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Imre Kertész gehört seit seinem «Roman eines Schicksallosen» zu den großen europäischen Schriftstellern. Ein Mann muß mit dem Fiasko fertig werden, daß sein «Roman eines Schicksallosen» abgelehnt wurde. So erfindet er sich einen Helden, dem er die Bürde seiner eigenen Erfahrungen auflädt. «Ein beklemmendes Werk.» (Frankfurter Rundschau)
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Seitenzahl: 535
Imre Kertész
Fiasko
Roman
Aus dem Ungarischen von György Buda und Agnes Relle
Der Alte stand vor dem Sekretär. Er dachte. Es war früher Morgen. (Relativ früh: ungefähr zehn.) Um diese Zeit dachte der Alte immer.
Der Alte hatte viel Kummer und Sorgen, er hatte also genug zu denken.
Doch der Alte dachte nicht darüber nach, worüber er hätte nachdenken sollen.
Worüber er nachdachte, weiß man nicht recht. Es war ihm nur anzusehen, daß er dachte, nicht aber, was er dachte. Möglich, daß er auch nichts dachte. Es war lediglich früher Morgen (relativ früh: ungefähr zehn), und er war es gewohnt, immer um diese Zeit zu denken. Der Alte hatte sich schon eine solche Routine beim Denken angeeignet, daß er selbst dann noch den Anschein erwecken konnte zu denken, wenn er gar nichts dachte, obwohl er vielleicht selbst glaubte, daß er dächte. So ist es, daran ist nichts zu beschönigen.
Der Alte stand also denkend (in Gedanken verloren) vor seinem Sekretär.
Es läßt sich nicht vermeiden, an dieser Stelle einige Worte über den Sekretär fallenzulassen.
Dieser Sekretär war ein direkter Sprößling des Büchereckschrankes, dessen beide Flügel die südwestliche Ecke des sich mit seiner Straßenseite nach Westen wendenden Zimmers einnahmen, genauer, den Raum vom südlichen Rand des sich in Nordsüdrichtung erstreckenden Fensters bis zur Zimmerecke sowie den Raum westlich der an der Ostwestwand plazierten Kommode bis zur Ecke, über eine ungefähr 1,20Meter lange Wandauskragung hinweg, deren Bewandtnis nie von jemandem geklärt werden konnte und die (sozusagen verschämt) durch eine aufgeklebte (auffallend schlecht aufgeklebte) (gleichsam als Teil des Bücherschrankes zu betrachtende) Holzplatte, wenn auch nicht ganz bis zur Decke, so doch bis zur vollen Höhe des Bücherschrankes – das heißt gut zwei Meter hoch – verdeckt war.
Haben wir uns einmal so weit darauf eingelassen, dann soll auch nicht verschwiegen werden, daß der erwähnte Bücherschrank wiederum dank der Findigkeit eines benachbarten Tischlermeisters aus den Bettzeugladen zweier ehemaliger Récamieren hervorgegangen war, während ein schon weniger benachbarter Polstermeister aus den Polstern der Récamiere zwei moderne Liegen angefertigt hatte, die noch immer, allerdings neubezogen, an der Nordwand, in der nordwestlichen und der nordöstlichen Ecke, des Zimmers standen.
Es ist vielleicht schon angeklungen, daß es früher Morgen war. (Relativ früh: ungefähr zehn.) Jetzt können wir die Umstände durch weitere Fakten ergänzen: Es war ein herrlicher, milder, ein wenig dunstiger, aber sonniger Nachsommer-(Frühherbst-)Morgen.
Während der Alte zu dieser relativ morgendlichen Stunde – ungefähr zehn – vor seinem Sekretär stand und dachte, fühlte er sich einen Augenblick lang versucht, das Fenster zu schließen.
Er brachte es jedoch nicht übers Herz, so herrlich war dieser milde, ein wenig dunstige, aber sonnige Nachsommer-(Frühherbst-)Morgen draußen.
Es war, als würde sich über den vor dem Sekretär stehenden Alten und die weitere Umgebung eine bläulich schimmernde Glasglocke wölben.
Dieses Bild versucht – wie treffende Vergleiche im übrigen allgemein – der gesteigerten Anschaulichkeit aufkommender Assoziationen zu dienen. Wir müssen uns nämlich mit eingeschlossen unter einer gut schließenden Glasglocke den aus zahllosen Quellen einer verkehrsreichen Straße stammenden Lärm und Gestank vorstellen, denn zu einer solchen Straße öffnete sich das Fenster, südlich dessen – das heißt, wenn man davorsteht, linker Hand – der Alte vor dem Sekretär stand und dachte.
Es war eine schreckliche Straße.
Die Schlucht der Lügen, so nannte der Alte sie.
Eigentlich war sie nur Nebenstraße. (Nach der offiziellen Deklaration.)
Doch zwischen zwei Hauptstraßen eingeklemmt, bewältigte die Nebenstraße – was konnte sie anderes tun – den Verkehr zweier Hauptstraßen.
Am Rande des Gehwegs ragten in Nordsüdrichtung hintereinander die verschiedenartigsten Verkehrsschilder auf (lauter schreiende Sinnbilder der Vergeblichkeit), während die südliche Einmündung der Straße – die zugleich Knotenpunkt einer abbiegenden Haupt- und dreier hier aufeinandertreffender Nebenstraßen war – durch eine Verkehrsampel versperrt wurde, die sich aufführte, als sei die Straße tatsächlich eine Nebenstraße, das heißt, aus der vor ihr stehenden heulenden, dröhnenden, vibrierenden und stampfenden Autohorde, in der sich von Kleinwagensäuglingen bis zu Riesensattelschleppern alle Größenordnungen fanden (mit den entsprechenden Abgasen und Geräuschfrequenzen) (wobei die letzteren manchmal in einem verblüffenden Gegensatz zu den Größenmaßen standen, wenn sie sich im allgemeinen auch als proportional erwiesen) erlaubte sie nur jeweils zweien oder dreien die Durchfahrt, bevor sie wieder auf Verbot schaltete.
Offiziell verkehrte keine Straßenbahn in der Straße.
Inoffiziell aber durchquerten alle aus einem bestimmten Depot aus- oder in dieses einlaufenden Straßenbahnwagen, die den Verkehr auf einer der Hauptstraßen abwickelten, so als wäre es nicht weiter der Rede wert, die zwischen zwei Hauptstraßen eingeklemmte Nebenstraße.
Aus der Schlucht der Lügen bricht sich Heulen, Wimmern, Quietschen, Rumpeln, Wehklagen und hemmungsloses Grölen seinen Weg nach oben, wie vom Grund eines brodelnden Kessels, durch Schwaden mal schwarzer, mal nur grauer, nach Einbruch der Dunkelheit (und vor Einbruch des Winters) (denn der Schornsteine haben wir bis jetzt überhaupt noch nicht Erwähnung getan) allenfalls noch träger bläulicher Gase hindurch – bis in der Frühe um halb vier in rasendem Galopp, das leere Heck wie eine brünstige Stute herumwerfend, in der nördlichen Einmündung der Straße der erste Autobus auftaucht, der erste Vorbote ganzer nun aus ihren Depots auslaufender Busgeschwader (und gleichzeitig neuer Schwaden schwarzer Gase des neuen Tages).
Die von Norden nach Süden (oder Süden nach Norden) verlaufende Straße wird von kaum mehr als zehn bis fünfzehn Häusern gesäumt, und doch hat dieser verhältnismäßig kleinen Anzahl von Häusern eine ganze Geschichtsepoche ihren Stempel aufgedrückt, deren zeitlicher Verlauf sich – eigentümlicherweise – räumlich gesehen in Südnordrichtung ausdrückt.
Auf den mittleren Teil der östlichen Straßenseite entfiel die erste Hälfte der vierziger Jahre.
Diese Jahre waren vom Krieg, die Bauarbeiten von schnellen Investitionen und einer sowohl damit als auch mit einer durch kriegsbedingten Materialmangel einhergehenden Pfuscherei geprägt.
In einem solchen Haus bewohnte der Alte eine kleine Garçonniere im zweiten Stock (ein Zimmer, Flur, Bad, Teeküche, insgesamt 28m², Kommunalwohnung mit einer von ursprünglich 120 – durch turnusmäßige Erhöhungen – auf gegenwärtig immer noch nur 300Forint gestiegenen Miete), wo er aufgrund des Eherechts seit Jahrzehnten einstweilig gemeldet war (da seine ständige Anmeldung – als Familienangehöriger ersten Grades – für die Wohnung seiner Mutter galt – wo er allerdings nie, nicht einmal vorübergehend gewohnt hatte–, im Hinblick darauf, daß die alte Dame, die hoffentlich so lange leben würde als einem Menschen irgend möglich, schließlich doch einmal das Unvermeidliche…) (mit einem Wort, daß die infolge jenes schließlich doch unvermeidlichen Vorfalls eines Tages frei werdende Wohnung mittels dieses kleinen Tricks dann dem Alten zufiele) (falls dieser kleine Trick – wie aufgrund des allgemeinen Gewohnheitsrechts zu hoffen – auch auf die Billigung der zuständigen Gemeindebehörde stieße) (und obgleich es dabei gleichfalls nur um ein Zimmer ging, jedoch ein großes, in Grünlage und mit allem Komfort, was heißt, daß die Wohnung, in der der Alte ständig gemeldet war, auch wenn er dort nie, nicht einmal vorübergehend gewohnt hatte, zweifellos – und sei es nur als Tauschobjekt – die günstigere war).
Da die Einrichtung dieser Wohnung – also der, in der der Alte nur einstweilig gemeldet war, aber ständig wohnte – sich von vornherein auf die allerwichtigsten Dinge beschränkte, dürfen wir wohl davon ausgehen, daß das, was nun im Folgenden von dem Allerwichtigsten als das Allerallerwichtigste hervorgehoben wird, zumindest im Hinblick auf unsere Geschichte nicht unwichtig ist.
