Die Fliederinsel - Sylvia Lott - E-Book

Die Fliederinsel E-Book

Sylvia Lott

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Beschreibung

Sie mussten fliehen, um ihr Leben zu retten. Doch das Kostbarste ließen sie zurück ...

In ihrem Ferienhäuschen auf der idyllischen dänischen Insel Fünen entdeckt die Urlauberin Celia ein wunderschönes Fliedergemälde, das seit Jahrzehnten als verschollen galt. Ihre Vermieterin ist beim Anblick des Bildes tief bewegt und erzählt Celia die Geschichte ihrer Mutter, der jüdischen Malerin Ruth Liebermann. Im Jahr 1938: Das frisch verheiratete Paar Ruth und Jakob Liebermann muss aus Berlin fliehen, auf Fünen finden die beiden im ehemaligen Sommerhaus von Ruths Familie Zuflucht. Trotz der schwierigen Situation erleben sie glückliche Jahre, Ruth kann mit ihrer Passion, dem Malen, sogar die Familie ernähren. Als sie erneut zur Flucht gezwungen sind, müssen Ruth und Jakob die folgenschwerste Entscheidung ihres Lebens treffen …

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Buch

Mit Charme, Klugheit und ihrem ausgeprägten Blick für das Schöne gelingt es der jungen deutschen Malerin Ruth Liebermann immer wieder, gemeinsam mit ihrem Mann Jakob den Wirren und Gefahren des Krieges zu entkommen. Nach ihrer Flucht aus Berlin erleben die beiden auf der dänischen Ostseeinsel Fünen glückliche Zeiten. Sie schließen neue Freundschaften, unter anderem in Künstlerkreisen, Ruth hat mit ihren wunderschönen Fliedergemälden bald großen Erfolg. Doch der Krieg, der in Europa tobt, wirft Schatten auf die Idylle. Als er schließlich auch Fünen erreicht, wird Ruths und Jakobs Liebe auf eine harte Probe gestellt. Sie müssen eine Entscheidung treffen, deren Auswirkungen bis in die Gegenwart reichen.

Die Autorin

Die freie Journalistin und Autorin Sylvia Lott ist gebürtige Ostfriesin und lebt in Hamburg. Viele Jahre schrieb sie für verschiedene Frauen-, Lifestyle- und Reisemagazine, inzwischen konzentriert sie sich ganz auf ihre Romane. Mit »Die Inselfrauen«, »Die Fliederinsel« und »Die Rosengärtnerin« stand sie wochenlang auf der SPIEGEL-Bestsellerliste.

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Sylvia Lott

Die Fliederinsel

Roman

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Das Zitat aus dem Gedicht »An die Nachgeborenen« von Bertold Brecht stammt aus folgender Ausgabe: Bertold Brecht, Svendborger Gedichte

© Suhrkamp Verlag, Berlin, 1979

Redaktion: Margit von Cossart

JB · Herstellung: sam

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-18686-9V003

www.blanvalet.de

»Leben ist nicht genug«, sprach der Schmetterling. »Sonnenschein, Freiheit und eine kleine Blume gehören auch dazu.«

Hans Christian Andersen (1805–1875)

Dieser verdammte Rotwein! Warum war sie auch so dumm und kaufte in einem dänischen Minimarkt am Ende der Welt ausgerechnet Rotwein! Er schmeckte so scheußlich, dass Celia den ersten Schluck beinahe in hohem Bogen ausgespuckt hätte, doch während sie sich noch schnell die Hand vor den Mund halten konnte, stieß sie mit ihrem Ellbogen die Flasche um.

Hilfe! Der Wein schwappte auf die schöne Veranda des Sommerhäuschens, und die weiß gestrichenen Holzwände, die weiß lackierten Rattan-Möbel, die blümchenbestickte Leinentischdecke – alles war voller blutroter Spritzer wie nach einem Kettensägenmassaker.

Celia suchte Putzzeug, bemühte sich zu retten, was zu retten war. Sie streute Salz auf die Decke, warf die Stuhlkissenbezüge in Seifenlauge und schrubbte den hell gebeizten Holzboden. Auf Knien arbeitete sie sich Zentimeter für Zentimeter vor.

Seit zwei Tagen erst war sie in ihrem Feriendomizil im Süden der dänischen Insel Fünen. Dazu gab es eine kleine Vorgeschichte. Schon vor Jahren war sie im Nachlass ihrer Großmutter auf ein Foto gestoßen, das sie besonders fasziniert hatte. Es zeigte durch eine Allee aus blühenden Fliederbüschen aufgenommen ein reetgedecktes Häuschen inmitten eines alten Bauerngartens. Dahinter lag ein See oder vielleicht sogar das Meer. Auf dem weiß geriffelten Rand des Fotos stand mit spitzem Bleistift fein geschrieben: Fyn.

