Sobald Bettina ihn sieht, wird sie völlig hysterisch, schreit und tobt. Auch Emily soll sich von den Schönfelds fernhalten, doch dazu ist sie nicht bereit, denn seit einigen Monaten hegt sie für Erics Sohn Adrian mehr als nur freundschaftliche Gefühle. Wenn ihre Mutter doch nur den alten Streit vergessen könnte, aber davon ist Bettina weit entfernt. Doch dann geschieht eines Tages ein tragisches Unglück, und auf einmal ist die verbitterte Mutter gezwungen, ihr Verhalten gründlich zu überdenken ...Jetzt lesen
Ina RitterDr. Karsten Fabian - Folge 142Grete Roloff ist die unbeliebteste Frau in dem idyllischen Heidedorf Altenhagen. Dass sie ganz schön hinterhältig sein kann und ständig Gerüchte verbreitet, ist allgemein bekannt. Aber was sie sich jetzt geleistet hat, geht einfach zu weit!, findet Florentine Fabian, die sympathische Frau des Landarztes. Die Klatschbase hat beim Jugendamt gemeldet, Charlotte Eisbrenner würde ihre Zwillinge vernachlässigen! Die schlimmsten Lügen hat sie über die alleinerziehende Mutter erzählt. Charlotte ist völlig verzweifelt, und als ein Mann vom Jugendamt kommt, liegt sie zu allem Überfluss im Bett, weil sie krank ist. Die Wohnung ist unaufgeräumt, und der Beamte glaubt auch noch, die junge Frau sei betrunken ...Jetzt lesen
Karin GrafDer Notarzt - Folge 248"Oh nein, bitte nicht!", stöhnt Dr. Peter Kersten beim Anblick der Bewerbungsmappen, die ihm Chefarzt Prof. Weidner gerade bringt. Es ist wieder so weit - wie in jedem Jahr werden sieben Medizinstudenten ihr Praktikum in der Sauerbruch-Klinik beginnen. Sieben junge Menschen voller Elan, Optimismus - und leider auch voller Flausen im Kopf. Natürlich versteht der erfahrene Notarzt den einen oder anderen Scherz, war er doch selbst in seiner Ausbildung kein Kind von Traurigkeit. Aber Arroganz hat in der Notaufnahme, wo es um Menschenleben geht, keinen Platz, wie man Serafin Adler, dem Sohn eines berühmten Schönheitschirurgen, schnell klarmacht. Ganz anders arbeiten Julian Brandtner und Lilly Rhomberg, deren Einsatzwille Dr. Kersten begeistert. Als ein schrecklicher Unfall das Team der Sauerbruch-Klinik an seine Grenzen bringt, zeigt sich, aus wem einmal ein guter Mediziner werden wird ...Jetzt lesen

Inhalt

Cover

Impressum

Heute denk ich nicht ans Sterben

Vorschau

Heute denk ich nicht ans Sterben

Eine bewegende Hochzeit in der Berling-Klinik

Von Katrin Kastell

Agnes Augusti könnte die ganze Welt umarmen. Die erfolgreiche Eventplanerin steht kurz vor ihrer Hochzeit mit dem Stararchitekten Leo Steinmetz, den sie über alles liebt. Das Paar ist überglücklich und träumt von einem großen Haus, in dem eines Tages das Lachen vieler Kinder erschallt. Es könnte alles nicht schöner sein, wenn nur diese furchtbaren Migräneanfälle nicht wären, unter denen die junge Frau seit Jahren leidet. Doch noch mehr beunruhigt Agnes die Tatsache, dass sie noch nicht schwanger ist, obwohl sie und ihr Verlobter schon seit Monaten nicht mehr verhüten.

Als sie zu einer gynäkologischen Untersuchung zu Dr. Holl in die Berling-Klinik geht, gesteht Agnes ihm zögernd, dass sich die Migräneanfälle verschlimmert haben. Ehe sie sich versieht, macht der Neurologe Dr. Hildner eine Magnetresonanztomografie, und dann die niederschmetternde Diagnose: ein Tumor!

„Die Wohnung ist ein Traum! Was hältst du davon, wenn wir die Galerie zum Reich der Kinder erklären? Dort bringen wir fast schon die sieben Racker unter, die ich mir wünsche. Sollten es dann doch acht werden, finden wir auch noch eine Lösung“, erklärte Agnes Augusti mit strahlenden Augen.

Die junge Frau sah sich in der großzügigen Fünfzimmerwohnung in einem Nobelviertel von München um. Die Zimmer lagen auf zwei Stockwerken verteilt, und neben einem schönen Balkon verfügte die Wohnung auch noch über eine Terrasse mit Garten. Agnes glaubte schon von überall her das fröhliche Lachen ihrer Kinder zu vernehmen.

Der ältere Makler, der Agnes und ihrem Verlobten die Eigentumswohnung zeigte, schmunzelte zufrieden. Er übte seinen Beruf schon lange aus und hörte heraus, wenn Begeisterung echt war und zum Kauf führen würde. Die Wohnung war so gut wie verkauft. Bei Leo Steinmetz zweifelte er nicht daran, dass die Finanzierung des horrenden Preises problemlos verlaufen würde.

Mit knapp fünfunddreißig Jahren war Leo Steinmetz bereits einer der Stararchitekten Münchens. Der Makler wunderte sich, dass der Architekt eine Wohnung kaufte, anstatt sein Haus ganz nach eigenen Vorstellungen für seine Familie zu entwerfen und es selbst zu bauen. Sicher wollte er sich dafür nur noch etwas Zeit lassen.

Leo Steinmetz legte von hinten die Arme um Agnes und zog sie lachend an sich.

„Schön, dass dir die Wohnung auch so gut gefällt wie mir, du Mutter der Nation! Ich glaube, das ist der ideale Ort für uns in den nächsten Jahren. Hier können wir unser Familienprojekt starten und schauen, wo es uns hinführt.“

Agnes drehte sich in seinen Armen zu ihm um und küsste ihn.

„Es führt uns in den siebten Himmel! Wohin denn sonst? Ich liebe dich.“

„Und ich dich erst!“, antwortete er zärtlich. „Aber jetzt müssen wir umgehend und sofort so tun, als ob wir diese Bruchbude nur zur Not haben wollten“, sagte er zum Makler gewandt und blinzelte ihm verschmitzt zu.

Der Makler lachte. „Dafür ist es bedauerlicherweise zu spät, aber weil Sie es sind, lässt sich trotzdem noch etwas mit dem Preis machen. Lassen Sie uns in Ruhe darüber reden, wenn Sie in mein Büro kommen! Einen Spielraum von etwa zehntausend Euro habe ich noch. Weiter wird der Eigentümer allerdings kaum mitgehen.“

„Wir finden eine Einigung“, meinte Leo zuversichtlich. „Unser Interesse ist ernst. Wir haben uns in den letzten Monaten einiges angesehen, und nichts hat uns so richtig gefallen. Die Wohnung ist genau richtig für uns. Könnten Sie sie für uns reservieren?“

Agnes löste sich von ihm und nutzte die Zeit, in der die Männer das weitere Vorgehen besprachen, um sich mit ihrem zukünftigen Zuhause vertraut zu machen. Sie strich noch einmal traumverloren durch die hellen, hohen Räume und freute sich an dem Ausblick in den Garten. Ihr Leben schien wie ein offenes Buch vor ihr zu liegen. Sie war glücklich. Es war genau das Leben, das sie sich wünschte.

Fast war es zu schön, um wahr zu sein. Beruflich und privat war alles wie ein Traum. Sie hatte den Mann gefunden, zu dem sie gehörte und dessen Nähe sie froh machte. Leo und sie hatten dieselben Vorstellungen und gemeinsam beschlossen, dass es an der Zeit war, ihren Kinderwunsch in die Tat umzusetzen. Seit einigen Wochen hatte sie die Pille abgesetzt.

Noch hatte Leo sie zwar nicht gebeten, seine Frau zu werden, aber das würde noch kommen. Genau wie sie war er in der Hinsicht ein Traditionalist. Ihre Kinder sollten in einer Familie aufwachsen, und der Trauschein gehörte da für sie beide dazu. Agnes war sicher, dass sie als verheiratete Frau Einzug in die Wohnung halten würde, und sie freute sich darauf.

„Ich wünschte, du wärst da, Mama, und könntest sehen, wie glücklich ich bin!“, sprach sie innerlich mit ihrer toten Mutter, wie sie es in wirklich bedeutsamen Momenten immer tat.

Marianne Augusti war nach längerer Krankheitszeit gestorben, als ihre Tochter gerade fünfzehn geworden war. Agnes hatte über den Tod hinaus eine tiefe, innige Verbindung zu ihr und vermisste sie auch nach elf Jahren noch schrecklich.

„Ach nein!“, schimpfte die junge Frau lautlos, als das Schwindelgefühl kam, das in jüngster Zeit zu einem nervenden Begleiter für sie geworden war. Sie lehnte sich im Badezimmer an die Wand und atmete rhythmisch. Es half etwas. Der stechende, bohrende Schmerz in ihrem Kopf ließ sich dagegen nicht besänftigen, der prompt einsetzte, wie er es meist parallel tat.