Der sich (von der Eingangstür her) in Ostwestrichtung erstreckende Flur, von dem man durch eine in der Mitte durch eine waagerechte lackierte Holzleiste geteilte Ornamentglastür (genauer, unter Übergehung dieser – wegen des Luftmangels im Vorraum immer offenstehenden – Tür) ins Wohnzimmer trat, wurde an der Südseite von der Tür zur Teeküche und der etwas westlich davon befindlichen Badezimmertür gesäumt, während die noch etwas weiter westlich davon frei bleibende, etwa 80cm breite Wandfläche einer Flurgarderobe (mit Hutablage) Platz bot.
Die nördliche Wand des Flurs war in ihrer ganzen Länge, von Türstock zu Türstock, mit einem gefälligen Kunststoffvorhang verdeckt, hinter dem sich ein ausgeklügeltes Kleiderhaken- und Regalsystem mühte, die beiden verschieden großen, klobigen Flurschränke vergessen zu machen, die früher dort gestanden und der ständigen Antipathie der Frau des Alten lange Zeit erfolgreich getrotzt hatten, letztlich aber – wie es der Natur der Materie angeblich eigen ist – nicht verlorengegangen, sondern nur verwandelt worden waren, und zwar in eben dieses ausgeklügelte System von Kleiderhaken und Regalen; ja, ein ca. 7 × 7cm großes Originalstück eines der beiden Schränke (das wegen des darauf erkennbaren Wachssiegels Erwähnung verdient) (dessen Inschrift allerdings durch im Laufe der Jahre immer neu aufgetragene gelblichweiße Farbschichten schon fast unleserlich geworden war) wird sich sogar im Laufe unserer Geschichte zum gegebenen Zeitpunkt in einem der Pappkartons des Alten wiederfinden (in welchem, wußte er selbst nicht).
Und damit sind wir bereits bei der in ihrer Mitte horizontal durch eine lackierte Holzleiste geteilten Ornamentglastür angekommen, durch die (genauer, unter Übergehung dieser – wegen des Luftmangels im Flur immer offenstehenden – Tür) wir ins Wohnzimmer eintreten können.
In der südöstlichen Ecke dieses (mit der Straßenseite nach Westen gehenden) Zimmers befand sich ein Kachelofen, nördlich bzw. westlich des Kachelofens stand – unter Einhaltung angemessener Abstände – je ein Armstuhl (Typ MayaII., verwendete Materialien: Buche, Nitrolack, P.P.-Gurte, Poranschaum, Polsterstoff; die Möbelqualität entspricht den Anforderungen nach Norm MSZ 8976/4/72 und 8977-68, VOR NÄSSE SCHÜTZEN!), zwischen den Armstühlen (und etwas weiter nordwestlich des Kachelofens) eine Stehlampe (deren Schirm etwa alle fünf Jahre erneuert wurde) und noch etwas weiter nach Nordosten ein schmächtiges, fragiles Ding auf dünnen Beinchen, der bescheinigten Produktqualität zufolge ein Minikindertisch, I.-Kl.-Spezialschnittware, schichtverleimt, I.-Kl.-Hartholz – seiner Funktion nach eher eine Art Beistelltisch.
Nach dem (unter Einhaltung eines angemessenen Abstandes) nördlich des Kachelofens plazierten Armstuhl kam wieder ein (kleinerer) Abstand, dann folgten die Ornamentglastür, genauer – da diese Tür wegen des Luftmangels im Flur immer offenstand – eine Öffnung in der Größe der Tür, dann der offene Flügel der Ornamentglastür, dann Abstand und nach dem Abstand – bereits in der nordöstlichen Zimmerecke – die eine Liege mit ihrer Schmalseite, weiter die Zimmerecke, dann – bereits entlang der nördlichen Wand – die Längsseite der Liege, Abstand, eine niedrige Kommode, Abstand und zuletzt die andere Liege, die sich mit ihrer Längsseite aber schon an die Westseite des Zimmers schmiegte und in Nordsüdrichtung bis unters Fenster ausdehnte, wo sich dann, nach einem Abstand, weiter südlich ein Tisch (genauer der Tisch, der einzige, eigentliche Tisch der Wohnung) hinzog, weiter nach Süden, beinahe bis in die südwestliche Zimmerecke, die zu erreichen ihn nur das dort befindliche und für den aufmerksamen Leser sicherlich nicht ganz unbekannte Möbelstück hinderte.
Unsere Aufgabe ist wesentlich einfacher, wenn wir von dem (unter Einhaltung eines angemessenen Abstandes) westlich des Kachelofens plazierten Armstuhl ausgehen, also entlang der südlichen Zimmerwand; denn dort haben wir nach einem weiteren Abstand weiter westlich nur eine niedrige Kommode (das genaue Ebenbild und Pendant der gegenüberstehenden Kommode), wieder Abstand, dann die Wandauskragung (deren Bewandtnis noch nie von jemandem geklärt werden konnte) und zuletzt – bereits in der südwestlichen Zimmerecke – jene Hybride von Bücherschrank und Sekretär, jenen Bücher- und Aktenschrank-Kentauren (wenn es erlaubt ist, uns auf eine solche Begriffs- und Bildverwirrung einzulassen), vor dem an einem herrlichen, milden, ein wenig dunstigen, aber sonnigen Nachsommer-(Frühherbst-)Morgen der Alte stand und dachte.
Bevor es zu einer endgültigen Fixierung von sicherlich schon ausgeprägten Vorstellungen kommt: unsere bis jetzt zwanglose Wortwahl bedarf von nun an wohl einer gewissen Erklärung.
So wie – zum Beispiel – der Sekretär kein richtiger Sekretär oder, nehmen wir ein anderes Beispiel, die Nebenstraße des Alten (die Schlucht der Lügen nannte sie der Alte) keine richtige Nebenstraße war, so war auch der Alte kein richtiger Alter.
Alt war er schon (daher nennen wir ihn ja den Alten).
Und doch war der Alte nicht deshalb alt, weil er alt war – das heißt, er war kein alter Mann (obwohl er natürlich auch kein junger war) (daher nennen wir ihn ja den Alten).
Vermutlich wäre es das einfachste, zu sagen, wie alt er war (wenn uns nicht vor so ungemein fraglichen Gewißheiten grauste, die sich von Jahr zu Jahr, von Tag zu Tag, ja von Stunde zu Stunde ändern) (und wer vermöchte schon zu sagen, wie viele Jahre, Tage und Stunden unsere Geschichte umspannen wird) (und in welche Richtung sich diese Spanne wölben wird) (so daß wir uns auf einmal in einer Lage finden könnten, die uns nicht mehr gestattet, für unsere verfrühten Aussagen geradezustehen).
In Ermangelung von Besserem stützen wir uns also auf eine unserer – keineswegs sehr originellen – Beobachtungen:
Wenn auf den Schultern eines Menschen ein halbes Jahrhundert lastet, geht er entweder in die Knie, oder aber er bleibt irgendwie stehen oder hängen (gleichsam am Angelhaken der Zeit) (der ihn natürlich fortwährend zieht und zerrt, hinüber in die Öde des jenseitigen Ufers, aus dem Reich satter Farben und voller Formen in die schemenhafte, dürre Abstraktion), und ein Moment von Dauer stellt sich ein, doch so, als gäbe es ihn gar nicht, das heißt, er gaukelt uns vor, als sei irgend etwas noch nicht endgültig entschieden (quasi, ob die Schnur stark genug ist) (und obzwar wir alle wissen, daß sie stark genug ist, erweckt doch schon der Umstand, daß sie – des sicheren Fanges halber – ein wenig nachgelassen wird, irrige Annahmen) (insbesondere bei jenen, denen es schon einmal gelungen ist, die Schnur zu zerreißen) (aber wir wollen unserer Geschichte nicht vorgreifen).
Wenn wir also weiterhin aufrechterhalten – und wir erhalten es aufrecht–, daß der Alte alt war, so müssen wir diese Wortwahl (welche uns nicht die Erscheinung des Alten in den Mund legt, aber auch nicht das überlegene Wissen eines Standesbeamten) offensichtlich mit etwas anderem begründen.
Nichts leichter als das.
Der Alte fühlte sich nämlich selbst – und daß er dazu im wesentlichen allen Anlaß hatte, können wir kaum bestreiten – wie jemand, der alt ist, jemand, dem nichts mehr widerfahren kann, nichts Neues, ob gut oder schlecht (vorbehaltlich der keineswegs gleichbedeutenden Chancen von ein wenig besser oder ein wenig schlechter) (obwohl das am Wesentlichen im wesentlichen nichts ändert): wie jemand, dem alles schon widerfahren ist (auch das, was noch geschehen könnte oder hätte geschehen können), der seinen Tod – vorläufig – überlistet, sein Leben – endgültig – gelebt, für seine Sünden seine bescheidene Belohnung, für seine Tugenden seine strenge Strafe erhalten hat und schon lange auf jener grauen Liste steht, die – wer könnte sagen, wo und nach was für Eingebungen – über die Überzähligen geführt wird; wie einer, der allem zum Trotz Tag für Tag morgens daran erwacht, daß er dennoch existiert (und dieses Empfinden als gar nicht so unangenehm erlebt) (wie er es vielleicht hätte erleben können) (wenn er immer alles in Betracht gezogen hätte) (was er indes überhaupt nicht tat).
Demzufolge spricht also auch nichts dafür, vielleicht anzunehmen, der Alte dächte über diese Dinge nach, wenn er vor dem Sekretär stand und dachte.
Nein, es war lediglich früher Morgen – relativ früh: ungefähr zehn–, und er war es gewohnt, immer um diese Zeit zu denken.
Das war seine Lebensregel.
