Die englische Flagge - Imre Kertész - E-Book

Die englische Flagge E-Book

Imre Kertész

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Beschreibung

Zu dem sozusagen unter Tage vollbrachten Lebenswerk, mit dem Imre Kertész die literarische Welt seit der Öffnung des Eisernen Vorhangs überrascht, gehört neben den großen Romanen seiner «Trilogie der Schicksallosigkeit» die hier erstmals auf deutsch vorgelegte Langerzählung «Der Spurensucher»: die Geschichte eines Mannes, der viele Jahre nach seiner Befreiung aus Buchenwald zum ersten Mal an den Ort des Grauens und tiefster Demütigung zurückkehrt. In den Erzählungen «Die englische Flagge» und «Protokoll» spiegelt der inzwischen weltweit bekannte Autor dagegen seine Erfahrung zweier einander ablösender Totalitarismen aus der Perspektive der ersten Nachwendezeit: eine Summa osteuropäischen Seins in diesem Jahrhundert.

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Imre Kertész

Die englische Flagge

Erzählungen

 

 

Übersetzt von György Buda und Kristin Schwamm

 

Über dieses Buch

Zu dem sozusagen unter Tage vollbrachten Lebenswerk, mit dem Imre Kertész die literarische Welt seit der Öffnung des Eisernen Vorhangs überrascht, gehört neben den großen Romanen seiner «Trilogie der Schicksallosigkeit» die hier erstmals auf deutsch vorgelegte Langerzählung «Der Spurensucher»: die Geschichte eines Mannes, der viele Jahre nach seiner Befreiung aus Buchenwald zum ersten Mal an den Ort des Grauens und tiefster Demütigung zurückkehrt. In den Erzählungen «Die englische Flagge» und «Protokoll» spiegelt der inzwischen weltweit bekannte Autor dagegen seine Erfahrung zweier einander ablösender Totalitarismen aus der Perspektive der ersten Nachwendezeit: eine Summa osteuropäischen Seins in diesem Jahrhundert.

Vita

Imre Kertész, 1929 in Budapest geboren, wurde 1944 als 14-Jähriger nach Auschwitz und Buchenwald deportiert. In seinem «Roman eines Schicksallosen» hat er diese Erfahrung auf außergewöhnliche Weise verarbeitet. Das Buch erschien zuerst 1975 in Ungarn, wo er während der sozialistischen Ära jedoch Außenseiter blieb und vor allem von Übersetzungen lebte (u.a. Nietzsche, Hofmannsthal, Schnitzler, Freud, Joseph Roth, Wittgenstein, Canetti). Erst nach der europäischen Wende gelangte er zu weltweitem Ruhm, 2002 erhielt er den Literaturnobelpreis. Seitdem lebte Imre Kertész überwiegend in Berlin und kehrte erst 2012, schwer erkrankt, nach Budapest zurück. Er starb am 31. März 2016.

 

Weitere Veröffentlichungen:

Kaddisch für ein nicht geborenes Kind. 1992

Galeerentagebuch. 1993

Ich – ein anderer. 1998

Eine Gedankenlänge Stille, während das Erschießungskommando neu lädt. 1999

Fiasko. 1999

Detektivgeschichte. 2004

Liquidation. 2005

Roman eines Schicksallosen. Das Buch zum Film. 2005

Dossier K. (2006)

Briefe an Eva Haldimann. 2009

 

Impressum

Die Übersetzung wurde gefördert vom Literarischen Colloquium Berlin mit Mitteln des Auswärtigen Amtes und der Senatsverwaltung für Wissenschaft, Forschung und Kultur Berlin.

Die Erzählung «Protokoll» ist in deutscher Übersetzung zuerst 1994 in dem beim Residenz Verlag, Salzburg und Wien, erschienenen Band Imre Kertész/​Péter Esterházy: «Eine Geschichte. Zwei Geschichten» veröffentlicht worden.

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, September 2011

Copyright © 1994, 1999 by Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

«A nyomkereső» (Der Spurensucher) Copyright © 1998 by Imre Kertész Deutsch von György Buda

«Az angol lobogó» (Die englische Flagge) Copyright © 1991 by Imre Kertész Deutsch von Kristin Schwamm

«Jegyzőkönyv» (Protokoll) Copyright © 1991 by Imre Kertész Deutsch von Kristin Schwamm

Covergestaltung any.way, Barbara Hanke/Cordula Schmidt

Coverabbildung Eberhard Grames/Bilderberg

ISBN 978-3-644-01341-4

 

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

 

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www.rowohlt.de

« … vor uns Nebel, hinter uns Nebel

und unter uns ein versunkenes Land.»