„Du bist ein wandelnder Totalschaden!“, hielt sie sich genervt vor. Wie sie diese elende Migräne hasste, unter der sie seit ihrer Pubertät litt. Sollte sie nicht doch einmal wieder zu einem Arzt gehen und sich untersuchen lassen? Die Attacken kamen deutlich häufiger, und irgendwie fühlten sie sich auch anders an als früher.

Der Schmerz hatte sich gewandelt. Unerträglich war er schon immer gewesen, aber offensichtlich ließ sich alles steigern. Verstohlen schob sie ihre Notfalltablette zwischen die Lippen, die sie immer in der Handtasche bei sich trug. Aus der Handfläche trank sie Wasser nach, um den abscheulichen Geschmack hinunterzuspülen.

Leo sollte unter keinen Umständen mitbekommen, dass sie schon wieder Beschwerden hatte. In letzter Zeit hatte sie ihm zu oft den Spaß verdorben und sich bei abgedunkeltem Zimmer im Bett verkrochen, anstatt etwas Schönes mit ihm zu unternehmen.

Nein, das war ein besonderer Tag, und an diesem Tag wollte sie mit ihm feiern! Die Kopfschmerzen konnten ihr gestohlen bleiben!

„Lass uns zur Feier des Tages bei unserem Lieblingsitaliener zu Mittag essen!“, schlug er denn auch ausgelassen vor, als sie Arm in Arm das Haus verließen und zu seinem Wagen schlenderten.

Agnes stimmte sofort zu. Ihr war leicht übel, und das starke Schmerzmittel machte sie benommen und schob einen durchsichtigen, aber dennoch störenden Schleier zwischen sie und die Welt. Die Kopfschmerzen hatten noch nicht nachgelassen. Das war kein gutes Zeichen. Es würde wohl eine mehrtägige Attacke werden.

Normalerweise achtete sie auf solche Signale, weil sie aus Erfahrung wusste, dass die Symptome nicht besser wurden, wenn sie sich keine Ruhe gönnte. An diesem Tag pfiff sie auf jede Vernunft. Sie war zu glücklich, um auf ihren Körper Rücksicht zu nehmen.

„Auf das Glück und die Liebe und dass sie uns immer die Treue halten mögen!“ Leo hob sein Glas, um mit Agnes anzustoßen, als der Kellner ihre Getränke gebracht hatte.

„Warum sagst du so etwas? Zweifelst du an uns?“ Agnes ließ die Hand sinken, mit der auch sie nach ihrem Glas hatte greifen wollen. Ihr Glücksgefühl von eben war schlagartig erloschen und wich einem Zorn, den sie sich nicht erklären konnte. Sie hätte Leo an den Schultern packen und schütteln können. Es kostete sie Beherrschung, es nicht zu tun.

„Schatz, so habe ich es doch nicht gemeint!“, beteuerte er und versuchte, sein Befremden vor ihr zu verbergen. Agnes war nie aufbrausend und empfindlich gewesen. Gerade ihr Humor und ihre spöttische Ironie hatten ihn immer zu ihr hingezogen. Seit ein paar Wochen blitzte davon nur noch selten etwas durch, dafür schlugen ihre Stimmungen abrupt um.

Konnte es sein, dass sie schon schwanger war? Wirkte sich das Absetzen der Pille bei ihr vielleicht so aus? Er hätte sie das gerne gefragt, aber er wagte es nicht. Leo spielte mit der kleinen Schachtel des Juweliers in seiner Hosentasche. Seit Tagen trug er sie nun schon mit sich herum.

Es sollte ein besonderer, ein perfekter Moment sein, an dem er Agnes seinen Antrag machte. Was war, wenn ihre Stimmungsumbrüche nicht an Hormonen lagen, sondern daran, dass sie auf genau diesen Antrag wartete? Er war überfällig, soviel stand fest. War sie deshalb so gereizt?

Die Erklärung gefiel ihm am besten. Wenn sie es kaum erwarten konnte, dass er sie fragte, dann musste er sich keine Gedanken wegen der Antwort machen. Er liebte diese Frau über alles. Sie hatten dieselben Lebensvorstellungen, Träume und Pläne. Sie war die eine.

Bis er dazu kommen würde, das Haus zu bauen, das in seinem Arbeitszimmer schon als Modell bereitstand, hatten sie mit der Wohnung den idealen Übergang gefunden. Es gab keinen Grund mehr, länger abzuwarten. Er wollte sein Leben mit Agnes verbringen.

„Agnes, ich liebe dich, und ich weiß, dass diese Liebe mit den Jahren nur wachsen und reifen wird. Du bist die Frau meines Lebens, und mit dir möchte ich alt werden. Ich glaube an uns“, sagte er eindringlich und sah ihr dabei tief in die Augen.

Agnes atmete tief durch. Schmerz und Wut ebbten ab, und das Glück strömte in sie zurück. Was war nur los mit ihr? Wie hatte sie ihn wegen nichts derart angreifen können? Sie war entsetzt über ihr Verhalten.

„Verzeih! Ich …“, setzte sie zu einer Entschuldigung an, aber er schüttelte mit einem warmen Lächeln den Kopf und ließ sie nicht weitersprechen.

„Nicht! Es gibt nichts, wofür du dich entschuldigen müsstest.“ Zärtlich nahm er ihre Hand und küsste sie. „Agnes, du machst mich glücklich, und es fehlt nur noch etwas, um mein Glück vollkommen zu machen. Agnes Augusti, willst du meine Frau werden?“

***

Agnes war schon immer ein Organisationstalent gewesen und hatte aus dieser Gabe sogar ihren Beruf gemacht. Sie war Eventplanerin und organisierte für ein renommiertes Eventplanungsunternehmen mit großem Erfolg internationale Messen, Konferenzen, Konzerte und andere Großereignisse.

Es war eine anstrengende und anspruchsvolle Tätigkeit, die sie mit Herzblut ausübte. Ihr Erfolg beruhte auf ihrer Liebe zum Detail. Es gab nichts, was sie nicht bedachte und im Sinne ihrer Kunden optimal gestaltete. Mit derselben Präzision und Freude stürzte sie sich nun in ihrer Freizeit auf den Umzug und die Planung ihrer eigenen Hochzeit.

Leo und sie hatten den achten August als Datum für die standesamtliche Trauung gewählt, und am Samstag darauf sollten die kirchliche Feier und das große Fest im Kreis von Familie und Freunden folgen. Bis dahin waren es nur noch sechs Monate. Die Zeit war nicht üppig bemessen. Besonders da zuvor noch der Umzug in die neue Wohnung stattfinden sollte.

In der Wohnung waren einige kleinere Umbauten erforderlich gewesen, und Agnes und Leo hatten sie nach ihrem Geschmack streichen und tapezieren lassen. Nun stand der Umzug unmittelbar vor der Tür. Die Hauptlast sollte ein Umzugsunternehmen tragen, aber das Packen und Sortieren blieb doch hauptsächlich an Agnes hängen.

Sie ächzte unter der enormen Last und schlief so gut wie nicht mehr, aber sie beklagte sich nicht. Es war schließlich ihr Leben, das da unter ihren Händen Gestalt annahm. Schlaf wurde allgemein überbewertet.

„Hätte ich das gewusst, wäre ich mit dir auf eine einsame Südseeinsel geflohen und hätte dich dort klammheimlich geehelicht!“, stöhnte Leo, als sie an einem Sonntagnachmittag endlich die Gästeliste für die Hochzeit fertig hatten, sodass Agnes die Einladungen verschicken konnte.

„Du hast das Schlimmste schon überstanden, Leo“, tröstete sie ihn und schmunzelte. „Um den Rest kümmere ich mich allein. Wir haben den Tag, den Ort, die Gäste und ein paar grobe Richtlinien, die uns beiden wichtig sind. Damit kann ich arbeiten, ohne dich weiterhin mit hineinziehen zu müssen. Lass dich einfach überraschen und genieße die Show! Ich bin Profi.“

„Hey, die Show ist unsere Hochzeit! Fair ist das nicht, wenn ich dich schuften lasse, ohne dich zu unterstützen – Profi hin oder her“, widersprach er halbherzig.

„Wunderbar! Das wollte ich hören! Wir gehen das zusammen an, wie ein gutes Paar sich den ernsten Herausforderungen des Lebens immer Hand in Hand stellen sollte und Rücken an Rücken. Jawohl! So ist das! Ich bringe morgen gleich einmal die Stoffproben für die Stuhlbezüge mit, und die Tischdeckenfrage müssen wir unbedingt klären. Dann gibt es da noch …“ Sie verkniff sich mühsam das Lachen, als sie seine entsetzte Miene bemerkte.