Jeden Tag, wenn es (ungefähr) zehn Uhr wurde, begann er sofort zu denken.
Das ergab sich so aus seinen Lebensumständen; vor zehn nämlich konnte er sich dem Denken noch nicht widmen, wenn er aber erst später damit anfing, machte er sich Vorwürfe wegen der verlorenen Zeit (was indes nur zu weiterem Zeitverlust führte, das heißt ihn noch mehr behinderte, wenn es ihn – im Extremfall – nicht sogar ganz und gar hinderte zu denken).
So stand der Alte also um (ungefähr) zehn Uhr, wie automatisch und vollkommen unabhängig von der Denkintensität – ja, sogar unabhängig davon, ob er wirklich dachte oder nicht (er hatte sich schon eine solche Routine beim Denken angeeignet, daß er auch dann noch den Anschein erwecken konnte zu denken, wenn er gar nichts dachte, obwohl er vielleicht selbst glaubte, daß er dächte) – vor dem Sekretär und dachte.
Um (ungefähr) zehn Uhr nämlich blieb der Alte allein in der Wohnung zurück (was bei ihm zur Voraussetzung des Denkens zählte), nachdem sich seine Frau schon früher auf den langen Weg in das Bistro am Rand der Stadt gemacht hatte, wo sie in der Eigenschaft als Serviererin ihr Brot verdiente (und manchmal auch des Alten) (wenn das Schicksal es gerade so wollte) (und es wollte es wahrlich nicht nur einmal so).
Seine Badezimmerobliegenheiten hatte er bereits beendet.
Auch seinen Kaffee hatte er (in dem – unter Einhaltung eines angemessenen Abstandes – westlich des Kachelofens plazierten Armstuhl) schon getrunken.
Die erste Zigarette hatte er auch schon geraucht (zwischen dem sich nach Westen zu öffnenden Fenster und der zum Osten hin verschlossenen Eingangstür auf und ab gehend) (mit einem kleinen Schritt zur Seite an der Engstelle zwischen dem gefälligen Kunststoffvorhang und der geöffneten Badezimmertür) (welche, der Lüftung halber, ständig offenstand, da der Flur noch schlechter belüftet war als das schlecht belüftete Badezimmer).
Das war also die Vorgeschichte – wenn auch nicht der Grund (aber doch in jedem Fall die Voraussetzung) – dazu, daß der Alte an diesem herrlichen, milden, ein wenig dunstigen, aber sonnigen Spätsommer-(Frühherbst-)Morgen um (ungefähr) zehn Uhr vor dem Sekretär stand und dachte.
Der Alte hatte viel Kummer und Sorgen, er hatte also genug zu denken.
Doch der Alte dachte nicht darüber nach, worüber er hätte nachdenken sollen.
Man kann aber auch nicht behaupten, es seien ihm davon – also von dem, worüber er hätte nachdenken sollen – nicht einmal die vordringlichsten Sorgen in den Sinn gekommen.
O doch.
Ich stehe hier bloß vor dem Sekretär und denke, dachte der Alte, anstatt endlich etwas zu tun.
Nun ja: er hätte schon längst anfangen müssen, ein Buch zu schreiben – so ist es, daran ist nichts zu beschönigen.
Der Alte schrieb nämlich Bücher.
Das war sein Beruf.
Beziehungsweise – wenn wir genauer sein wollen – es hatte sich so ergeben, daß es sein Beruf geworden war (weil er sonst keinen Beruf hatte).
Er hatte schon mehrere Bücher vollendet, ganz besonders sein erstes: An diesem Buch hatte er (da das Bücherschreiben zu jener Zeit noch nicht sein Beruf war und er dieses Buch nur so, man könnte sagen, aus seiner eigenen, willkürlichen Laune heraus schrieb) ein gutes Jahrzehnt gearbeitet, und dann war es nur unter ziemlich widrigen Umständen – und nach dem Verstreichen von zwei weiteren Jahren – in Druck gegangen; für das zweite Buch erwiesen sich bereits vier Jahre als ausreichend; auf die weiteren Bücher aber verwandte er (nachdem das Bücherschreiben inzwischen sein Beruf geworden war beziehungsweise – um genauer zu sein – es sich so ergeben hatte, daß es sein Beruf geworden war) (weil er sonst keinen Beruf hatte) nur noch die zu ihrer Fertigstellung notwendige Zeit, im wesentlichen proportional zur Dicke der Bücher – denn er mußte (nachdem es sich so ergeben hatte, daß es sein Beruf geworden war) bestrebt sein, möglichst dicke Bücher zu schreiben, in seinem eigenen Interesse, dieweil dickere Bücher auch dickere Honorare einbrachten als dünne Bücher, für welche – da sie dünner waren – auch die Honorare dünner waren (proportional zu ihrer Dünnheit) (und unabhängig vom Inhalt) (nach der vom Minister für Kulturelle Angelegenheiten – im Einvernehmen mit dem Finanzminister, dem Minister für Arbeitsangelegenheiten, dem Vorsitzenden des Staatlichen Material- und Preisamtes sowie dem Staatlichen Gewerkschaftsrat – erlassenen Verordnung 1/1970.III.20.MM, betreffend die Bedingungen für Verlagsverträge und Autorenhonorare).
Nicht daß der Alte darauf gebrannt hätte, ein neues Buch zu schreiben.
Nur war schon seit langem kein Buch mehr von ihm erschienen.
Wenn es so weiterging, würde sein Name bald in Vergessenheit geraten.
Was den Alten – für sich betrachtet – im übrigen nicht im mindesten gestört hätte.
In gewisser Hinsicht – und das war gerade der Haken – mußte es ihn allerdings dennoch stören.
Nur noch wenige Jahre, und er erreichte die Altersgrenze: Er könnte Schriftsteller im Ruhestand werden (ein Schriftsteller also, der es sich mit seinen Büchern verdient hat, keine Bücher mehr schreiben zu müssen) (obwohl er es natürlich tun könnte, falls er doch Lust dazu hätte).
Das war – wenn er von allen nebulösen Vorstellungen absah und sich ans Handfeste hielt – das eigentliche Ziel seiner literarischen Arbeit.
Um also keine Bücher mehr schreiben zu müssen, mußte er noch einige schreiben.
Und zwar möglichst viele.
Wollte er nämlich das eigentliche Ziel seiner literarischen Arbeit nicht aus den Augen verlieren (das heißt, Schriftsteller im Ruhestand zu werden, ein Schriftsteller also, der es sich mit seinen Büchern verdient hat, keine Bücher mehr schreiben zu müssen), dann mußte er befürchten, daß sein in Vergessenheit geratender Name die für die Höhe seiner Pension maßgeblichen Faktoren nach dem Maße des Vergessens – das heißt zu seinem Nachteil – beeinflussen würde (von welchen Faktoren er allerdings keine genauen Informationen besaß, aber irgendwie – und vielleicht nicht ganz unlogischerweise – die Vorstellung, daß, wenn dickere Bücher ein dickeres Honorar, dann viele Bücher auch eine höhere Pension bedeuten) (was natürlich – wie bereits erwähnt – in Ermangelung genauerer Informationen nur eine Vorstellung des Alten, allerdings eine vielleicht nicht ganz unlogische Vorstellung war).
So mußte den Alten also doch stören – was ihn sonst an sich nicht im mindesten gestört hätte–, daß sein Name bald in Vergessenheit geraten würde.
Und folglich hätte er, ohne daß er darauf brannte, ein neues Buch zu schreiben, schon längst damit anfangen müssen.
Nur daß er keine Idee hatte. (Was ihm auch sonst schon passiert war, regelmäßig aber erst, seit das Schreiben sein Beruf geworden war beziehungsweise – wenn wir genauer sein wollen – seit es sich so ergeben hatte, daß es sein Beruf geworden war) (weil er sonst keinen Beruf hatte).
Es ging nur um ein Buch. Was für ein Buch auch immer, es brauchte nur ein Buch zu sein (der Alte wußte schon lange, daß es ganz egal war, was für ein Buch er schrieb, ein gutes oder schlechtes – am Wesentlichen änderte das nichts) (was er aber unter dem Wesentlichen verstand, das wußte der Alte entweder allzugut oder gar nicht) (wie wir daraus ableiten müssen, daß es, als ihm – unter anderem – auch dieser Gedanke in den Sinn kam, während er vor dem Sekretär stand und dachte, nicht das geringste Anzeichen gab, ob er das Wesentliche dieses Begriffes – des Wesentlichen – wenigstens zum eigenen Gebrauch zu klären gedachte).
Er hatte aber noch nicht einmal den Hauch einer Idee, was für ein Buch er schreiben sollte.
Obwohl er seinerseits wirklich alles getan hatte, was er vermochte (stand er doch auch jetzt – wie wir gesehen haben – vor dem Sekretär und dachte).
In den vergangenen Tagen hatte er bereits irgendwelche alte, ältere und noch ältere Ideen, Skizzen und Fragmente durchgesehen, die er in einem Ordner mit der Aufschrift «Ideen, Skizzen, Fragmente» sammelte: aber sie hatten sich entweder als unbrauchbar erwiesen, oder er hatte kein Wort davon verstanden (obgleich er sie selbst in alten, älteren und noch älteren Zeiten notiert hatte).
Er hatte ausgedehnte Spaziergänge in die hügelige Umgebung von Buda unternommen (Denkspaziergänge, wie der Alte sie nannte).
Vergeblich.
Jetzt – nachdem hintereinander Ideen, Skizzen, Fragmente und Spaziergänge (Denkspaziergänge, wie der Alte sie nannte) versagt hatten – blieben ihm nur noch seine Papiere.
Er hatte die Papiere schon lange nicht mehr angesehen.
Er wollte sie auch nicht sehen.
Er hatte sie im tiefsten Inneren des Sekretärs versteckt, damit sie ihm ja nicht irgendwie unter die Augen kämen.