Mihály Babits

Wenn ich die Geschichte von der englischen Flagge jetzt vielleicht doch erzählen wollte, wozu man mich vor einigen Tagen – oder Wochen – in einer Runde von Freunden ermunterte, müßte ich zunächst jene Lektüre erwähnen, die mich die englische Flagge, sagen wir, zum erstenmal zähneknirschend bewundern lehrte; ich müßte von anderen damaligen Leseerlebnissen erzählen, von meiner Leseleidenschaft, wovon sie sich nährte und von welchen Zufällen sie – wie im übrigen alles, was wir im Laufe der Zeit als Schicksal, sei es nun in seiner Folgerichtigkeit oder seiner Sinnlosigkeit, in jedem Fall aber doch als unser Schicksal erkennen – abhängig war; ich müßte erzählen, wann diese Leidenschaft begonnen hatte und wohin sie mich schließlich führte, mit einem Wort, ich müßte beinahe mein ganzes Leben erzählen. Und weil das unmöglich ist, nicht nur aus Mangel an der dafür nötigen Zeit, sondern auch an der nötigen Kenntnis, denn wer wollte schon von sich behaupten, daß er im Besitz der wenigen irrigen Kenntnisse, die er über sein Leben zu haben glaubt, auch gleich sein Leben kenne, diesen für ihn – und vor allem für ihn – in seinem Verlauf und Ausgang (Exit oder Exitus) ganz und gar unbekannten Prozeß, wäre es wahrscheinlich am besten, ich würde die Geschichte von der englischen Flagge mit Richard Wagner beginnen. Und auch wenn uns Richard Wagner, wie ein konsequent durchgeführtes Leitmotiv, mit traumwandlerischer Sicherheit auf direktem Wege zur englischen Flagge führen würde, müßte ich von Richard Wagner wiederum bei der Redaktion zu erzählen beginnen. Diese Redaktion existiert heute nicht mehr, wie auch das Haus schon lange nicht mehr existiert, in dem die ehemalige Redaktion damals (um genau zu sein: drei Jahre nach dem Krieg) für mich eine bestimmte Zeit lang sehr wohl noch existiert hat – diese, mit ihren dunklen Korridoren und staubigen Winkeln, ihren verrauchten, winzigen Zimmern mit nackten Glühbirnen, ihrem Telefongeklingel, ihrem Gebrüll, dem knatternden Gewehrfeuer der Schreibmaschinen, den vorübergehenden Aufregungen, andauernden Beklemmungen, wechselnden Stimmungen und schließlich einer ständigen, aus allen Winkeln hervorkriechenden, nicht mehr weichenden und alles überlagernden Angst längst nicht mehr an ehrwürdige alte Redaktionen erinnernde ehemalige Redaktion, in der ich mich damals zu einer bestimmten, qualvoll frühen Stunde, sagen wir jeden Morgen gegen sieben, einzufinden hatte. Mit was für Hoffnungen eigentlich, sinnierte ich laut und öffentlich in jener Runde von Freunden, die mich ermuntert hatte, die Geschichte von der englischen Flagge zu erzählen. Den jungen Mann (er mochte zwanzig gewesen sein), den ich damals auf Grund der Sinnestäuschung, der wir alle unterliegen, als mein eigenes Ich betrachtete und empfand, sehe ich heute wie in einem Film, und dazu trägt vermutlich bei, daß er – oder ich – selbst sich (mich) auch irgendwie so gesehen hat (habe) wie in einem Film. Andererseits macht gerade das die Geschichte zweifellos erst erzählbar, die sonst wie jedes Geschehen unerzählbar, also keine Geschichte wäre, so daß ich, wenn ich es in irgendeiner Form trotzdem erzählt hätte, vermutlich genau das Gegenteil von dem erzählt hätte, was ich erzählen müßte. Dieses Leben, das Leben dieses zwanzigjährigen jungen Mannes, wurde nur dadurch in Gang gehalten, daß es erzählbar war, es spielte sich mit allen Fasern, allem krampfhaften Streben allein auf der Ebene des Erzählbaren ab. Dieses Leben war mit aller Kraft zu leben bestrebt und stand damit beispielsweise im Gegensatz zu meinem heutigen Streben, somit auch im Gegensatz zu meinem heutigen Erzählen, diesem ständig scheiternden, ständig