„Da will ich dir gar nicht reinreden! Wirklich nicht! Ich habe bei solchen Dingen keinen besonderen Geschmack“, ruderte er eifrig zurück, ohne gleich zu bemerken, dass sie sich über ihn lustig gemacht hatte. „Warum müssen Stühle eigentlich überhaupt überzogen werden? Ich meine, wenn das sein muss, dann muss das sein, aber …“

Lachend beugte sich Agnes zu ihrem Verlobten hinüber und küsste ihn auf die Nasenspitze. „Einatmen! Ausatmen! Gut gemacht, Schatz! Alles ist gut!“

„Ganovin!“, schimpfte er, atmete aber in der Tat sichtlich auf. „Danke! Das ist einfach nicht meine Welt. Wirklich nicht.“

„Das weiß ich doch, und ich mache es leidenschaftlich gerne.“

***

Sarah Meisenhälter, Agnes’ Chefin, beobachtete eine Weile kommentarlos, wie Agnes von Woche zu Woche mehr Schminke auftragen musste, um ihre Erschöpfung zu verbergen. Es war erstaunlich, wie sie es fertigbrachte, alle Bälle gleichzeitig in der Luft zu halten und dabei auch noch hervorragende Arbeit zu leisten, wie man es von ihr gewohnt war. Die Frau war ein Phänomen.

„Ich weiß, Sie können tausend Dinge zugleich regeln und organisieren, Agnes, aber Umzug, Hochzeitsvorbereitung und der volle Berufsalltag – das ist selbst für Sie etwas zu viel. Delegieren Sie mehr von Ihren Aufgaben! Wir müssen uns hier ohnehin daran gewöhnen, demnächst auch einmal ohne Sie auszukommen. Nach der Hochzeit machen Sie mit Ihren Plänen Ernst, oder?“

Agnes nickte. „Wann immer der Storch zuschlägt, ist er Leo und mir schon jetzt willkommen.“

Sarah Meisenhälter lächelte bedauernd, aber nicht ohne Sympathie. Sie wollte Agnes ungern verlieren, doch sie akzeptierte ihre Entscheidung, der Familie Vorrang vor ihrer Karriere zu geben. Das war etwas, was jede Frau nur für sich selbst herausfinden konnte. Traf man die falsche Entscheidung, drohten Verbitterung und Wut. Nein, das wünschte sie Agnes bestimmt nicht.

Schon am ersten Tag in ihrem Unternehmen hatte die junge Frau einen ungeheuer positiven Eindruck auf sie gemacht. Sarah betrachtete es als Glück, jemanden wie Agnes in ihrem Team zu haben. Sie hätte ihr gerne irgendwann das Eventplanungsunternehmen übergeben, das sie aufgebaut hatte. Agnes wäre die perfekte Nachfolgerin für sie gewesen, davon war sie überzeugt.

Mit Mitte fünfzig dachte Sarah allmählich daran, etwas kürzer zu treten. Um ihr Büro deutschlandweit an die Spitze zu bringen, hatte sie hart gearbeitet und sich kein nennenswertes Privatleben gegönnt. Sie liebte, was sie tat, und genoss den Erfolg und seine Früchte. In ihr war kein Bedauern. Das war der richtige Weg für sie gewesen.

Allerdings plante sie, spätestens mit sechzig einen Schnitt zu setzen und das Büro in gute Hände zu übergeben. Nach den Jahren der Arbeit und Ruhelosigkeit sollte es in ihrem Leben noch eine völlig andere Phase geben, in der sie Talente wie ihre Liebe zur Malerei oder zur Kammermusik ausleben konnte.

„Ich habe beschlossen, alle Türen für Sie zu öffnen, und das mit Hintergedanken. Was Sie von mir lernen können und die Kontakte, die ich für Sie knüpfen kann, sind pures Gold wert“, hatte sie einst gesagt. Sie wollte Agnes frühzeitig zu ihrer Nachfolgerin küren, um sie optimal aufbauen und geschäftlich und gesellschaftlich platzieren zu können.

„Das ist ein unglaubliches Angebot, und ich würde es so gerne annehmen, aber ich möchte Sie nicht irgendwann enttäuschen müssen“, lautete Agnes ehrliche Antwort.

„Dann lehnen Sie ab?“, hatte Sarah ungläubig gefragt.

„Kinder stehen an erster Stelle auf meiner Wunschliste, und nur, was sich beruflich parallel zu meinen zukünftigen Kindern verwirklichen lässt, ist für mich vorstellbar. Ich kann Ihnen nicht garantieren, dass ich es schaffe, Familie und die Leitung solch eines Unternehmens unter einen Hut zu bringen. Das wäre vermessen und unfair Ihnen gegenüber.“

Sarah Meisenhälter war äußerst beeindruckt von Agnes’ Ehrlichkeit und ließ sich nicht beirren.

„Ich will Sie und gehe das Risiko ein. Für mein Unternehmen sind Sie wie ein Sechser im Lotto“, erklärte sie ihr.

„Beruf und Familie lassen sich verbinden – zumindest habe ich das sagen hören“, fuhr Sarah fort. „Ich habe es nie probiert. Ob es stimmt, werden Sie irgendwann herausfinden müssen, falls Sie sich auf das Wagnis einlassen. Im Leben gibt es für kaum etwas Garantien. Mir ist es genug, dass Sie die Möglichkeit in Betracht ziehen, das Unternehmen irgendwann zu übernehmen. Wir sehen, was sich entwickeln wird.“

So waren die Frauen verblieben, und in den vergangenen zwei Jahren hatte Sarah Agnes viele einflussreiche Menschen vorgestellt, die im Hintergrund die Fäden zogen. Sie hatte Agnes dezent zu ihrer Nachfolgerin aufgebaut, ohne eine eindeutige Entscheidung von ihr zu verlangen.

„Gönnen Sie sich auch einmal eine Pause, Agnes, und lassen Sie es etwas ruhiger angehen, bis Sie den Umzug und die Hochzeit überstanden haben! Das ist keine höfliche Bitte, sondern eine Anordnung. Ich möchte, dass Sie gesund bleiben und sich nicht komplett verausgaben“, ordnete Sarah an, bevor sie wieder in ihr eigenes Büro zurückging.

Agnes sah ihr dankbar nach, aber das Gespräch mit ihrer Chefin machte sie auch eigentümlich unruhig. Bei Sarah hörte es sich fast schon an, als ob sie demnächst in Mutterschutz gehen würde. Schön wäre es gewesen, aber bisher setzte ihre Periode jeden Monat pünktlich ein.

Allmählich wurde Agnes ungeduldig. War alles mit ihr in Ordnung? Sie hatte sich darüber nie Gedanken gemacht und war überzeugt gewesen, automatisch schwanger zu werden, sobald sie nicht mehr verhütete. Das erste Mal kam ihr in den Sinn, dass es nicht ganz so einfach sein könnte.

Seit sie mit den Umzugsvorbereitungen für die neue Wohnung und der Hochzeit beschäftigt war, waren die Migräneanfälle seltener geworden. Sie hatte kaum noch Schwindelgefühle gehabt in den vergangenen Wochen. Das Kopfweh abends vor dem Einschlafen und morgens zum Tagesbeginn zählte sie nicht. Es gehörte inzwischen einfach dazu.

Arbeit und Glück wirkten eindeutig Wunder, befand sie und erklärte sich für absolut gesund. Ihr fiel zwar auf, dass sie öfter etwas fallen ließ und leichter ins Stolpern geriet, als sie es von sich kannte, aber das führte sie auf eine gewisse innere Aufgeregtheit zurück.

Schließlich würde sich ihr Leben bald grundlegend ändern. Konnte man da nicht etwas schreckhaft und schusselig sein? Nein, das war alles harmlos. Das Einzige, was ihr keine Ruhe ließ, war, dass sie noch immer nicht schwanger war.

„Ich habe mir überlegt, dass ich mich nach dem Umzug einmal von Dr. Holl durchchecken lasse“, sagte sie am Abend nachdenklich zu Leo, als sie nebeneinander im Bett lagen und sich eigentlich schon eine gute Nacht gewünscht hatten.

Dr. Holl war der Leiter der Berling-Klinik in München und Agnes’ Frauenarzt. Sie kannte ihn schon von Jugend an, weil er ein Freund ihres Vaters war, der an der Universität an der medizinischen Fakultät als Professor arbeitete.

„Mach dir keinen Kopf! Es ist alles in Ordnung. Wir haben alle Zeit der Welt, und das Kleine wird sich einfinden, wann immer es Lust hat und so weit ist, auf dieser Welt eine Runde drehen zu wollen“, meinte Leo und versuchte mühsam, die Augenlider offen zu halten. Er hatte genau wie Agnes einen langen Tag hinter sich.

„Ich weiß, aber ich war lange nicht mehr bei Dr. Holl, und es kann nicht schaden, wenn er mich durchcheckt.“

„Hm“, brummelte Leo noch, dann schlief er ein.

Agnes kuschelte sich an ihn und lag noch lange wach, obwohl auch sie sehr müde war. Ihr Kopf tat wieder einmal höllisch weh. Nach Mitternacht gab sie den Kampf auf und holte sich ein starkes Schmerzmittel aus dem Badezimmer.

***

„Agnes, es ist immer schön, Sie zu sehen. Wie geht es Ihrem Vater?“ Dr. Stefan Holl begrüßte die Tochter seines langjährigen Freundes Professor Eduard Augusti mit einem festen Handschlag und rückte ihr den Stuhl zurecht, bevor er sich selbst an seinen Schreibtisch setzte.