Der Alte mußte also ganz schön in Bedrängnis sein, wenn er – so wie zuvor in den glücklichen Zufall (den wir, aus bekannten Gründen, der Richtigkeit halber wohl ins gleichsam Unmögliche korrigieren sollten) und darauf in seine Ideen, Skizzen, Fragmente und Denkspaziergänge – jetzt plötzlich das letzte Vertrauen in seine Papiere setzte.
An dieser Stelle aber müssen wir befürchten, daß wir, wenn wir uns nicht ein wenig losreißen vom Gedankengang des Alten, niemals den winzigen, aber nicht zu vernachlässigenden Unterschied zwischen Ideen, Skizzen, Fragmenten und Papieren in dem für das Weitere notwendigen klaren Licht sehen.
Vielleicht brauchen wir gar keine allzu langen Erklärungen.
Ideen, Skizzen, Fragmente nämlich bringt ausschließlich jemand zu Papier, der dazu aus unwiderruflichen und triftigen Gründen gezwungen ist, dessen Beruf, sagen wir – so wie beispielsweise bei dem Alten–, zufällig das Schreiben ist (beziehungsweise – um genauer zu sein – es sich so ergeben hatte, daß es sein Beruf geworden war) (weil er sonst keinen Beruf hatte).
Papiere aber hat ein jeder. Wenn schon nicht mehr, so ganz gewiß ein einziges, ein Blatt Papier, auf dem man einmal irgend etwas notiert hat, etwas Wichtiges vermutlich, um es nicht zu vergessen, das man aufs sorgfältigste aufbewahrt – und vergessen hat.
Ein Papier, das Verse aus Jugendjahren hütet. Ein Papier, auf dem man nach einem Ausweg in einer mißlichen Lage gesucht hat.
Vielleicht ein ganzes Tagebuch.
Die Skizze einer Wohnung.
Der Haushaltsplan für ein schweres Jahr.
Ein angefangener Brief.
Eine Nachricht: «Komme gleich» – die sich dann als verhängnisvoll erwiesen hat.
Zumindest aber eine Rechnung oder eine Waschanleitung, aus einem Stück Unterwäsche herausgerissen, mit winzigen, fremd anmutenden, verblaßten und schon unleserlichen Buchstaben auf der Rückseite: unserer eigenen Handschrift.
Der Alte hatte einen ganzen Ordner voll solcher Papiere.
Wie vielleicht schon erwähnt, hielt er sie im tiefsten Inneren des Sekretärs versteckt, damit sie ihm ja nicht irgendwie unter die Augen kämen.
Wenn er nun gerade das Gegenteil wollte – daß sie ihm nämlich doch unter die Augen kämen–, mußte er zunächst die Schreibmaschine aus dem Sekretär heben, dann ein paar Ordner, darunter auch den mit der Aufschrift «Ideen, Skizzen, Fragmente», des weiteren zwei Pappkartons, die verschiedene Dinge enthielten (nötige und unnötige) (welche Definitionen nur durch die jeweilige Gelegenheit mit konkretem Inhalt zu versehen waren) (so daß der Alte also nie mit Sicherheit wußte, welches dieser verschiedenen Dinge nötig und welches unnötig war) (und dies um so weniger, als Jahre vergingen, ohne daß er die Deckel der beiden Kartons geöffnet und auf die darin befindlichen – nötigen und unnötigen – Dinge auch nur einen Blick geworfen hätte).
So also mußte er vorgehen, damit ihm der gewöhnliche, graue, nach MNOSZ 5617 genormte Ordner mit seinen Papieren doch unter die Augen kam.
Auf diesem grauen Ordner lag (oder ragte auf) (oder wölbte sich) (je nachdem, von welcher Seite man ihn betrachtete), gewissermaßen als Beschwerer, ein ebenfalls grauer – obzwar etwas dunklerer – unregelmäßig geformter Steinbrocken, über den wir nichts Befriedigendes aussagen können (etwas in der Art zum Beispiel, es sei ein vieleckiges Parallelepipedon) (also etwas, was den menschlichen Geist mit den Dingen – ohne daß er sie wirklich verstünde – versöhnlich seinen Frieden machen ließe, wenn sie schon nicht wenigstens einer geometrischen Körperkonstruktion entsprechen und insofern als erledigt angesehen werden können), zumal dieser Steinbrocken durch die noch vorhandenen beziehungsweise schon abgeschlagenen Ecken, Kanten, Spitzen, Wölbungen, Riefen, Sprünge, Vorsprünge und Vertiefungen so unregelmäßig war, wie ein Steinbrocken nur sein kann, von dem man nie weiß, ob er ein abgebrochenes Stück von einem größeren Ganzen oder, im Gegenteil, ein erhalten gebliebener Überrest eines größeren Ganzen ist, das seinerseits – wie bei Fels und Berg – sicher wiederum Teil eines noch größeren Ganzen ist (verleitet uns doch letztlich jeder Stein sogleich zu urgeschichtlichen Überlegungen) (was nicht unser Ziel ist) (wenngleich es schwer ist, der Verlockung zu widerstehen) (vor allem, wenn wir es mit einem Steinbrocken zu tun haben, der unsere versagende Vorstellung auf endliche) (oder besser anfängliche) (Anfänge, Enden, Dichteverhältnisse und Ganzheiten lenkt, damit wir letztlich zu unserer ohnmächtigen) (doch wenigstens mit der angeblichen Würde des Wissens versehenen) (Unwissenheit zurückkehren, und wie bei so vielem anderen war es auch bei diesem Steinbrocken so, daß man nicht wissen konnte, ob es sich um ein abgebrochenes Stück von einem größeren Ganzen oder, im Gegenteil, den erhaltenen Überrest von einem größeren Ganzen handelte).
Die zu Beginn unserer Geschichte festgehaltene Situation, an der wir bis jetzt – wahrlich nicht aus Eigensinn, sondern aufgrund der schwerfälligen Entscheidungen des Alten – konsequent festgehalten haben, hat sich nun wie folgt verändert:
Der Alte stand vor den weit geöffneten Türen des Sekretärs, in dessen halb ausgeräumtem oberem Fach nur noch ein grauer Ordner und auf diesem, gewissermaßen als Beschwerer, ein gleichfalls grauer – wenngleich dunklerer – Steinbrocken zu sehen war, und dachte.
Ich fürchte, dachte er, ich werde schließlich noch meine Papiere hervorholen.
Was er dann auch tat.
Danach räumte er – gewissermaßen der Ordnung zuliebe (welcher andere Grund wäre auch sonst anzunehmen) (wenn wir nicht den Platzmangel mit in Betracht ziehen) (es könnte aber auch sein, daß er die Unwiderrufbarkeit seines Entschlusses so besiegeln wollte) – die Schreibmaschine, die paar Ordner – darunter auch den mit der Aufschrift «Ideen, Skizzen, Fragmente» – und des weiteren die verschiedene Dinge (nötige und unnötige) enthaltenden beiden Pappkartons in das obere Fach des Sekretärs zurück.
Es erweist sich vielleicht nicht als reine Weitschweifigkeit, wenn wir die weitere Veränderung der zu Beginn unserer Geschichte festgehaltenen, seither aber schon veränderten Situation – in uns zu Gebote stehender Kürze – weiter festhalten:
Der Alte saß vor dem Sekretär und las.
‹August 1973.
Was geschehen ist, ist geschehen: jetzt kann ich nichts mehr machen. Ich kann meine Vergangenheit genausowenig ändern wie die Zukunft, die sich unabweislich daraus ergibt und die ich noch nicht kenne…›
«Ach du großer Gott!» sagte der Alte laut.
‹…Auf den engen Grenzrainen der Gegenwart aber bewege ich mich genauso richtungslos wie in der Vergangenheit oder der Zukunft.
Wie es soweit mit mir gekommen ist, weiß ich nicht. Meine Kindheit habe ich einfach vertan. Warum ich in der Unterstufe des Gymnasiums ein so schlechter Schüler war, ist sicher tiefenpsychologisch zu ergründen. („Du kannst dich nicht einmal darauf hinausreden, daß du dumm bist – Köpfchen hättest du schon“, pflegte mein Vater zu erklären.) Später, im Alter von vierzehneinhalb Jahren, stand ich aufgrund des Zusammentreffens maßlos blödsinniger Umstände etwa eine halbe Stunde lang Auge in Auge mit dem Lauf eines feuerbereiten, auf mich gerichteten leichten Maschinengewehrs. Diese Umstände in normaler Sprache zu beschreiben ist absurd. Es muß genügen, daß ich auf dem engen Hof einer Gendarmeriekaserne in einer Angstschweiß und was weiß ich für Gedankenfetzen ausdünstenden Masse stand, mit deren Einzelwesen mich allein die Gemeinsamkeit verband, daß wir allesamt Juden waren. Eine kristallklare Sommernacht, es duftete nach Blumen, über uns leuchtete der Vollmond. Die Luft war von einem monotonen, dumpfen Summen erfüllt: die Royal Air Force, ihre Verbände waren offenbar von den Stützpunkten in Italien gestartet und flogen auf unbekannte Ziele zu, und falls sie über der Kaserne oder der Umgebung eine Bombe abwürfen, drohte uns die Gefahr, von den Gendarmen – wie man so sagt – über den Haufen geschossen zu werden. Aufgrund welcher absurden Zusammenhänge und idiotischen Anlässe, war damals für mich – und ist auch im nachhinein – vollkommen unwichtig. Das Leichtmaschinengewehr ruhte auf einem Stativ, ähnlich wie eine Filmkamera. Dahinter stand auf einer Art Podest, die Augen sachkundig zusammengekniffen, ein Gendarm mit asiatischem Schnurrbart. Am Ende des Laufs war ein lächerliches, trichterförmiges kleines Teil angebracht, wie bei der Mohnmühle meiner Großmutter. Wir warteten. Das Summen verstärkte sich zu einem Dröhnen und ging wieder in Summen über, um dann nach einigen ohrenbetäubenden Momenten der Stille wieder zu einem dann in Dröhnen übergehenden Summen zu werden. Plumpst eine Bombe herunter oder nicht – das war die Frage. Die Gendarmen wurden langsam von der ausgelassenen Hochstimmung von Glücksspielern ergriffen. Wie aber soll ich die plötzliche Heiterkeit beschreiben, die auch mich – nach Abklingen anfänglicher Verwunderung – erfaßte? Ich brauchte bloß die Geringfügigkeit des Einsatzes zu erkennen, um das Spiel in gewisser Weise auch genießen zu können. Ich hatte das einfache Geheimnis der mir gegebenen Welt begriffen: überall und jederzeit erschießbar zu sein. Möglich, daß…›
«Soll dich doch der Teufel ficken!» unterbrach der Alte hier auf einmal das Lesen, sich halb von seinem Sitz erhebend und in den Sekretär greifend.