ans Nichterzählbare stoßenden, mit dem Nichterzählbaren – natürlich vergeblich – ringenden Erzählen: Nein, dort und damals zielte das Streben, die Dinge beschreibend zu erfassen, gerade darauf, das Unfaßbare im Dunkeln zu halten, das Wesentliche also, das sich im Dunkeln abspielende, im Dunkeln tappende, die Last des Dunkels tragende Leben, denn nur so konnte dieser junge Mann (konnte ich) das Leben leben. Über das Lesen, diese Epidermis über den Schichten meiner Existenz, stand ich mit der Welt wie durch eine Art Schutzanzug in Berührung. Diese durch Lesen gemilderte, durch Lesen distanzierte, sich im Lesen selbst aufhebende Welt war, wenn auch verlogen, so doch für mich die einzig lebbare, hin und wieder sogar fast erträgliche Welt. Schließlich trat der vorhersehbare Augenblick ein, in dem ich für diese Redaktion verloren war und damit auch für … ich hätte fast gesagt, die Gesellschaft, wenn es denn eine Gesellschaft gegeben hätte, beziehungsweise wenn das, was es gab, eine Gesellschaft gewesen wäre, für dieses einer Gesellschaft ähnelnde Etwas also, diese mal wie ein geprügelter Hund winselnde, mal wie eine hungrige Hyäne heulende, dauernd nach etwas Zerfleischbarem gierende Horde war ich ebenfalls verloren; für mich selbst war ich schon längst verloren, und beinahe war ich auch fürs Leben verloren. Doch selbst an diesem Tiefpunkt – zumindest hielt ich ihn damals noch für einen Tiefpunkt, bevor ich tiefere und immer tiefere kennenlernte, schließlich die Bodenlosigkeit –, selbst an diesem Tiefpunkt blieb die Erzählbarkeit bestehen, man könnte sagen, die Einstellung der Kamera, beispielsweise der Kameralinse eines Schundromans. Wo ich ihn herhatte, welchen Titel er trug, wovon er handelte, weiß ich nicht. Heutzutage lese ich keine Schundromane mehr, seit ich mich einmal bei der Lektüre plötzlich dabei ertappte, daß es mich einfach nicht interessiert, wer der Mörder ist, und daß es in dieser – einer mörderischen – Welt nicht nur irreführend und eigentlich empörend, sondern obendrein überflüssig ist, sich den Kopf darüber zu zerbrechen, wer der Mörder ist – jeder. Es so zu formulieren kam mir damals – vor etwa vierzig Jahren – allerdings noch nicht in den Sinn, es war nicht die Art von Formwillen, in der mein damaliges – etwa vierzig Jahre zurückliegendes – Streben einen Sinn gesehen hätte, es war lediglich eine Tatsache, eine jener einfachen – wenn auch offensichtlich nicht ganz unwesentlichen – Tatsachen, mit denen ich lebte, mit denen ich leben mußte (weil ich leben wollte). Viel wichtiger war für mich die Gewohnheit des Romanhelden, eines Menschen mit einem abenteuerlichen Beruf – vielleicht Privatdetektiv –, sich jedesmal, bevor er sich auf eine seiner lebensgefährlichen Unternehmungen einließ, irgend etwas «zu gönnen», einen Whisky, gelegentlich eine Frau, manchmal reichte es ihm aber auch, mit dem Auto ziel- und hemmungslos über die Landstraße zu jagen. Dieser Detektivroman brachte mir bei, daß der Mensch in den seltenen Pausen seines Gequältseins Vergnügen braucht: Das hätte ich vorher nicht zum Ausdruck zu bringen gewagt, und wenn doch, dann allenfalls als Sünde. Zu dieser Zeit drohten mir in der Redaktion bereits tödliche Gefahren, um genau zu sein, tödlich langweilige, deswegen jedoch nicht weniger tödliche Gefahren, jeden Tag neue und doch jeden Tag die gleichen. Zu dieser Zeit waren nach einer kurzen und durch nichts gerechtfertigten Unterbrechung wieder Lebensmittelkarten in Umlauf gebracht worden, vornehmlich zum Bezug von Fleisch, im übrigen – und vornehmlich zum Bezug von Fleisch – völlig überflüssigerweise, da es an der Deckungsmenge fehlte, die der Ausgabe von Fleischmarken