„Er ist ein nörgelnder Papst auf der Erbse, wie er es immer war. Die Studenten sind ihm nicht klug genug, die Universität ist ihm nicht lehrreich genug, und der Frühling ist ihm nicht schnell genug. Ich bin vor zwei Wochen in eine neue Wohnung gezogen und habe ihn zu einem Einweihungskaffee eingeladen. Lange drei Stunden – und hinterher wusste ich alles, was im Vorfeld gegen die Wohnung gesprochen haben könnte, falls wir sie nicht gekauft hätten!“ Agnes verdrehte die Augen, schmunzelte aber dabei.

Dr. Holl musste lachen. „Der Herr Professor kann unausstehlich sein, wenn er in Nörgellaune ist. Trotzdem muss man ihn einfach gernhaben. Ihr Vater ist ein großartiger und verboten kluger Mann.“

Freimütig stimmte Agnes in sein Lachen ein.

„Das ist er, und ich wollte keinen anderen, aber hin und wieder brauche ich Watte in den Ohren, damit am Leben noch etwas einfach und schön bleibt. Ich bin froh, dass ich das heitere Naturell meiner Mutter geerbt habe und nicht seine düstere Kritikwut.“

„Ganz ungeschoren scheinen Sie mir nicht weggekommen zu sein, meine Liebe. Bei unserem letzten Treffen hat mir Ihr Vater voller Stolz erzählt, dass Sie maßgeblich an der Planung des Ebola-Kongresses beteiligt waren. Er hat Sie in den höchsten Tönen gelobt für Ihren ungewöhnlichen Blick fürs Detail. Die Liebe zum Detail – da ähneln Sie ihm, nehme ich einmal an. Ihr Vater ist Ihr größter Fan“, erzählte Stefan Holl.

Agnes strahlte. Ihr gegenüber hielt sich ihr Vater in der Regel mit Lob zurück. Seit dem Tod ihrer Mutter war er mit allem, was offen zur Schau getragene Gefühle betraf, äußerst verhalten. Er hatte sich fast in der Trauer verloren und war für über ein Jahr arbeitsunfähig gewesen. In dieser Zeit war er ein völlig anderer Mensch geworden – ernster, distanzierter und noch kritischer.

Mit ihren fünfzehn Jahren hatte Agnes ihm kaum helfen können und selbst verzweifelt darum gerungen, irgendwie mit dem Verlust ihrer Mutter fertigzuwerden. So sehr sie ihn liebte, fiel es ihr bis heute schwer, unbefangen mit ihm zu reden. Sie wusste, dass ihr Vater immer für sie da sein würde, wenn sie ihn brauchte, und doch war er der Letzte, an den sie sich in der Not gewandt hätte.

Ihre Mutter hatte immer mit viel Humor zwischen ihnen vermittelt. Dank ihr gab es stets Lachen und Frohsinn in ihrem Haus, selbst als sie schon todkrank war. Ohne sie waren Agnes und ihr Vater füreinander verstummt, so sehr sie das beide auch bedauerten.

„Was führt Sie zu mir? Haben Sie Beschwerden, oder handelt es sich um eine Routineuntersuchung?“, fragte Dr. Holl, der zum Grund ihres Besuches kommen musste. Leider warteten draußen noch andere Patientinnen. Er hätte sich gerne mehr Zeit für Agnes genommen.

„Routine und ein wenig mehr. Ich habe die Pille abgesetzt und möchte schwanger werden“, gestand Agnes mit einem warmen Lächeln, das förmlich aus ihren Augen leuchtete. „Haben Sie die Einladung zur Hochzeit schon bekommen? Leo und ich machen Ernst.“

„Natürlich! Entschuldigen Sie! Julia würde mich lynchen, wenn sie wüsste, dass ich mich nicht gleich bei Ihnen bedankt habe. Wir kommen selbstverständlich und freuen uns schon sehr darauf.“ Dr. Holl nahm die Einladung auch im Namen seiner Frau gerne an.

Agnes grinste breit. „Ganz sicher? Ihnen ist bestimmt klar, dass Sie neben meinem Vater sitzen werden und dafür zuständig sind, dass er den übrigen Gästen nicht die gute Laune verdirbt. Keine leichte Aufgabe.“

Stefan Holl schmunzelte. „Dann bin ich der Personenschutz für oder wohl besser gegen bissige Hunde?“

„Ähm – so könnte man sagen. Wenn Sie in der Nähe sind, ist Papa zahm. Dann hat er jemanden zum Reden, den er akzeptiert, und kann sich vielleicht sogar ein wenig entspannen. Schlimm?“, fragte sie kleinlaut.

„Nein! Um Himmels willen! Ich freue mich darauf, einmal wieder Zeit mit Ihrem Vater zu verbringen. Außerdem ziehe ich Ihnen den Preis für meine Dienste einfach beim Hochzeitsgeschenk ab“, erwiderte Dr. Holl trocken.

„Sie sind mein Held! Danke!“

Während sie plauderten, betrachtete Stefan Holl seine Patientin unauffällig. Agnes war im Gesicht schmaler geworden. Ihre Hände schienen immer in Bewegung, überhaupt hatte sie etwas Fahriges, das er so nicht an ihr kannte. Als Arzt hatte Dr. Holl einen ausgeprägten Instinkt, wenn mit einem Menschen etwas nicht in Ordnung war. Agnes Augusti gefiel ihm ganz und gar nicht. Er machte sich Sorgen um die junge Frau.

Als die gynäkologische Untersuchung abgeschlossen war, nahmen sie wieder an seinem Schreibtisch Platz.

„Auf die Ergebnisse der Abstriche müssen wir etwas warten, aber die Schleimhäute sehen gesund aus. Ansonsten ist alles in bester Ordnung. Ihrem Kinderwunsch steht von der gynäkologischen Seite her nichts im Weg, Agnes.“

„Gott sei Dank! Schön! Ich dachte schon, weil wir es doch schon drei Monate versuchen und …“

„Das ist noch keine Zeit. Je gelassener und ruhiger Sie sind, umso besser. Setzen Sie sich nicht unter Druck!“, riet der Arzt und kam dann zu dem Thema, das ihn umtrieb, seit er ihr die Hand geschüttelt hatte. „Geht es Ihnen allgemein gesundheitlich gut, Agnes?“, fragte er sie. „Eine Schwangerschaft bedeutet eine extreme Belastung für den weiblichen Körper. Es ist wichtig, dass Sie auf sich achten und alles tun, um Ihre Gesundheit zu stärken und zu erhalten“, mahnte er.

„Ich bin fit wie ein Turnschuh“, antwortete Agnes spontan, aber als sie seinem forschenden Blick begegnete, errötete sie unwillkürlich. „Nicht ganz“, räumte sie unsicher ein.

„Ihre Migräne?“, tippte er.

Sie nickte. „Ich brauche zu viele Schmerztabletten, und wenn ich erst einmal schwanger bin, will ich diese Hämmer nicht mehr nehmen. Keine Ahnung, wie ich ohne auskommen soll. Manchmal explodiert mein Kopf förmlich, und das Einschlafen wird immer schwieriger.“

„Dann haben Sie inzwischen jeden Tag Schmerzen?“, hakte Dr. Holl nach, dem die ersten Zweifel kamen, ob die Ursache tatsächlich allein in der Migräne lag.

„Über den Tag wird es meist besser. Morgens und abends ist es schlimm, aber wenn ich arbeite, vergesse ich es. Damit komme ich schon klar“, wollte Agnes abwiegeln. Sie war sechsundzwanzig, hatte ein tolles Leben und kam sich lächerlich vor, wenn sie so klagte. Was sollten da andere sagen?

„Was haben Sie noch für Beschwerden? Es ist wichtig, dass Sie es nicht herunterspielen, damit herausgefunden werden kann, was es ist. Haben Sie Schwindelgefühle?“

„Öfter, und mir ist ständig übel. Essen fällt mir schwer, aber ich trinke ausreichend. Ich bin trittunsicher geworden, und es ist mir schon peinlich, wie oft ich stolpere. Zum Glück kann ich mich meist abfangen und falle selten, aber unangenehm ist es schon.“

Agnes war selbst überrascht, wie viel da zusammenkam. Sie hatte bisher nicht einmal mit Leo darüber gesprochen, dass ihr Körper ihr irgendwie fremd geworden war. Es tat gut, sich Stefan Holl anzuvertrauen.

„Na ja, und wenn ich schon einmal am Jammern bin, dann muss ich auch erwähnen, dass mir in jüngster Zeit alles aus den Händen fällt. Es ist, als ob meine Hände und Füße manchmal geradezu taub werden würden und ich keine Kontrolle über sie hätte.“

„Was sagt Ihr Hausarzt? Ich nehme an, er hat Sie an einen Neurologen überwiesen“, mutmaßte Stefan Holl.

„Ich war noch nicht bei ihm. Dr. Holl, mit meiner Migräne lebe ich seit dem Tod meiner Mutter. Es scheint nichts zu geben, um sie zu vertreiben oder gar zu heilen. Die Schmerzmittel helfen etwas und dann natürlich Ruhe. Ich bin aber nicht unbedingt gut darin, mir Ruhe zu gönnen“, beichtete sie.