Der Grund für diesen merkwürdigen Gang der Entwicklung lag in einem nicht erwarteten – jedoch auch nicht gerade als unerwartet zu bezeichnenden (weil sozusagen täglich gesetzmäßig eintretenden) Vorfall, der – wie wir sehen – auch durch seine dauernde Wiederholung nichts von seiner ursprünglichen elementaren Wirkung auf den Alten eingebüßt hatte (ja, wir könnten sagen, gerade im Gegenteil).
Offenkundig dürfen wir eine befriedigende Erklärung nicht verabsäumen.
Wir leugnen jedoch nicht, daß uns diese Pflicht in eine gewisse Verlegenheit versetzt.
Denn für die Worte, die dem Alten herausgefahren waren, den leichten Krampf, der ihm den Magen zuschnürte, die kleine Übelkeit, die ihm wie ein Lift durch Brust und Kehle hochglitt und mit einem schwindelerregenden Ruck ins Genick fuhr, kann es kaum als hinreichende Erklärung dienen, wenn wir – uns an die bloßen Tatsachen haltend – nicht mehr sagen als: über ihm war ein Radio eingeschaltet worden.
Es geschieht nicht ganz ohne Absicht (im Gegenteil, uns schwebt eingestandenermaßen eine Erleichterung unserer erzählerischen Situation vor), wenn wir jetzt die Papiere des Alten verlassen und statt dessen das nicht übermäßig voluminöse, in Halbleinen gebundene grüne Bändchen aufschlagen, von dem der Alte in letzter Zeit häufiger und mit großem Nutzen Gebrauch machte und worin er besonders den folgenden Zeilen dankbare Genugtuung zollte (auf Seite 259 des Bändchens) (bei welcher sich das in Halbleinen gebundene grüne Bändchen übrigens auch schon gewissermaßen von selbst öffnete, wenn es der Alte vom Bücherbord nahm, das über der in der nordöstlichen Zimmerecke stehenden Liege angebracht war) (obzwar auch das gelbe Kunstseidenband, das als Lesezeichen unfehlbares Wiederfinden zu gewährleisten hatte, bei der nämlichen Seite in das Buch eingelegt war) (auf welcher wir also folgende Zeilen) (denen der Alte besonders dankbare Genugtuung zollte) (nun – ihm gleichsam über die Schulter schauend – selbst lesen können):
Es giebt ein Wesen, das vollkommen unschädlich ist, wenn es dir in die Augen kommt, du merkst es kaum und hast es gleich wieder vergessen. Sobald es dir aber unsichtbar auf irgendeine Weise ins Gehör gerät, so entwickelt es sich dort, es kriecht gleichsam aus, und man hat Fälle gesehen, wo es bis ins Gehirn vordrang und in diesem Organ verheerend gedieh, ähnlich den Pneumokokken des Hundes, die durch die Nase eindringen.
Dieses Wesen ist der Nachbar.
Nun denn.
Oglütz, so nannte es der Alte.
DAS WESEN OHNE STILLE .
Nicht Frau, nicht Mann, nicht Tier, noch weniger Mensch.
Oglütz, so nannte es der Alte.
Das Wesen wucherte, sei es infolge des unmäßigen Radio- und Fernsehgenusses, sei es infolge irgendeiner hormonellen Störung (für die vielleicht der unmäßige Radio- und Fernsehgenuß eine Erklärung liefert) (obzwar man auch die ausgiebige Ernährung nicht außer acht lassen kann), nicht nur durch das Gehirn des Alten, sondern auch über die gesamten 28Quadratmeter über ihm.
Der Alte wohnte unter einem weiblichen Kyklopen, der sich von Lärm ernährte. (Auch wenn dieser Kyklop zwei Augen, zwei winzige Rhinozerosäuglein, besaß.)
Tagelang schlingerte der Alte ohnmächtig im dichten Wellenschlag dieses Lärms. Er hörte entsetzliches Türenschlagen, wann immer der Kyklop in seine Höhle einkehrte; das rasche Prasseln und Rollen kleinerer Geräusche: wahrscheinlich – meinte der Alte – schmeißt er gerade die nach Hause geschleppte Beute zu Boden; den Rhythmus schwerer und dumpfer Aufschläge: er dressiert Tanzbären, pflegte der Alte zu sagen: schon brüllte eines seiner gerade diensttuenden Untiere auf: entweder das Radio oder das Fernsehgerät.
Oglütz, so nannte es der Alte.
Es war nichts zu machen.
Man mußte sich darein ergeben.
Irgendwann einmal, vor urdenklichen Zeiten, hatte der Alte sich ihm auf Gedeih und Verderb ausgeliefert: Er hatte gestanden, daß der Lärm ihn störte (ja, sogar gebeten, ihn abzustellen).
Seitdem lauerte es dem Alten unermüdlich von oben auf.
Erforschte seine Gepflogenheiten.
Wartete, daß er den ersten Buchstaben in die Maschine tippte.
Spürte unfehlbar, wann er vor dem Sekretär stand und dachte.
Es war nichts zu machen.
Man mußte sich darein ergeben.
In den langen Jahren hatten sich bei dem Alten sozusagen automatische Schutzreflexe entwickelt (so, wie er etwa bei Regen einen Regenschirm aufspannte).
Auch die oben zitierten Zeilen aus dem nicht übermäßig voluminösen, in Halbleinen gebundenen grünen Bändchen (denen er besonders dankbare Genugtuung zollte) gehörten zu diesen Schutzreflexen.
Doch wäre dieses rein geistige Zuspruchholen und Kraftschöpfen nur wenig ohne die bedeutende, fast die ganze linke hintere – südwestliche – Ecke des unteren Sekretärfaches einnehmende Sammlung knetbarer Wachskugeln (deren Beschaffung nicht immer möglich war, denn es handelte sich um ein ausländisches Produkt) (OHROPAX Geräuschschützer, VEB Pharmazeutika Königsee) (weswegen der Alte sie – zu Zeiten ihrer Beschaffbarkeit – zu einem derartigen Vorrat häufte, daß sie ihn) (wie einen Herrn Josef K. seine Schande) (vermutlich überleben werden), aus welchem Vorrat stets ein Paar gebrauchsfertig – in einer zylindrisch geformten Glaskapsel – auf dem Vorderbord des nächsthöheren Sekretärfaches wartete, um im Notfall (und dieser Notfall trat, mit der Präzision eines Uhrwerks, fast immer ein) nach einer kurzen Vorarbeit des Erweichens sofort in die Ohren des Alten gelangen zu können.
Während dieser Vorarbeit pflegte der Alte noch halblaut einen kürzeren oder längeren Text zu sprechen – gewissermaßen eher wie ein mechanisches Opfer an den lebendigen Affekt, der diese Worte einst ausgelöst hatte (so, wie nach häufiger Wiederholung auch aus Zeremonien das Wesentliche verlorengeht und zerstreuter Pflichterfüllung Platz macht)–, dessen Kürze oder Länge jeweils von der Jahreszeit abhängig war: Im Winter sprach er einen längeren Text als im Sommer, was sich einfach aus der physikalischen Tatsache erklärt, daß Wachs bei Wärme schneller weich wird als bei Kälte.