eine gewisse Ernsthaftigkeit hätte geben können. Zu dieser Zeit wurde das in unmittelbarer Nachbarschaft der Redaktion gelegene Restaurant «Corvin» eröffnet – oder wiedereröffnet –, das heißt, das «Corvin» genannte Restaurant des «Corvin»-Warenhauses, wo man (da das Warenhaus sich in ausländischem Besitz, genauer gesagt, im Besitz der Besatzungsbehörde befand) auch Fleisch bekommen konnte, sogar ohne Fleischmarken, wenn auch zum doppelten Preis (das heißt das Doppelte dessen, was anderswo verlangt worden wäre, hätte es auch anderswo Fleisch gegeben), und um diese Zeit, wenn abzusehen war, daß in der Redaktion wieder eine, wiewohl tödlich langweilige, so doch tödliche Gefahr auf mich lauerte – zumeist in Form der seriös klingenden «Konferenz» –, «gönnte» ich mir mitunter vorher in diesem Restaurant ein Schnitzel (nicht selten von einem Vorschuß aufs nächste Monatsgehalt, denn die Gepflogenheit der Vorschüsse behielt, offenbar infolge von Unachtsamkeit, auch dann noch eine Zeitlang Gültigkeit, als alles andere schon seine Gültigkeit verloren hatte); und mit wie vielen tödlichen und wie tödlich langweiligen Gefahren auch immer ich mich konfrontiert sah, das Bewußtsein, mir zuvor «etwas gegönnt» zu haben, das Bewußtsein meiner Wappnung also, meines Geheimnisses, ja meiner Freiheit, das in einem ohne Fleischmarken erstandenen Schnitzel und einem zu diesem Zweck aufgenommenen Vorschuß verborgen lag, wovon außer mir niemand etwas wissen konnte, allenfalls der Kellner, der jedoch nur von dem Schnitzel, und der Kassenwart, der aber wiederum nur von dem Vorschuß: dieses Bewußtsein half mir über alle Scheußlichkeit, Schmach und Demütigung eines solchen Tages hinweg. Zu dieser Zeit nämlich waren die Tage, die sich von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang hinziehenden gewöhnlichen Tage, zu einer sich von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang hinziehenden systematischen Schmach geworden, doch wie sie dazu geworden waren, die Gestaltung – oder die Folge von Gestaltungen – dieses im übrigen gewiß bemerkenswerten Vorgangs findet sich nicht mehr in meinem Gestaltungsgedächtnis, gehörte also vermutlich auch nicht zu dem, was ich damals in Worte faßte. Der Grund dafür dürfte darin liegen, daß, wie ich schon erwähnte, mein Schreiben allein dazu diente, mein Leben dahinzubringen, es von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang fortzuführen, während es das Leben selbst als etwas ebenso Gegebenes betrachtete wie die Luft, in der ich zu atmen, oder das Wasser, in dem ich zu schwimmen hatte. Die Qualität des Lebens als Gegenstand des Schreibens ließ mein Schreiben einfach außer acht, weil mein Schreiben nicht der Erkenntnis des Lebens, sondern, wie gesagt, im Gegenteil der Lebbarkeit des Lebens, also der Vermeidung der Darlegung des Lebens diente. Zu dieser Zeit fanden zum Beispiel im Land gewisse Gerichtsprozesse statt, und auf die Fragen jener Runde von Freunden, die mich ermuntert hatte, die Geschichte von der englischen Flagge zu erzählen, und die sich größtenteils aus ehemaligen Schülern von mir, größtenteils also um zwanzig bis dreißig Jahre jüngeren und damit eo ipso freilich auch nicht mehr ganz jungen Leuten zusammensetzte und sich nicht im geringsten darum scherte, ob sie mich mit ihren Fragen unterbrach und davon abhielt, die Geschichte von der englischen Flagge zu erzählen, auf die eindringlichen, beharrlichen Fragen danach also, ob ich die in den Prozessen vorgetragenen Anklagepunkte – sozusagen – «glaubhaft» gefunden und an die Schuld der Angeklagten und so weiter «geglaubt» hätte, antwortete ich, daß diese Frage, nämlich die nach Glaubwürdigkeit oder