„Schon mein Beruf ist nervenaufreibend und lässt kaum Raum für Ruhepausen. Ich muss immer präsent sein und spontan reagieren können. Dann jetzt auch noch der Umzug und die Hochzeit. Was kann ich da erwarten? Dafür hält sich mein Kopf eigentlich tapfer. Vor ein paar Wochen war es schlimmer“, machte sie sich Mut, weil sie sich plötzlich krank fühlte, und das hasste sie.

„Es wird besser werden, sobald ich wieder in ein ruhigeres Fahrwasser gelange. Der Umzug ist überstanden und die Hochzeit weitgehend geplant. Ich bin sicher, in ein paar Tagen lassen die Schmerzen nach und werden seltener.“

Stefan Holl überlegte. „Agnes, mir gefällt das nicht. Ich wäre beruhigt, wenn ein Kollege von der Neurologie Sie kurz ansehen und entscheiden würde, was zu tun ist. Da Ihre Hochzeit vor der Tür steht, gehe ich nicht davon aus, dass Sie sich die Zeit nehmen, zum Arzt zu gehen und sich eine Überweisung zu holen, um dann noch ein weiteres Mal Zeit für einen Arztbesuch einzuräumen. Das verstehe ich sogar.“

„Es ist doch nur meine dumme Migräne!“

„Sicher, aber bei der deutlichen Verschlechterung und den neuen Symptomen sind eine Untersuchung und eine neue Diagnose längst überfällig. Vor allem mit der geplanten Schwangerschaft muss abgeklärt werden, was die Symptome verursacht. Unter Umständen gibt es ein Medikament, das Ihnen besser hilft und während der Schwangerschaft und Stillzeit genommen werden kann“, lockte der Arzt.

„Lassen Sie uns die Sache spontan angehen! Erlauben Sie mir, bei meinem Kollegen, Dr. Hildner, hier im Haus anzurufen! Falls er kurzfristig einen Termin einschieben kann, haben Sie alles auf einen Streich hinter sich gebracht und werden beruhigt sein. Sie täten mir einen großen Gefallen, Agnes!“, bat Dr. Holl.

Agnes fand seine Fürsorge rührend, auch wenn sie keine sonderliche Lust hatte, sich untersuchen zu lassen. Ihre Vernunft siegte.

„Sollte Dr. Hildner Zeit haben, bin ich dabei“, willigte sie ein und betete im Stillen, der Neurologe würde den Anruf nicht annehmen, damit sie bis nach der Hochzeit warten konnte.

„Schicken Sie die Patientin am besten umgehend zu mir rüber. Später wird es wieder rundgehen, aber im Augenblick kann ich sie einschieben“, kam Dr. Hildner der Bitte seines Klinikleiters gerne entgegen.

Eine Hand wusch die andere, und er wusste, dass auch Dr. Holl sich irgendwann einmal wieder erkenntlich zeigen würde, wenn er etwas auf dem Herzen hatte. Die Zusammenarbeit in der Berling-Klinik war sehr kollegial, und alle profitierten davon – Ärzte, Pflegekräfte und Patienten.

„Agnes, ich verabschiede mich schon einmal von Ihnen, bin aber sicher, dass wir uns schon bald öfter sehen werden“, sagte Dr. Holl zum Abschied.

„Das wäre herrlich. Ich kann es kaum erwarten, schwanger zu sein und mein erstes Baby im Arm zu halten. Dr. Holl, es ist beruhigend, einen Arzt wie Sie an der Seite zu haben.“

„Obwohl ich Sie heute nerve und zu einem Kollegen weiterverfrachte, anstatt Sie heimfahren zu lassen?“, fragte er verschmitzt.

„Sogar dann!“

***

Nach einem Gespräch und ein paar Tests bei Dr. Hildner fand Agnes sich vor der Radiologie der Berling-Klinik wieder. Wieder hatte sich rein zufällig sofort ein freier Termin für die Untersuchung gefunden, und wieder war ihr nichts anderes übriggeblieben, als in den sauren Apfel zu beißen.

Agnes hatte das ungute Gefühl, von den Ereignissen überrollt worden zu sein und nur noch wie eine Marionette in ihrem eigenen Leben von außen bewegt zu werden. Der Kontrollverlust war schlimm für jemanden wie sie, der es gewohnt war, für andere zu planen und die Fäden nie vollständig aus der Hand zu geben. Sie hatte Angst und fühlte sich ausgeliefert und wehrlos.

Warum hatte es der Neurologe so eilig mit dieser Untersuchung? Was war, wenn ihre Beschwerden nicht von ihrer Migräne herrührten und sie ernsthaft erkrankt war? Das durfte und konnte nicht sein! Nein! Sie war gerade in ihr neues Zuhause gezogen, in dem ausreichend Raum für die Kinder war, die sie gemeinsam mit Leo großziehen wollte. Nein! Sie musste gesund sein!

Agnes sah das Gesicht ihrer sterbenden Mutter vor sich. Unvorstellbar grausame und schmerzhafte Dinge geschahen. Man durfte nicht daran denken, es sich nicht immerzu klarmachen, wie zerbrechlich das Leben war. Aber diese Dinge geschahen und konnten jederzeit geschehen. Es war besser, innerlich darauf gefasst zu sein.

Sie war dreizehn gewesen, als bei ihrer Mutter Bauchspeicheldrüsenkrebs in einem fortgeschrittenen Stadium diagnostiziert wurde. Zwei Jahre danach war sie mit zweiundvierzig gestorben. Die Therapien hatten ihren Tod nur etwas aufschieben, aber nicht verhindern können. Sie hatte starke Schmerzen gehabt in den letzten Monaten.

Agnes schob die Erinnerungen weg. Sie wollte an das Leben glauben und an ein erfülltes und schönes Leben denken! Dr. Holl hatte ihr doch nur bestätigen sollen, dass so weit alles mit ihr in Ordnung war und dass sie jederzeit schwanger werden konnte. Warum saß sie nun in diesem ungastlichen Wartebereich und würde gleich zu einer Magnetresonanztomografie des Kopfes gerufen werden? Was sollte das?

Agnes hatte Fluchtgedanken. Sie wollte nach Hause und war nahe dran, einfach aufzustehen und zu gehen.

„Frau Augusti!“, wurde sie gerufen, und etwas in ihr gehorchte, obwohl ihr Gefühl auf Fluchtmodus stand. Falls etwas nicht mit ihr stimmte, musste sie es wissen und entsprechende Entscheidungen treffen – schon für Leo. Weglaufen würde ihr nicht weiterhelfen. Sie wusste das und atmete gegen die Angst an. Widerstrebend legte sie sich auf die schmale Liegefläche des medizinischen Gerätes.

„Es wird etwas eng werden, aber das dürfte kein Problem sein. Ihnen kann nichts passieren. Glauben Sie mir. Leiden Sie an Klaustrophobie?“, fragte der Assistenzarzt, der die Magnetresonanztomografie anfertigte und sich um Agnes kümmerte.

„Ich weiß nicht. Ich meine, ich gehe lieber Treppen, als den Aufzug zu nehmen. Aber ich habe kein Problem damit, Aufzug zu fahren, wenn es sich nicht vermeiden lässt. Man könnte sagen, ich habe eine leichte Tendenz zur Platzangst.“

„Sie müssen ganz ruhig liegen, während die Aufnahmen gemacht werden. Dr. Hildner und ich sehen am Monitor, wie es Ihnen geht. Wir werden Ihre Vitalzeichen immer im Blick haben. Sobald etwas nicht mehr der Norm entspricht, brechen wir die Untersuchung ab. Vertrauen Sie uns! Wir passen auf Sie auf!“, beteuerte der junge Arzt.

„Danke! Ich ziehe es in der Regel vor, selbst auf mich aufzupassen, aber da habe ich keine große Wahl, oder?“ Agnes lachte unsicher über ihren kleinen Scherz.

Der Assistenzarzt lächelte bemüht. Vermutlich hörte er Ähnliches jeden Tag mehrmals.

„Es wird nicht lange dauern, und Dr. Hildner wird über ein Mikrofon mit Ihnen sprechen. Sie schaffen das!“

Als Agnes in der Röhre lag und sich nicht mehr rühren konnte, bereute sie es, den Assistenzarzt nicht um ein Beruhigungsmittel gebeten zu haben. Anscheinend hatte das Leben sich verschworen, ihr jede Kontrolle aus der Hand zu nehmen – selbst die Kontrolle über ihre Tendenz zur Klaustrophobie.

Sie dachte an die Nordsee bei Sonnenschein. Als Kind war sie jedes Jahr mit ihren Eltern auf Norderney gewesen. Glückliche Erinnerungen, die ihr halfen, die Panik für eine Weile von sich fernzuhalten. Sie konnte das Salz des Meeres förmlich schmecken und riechen.