An diesem herrlichen, milden, ein wenig dunstigen, aber sonnigen Nachsommer-(Frühherbst-)Morgen sagte der Alte also, langsam und als setze er zu einer Erklärung an, nur: «Daß doch der Teufel deine gottverdammte, beschissene, abgefickte Nazitante…» – während er die zwischen seinen Fingern schon weich werdende Knetmasse sorgfältig modellierte, um sie sich in die Ohren zu stopfen, so gewissermaßen Oglütz, die Schlucht der Lügen – man könnte sagen, die ganze Welt außer Kraft setzend (womit die schon einmal veränderte Situation abermals um eine Idee verändert ist, da der Alte nunmehr mit zwei Wachskugeln in den Ohren weiterlas):
‹…Welt begriffen: überall und jederzeit erschießbar zu sein. Möglich, daß mich diese, im übrigen nicht besonders originelle Erkenntnis ein wenig verstört hat; möglich, daß sie tiefere Spuren in mir hinterließ als gerechtfertigt: denn schließlich haben ja Tausende und Abertausende die gleiche Massenwahrheit erlebt, zur gleichen Zeit, am gleichen Ort, oder zu anderer Zeit und an einem anderen Ort in der größeren weiten Welt. Vielleicht war ich ein zu sensibles Kind und konnte meine Subtilität auch später nicht ablegen: Vermutlich ist es irgendwo zu einem Kurzschluß bei mir gekommen, zu einer Störung in dem mit meinen Erfahrungen bestehenden normalen Stoffwechselverhältnis – obwohl ich im wesentlichen nur ebensolche normal gräßlichen Erfahrungen machte wie viele andere normale Leute auch. Viele Jahre später – und vor vielen Jahren – wurde mir klar, ich mußte einen Roman schreiben. Ich wartete gerade, völlig gleichgültig, auf dem Flur irgendeiner gleichgültigen Behörde und vernahm irgendwelche gleichgültigen Geräusche: Schritte. Das Ganze spielte sich in einem einzigen Augenblick ab. Diesen Augenblick wieder heraufbeschwörend – den heraufzubeschwören ich ansonsten nicht in der Lage bin–, muß ich glauben, daß ich, wenn ich seine Klarheit, gewissermaßen sein Destillat in mir bewahrt hätte, das in Händen hätte, was mich schon immer am meisten interessiert hat, den Schlüssel zu meinem Leben. Aber die Augenblicke vergehen und kehren nicht wieder. So dachte ich mir, daß ich zumindest der Eingebung dieses Augenblicks treu bleiben müßte: Ich begann, einen Roman zu schreiben. Ich schrieb und zerriß es wieder; schrieb abermals und zerriß es von neuem. So ging es über Jahre. Ich schrieb und schrieb und hörte nicht eher auf, bis ich fühlte, daß ich den mir möglichen Roman gefunden hatte. Ich schrieb an dem Roman, während ich unsäglich alberne Lustspiele für das Musiktheater produzierte, um einen Broterwerb zu haben (und damit meine Frau zu täuschen, die bei meinen „Premieren“ im Halbdunkel des Zuschauerraumes darauf wartete, daß ich in meinem eigens für diesen Zweck angefertigten grauen Schneideranzug in dem von klatschenden Händen verursachten Lärm vor dem Vorhang erschien, und die glaubte, unser aufgelaufenes Leben würde allmählich doch noch von der Klippe kommen); aber wenn ich bei der zuständigen Sparkassenfiliale erschienen war, um eifrig meine gar nicht so geringen Tantiemen für die albernen Ungereimtheiten abzuheben, schlich ich mich mit dem Gewissen eines Diebes wieder nach Hause, um an dem Roman zu schreiben, und im Lauf der gerade hinter mir liegenden Jahre hat meine Sucht schon so überhandgenommen, daß sie mich hindert, mein vergnügungssüchtiges Publikum mit neuen Lustspielen und mich selbst mit neuen Tantiemen zu beschenken…›
«Was denn», der Alte erhob sich von seinem Platz und begann, mit den gekneteten Wachskugeln in den Ohren, die seine Schritte weich werden ließen wie die eines Panthers, zwischen dem sich nach Westen zu öffnenden Fenster und der nach Osten hin abgeschlossenen Eingangstür auf und ab zu gehen (mit einem kleinen Schritt zur Seite an der Engstelle zwischen dem gefälligen Kunststoffvorhang, der die nördliche Wand des Flurs verdeckte, und der offenen Badezimmertür) (die, der Lüftung halber, ständig offenstand, da der Flur noch schlechter belüftet war als das schlecht belüftete Badezimmer): «Das geht ja los, als wollte es eine Art Beichte werden», murmelte er. «Nicht wirklich schlecht, aber das kann es noch werden. Der Fehler ist, daß es aufrichtig ist. Das ist nicht gerade glücklich. Aber auch das Thema nicht.»
Nun ja, wenn er schon ein Buch schreiben mußte (was für ein Buch auch immer, es brauchte nur ein Buch zu sein) (der Alte wußte schon lange, daß es ganz egal war, was für ein Buch er schrieb, ein gutes oder schlechtes – am Wesentlichen änderte es nichts), dann müßte es wenigstens ein Buch mit einem glücklichen Thema sein.
Seine bisherigen Themen waren gewiß nicht allzu glücklich gewesen.
Den Grund dafür sah der Alte – wenn er, selten genug, darüber nachdachte – darin, daß er wahrscheinlich keine Phantasie besaß (eine ziemlich nachteilige Sache, wenn man bedenkt, daß sein Beruf eben das Schreiben von Büchern war) (beziehungsweise – um genauer zu sein – seit es sich so ergeben hatte, daß das sein Beruf geworden war) (weil er sonst keinen hatte).
So schöpfte er – was sollte er anderes tun – seine Themen meist aus seinen eigenen Erfahrungen.
Was wiederum auch die glücklichsten Themen stets verdarb.
Diesmal wollte er jedoch auf der Hut sein.
Es war absoluter Blödsinn, dachte er, meine Papiere hervorzuholen. Ich sollte sie am besten wieder zurückpacken.
Aber, dachte er weiter, jetzt interessieren sie mich bereits.
Das ist es, was ich befürchtet habe, fügte er (in Gedanken) hinzu.
Und zu Recht, denn nun dürfen wir die Wiederherstellung der diesmal schon länger anhaltend – mit dem Aufundabgehen dagegen nur kurzfristig – veränderten Ausgangssituation festhalten: Der Alte saß vor dem Sekretär und las.
‹…mit dem Gewissen eines Diebes… mein Publikum… zu beschenken –
Doch so komme ich nicht weiter. Es ist letzten Endes eine Geschichte: verlänger-, verkürzbar und erklärt doch nichts, wie es mit Geschichten nun mal so ist. Aus meiner Geschichte erfahre ich nicht, was mit mir geschehen ist: doch das wäre nötig. Ich weiß nicht einmal, ob sich der Schleier gerade jetzt vor meinen Augen hebt oder ob er sich umgekehrt eben jetzt darüber legt. Jedenfalls werde ich zur Zeit auf Schritt und Tritt überrascht. Da ist zum Beispiel die Wohnung, in der ich lebe. Sie nimmt achtundzwanzig Quadratmeter im zweiten Stock eines nicht allzu häßlichen, vergleichsweise menschlich wirkenden Mietshauses in Buda ein. Ein Zimmer mit Flur, von dem das Bad und die sogenannte Teeküche abgehen. Auch ein paar Habseligkeiten finden sich, Möbel, dies und das. Abgesehen von den Veränderungen, die meine Frau von Zeit zu Zeit für notwendig hält, ist darin alles noch genau wie gestern, vorgestern, vor einem oder vor neunzehn Jahren, als…›
«Vor neunzehn Jahren!» schnaufte der Alte.
‹…wie vor neunzehn Jahren, als wir – unter nicht ganz ungestörten Umständen – eingezogen sind. Und doch strömt das Ganze neuerdings etwas heimtückisch Bedrohliches aus, irgend etwas, das mich verstört. Zunächst wußte ich es überhaupt nicht zu deuten; ich sagte ja, ich sehe nichts Neues, nichts Ungewöhnliches in der Wohnung. Ich habe mir lange den Kopf zerbrochen, ehe ich schließlich darauf kam: Nicht das, was ich wahrnehme, hat sich verändert, die Veränderung steckt lediglich darin, daß ich es wahrnehme. Ja, bislang habe ich die Wohnung, in der ich seit neunzehn Jahren wohne, noch niemals wahrgenommen…›
«Neunzehn Jahre!» schüttelte der Alte den Kopf.
‹…und doch ist daran nichts Rätselhaftes, wenn ich es mir genauer überlege. Für den Kerl, mit dem ich – bis vor wenigen Monaten – identisch war, war diese Wohnung der auf jeden Fall feste, aber dennoch provisorische Ort, an dem er seinen Roman schrieb. Dieser Typ hatte etwas zu tun, er hatte ein bestimmtes Ziel, wer weiß, vielleicht gar eine Bestimmung, kurzum, er war – so langsam er seine Arbeit auch sonst machte – immer in Eile. Er betrachtete die Dinge quasi nur aus dem Fenster eines Zuges, flüchtig, wie sie an seinen Augen vorbeiglitten. Allenfalls gewann er hier und da einen vorübergehenden Eindruck von ihrer Brauchbarkeit, nahm sie in die Hand und legte sie weg, ging durch sie durch, schob und stieß sie, terrorisierte sie, herrschte über sie wie ein Pascha. Doch nun, da sie nicht mehr die Macht der befehlenden Hand spüren, rächen sie sich: zeigen sich, drängen sich vor mich, offenbaren, wie unverändert sie sind. Wie soll ich die Panik einschätzen, die mich bei ihrem Anblick ergreift? Dieser Stuhl, dieser Tisch, der schwungvolle Bügel dieser Stehlampe und der gleichsam ergeben an ihm hängende, in der Nähe der Glühbirne angesengte Schirm – sie alle, alle drängen sich jetzt um mich und umschließen mich mit einer hinterhältigen Sanftmut, so wie nachsichtige, trauernde Schwestern nach irgendeiner Niederlage. Sie wollen mir nachweisen, daß nichts geschehen ist, obwohl mir doch schien, daß ich zwischen ihnen etwas erlebt habe, sagen wir, ein Abenteuer – das des Schreibens–, und daher glaubte, einen Weg gegangen zu sein, in dessen Verlauf sich mein Leben veränderte. Aber nichts hat sich geändert, und nun ist bereits offenbar, daß ich gerade mit meinem Abenteuer die Chancen einer Änderung verspielt habe. Diese achtundzwanzig Quadratmeter sind nicht mehr der Vogelkäfig, aus dem mich meine Phantasie täglich ausfliegen ließ und in den ich des Nachts zum Schlafen einkehrte, nein, sie sind längst der wirkliche Schauplatz meines wirklichen Lebens geworden, der Käfig, in den ich mich selbst eingekerkert habe.