Unglaubwürdigkeit der Prozesse, mir damals überhaupt nicht in den Sinn gekommen sei. In der Welt, die mich damals umgab – eine Welt der Lüge, des Schreckens und des Mordens, wie sie sich sub specie aeternitatis zwar durchaus qualifizieren läßt, womit ich allerdings die Realität, die Einzigartigkeit dieser Welt noch nicht einmal streife –, in dieser Welt also war mir die Überlegung überhaupt nicht in den Sinn gekommen, die Prozesse könnten etwa nicht ausnahmslos erlogen sein, die Richter, die Staatsanwälte, die Verteidiger, die Zeugen, ja sogar die Angeklagten selbst könnten etwa nicht ausnahmslos lügen, hier könnte vielleicht nicht nur, und zwar unermüdlich, eine einzige Wahrheit – die des Henkers – am Werk sein, würde oder könnte außer der Wahrheit der Verhaftungen, der Einkerkerungen, der Hinrichtungen, Erschießungen und Erhängungen etwa noch eine andere Wahrheit tätig sein oder werden. All das aber formuliere ich erst jetzt so scharf, mit so eindeutig wertenden Worten – wie hätte es damals (als würde es heute) irgendeine feste Grundlage für irgendeine Wertung geben können (geben) –, jetzt, da man mich ermuntert, die Geschichte von der englischen Flagge zu erzählen, und also zwingt, von all dem unter dem Gesichtspunkt einer Geschichte zu sprechen und dem Bedeutung beizumessen, was im allgemeinen Bewußtsein – diesem in den Rang der Allgemeingültigkeit erhobenen Irrbewußtsein – inzwischen zwar Bedeutung erlangt hat, in der damaligen Realität jedoch – zumindest für mich – nur eine sehr geringe oder ganz anders geartete Bedeutung besaß. So kann ich beispielsweise nicht davon reden, daß ich zu dieser Zeit im Zusammenhang mit den zu dieser Zeit stattfindenden Prozessen irgendwelche moralische Entrüstung verspürt hätte: Ich erinnere mich nicht daran, sie verspürt zu haben, und halte es auch nicht für wahrscheinlich, einfach deshalb, weil ich überhaupt keinerlei Moral verspürte – weder bei mir noch um mich herum –, in deren Namen ich mich hätte entrüsten können. Mit alldem aber, wie gesagt, überbewerte und überinterpretiere ich bei weitem, was diese Prozesse damals für mich bedeuteten – für jenes Ich, das ich heute nur noch aus weiter Ferne sehe, so wie in einem abgenutzten, flimmernden, zu reißen drohenden Film –, denn in Wirklichkeit haben sie meine Aufmerksamkeit nur eben gestreift; sagen wir, sie bedeuteten eine Verdichtung der ständigen Gefahr und damit natürlich meines ständigen Ekels, eine Zuspitzung der mir deshalb zwar vielleicht noch nicht unmittelbar drohenden Gefahr oder, um mich poetisch auszudrücken, eine weitere Verfinsterung des Horizontes, bei der man jedoch immer noch lesen konnte, wenn es gerade etwas zum Lesen gab (zum Beispiel «Arc de Triomphe»). Mich erreichten die zur damaligen Zeit stattfindenden Prozesse nicht mit ihren im Bereich der Moral, sondern eher der Sinneswahrnehmung angesiedelten Auswirkungen, demzufolge lösten sie bei mir nicht moralische Reflexionen aus, sondern eher solche, die sich auf der Ebene der Sinnesorgane und Nervenbahnen abspielten, man könnte sagen, Stimmungsreflexionen wie den eben schon erwähnten Ekel, dann Schrecken, Befremden, zeitweiligen Unglauben, allgemeine Verunsicherung und so fort. Ich erinnere mich zum Beispiel, daß damals Sommer war und dieser Sommer gleich zu Beginn mit einer fast unerträglichen Hitze aufwartete. Ich erinnere mich, daß in diesem unerträglich heißen Sommer irgend jemand in dieser Redaktion auf den Gedanken gekommen war, daß die sogenannten «Jungjournalisten» an einer sogenannten höheren theoretischen Schulung teilzunehmen hätten. Ich erinnere mich, daß an einem besonders heißen Abend dieses ungewöhnlich heißen Sommers ein