„Atmen Sie ganz ruhig und gleichmäßig! Sie müssen keine Angst haben! Bald ist es geschafft!“, drang die Stimme Dr. Hildners beruhigend aus den Lautsprechern gleich an ihren Ohren. Er war mit ihr hinunter in die Radiologie gegangen, um die Aufnahmen gleich anzusehen und eine erste Auswertung vorzunehmen.

Agnes versuchte, am Strand zu verweilen und barfuß durch die Brandung zu gehen, aber es gelang ihr nicht. Das Meer verblasste vor ihrem geistigen Auge, und sie lag in dieser elenden Röhre und wartete darauf, dass ihr Urteil gesprochen wurde.

Liebe, Familie und Glück oder Krankheit und Abschied – die Bilder, die gerade gemacht wurden, würden darüber entscheiden, wie es für sie weiterging. Sie spürte, wie sich Schweißtropfen auf ihrer Stirn bildeten und wie sie in ihrer Angst, von der Enge erdrückt zu werden, verzweifelt nach Atem rang und immer schneller und hektischer Luft holte.

„Es tut mir leid! Ich …“, entschuldigte sie sich. „Ich muss hier raus! Bitte! Können wir die Untersuchung abbrechen? Bitte!“

Die Panik hatte sie fest im Griff, und sie musste sich mit aller Macht beherrschen, um nicht um sich zu schlagen und sich gewaltsam aus ihrem Gefängnis zu befreien.

„Sie schaffen das! Nur noch einen Moment! Wunderbar! Sie machen das toll!“, bat Dr. Hildner sie um noch etwas Zeit.

Es gelang ihm, die Untersuchung abzuschließen. Er wollte verhindern, dass sich seine Patientin derselben Prozedur so bald noch einmal unterziehen musste.

„Nein! Ich will sofort hier raus! Holen Sie mich hier raus! Ich halte das nicht aus! Das ist Freiheitsberaubung. Ich zeige Sie an. Ich bringe Sie ins Gefängnis! Ich …“ Agnes rastete aus und brüllte und schrie Drohungen, an die sie sich hinterher, als sie sich wieder beruhigt hatte, nicht mehr erinnern konnte.

„Sehen Sie! Schon ist es vorbei!“ Dr. Hildner war da und half ihr, sich aufzusetzen, als sie es hinter sich hatte.

Agnes presste die Fäuste auf die Schläfen, Tränen rannen ihr über die Wangen. Auf den Wutausbruch von eben folgten Selbstmitleid und Erschöpfung.

„Es tut mir leid!“, schluchzte sie. „Ich bin eigentlich nicht so. Früher hatte ich meine Gefühle immer im Griff, aber in letzter Zeit passiert es mir, dass ich durchdrehe. Entschuldigen Sie!“

„Machen Sie sich keine Gedanken! Die Enge während der Aufnahmen macht den meisten zu schaffen. Holen Sie sich am besten in der Cafeteria etwas zu trinken, und essen Sie ein Stück Kuchen, falls Sie können. Trinken und Essen tun Ihnen jetzt gut. Gehen Sie anschließend bitte wieder nach oben, und warten Sie vor meinem Zimmer. Ich komme gleich, um die Ergebnisse mit Ihnen zu besprechen.“

Als Agnes gegangen war, bat Dr. Hildner Chefarzt Dr. Holl zu sich in die Radiologie, um ihm die Diagnose zu nennen und das weitere Vorgehen mit ihm abzusprechen. Er hätte gerne bessere Nachrichten für seinen Kollegen gehabt. Ernst sah er dem Klinikleiter entgegen, als dieser nur Minuten später den Raum betrat.

„Es ist mehr als nur eine entgleiste Migräne“, stellte Dr. Holl fest.

„Leider! Es könnte sein, dass es sich nie um Migräne handelte, sondern um die ersten Symptome von etwas völlig anderem. Ich hatte den Eindruck, dass Ihnen Frau Augusti persönlich nahesteht. Daher wollte ich nicht mit ihr sprechen und nichts unternehmen, ohne Rücksprache mit Ihnen gehalten zu haben. Sehen Sie sich das an!“ Dr. Hildner deutete auf die Aufnahmen.

„Mein Gott!“ Dr. Holl war bestürzt.

Agnes war noch ein kleines Mädchen gewesen, als er ihre Eltern kennengelernt hatte. Jetzt war sie sechsundzwanzig und stand am Anfang ihres Lebens. Für Dr. Holl war sie noch ein halbes Kind, und er hatte selbst vier Kinder zu Hause. Anteilnahme presste dem Arzt die Kehle zusammen, und für einen Moment konnte er nicht sprechen.

Wie sollte Agnes die Diagnose verkraften und damit umgehen? Das stellte für jeden eine entsetzliche Überforderung dar, und sie hatte schon als junges Mädchen miterleben müssen, wie ihre Mutter an Krebs gestorben war. Würde es ihr unter diesen Bedingungen gelingen, positiv zu denken und den Kampf aufzunehmen? Er konnte es nur hoffen.

Weder Agnes noch ihr Vater hatten den Tod von Marianne Augusti ganz verwunden. Noch immer haftete beiden etwas seltsam Verlorenes an. Marianne Augusti war ein besonderer Mensch gewesen, und entsprechend groß war die Lücke, die ihr Verlust in ihrer Familie hinterlassen hatte.

Beim Gedanken an seinen Freund wurden Stefan Holls Augen feucht. Er mochte den Professor wirklich sehr und wusste nicht, ob der sensible Mann noch einem weiteren Schicksalsschlag gewachsen sein würde. Warum wurden manche Familien nur derart vom Leben gebeutelt?

***

„Es handelt sich um einen Tumor der Hirnhaut, genauer gesagt der Spinngewebshaut oder Arachnoidea, die die Gehirnventrikel auskleidet. Bei solch einem Meningeom stehen die Chancen gut, dass es gutartig ist und keine Metastasen bildet. Gut neunzig Prozent der Meningeome sind gutartig und wachsen langsam“, begann Dr. Hildner mit dem Positiven.

Er ging davon aus, dass Dr. Holl all das auch selbst wusste, aber er wollte ihm damit etwas Zeit verschaffen, seinen Schock zu verarbeiten und zu seiner professionellen Distanz zurückzufinden. Es war nie leicht, wenn man einen Patienten persönlich kannte. Einem Freund oder Bekannten eine Diagnose wie diese überbringen zu müssen war entsetzlich.

„Oft werden Meningeome eher zufällig entdeckt, weil sie keine Symptome verursachen, und eine Operation ist nicht immer zwingend erforderlich, wenn sie entsprechend langsam wachsen und günstig liegen. Dann muss man sie nur unter Beobachtung behalten. Gefährlich können sie werden, wenn sie das umliegende Gewebe allmählich verdrängen und quetschen, wie es hier bei Frau Augusti der Fall ist. Der Raum im Schädel ist nun einmal begrenzt.“

„Hoffen wir, dass dieses Meningeom zu den neunzig Prozent gehört und gutartig ist. Die restlichen zehn Prozent sind atypisch. Sie wachsen schnell, und ein bestimmter Prozentsatz davon kann sogar bösartig sein“, fügte Dr. Holl an und signalisierte damit, dass er keiner Schonfrist mehr bedurfte und den ersten Schreck überwunden hatte.

„Ja, leider. Das können wir erst endgültig bestimmen, wenn wir eine Gewebeprobe des Tumors mikroskopisch untersuchen. Sollte es sich um eine langsam wachsende und gutartige Form handeln, hängen Frau Augustis Heilungschancen davon ab, ob sich der Tumor vollständig entfernen lässt“, erwiderte Dr. Hildner.

„Die Lage im Hirnstammareal und die Größe des Tumors erschweren eine Operation deutlich. Halten Sie den Tumor überhaupt für operabel?“, hakte Dr. Holl nach und benannte damit seine größte Furcht. Er war kein Neurochirurg, aber selbst er sah, wie kompliziert eine Operation werden würde.

„Das Meningeom hat eine scharf begrenzte Raumforderung. Sehen Sie das perifokale Ödem hier? Der Hirnstamm ist bereits verlagert und steht unter Kompression. Ich denke, ich muss Ihnen nicht sagen, dass Tumoren in dieser Region zu den anspruchsvollsten der Neurochirurgie gehören.“ Dr. Hildner schien seine Bedenken zu teilen.

Dr. Holl nickte und war auf das Schlimmste vorbereitet. Falls der Tumor nicht operabel war, standen Agnes’ Überlebenschancen sehr schlecht.

„Technisch stellt der Eingriff eine enorme Herausforderung dar, da zahlreiche Hirnnerven und Blutgefäße in diesem Bereich liegen, die vom Tumorgewebe umschlossen sind und freigelegt werden müssen, ohne dabei beschädigt werden zu dürfen. Es wird schwierig, da mache ich Ihnen nichts vor, verdammt schwierig, aber ich halte es für machbar“, entschied Dr. Hildner.

Der Klinikchef atmete auf und hätte seinen Kollegen für diese Einschätzung umarmen können.