Und dann ist da noch etwas anderes: die Eigenartigkeit der Morgen. Früher bin ich bereits beim Morgengrauen erwacht, habe unruhig das Licht beobachtet, das sich durch die Spalten der Jalousie zwängte, und darauf gewartet, daß ich aufstehen könnte. Beim morgendlichen Tee wechselte ich nur ein paar gezwungene Worte mit meiner Frau, harrte hinterhältig immer nur, wann ich endlich mit mir allein wäre, um mich nach den nötigen Verrichtungen im Badezimmer auf das beharrlich wartende und sich störrisch widersetzende Papier werfen zu können. Nun aber, wie unter einem seltsamen Zwang und als suchte ich mich zu entschuldigen, unterhalte ich meine Frau beim Frühstück, und sie freut sich, sie ahnt die Gründe der Veränderung nicht; und wenn sie weggeht, ertappe ich mich dabei, daß meine Gedanken ihr ängstlich folgen…›
An dieser Stelle war dem Alten, als habe das Telefon geläutet; aber nachdem er eine der gekneteten Wachskugeln im Ohr gelockert hatte, konnte er sich überzeugen, daß nur der Lärm von Oglütz und der Schlucht der Lügen ihn umwogte, vielleicht nur in einer etwas höheren Frequenz als üblich; diese kleine Störung könnte erklären, daß er, nach der Fortsetzung suchend, an dieser Stelle des Textes – worauf auch die Fortsetzungslücke hindeutet – einige Zeilen übersprungen haben könnte:
‹…Ich spüre, wie sich überall unter meinen Füßen Fallgruben öffnen, wie ich Fehler an Fehler reihe; alle meine Wahrnehmungen, alles, was mich umgibt, dient zu nichts anderem, als mich anzufallen, mich in Frage zu stellen, die Wahrscheinlichkeit meines Seins zu unterhöhlen.
Ich grüble darüber nach, wann diese Unannehmlichkeiten angefangen haben. Ich weiß nicht warum, doch es scheint beruhigend auf einen zu wirken, wenn man den Anfang findet, irgendeinen und sei es beliebigen Punkt in der Zeit, den man dann als Grund bezeichnen kann. Wenn man glaubt, den Grund so gefunden zu haben, scheint jedes Übel vernunftbegründet. Ich denke, daß ich nie so richtig darauf vertraut habe, zu sein. Dafür bestanden ja auch – wie oben schon angedeutet – schwerwiegende, sogar objektive Gründe. Beim Romanschreiben zahlte sich diese Einschränkung prächtig aus: Indem sie gewissermaßen zu meinem Arbeitsmittel wurde, brauchte sie sich bei meinem Tagewerk auf und beschäftigte mich nicht mehr, nachdem ich mich damit verausgabt hatte, sie in Worte zu fassen. Das Übel setzte erst wieder ein, als ich meinen Roman beendet hatte. Ich erinnere mich, wie ich die letzten Seiten niederschrieb. Es war vor dreieinhalb Monaten, an einem verheißungsvollen Mainachmittag. Ich spürte, daß ich den Schluß in Händen hatte. Alles hing von meiner Frau ab. Es war so, daß sie am Nachmittag eine Freundin besuchen wollte. Während des Essens lauerte ich gespannt, ob sie nicht etwa zu müde wäre, nicht etwa die Lust verloren hätte… Ich hatte Glück und blieb allein. Plötzlich hinderte mich ein Durchfall, mich sofort über das Papier herzumachen. Dieses ärgerliche Symptom war dem „motus animi continuus“ zuzuschreiben, welcher – wie wir von Cicero wissen – das Mark der Redekunst ist. Es handelt sich um nichts anderes als einen gewissen Erregungszustand des Geistes, der sich jedoch – zumindest bei mir – auf den gesamten Organismus, mitunter auch auf das Darmsystem auswirkt. Schließlich konnte ich mich doch an den Tisch setzen; darauf brachte ich den Text so rasch zu Ende, wie meine Feder gleiten konnte. Auch der letzte Satz war niedergeschrieben: Ich war fertig. Dann versuchte ich noch tagelang, daran herumzufeilen, hier und da etwas einzufügen, da und dort ein Wort zu verbessern, andere zu streichen. Schließlich war nichts mehr zu finden: Schluß, aus. Ich wurde von einem etwas stumpfsinnigen Gefühl erfaßt. Schlagartig war etwas zusammengefallen, womit ich mich, wie es scheint, im Laufe langer Jahre ganz gut unterhalten habe. Auch darauf bin ich erst jetzt gekommen. Bisher hatte ich geglaubt, ich arbeite, und war der Arbeit dementsprechend Tag für Tag mit zwanghafter Wut nachgegangen. Und nun war sie mir genommen. Mein täglicher Fleiß hatte sich in diesen Haufen Papier transsubstantiiert. Ich blieb mit leeren Händen zurück, ausgeplündert. Auf einmal stand ich dem immateriellen und gestaltlosen Monster, der Zeit, gegenüber. Blöde gähnend riß es seine Fratze vor mir auf, und ich hatte nichts, um es ihm in den Rachen zu stopfen.›
«Warst du an deiner Arbeit?» fragte seine Frau den Alten, nachdem sie vom Bistro nach Hause zurückgekehrt war, wo sie in der Eigenschaft einer Serviererin ihr Brot verdiente (und manchmal auch das des Alten) (wenn das Schicksal es gerade so wollte) (und es wollte es wahrlich nicht nur einmal so).
«Aber ja», antwortete der Alte.
«Bist du weitergekommen?»
«Ich habe ihr einen Schubs gegeben», sagte der Alte.
«Was willst du zum Mittagessen?»
«Ich weiß nicht, was zur Auswahl steht.»
Seine Frau sagte es ihm.
«Egal», entschied der Alte.
Wenig später saßen der Alte und seine Frau vor dem Sekretär und aßen zu Mittag (natürlich unter Berücksichtigung der bereits erwähnten Umstände betrachtet) (demzufolge also, wenn wir sagen, der Alte und seine Frau saßen vor dem Sekretär und aßen zu Mittag, sich das so versteht, daß sie zwar dem Sekretär gegenüber, eigentlich aber am Tisch – genauer an dem Tisch, dem einzigen, eigentlichen Tisch der Wohnung – saßen) (und zu Mittag aßen).
Die Frau des Alten pflegte beim Mittagessen zu erzählen, was ihr tagsüber im Bistro passiert war.
Bald gab es Inventur: Die Leitung befürchtete ein Defizit (nicht grundlos, da viel zuviel gestohlen wurde) (und äußerst stümperhaft, besonders von der Alten) (offizielle Bezeichnung: die Hauptleiterin) (obwohl so mancher aus der Belegschaft ihr auch nicht gerade nachstand) (doch wo hätten sich ihnen solche Gelegenheiten geboten wie den Leitern) (vor allem der Alten – offizielle Bezeichnung: die Hauptleiterin–, die das ganze Defizit beim Zapfbier wieder hereinbringen wollte, aber mehr noch beim Gruppenmenü) (in der Fachsprache der Kellner «Stamm» getauft) (beim «Stamm» also, das hauptsächlich Kinder einnahmen, für die die Eltern – weil sie nicht kochen wollten oder vielleicht auch gar nicht dazu kamen – wöchentlich ein Gruppenmenü oder laut Fachsprache Stamm im Bistro abonnierten) (wobei sie – wie die Frau des Alten nie zu bemerken versäumte – noch nie solche getroffen hatte, die kontrolliert hätten, was das Kind aß und ob es überhaupt aß) (obwohl die Kinder trotzdem gediehen und mit der Zeit zweifellos zu Erwachsenen würden, die ihre Kinder vielleicht ihrerseits zum Abonnementessen verurteilen würden, weil sie nicht genug Zeit hätten, sich um den Haushalt zu kümmern) (gemäß der Ordnung des Lebens, die ein bedeutender, wenn auch äußerst zwielichtiger Geist die ewige Wiederkehr nannte) (und es sei angemerkt, daß er, wie mit so vielem anderem, auch hierin nicht recht hatte): Kurz gesagt, was die in Aussicht gestellte Inventur betraf, wurden schon jetzt versteckte Andeutungen und offene Beschuldigungen ausgesprochen.
«Und außerdem», fügte die Frau des Alten hinzu, «fließt Blut wegen der Einteilung.»
Die Frau des Alten arbeitete nämlich immer am Vormittag.
Obgleich das Bistro bis in den späten Abend geöffnet war (und in diesen späten Abendstunden von einer dank der späten Stunde schon außerordentlich großzügigen und leichtlebigen Kundschaft bevölkert wurde).
Nach den anerkannten Spielregeln der Chancengleichheit – und zugleich des gesetzlich verankerten Arbeitsrechts – teilten die Bistromitarbeiter die zeitlich eng bemessenen Gruppenmenüesser (laut Fachsprache Stamm) der Vormittags- und Mittagsstunden und die dank der späten Stunde schon außerordentlich großzügigen und leichtlebigen Gäste der späten Abendstunden zu gleichen Teilen unter sich auf.
Gleichwohl arbeitete die Frau des Alten – auf ihren eigenen, durch Unterschrift besiegelten Wunsch – immer nur am Vormittag (damit auf den achtundzwanzig Quadratmetern auch der Alte am Vormittag arbeiten konnte) (wie auch deshalb, weil sie die zwar außerordentlich großzügigen und leichtlebigen, zugleich aber meist bis zur Verblödung und Anstößigkeit besoffenen Gäste der späten Abendstunden nicht leiden konnte).
Daher waren die nach den anerkannten Spielregeln der Chancengleichheit – und zugleich des gesetzlich verankerten Arbeitsrechts – auch der Frau des Alten zustehenden spätabendlichen Dienststunden (und die damit verbundenen, keineswegs unerheblichen Vorteile) sozusagen automatisch auf eine gewisse Kollegin namens Frau Boda übertragen worden; und es dürfte mit der langen Dauer, darüber hinaus möglicherweise mit einer die anerkannten Spielregeln der Chancengleichheit (und zugleich des gesetzlich verankerten Arbeitsrechts) übertrumpfenden Neigung der menschlichen Natur zu einem – um es so zu sagen – mehr instinktiven Rechtsbrauch zu erklären sein, daß diese gewisse Kollegin Boda (Vorname Ilona) die ihr übertragenen Vorteile schon längst nicht mehr als auf sie übertragene Vorteile, sondern ihr zustehende Rechte betrachtete.