Hauptverantwortlicher dieser Redaktion, ein Haupt-Partei, ein Partei-Hauptverantwortlicher, ein allgemein gefürchteter, noch über dem Chef- und Verantwortlichen Redakteur stehender, noch verantwortlicherer, hinsichtlich seiner Autorität allerdings sattsam – wenn ich mich dieser Heideggerschen Paraphrase bedienen darf: ins Dunkel gehaltener Hauptverantwortlicher uns, den sogenannten Jungjournalisten, diese sogenannte theoretische Schulung erteilte. Ich erinnere mich auch an den Raum, in dem dieser Vortrag stattfand, diesen heute nicht mehr existierenden Raum, von dem nicht die geringste Spur zurückgeblieben ist, diesen sogenannten «Maschinenraum», worunter Schreibmaschinen, diese Schreibmaschinen attackierende Stenotypistinnen, Schreibtische, gewöhnliche Tische, Stühle, Durcheinander, eine Unzahl von Telefonen, eine Unzahl von Mitarbeitern und eine Unzahl von Lärmquellen zu verstehen sind, die an diesem Abend bereits alle zum Verstummen gebracht, ausgeschaltet und weggeräumt worden waren und sich in eine auf Stühlen sitzende andächtige Zuhörerschaft und den sie schulenden Referenten verwandelt hatten. Ich erinnere mich, daß die beiden Flügel der Balkontür offenstanden und wie sehr ich den Referenten beneidete, weil er so häufig, später quasi schon jede Minute, fast als setze er so die Kommas in seinem Vortrag, zur Abkühlung auf den mächtigen Balkon hinaustrat und erst vor der Brüstung haltmachte, wo er sich jedesmal über das Gitter lehnte und in die brodelnde Schlucht der Ringstraße hinunterschaute, und wie ich in dem stickigen Raum jedesmal voller Sehnsucht an das staubige Blattwerk der Bäume am Straßenrand dachte, das sich vielleicht gerade in der Abendluft bewegte, an die darunter dahinschlendernden Passanten, an die schäbige Terrasse des gegenübergelegenen Café Szimplon, jetzt Szimpla, und an die auf hohen Absätzen schon eilig ihren in der Népszínház- oder Bérkocsis-Straße gelegenen Standplätzen keineswegs heimlich entgegenklappernden heimlichen Prostituierten. Um so auffälliger war, obwohl ich dem erst später größere Bedeutung beimaß, daß der inzwischen krebsrot angelaufene Hauptverantwortliche, dem der Schweiß in Strömen von der Stirn rann und der tatsächlich zitterte, wie ich damals glaubte (falls ich damals überhaupt etwas glaubte), vor Anstrengung, es nach dem Ende des Vortrags gar nicht besonders eilig hatte, auf die Straße hinauszukommen, im Gegenteil, sich kaum von uns losreißen konnte, einige noch einzeln ins Gespräch zog, bis wir uns endlich doch irgendwie von ihm befreiten und auch ich auf den Balkon hinaustreten und mit einem Seufzer der Erleichterung auf die Straße hinunterschauen konnte, wo eben gerade der Hauptverantwortliche aus dem Haus trat und aus dem schwarzen Auto, das am Straßenrand wartete, eben gerade die bekannten beiden dienstbereiten Männer heraussprangen und dem Hauptverantwortlichen überaus eifrig, wenngleich vielleicht auch ein wenig aufdringlich in das schwarze Auto halfen, während in der unerwartet eintretenden Stille, die an solch unerträglichen Tagen manchmal bei Einbruch der Dunkelheit, quasi als Höhepunkt oder Orchesterpause, den Lärm der Städte für einen kurzen Augenblick unterbricht, plötzlich wie Irrlichter die Straßenlampen aufleuchteten. Ihr, reife, gebildete Menschen, sagte ich in jener hauptsächlich aus meinen ehemaligen Schülern bestehenden Runde von Freunden, die mich immer wieder ermunterte, die Geschichte von der englischen Flagge zu erzählen, werdet heute nicht mehr überrascht sein, wenn ihr erfahrt, wohin dieses schwarze Auto sein Opfer brachte und daß der Hauptverantwortliche vom Balkon aus immerfort nach dem unten wartenden schwarzen Auto geschaut