„Ich würde einen seitlichen Zugang wählen und eine minimalinvasive Vorgehensweise über eine mikroskopische und endoskopische Sicht. Im Notfall bei Komplikationen während des Eingriffs bleibt uns nichts anderes übrig, als die Schädeldecke zu öffnen, aber sollte es ohne gehen, wäre das für eine schnelle Genesung entscheidend“, überlegte der Neurochirurg und war im Geiste schon bei den Details.

„Könnte eine Bestrahlung im Vorfeld das Risiko reduzieren? Wäre der Tumor etwas kleiner, ließe er sich besser entfernen, oder?“, bremste Dr. Holl ihn bewusst aus, weil er erst die grobe Richtung feststecken wollte.

„Man kann es in Betracht ziehen, und viele Kollegen von mir würden eindeutig zur Bestrahlung tendieren. Ich bin da eher skeptisch. Tumorgewebe spricht nicht immer auf Bestrahlung an. Es ist nicht gesagt, dass der Tumor schrumpft. Tut er es, wird die Operation technisch etwas erleichtert, aber das Gewebe wird durch die Strahlung brüchiger und die Patientin geschwächter.“ Dr. Hildner schüttelte den Kopf.

„Ich würde gleich operieren. Noch lässt sich der Tumor auch ohne vorherige Bestrahlung entfernen. Warum die Risikoquellen erweitern. Das Risiko ist ohnehin groß genug. Ich möchte Ihnen nichts vormachen. Bei dieser Operation ist alles möglich“, warnte der Neurochirurg.

„Die Patientin kann auf dem Tisch bleiben. Es kann sein, dass sich der Tumor nicht ganz entfernen lässt. Dann wird er weiter wachsen, und der Patientin stünde im optimalen Fall irgendwann in einigen Jahren eine weitere Operation bevor.“ Dr. Hildner zog es immer vor, mit offenen Karten zu spielen. Mit falschen Versprechungen war niemandem gedient.

„Es kann auch sein, dass der Eingriff erfolgreich verläuft und Frau Augusti dennoch nie wieder aus der Narkose erwacht. Das Gehirn stellt uns immer wieder vor Rätsel. Sie könnte eine neurologische Störung zurückbehalten, die unter Umständen stark ausgeprägt sein kann. So sieht es leider aus“, schloss Dr. Hildner.

Dr. Holl seufzte. Er kannte die Risiken sehr wohl und hoffte, dass er Agnes, ihren Verlobten und ihren Vater davon überzeugen konnte, diese Risiken einzugehen. Die Alternative war der Tod. „Haben wir eine Wahl? Ich sehe keine. Sie?“

„Nein. Wir müssen es versuchen. Der Tumor darf unter keinen Umständen weiter wachsen. Die Schmerzen müssen schon jetzt unerträglich sein. Es ist mir ein Rätsel, wie die Patientin es so lange ausgehalten hat. Unbehandelt werden die Ausfallerscheinungen rasch zunehmen. Der Tumor ist eine tickende Zeitbombe, und wenn wir nichts unternehmen, wird die Patientin unter Qualen sterben.“

„So sehe ich es auch“, stimmte Dr. Holl seinem Kollegen niedergeschlagen zu.

„Möchten Sie anwesend sein, wenn ich Frau Augusti die Diagnose mitteile?“, fragte Dr. Hildner zum Abschluss der Besprechung.

„Selbstverständlich! Wäre es für Sie auch vorstellbar, dass ich das Gespräch anfangs führe und an Sie weitergebe, sobald es um die therapeutische Vorgehensweise und die Operation geht? Frau Augusti hat Vertrauen zu mir. Ich kenne sie, seit sie ein junges Mädchen war.“

„Ich habe gehofft, dass Sie mich das fragen“, gestand Dr. Hildner. „Am besten lasse ich Sie mit der Patientin alleine, und Sie ziehen mich hinzu, wenn ich gebraucht werde.“

„Wie schätzen Sie die realistischen Chancen von Frau Augusti ein?“, fragte Dr. Holl, als sie schon im Begriff waren, den Raum zu verlassen.

„Ich hoffe, sie ist gerade noch rechtzeitig gekommen. Sie ist jung und möchte leben. Das ist gut. Einen großen Teil des Tumors kann ich auf jeden Fall entfernen. Ob ich ihn komplett entfernen kann, was die wünschenswerteste Option wäre, kann ich erst am Operationstisch entscheiden“, überlegte Dr. Hildner.

„Erst dann werde ich sehen, wie viele Blutgefäße und Nerven betroffen sind und ob eine Entfernung ein zu großes Wagnis darstellt für neurologische Störungen. Sollte mir eine komplette Entfernung gelingen und sollte sich Frau Augusti von dem Eingriff erholen, müsste sie nur routinemäßig Magnetresonanztomografien machen lassen zur Kontrolle“, schloss der Neurochirurg mit dem optimalen Fall.

„Dann wäre sie geheilt und könnte ein normales Leben führen. Das ist der Ausgang, auf den ich hoffe und von dem ich mir wünsche, dass die Patientin fest an ihn glaubt. Hoffnung und Vertrauen sind machtvolle Wunderwaffen. Sie hat eine realistische Chance, ganz gesund zu werden.“

***

Mit großen, ungläubigen Augen sah Agnes Dr. Holl unverwandt an, während er ihr so schonend, wie es möglich war, die Diagnose mitteilte. Schon nach den ersten Sätzen gelang es ihr nicht mehr, ihm zu folgen. Sie sah, wie sein Mund sich öffnete und schloss, öffnete und schloss. Sie sah die fast schon väterliche Sorge in seinem Blick, und seine Wärme und Anteilnahme waren wie ein Schutzpuffer zwischen ihr und dem, was da geschah – mit ihr geschah und ihrem Leben.

„Ich habe einen Hirntumor und werde sterben wie meine Mutter. Ich habe Krebs und werde unter Schmerzen sterben wie meine Mutter“, fasste sie mit tonloser Stimme zusammen, was sie verstanden hatte, als Dr. Holl nichts mehr sagte und sie erwartungsvoll anzusehen schien.

„Agnes, Sie haben einen höchstwahrscheinlich gutartigen Tumor, der operabel ist. Sie …“, setzte Dr. Holl wieder an.

Er tat ihr leid, weil er es so gut meinte und sich so viel Mühe gab. Sie hätte ihn gerne gebeten, zu schweigen und stattdessen die Zeit um ein oder zwei Tage zurückzudrehen. Sie wollte wieder durch ihre neue Wohnung streichen und den Räumen nach und nach den letzten Schliff geben. Sie wollte am Anfang stehen und nicht ihr Ende vor sich sehen.

Dr. Holl sprach weiter. Es ging um Heilungsaussichten, um Hoffnung, so viel bekam sie mit. Hoffnung. Ihre Mutter hatte die Hoffnung nie aufgegeben. Hoffnung hatte sie länger leiden lassen, als es notwendig gewesen wäre. Hoffnung war böse. Böse Hoffnung! Agnes wusste nicht, ob sie hoffen wollte.

Sie wollte das erste der Kinderzimmer einrichten und Schäfchen an die Wände malen, wie sie es sich überlegt hatte. Es musste schön sein, mit weidenden Schäfchen an den Wänden einzuschlafen. Weiße, kuschelige Wonneschafe, die vor Zufriedenheit im Traum blökten – an solche Träume sollten sich ihre Kinder einmal erinnern, wenn sie erwachsen waren.

Agnes wischte sich die Tränen von den Wangen. Sie würde keine Kinder haben. Sie würde sterben. Wenigstens musste sie keine Kinder zurücklassen, die um sie weinten und ihre Mutter vermissten für den Rest ihres Lebens. Sie wusste, wie schlimm es für ihre Mutter gewesen war, sich von ihr verabschieden zu müssen.

„Ich möchte dich so gerne heranwachsen sehen, mein Schatz. Ich möchte dabei sein, wenn du dich das erste Mal verliebst, und dich trösten, falls es noch nicht gleich der Richtige ist. Ich möchte sehen, wie dein Vater dich an den Altar führt, und mit ihm vor Aufregung und Freude ganz aus dem Häuschen sein, wenn du uns unseren ersten Enkel schenkst. All das möchte ich mit dir erleben. Verzeih mir, dass ich es nicht kann!“

Agnes hatte nie vergessen, wie ihre Mutter das zu ihr gesagt hatte. Am anderen Tag war sie gestorben. Es war besser, dass sie rechtzeitig krank wurde, bevor sie ein Kind hatte bekommen können. Es war besser für Leo, dass sie noch nicht verheiratet waren. Momentan würde er das nicht einsehen, aber später einmal.

Leo musste über ihren Tod hinwegkommen. Er sollte nicht zum Schatten seiner selbst werden, wie es ihrem Vater widerfahren war. Er sollte sich wieder verlieben und ein glückliches, erfülltes Leben führen – ohne sie.

„Agnes?“

Sie hörte ihren Namen und begriff, dass sie noch immer in Dr. Holls Arztzimmer saß. Instinktiv schob sie den Stuhl etwas zurück und erhob sich unsicher, um zu gehen. Die Welt drehte sich um sie, und sie musste sich mit der Hand an der Schreibtischkante festhalten, um nicht in den Stuhl zurückzusinken.