Unter Berücksichtigung all dessen also ist die Wirkung zu beurteilen, welche der am heutigen Tag erfolgten Ankündigung der Frau des Alten zukam, sie wolle in Zukunft auch am Abend arbeiten.
«Warum denn?» fragte der Alte.
«Weil ich so kaum etwas verdiene und weil du jetzt auch nichts verdienen wirst, da du ja ein Buch schreiben mußt.»
«Das ist wahr», sagte der Alte.
Am Abend sagte er:
«Ich geh ein bißchen raus, eine Runde machen.»
«Bleib nicht zu lange», sagte seine Frau.
«Gut. Ich werde ein wenig nachdenken.»
«Ich wollte dir noch irgend etwas sagen.»
«Nun?» hielt der Alte inne.
«Es fällt mir gerade nicht ein.»
«Schreib es dir das nächste Mal auf, damit du es nicht vergißt.»
«Es wäre schön, irgendwohin zu fahren.»
«Klar wäre das schön», pflichtete der Alte bei.
Vom Spaziergang (Denkspaziergang, so nannte es der Alte) nach Hause zurückgekehrt, fragte er:
«Hat jemand nach mir gefragt?»
«Wer soll denn nach dir fragen?»
«Stimmt», räumte der Alte ein.
«Daß doch der Teufel deine aussätzige, abgewrackte Mutter, diese falsche Puffmamsell…», sagte der Alte, langsam und als setze er zu einer Erklärung an, während er die zwischen seinen Fingern schon weich werdende Knetmasse sorgfältig modellierte, um sie sich in die Ohren zu stopfen, so gewissermaßen Oglütz, die Schlucht der Lügen – man könnte sagen, die ganze Welt – außer Kraft setzend:
‹Ja, wenn ich konsequent gewesen wäre, hätte ich meinen Roman vielleicht nie vollendet. Doch da ich ihn nun einmal vollendet habe, ist es keine sehr konsequente Sache, überrascht zu sein, wenn er fertig ist. Das aber war ich. Ich behaupte nicht, ich hätte nicht gewußt, daß, wenn ich einen Roman schreibe, daraus früher oder später auch ein Roman wird, denn schließlich hatte ich lange Jahre hindurch nach nichts anderem gestrebt, als ihn zu vollenden. Ich wußte es wohl, wie hätte ich es nicht wissen können: ich hatte nur vergessen, mich darauf vorzubereiten. Das Schreiben des Romans hatte mich viel zu sehr in Anspruch genommen, um auch noch mit seinen Folgen zu rechnen. Nun aber lag dieser mehr als zweihundertfünfzigseitige Haufen Papier vor mir, und dieses Bündel, dieser Gegenstand verlangte ein bestimmtes Handeln von mir. Ich hatte keine Ahnung, wie man einen Roman verlegt; auf diesem Gebiet war ich vollkommen unerfahren, ich kannte niemanden, und von mir war noch nie ein Prosawerk – wie man so sagt – erschienen. Ich ließ erst einmal das Manuskript abtippen, dann preßte ich es in meine einzige Klemmappe, die ich mir in einer nicht ganz unbeanstandbaren Weise anläßlich einer meiner Besuche bei meiner Mutter in dem repräsentativen Außenhandelsunternehmen besorgt hatte, bei dem die betagte Dame, zur Aufbesserung ihrer Pension, täglich vier Stunden stenotypierte. Dann suchte ich, die Mappe unter dem Arm, einen Verlag auf, von dem ich wußte, daß er sich – wie man so sagt – auch mit dem Verlegen zeitgenössischer ungarischer Literatur beschäftigt. Ich klopfte an eine Tür mit dem Schild Sekretariat und fragte eine der Damen, die, in eine nur schwer definierbare Aura von Kompetenz gehüllt, dort beschäftigt waren, ob ich einen Roman hierlassen dürfe. Nach ihrer bejahenden Antwort überreichte ich ihr die Mappe und sah noch, wie sie sie auf einen Turm anderer Mappen auf einem der hinteren Tische legte. Und dann ging ich schnurstracks zum Römerstrand…›
«O Gott», sagte der Alte.
‹…zum Römerstrand, in der Hoffnung – und sie trog nicht–, daß das zwar sonnige, aber dennoch kühle und windige Wetter heute die Massen von Strandbesuchern abschrecken würde, die sich sonst dort suhlten, und schwamm in dem kalten Wasser mit trägen Langstreckentempi tausend Meter.›
«O Gott», sagte der Alte.
‹…Dann, gut zwei Monate später, saß ich einem Kerl gegenüber, der bei diesem Verlag ich weiß nicht was war. Ich hatte ihn schon eine Woche zuvor aufgesucht, nachdem mir die Dame im Sekretariat gesagt hatte, er könne mir „Informationen bezüglich des Romans geben“. Doch der Kerl hatte weder etwas von mir noch von meinem Roman gehört.
„Wann haben Sie ihn abgegeben?“ hatte er gefragt.
„Vor zwei Monaten.“
„Zwei Monate sind noch nicht lange“, hatte er mich ermutigt. Er trug eine verspiegelte Sonnenbrille und machte mit seiner Magerkeit und seinem grauen Gesicht einen gehetzten, neurotischen Eindruck. Auf seinem Schreibtisch türmten sich Berge von Papier, Bücher, ein Vormerkkalender, eine Schreibmaschine, ein Manuskriptbündel, vollgekritzelt mit handschriftlichen Korrekturen – offensichtlich ein Roman. Ich war rasch entflohen. Am liebsten wäre ich schnurstracks zum Römerstrand gegangen…›
«O Gott», sagte der Alte.
‹…aber da inzwischen schon Hauptsaison war und die Hundstage angebrochen, war an Schwimmen nicht zu denken.
Beim nächstenmal erwies er sich schon als umgänglicher. Er wisse wohl von mir und meinem Roman, obgleich er ihn selbst noch nicht gelesen habe, sagte er. Er bot mir Platz an. Der Faschismus, sagte er, sich von der Schreibmaschine, in der ein Briefbogen mit Firmenaufdruck eingespannt war, zu mir wendend, sei ein großes und ungeheuerliches Thema, über das schon…›
«Aha!» sagte der Alte laut, während er aufgeregt in seinem Ordner zu blättern begann, bis er in dem Haufen Papier auf einen Brief mit Firmenaufdruck stieß.
Es war ein ordentlicher, gewöhnlicher Geschäftsbrief, mit Datum (27.7.1973), Sachbearbeiter (nicht ausgefüllt), Betreff (nicht genannt), Geschäftszahl (482/73) und ohne Anrede.
‹Die Lektoren unseres Verlages haben Ihr Manuskript geprüft›, der Alte überflog den Anfang des Briefes, ‹aufgrund ihres einstimmigen Urteils… Wir meinen, daß die künstlerische Gestaltung Ihres Erlebnismaterials nicht gelungen, das Thema aber grauenhaft und erschütternd ist… . daß Ihr Held doch nicht… wird… gelinde gesagt, unverständlich… Wir finden es noch verständlich, wenn der Heranwachsende nicht sofort begreift, was um ihn herum geschieht (die Einberufungen zum Arbeitsdienst, die Auflage, den gelben Stern zu tragen usw.), können aber nicht mehr nachvollziehen, warum ihm, als er im Konzentrationslager ankommt, die… Die geschmacklosen Sätze setzen sich… Unglaublich ist auch, daß ihn der Anblick der Krematorien „an eine Art Studentenstreich“ denken läßt, da er doch weiß, daß er sich in einem Vernichtungslager befindet und allein sein Judentum ausreicht, um ermordet zu werden. Sein Verhalten, seine perversen Bemerkungen… und ärgerlich… auch den Schluß des Romans lesen, denn das bisherige Verhalten des Helden… berechtigen ihn in keiner Weise dazu, moralische Werturteile…›
«Aha!» bemerkte der Alte laut.
Der Alte saß jetzt vor dem Sekretär und dachte.
Ich sollte dieses Buch wieder einmal lesen, dachte er.
Obwohl, setzte er den Gedanken fort, wozu? Ich habe keine Lust, vom Konzentrationslager zu lesen.
Es war totaler Blödsinn, meine Papiere hervorzuholen, setzte er (in Gedanken) hinzu.
Also saß der Alte wieder vor dem Sekretär und las:
‹…ein großes und ungeheueres Thema… ein Briefbogen mit Firmenzeichen eingespannt… – sich von der Schreibmaschine, in der ein Briefbogen mit Firmenaufdruck eingespannt war, zu mir wendend –… sei ein großes und ungeheuerliches Thema, über das schon viel geschrieben worden sei. Womit er, setzte er gewissermaßen beruhigend hinzu, keineswegs behaupten wolle, daß das Thema vollkommen ausgeschöpft sei. Dann klärte er mich auf, daß nach der Arbeitsordnung des Verlages ein Manuskript von drei Lektoren geprüft werden müsse, „bevor über sein Schicksal entschieden“ würde. Er tat ein wenig geheimnisvoll: Man würde den Autor im allgemeinen nicht in Verlagsangelegenheiten einweihen, aber er halte es nicht für ausgeschlossen, daß er der dritte Lektor meines Romans sein würde. Er verstummte.
„Ein wenig bitter, nicht?“ fragte er dann unvermutet.
„Was?“
„Ihr Roman.“
„Aber ja“, erwiderte ich.
Anscheinend setzte ihn meine Antwort in Verlegenheit.
„Nehmen Sie nicht für bare Münze, was ich gesagt habe: Es ist kein Urteil, ich habe ja Ihren Roman noch gar nicht gelesen“, erklärte er.