hatte, eine Weile in der Hoffnung, daß dieses schwarze Auto nicht auf ihn warte, bis er im Laufe der Zeit – während des Vortrags – zu der unumstößlichen Gewißheit gelangte, daß es sehr wohl auf ihn wartete und daß er nach dieser Gewißheit nur noch, so gut es ging, die Zeit in die Länge ziehen und den Augenblick seines Abgangs, des Hinaustretens aus dem Eingangstor hinauszögern konnte; ich hingegen weiß nicht, was mich mehr und natürlich unangenehmer überraschte, vier, fünf oder sechs Jahre später, auf der damals noch existierenden Allee der Andrássy-, Stalin-, Ungarische-Jugend-, Volksrepublik- usw. Straße, die Begegnung mit einem menschlichen Wrack, einem halb erblindeten, gebrochenen alten Mann, in dem ich zu meinem großen Entsetzen jenen ehemaligen Hauptverantwortlichen wiedererkannte, oder die am Tag nach der Balkonszene in aller Eile einberufene Redaktionskonferenz, eine sogenannte Kurz-Konferenz, in deren Verlauf ich über den tags zuvor noch allgemeine Furcht, allgemeine Huldigung und allgemeine Kriecherei evozierenden Hauptverantwortlichen die ungeheuerlichsten Dinge hören mußte. Diese Ungeheuerlichkeiten brachte uns, mal in hysterisches Stampfen verfallend wie ein verwöhntes Kind, mal in die unverständlichen Wutausbrüche eines sich in tödlichem Entsetzen auf irgendeinen menschlichen Urzustand, auf eine pulsierende Amöbe, eine gallertartige bloße Seinsmasse reduzierenden und sich in diesen reduzierten Zustand völlig hineinsteigernden Wesens, der Chef- und Verantwortliche Redakteur zur Kenntnis, der tags zuvor selbst noch vor diesem Hauptverantwortlichen liebedienerisch, angstvoll und anbiedernd gekrochen war. Die seine ungeheuerlichen Behauptungen an Ungeheuerlichkeit noch übertreffenden Worte des Mannes zu zitieren wäre heute völlig unmöglich und auch völlig überflüssig: ein aus allerlei Beschuldigungen und Beschimpfungen, Beteuerungen, Entschuldigungen, Verunglimpfungen, Versprechungen, Drohungen und dergleichen bestehendes Kauderwelsch, auf rüdeste Weise vorgebracht – bei den Beschimpfungen beispielsweise auch nicht vor Tiernamen zurückschreckend, vor allem hundeartigen Raubtiernamen, bei den Beteuerungen Worte bigottester Religionspraxis hervorzerrend. Jetzt wäre ich wirklich neugierig, ob man sich in dem Freundeskreis, der mich ermunterte, die Geschichte von der englischen Flagge zu erzählen, diese Szene auch nur annähernd vorzustellen vermochte, worum ich sie damals ersuchte, da ich leider selber nicht über die nötigen Fähigkeiten zur Veranschaulichung, die nötigen Ausdrucksmittel verfüge: Sosehr sie auch nickten, sich bemühten, probierten, ich bin mir sicher, daß sie letzten Endes nicht dazu fähig waren, einfach deshalb, weil diese Szene nicht vorstellbar ist. Es ist nicht vorstellbar, daß ein erwachsener, gut vierzigjähriger Mann, der mit Messer und Gabel ißt, sich einen Schlips umbindet, die Sprache der gebildeten Mittelschicht spricht und als Chef- und Verantwortlicher Redakteur den Anspruch erhebt, daß man seiner Urteilsfähigkeit vorbehaltlos vertraut: es ist nicht vorstellbar, daß ein solcher Mensch, ohne daß er betrunken oder plötzlich verrückt geworden wäre, sich auf einmal im Dreck seiner eigenen Angst suhlt und unter krampfartigen Zuckungen offensichtlichen Unsinn krächzt; es ist nicht vorstellbar, daß eine solche Situation entstehen kann, beziehungsweise, da sie entstanden ist, ist nicht vorstellbar, wie sie entstehen konnte; und schließlich ist die Situation selbst nicht vorstellbar, die Szene in all ihren Einzelheiten: die verängstigt vor einem herumgestikulierenden Hanswurst sitzende Gruppe, erwachsene Männer und Frauen, dreißig-, vierzig-, fünfzig-, sogar sechzig- und