Dieses Foto war für Celia zum Inbegriff von Heimeligkeit geworden. Manchmal träumte sie sich kurz vorm Einschlafen dorthin. Ihre Mutter hatte ihr nichts Näheres sagen können, außer dass es vielleicht in Dänemark aufgenommen worden war und dass ihr Vater, also Celias Großvater, dort einige Zeit gelebt hatte, bevor er nach Palästina auswandert war. Über den Großvater sprach ihre Mutter nicht gern, Celia wusste kaum etwas über ihn. Er war das große schwarze Loch in ihrer Ahnenreihe. Aber es gab sonst niemanden mehr, den sie hätte fragen können. So hatte sie gelegentlich in Ferienhausportalen im Internet geforscht, einfach aus Neugier, ob das Häuschen wohl noch existierte. Und neulich war sie endlich fündig geworden! Das Ferienhaus Nummer Hy856 im Süden Fünens, mit Meerblick, lag nur hundertfünfzig Meter von der Ostsee entfernt, und es hatte große Ähnlichkeit mit dem reetgedeckten Häuschen auf dem Foto.

Celia hatte natürlich nicht alles stehen und liegen lassen, um direkt dorthin zu fahren. Denn erstens war sie die berufstätige Mutter eines sechsjährigen Sohnes, und zweitens hatte sie befürchtet, ihr schöner Traum könnte zerplatzen, wenn sie versuchte, ihn Wirklichkeit werden zu lassen. Dann allerdings hatten ihre Männer sich eine gemeinsame Angelwoche an der Schlei gewünscht – ein Wink des Schicksals! Zum Glück war Nummer Hy856 für diese Woche im Mai noch frei gewesen.

Auf die Ostseeinsel Fünen brauchte man von Hamburg aus etwa so lange wie bis nach Sylt. Obwohl so groß wie Mallorca, war die Insel in Celias Freundeskreis nur wenig bekannt. Wo willst du hin?, war sie ein paarmal gefragt worden. Ein echter Geheimtipp offenbar. Den wahren Grund für ihre Neugier auf genau dieses Sommerhäuschen hatte sie niemandem außer ihrem Mann Michael verraten. Besser nicht darüber reden … Es war ja nur eine kleine Hoffnung, mehr über den Großvater zu erfahren, nur eine vage Ahnung.

Als sie mit ihrem Auto eingetroffen war und das Haus zum ersten Mal in natura gesehen hatte, am Ende einer zartgrün sprießenden Fliederallee, da hatte sie alles noch viel schöner als erträumt gefunden.

Das weiß geschlämmte Steinhaus mit dem ochsenblutrot gestrichenen Fachwerk trug ein Reetdach, keck heruntergezogen wie eine Mütze. Vor türkisfarben gestrichenen Fensterrahmen hingen Blumenkästen mit Frühlingsblühern. Die Tür mit Holzschnitzereien leuchtete wie ein kleines Kunstwerk in bunten Farben. Darin wurde das Türkis aufgegriffen, gegen ein Dunkelblau abgesetzt, das Ochsenblutrot des Fachwerks wiederholte sich, und ein strahlendes Gelb machte daraus ein Feuerwerk der Lebensfreude. Die Fenster gingen nach außen auf – genau wie Celia es sich für ihr perfektes Haus wünschte. Und die beiden halbrunden Gauben im Dach wirkten unglaublich gemütlich.

Als Celia in die kleine Diele getreten war, da hatte es sich ein bisschen angefühlt, wie nach Hause zu kommen. Dabei war dies abgesehen von einem Kopenhagen-Wochenende vor Jahren ihr erster Besuch in Dänemark. Das Häuschen mit seinem alten Bauerngarten entsprach wohl einfach einem Urbild von Heimeligkeit. Es hatte Persönlichkeit, Charakter. Spätestens auf der lichtdurchfluteten verglasten Holzveranda mit Meerblick hatte Celia gespürt, dass sie mit diesem Haus etwas Besonderes verband.

Ach, und sie Trampel schaffte es, diesen wahr gewordenen Traum mit einer einzigen Bewegung zu ruinieren! Rotweinrinnsale versickerten in den Fugen der massiven Fußbodenbretter. Celia fuhr mit dem Schwamm hinein, doch dadurch verfärbte sich das Holz rosa. Wie sollte sie das bloß der Vermieterin erklären? Inger Olsen, eine ältere Dame, sie schätzte sie auf Mitte siebzig, war ihr auf Anhieb sympathisch gewesen. Bei der Schlüsselübergabe auf ihrem Hof, der ganz in der Nähe lag, hatte sie ihr noch in bestem Deutsch erklärt, dass sie das Ferienhaus im Frühjahr erst renoviert und erweitert hätten.