Mit vollkommen neuen Augen sah sie sich in dem Arztzimmer um. Sie sah die Möbel, die Gegenstände, die darauf standen, und Dr. Holl. Durch das Fenster, vor dem keine Gardinen hingen, konnte sie den blauen Frühlingshimmel sehen. Alles schien wie immer und hatte sich doch grundlegend verändert, auch wenn sie die Veränderung nicht gleich greifen konnte.

Die Farben waren blasser, alles war verwaschener, matter. Es war, als ob sie es aus weiter Ferne betrachten würde. Das war es. Die Welt hatte sich verändert, weil sie nicht mehr dazugehörte. Sie war von nun an ein Fremdkörper. Sie war noch da, atmete noch und lebte noch, und doch war ihr Leben vorbei.

Leo, ihr Vater – sie musste die beiden Männer, die sie über alles liebte, hinter sich zurücklassen. Im Grunde hatte sie die beiden schon verlassen. Sie gehörte nicht mehr wirklich zu ihnen. Es konnte nie wieder zwischen ihnen sein, wie es gewesen war. Sie würde nie wieder unbefangen und glücklich morgens neben Leo aufwachen und sich auf den gemeinsamen Tag freuen und Pläne schmieden für die Zukunft.

Agnes wollte schreien und mit den Fäusten gegen etwas schlagen, aber das hatte Dr. Holl nicht verdient. Er war ein guter Mann und ein wunderbarer Arzt. Er litt mit ihr. Bald würden auch ihr Vater und Leo sie nur noch mit dieser schmerzvollen, liebevollen Anteilnahme ansehen können, die so schrecklich wehtat, weil sie keine wirkliche Nähe mehr zuließ.

Zwischen den Lebenden und den Todgeweihten lag ein unüberbrückbarer Graben. Liebe verhinderte, dass man sich abwandte und sich in Sicherheit brachte, und doch konnte man einander nicht mehr erreichen. Man existierte in unterschiedlichen Dimensionen.

„Agnes, wollen Sie sich nicht lieber wieder hinsetzen?“, fragte Dr. Holl, und erst da ging ihr auf, dass sie noch vor seinem Tisch stand und sich mit beiden Händen an der Kante festkrallte.

„Nein danke!“, murmelte sie und riss sich zusammen. Sie musste lernen, wie man einen guten, sauberen Abgang inszenierte. Sie musste es schnell lernen, denn bald würde sie es brauchen.

„Ich muss jetzt alleine sein und nachdenken“, brachte sie irgendwie über die Lippen und schaffte es, sich von der Tischkante zu lösen und einen Schritt in Richtung Tür zu machen. Es ging besser, als sie erwartet hatte. Ihre Beine trugen sie noch.

„Das verstehe ich, Agnes. Sie müssen all das erst einmal verkraften, bevor wir überlegen können, wie wir weiter vorgehen. Soll ich Ihren Vater oder Ihren Verlobten für Sie anrufen? Sie sollten jetzt nicht alleine sein. Sicher holt einer der beiden Sie gerne in der Klinik ab, damit Sie nicht fahren müssen in Ihrem Zustand“, schlug Dr. Holl vor, der sie nicht gehen lassen wollte und rasch neben sie getreten war.

„Nein! Tun Sie das bitte nicht! Ich muss jetzt erst einmal allein sein und zu mir kommen. Wenn ich soweit bin, werde ich es ihnen sagen, aber nicht gleich. Dr. Holl, bitte, ich brauche das! Ich kann ihnen jetzt nicht zuhören. Ich kann keinen klaren Gedanken fassen, und ich kann jetzt niemanden in meiner Nähe ertragen. Ich muss alleine sein!“, flehte Agnes.

Stefan Holl gab ungern nach, aber er hatte kein Recht, sie zu etwas zu zwingen, was sie nicht wünschte. Sie war erwachsen, und er durfte mit niemandem ohne ihre Erlaubnis über ihren Gesundheitszustand sprechen. Als Arzt waren ihm rechtlich und moralisch die Hände gebunden. Jedenfalls durfte er nicht zulassen, dass sie sich jetzt ans Steuer setzte.

„Agnes, Sie können nicht Ihr Auto benutzen. Hinter dem Steuer stellen Sie momentan für sich und Ihre Umwelt eine Gefahr dar“, mahnte er.

„Ich rufe mir ein Taxi“, versprach sie und wollte ihm ihren Schlüsselbund in die Hand drücken.

„Behalten Sie die Schlüssel! Ich vertraue Ihnen, dass Sie nichts Unüberlegtes tun“, sagte Dr. Holl.

„Danke!“ Sie öffnete die Tür.

„Bitte, rufen Sie mich morgen oder übermorgen an und lassen Sie uns über die Therapieansätze reden! Die Zeit drängt. Sie müssen so bald wie möglich operiert werden. Sie können gesund werden, Agnes, völlig gesund, und Ihr Leben weiterführen, wie Sie es geplant haben. Hören Sie mich?“

„Ich höre Sie“, antwortete sie und lächelte ihn sogar an. Sie hörte ihn sehr wohl, aber sie glaubte ihm nicht. Böse, böse Hoffnung! Ärzte und Angehörige hielten sie aufrecht, und sie meinten es gut, aber es war Grausamkeit, wenn die Hoffnung unbegründet war.

„Danke, Dr. Holl!“

„Und Sie werden mich anrufen? Versprechen Sie mir das? Die Zeit ist kostbar. Bitte, Agnes, rufen Sie mich morgen oder übermorgen unbedingt an! Sie können mich jederzeit anrufen – auch heute und natürlich auch unter meiner privaten Nummer. Melden Sie sich bald!“

Agnes lächelte, sagte aber nichts darauf und ging. Sie konnte es ihm nicht versprechen, weil sie es noch nicht wusste. Es musste ihr gelingen, das Chaos in ihrem Kopf zu bändigen und einige sehr wichtige Entscheidungen zu treffen.

Ein Leben gut organisiert und mit Tatkraft anzugehen erforderte Kraft, Furchtlosigkeit und die Bereitschaft, sich zu freuen und sich überraschen zu lassen. Und auch der Tod wollte gut organisiert und geplant sein und erforderte ein besonderes Herangehen.

Hatte man sich erst einmal entschieden, wie man sterben und den Menschen, die man liebte, in Erinnerung bleiben wollte, ergab sich vieles von alleine. Agnes zog es zu dem einzigen Menschen, der ihr an diesem Punkt weiterhelfen konnte – zu ihrer Mutter. Sie rief sich ein Taxi, wie sie es Dr. Holl versprochen hatte, und ließ sich zum Friedhof fahren.

***

Lange stand die junge Frau reglos am Grab der Mutter und hing ihren Erinnerungen nach. Bis zum Schluss hatte ihre Mutter verzweifelt gerungen und nicht aufgegeben. Sie hatte sich immer wieder in unterschiedlichen Kliniken behandeln lassen, hatte jeder Therapie zugestimmt, die ihr Vater noch ausfindig gemacht hatte.

Die Therapien hatten zum Teil kaum Aussicht auf eine minimale Besserung versprochen oder gar auf Heilung, aber ihre Mutter hatte es über sich ergehen lassen. War das ihr eigener Wille gewesen? Agnes hatte sich darüber nie bewusst Gedanken gemacht. Sie hatte jene Zeit, so gut es ging, aus ihren Gedanken verdrängt und sich in erster Linie an ihre gesunde und fröhliche Mutter vor der Erkrankung erinnern wollen.

In den zwei Jahren, die ihre Mutter gestorben war, hatte Agnes ihre Kindheit abgestreift. Sie war für Mutter und Vater Trost und Kraftquelle gewesen und hatte der brutalen Überforderung nicht ohne Brüche standgehalten. Gespräche mit ihrer kranken Mutter kamen ihr nun wieder in den Sinn. Mit dreizehn und vierzehn Jahren war sie zu jung gewesen, um zu verstehen, aber nun verstand sie.

Ihre Mutter hatte frühzeitig gewusst, dass es keine Rettung für sie gab. Sie hatte gekämpft, weil weder Agnes noch ihr Vater bereit gewesen waren, sie gehen zu lassen. Dabei war sie selbst durchaus bereit gewesen zu sterben. Sie hatte das Ende der Schmerzen herbeigesehnt und doch mit erbarmungsloser Konsequenz alles getan, um ihr Leben und damit auch die Schmerzen zu verlängern für ihre Familie. Ein großes Opfer, für das Agnes sich nie bedankt und das sie nie als Opfer erkannt hatte.

„Es tut mir so leid, Mama! Ich wusste nicht, was ich tat. Es tut mir so schrecklich leid!“ Schluchzend strich Agnes mit den Fingerspitzen über die Gravur in dem Stein.

„Es war falsch – für dich, aber auch für Papa und mich. Etwas in mir kann noch immer nachts nicht schlafen, weil es dein Stöhnen hört. Wir haben dich nie losgelassen, nicht einmal nach deinem Tod. Du stehst zwischen Papa und mir, weil wir die Trauer nie zugelassen und abgeschlossen haben. Noch immer krallen wir uns an dir fest. Das ist alles falsch.“