siebzigjährige Journalisten, Stenographen, Stenotypisten, Fachleute aller Art, die wir uns betroffen, mit scheinbar ernsten Mienen und ohne jeden Widerspruch diese in wütender Selbstverleugnung, in einem wahren Paroxysmus der Selbstverleugnung vorgetragenen und allem gesunden Menschenverstand, aller Besonnenheit, allem Maßhalten hohnsprechenden, nahezu bedeutungslosen wortähnlichen Interjektionen anhörten. Ich wiederhole: die Frage nach der Glaubwürdigkeit oder Unglaubwürdigkeit dieser Wörter, dieser Anschuldigungen kam mir überhaupt nicht in den Sinn, diese in Schundromane gehörenden Wörter, diese an Ketzerchroniken des Mittelalters erinnernden Anschuldigungen hatten die Region des Beurteilbaren weit hinter sich gelassen – denn wer hätte hier schon urteilen können außer denen, die verurteilten? Welche Wahrheit hätte ich hier empfinden können außer der Wahrheit dieser lächerlichen, dieser – im Grunde – kindischen Szene, nun, und der Wahrheit, daß ein jeder jederzeit in einem schwarzen Auto weggebracht werden konnte, einer – im Grunde – ebenfalls nur kindischen Binsenwahrheit. Ich wiederhole: Dieser benommene, zögernde, ununterbrochen zwischen Entsetzen und Lachlust hin und her geworfene, zwanzig Jahre junge Mann (ich) nahm allein wahr, daß ein Mensch, der gestern hier noch ein Hauptverantwortlicher war, heute schon mit den Namen hundeartiger Raubtiere beschimpft und in einem schwarzen Auto jederzeit sonstwohin gebracht werden konnte – das heißt, er (ich) nahm allein das Fehlen jeder Beständigkeit wahr. Und so ließ ich mich in der Runde von Freunden, die mich ermuntert hatte, die Geschichte von der englischen Flagge zu erzählen, unerwartet zu der Bemerkung hinreißen, daß Moral (in gewisser Hinsicht) möglicherweise nichts anderes sei als Beständigkeit und daß Zustände, die sich durch einen Mangel an Beständigkeit auszeichnen, möglicherweise aus keinem anderen Grunde herbeigeführt werden als dem, keinen auf Moral gegründeten Zustand entstehen zu lassen: Auch wenn diese am Teetisch fallengelassene Bemerkung sich unter den sehr viel bedachtsameren Umständen des Schreibens natürlich als äußerst leichtfertig und wahrscheinlich, ja ganz sicher, als größtenteils unhaltbar erweist, halte ich davon doch so viel aufrecht, daß zumindest zwischen Ernsthaftigkeit und Beständigkeit eine enge Verbindung besteht. Der Tod, wenn wir uns ein Leben lang beständig auf ihn vorbereiten, wie auf die uns erwartende wahre, ja – eigentlich – einzige Aufgabe, wenn wir ihn ein Leben lang gleichsam einüben, wenn wir lernen, ihn als – letzten Endes – beruhigende – wenn auch nicht befriedigende – Lösung zu betrachten: das ist eine ernsthafte Sache. Der Ziegelstein aber, der uns zufällig auf den Kopf fällt, ist nicht ernsthaft. Der Henker ist nicht ernsthaft. Doch siehe da, trotzdem fürchten auch die den Henker, die den Tod nicht fürchten. Damit möchte ich nichts weiter als meinen Zustand, meinen damaligen Zustand – wenn auch unzulänglich – beschreiben. Wie ich mich auf der einen Seite fürchtete, auf der anderen Seite lachte, doch vor allem in gewisser Hinsicht in Verwirrung, ich könnte auch sagen in eine Krise geraten war, daß ich die Zuflucht zu meinem Schreiben verloren hatte, daß mein Leben, vielleicht infolge des beschleunigten Tempos, der Dynamik, immer weniger erzählbar, demzufolge die Fortführbarkeit meiner Lebensweise immer zweifelhafter geworden war. Ich muß hier daran erinnern, daß ich als Journalist das Beschreiben des Lebens berufsmäßig betrieb – das heißt hätte betreiben müssen. Zwar war das journalistische Gebot der Wirklichkeitsbeschreibung schon bald gleichbedeutend mit Lüge: aber wer lügt, denkt ja im Grunde genommen