Obwohl es für die Jahreszeit eher kühl war, kam Celia gewaltig ins Schwitzen. Ihr Rücken begann zu schmerzen. Mühsam richtete sie sich auf, strich die Haare aus dem feuchten Gesicht, trat ein paar Schritte zurück. Nein, mit Abstand betrachtet sah alles nur noch katastrophaler aus! Sie tigerte durch die mit Antiquitäten und Ikea-Möbeln eingerichteten Zimmer – das Wohnzimmer mit Kaminofen und offener Küche, die drei Schlafzimmer und das erst kürzlich angebaute neue Bad. Im Putzschrank entdeckte sie eine Packung Haushaltsradiergummis. Vorsichtig probierte Celia einen aus. Und, oh Wunder, damit schwanden die Rotweinflecken! Erleichtert radierte sie bis in die Ecken – und stutzte. In die Paneelwand war eine kleine Tür eingelassen. Ein Verschlag? Sie musste kräftig am Riegel rütteln, doch dann sprang die Tür mit einem Ruck auf.

Eigentlich wollte Celia nur nachsehen, ob der Rotwein nicht auch darunter hindurchgesickert war. Aber da lag etwas. Eine längliche Rolle, die auch ein paar Spritzer abbekommen hatte. Sie wischte sie behutsam ab, zog dann das verstaubte, von Spinnweben überzogene Ding heraus auf die Veranda …

Eine aufgerollte Leinwand? Das geht mich nichts an, dachte Celia. Natürlich, aber sie war doch neugierig. Sie hielt die Öffnung ins Licht und erkannte Farben, verschiedene Grüntöne, helles und dunkles Lila. Mit den Fingerspitzen fühlte sie dick aufgetragene Farbe. Da konnte nun wirklich kein Mensch mehr widerstehen, oder?

Vorsichtig entrollte Celia das Gemälde. Es zeigte einen riesengroßen Fliederstrauß mit Blüten in Weiß, Rosa und allen Lilatönen von ganz zart bis dunkel vor einem geöffneten Fenster – so herrlich duftig, dass sie glaubte, ihn riechen zu können! Der Anblick warf sie um, sie sank zurück auf den Boden. Konnte es sein, dass der gemalte Ausblick im Hintergrund den Garten des Ferienhauses wiedergab?

Das Gemälde rollte sich langsam von allein wieder zusammen. Celia stand auf, suchte ein paar Bücher, entrollte erneut die Leinwand und legte die Bücher auf die vier Ecken. Dann trat sie einen Schritt zurück.

Der Strauß steckte in einem Kristallkrug, zwischen den Zweigen mit grünen herzförmigen Blättern glitzerte das Wasser der Vase durch den Kristallschliff tausendfach gebrochen. Über die üppigen Dolden ergoss sich ein frühlingshaftes Licht, das fröhlich stimmte und beschwingte.

Warum lag ein so zauberhaftes Bild offenbar schon seit langer Zeit unbeachtet im Dunkeln?

Am nächsten Vormittag war es immer noch frisch, der Wind scheuchte tuffige Wolken über den Himmel. Celia zog sich ihre dicke wollweiße Strickjacke über, bevor sie die Gemälderolle nach draußen brachte. Ihr Golf parkte neben dem Haus, vor dem die Fliederallee endete. Die baumhohen Sträucher waren zu einer Hecke zusammengewachsen. Die Dolden blühten noch nicht, aber sie waren schon zu erkennen. Vorsichtig schob Celia ihren Fund, die Leinwand maß sicherlich einen Meter fünfzig mal einen Meter fünfzig, von hinten durch den Kofferraum ins Auto. Dann ließ sie ihren Blick über die blau glitzernde Ostsee schweifen, zu grünen Inselchen und fernen Ufern. Was für eine Aussicht!

Das Grundstück lag leicht erhöht, sodass man den Pfad durch die mit Löwenzahn übersäte Weide bis ans Ufer mit beschwingtem Schritt hinunterging. Auf der Holzbank am sandigen Naturstrand hatte Celia schon am ersten Tag gesessen und den Sonnenuntergang beobachtet. Sie hatte die Wellen glucksen und das Schilf im Wind rauschen hören. Sie hatte sich vorgestellt, wie sie im Hochsommer vom hölzernen Bootssteg ins Wasser springen und unter dem verwitterten Holunderbusch im Schatten liegen würde. Der Wind zauste an ihren schulterlangen dunkelblonden Haaren. Tief atmete sie die frische Seeluft ein. Wie gut, dachte sie noch einmal, dass ich die Gelegenheit beim Schopf gepackt und einfach gebucht habe!

Dabei war sie ja zunächst ein wenig enttäuscht gewesen, als ihr Sohn Oskar sich gewünscht hatte, eine »Männerwoche« mit Angeln zu verbringen – etwas, das ihm mit Sicherheit der Papa eingeredet hatte. Ja, sogar etwas Eifersucht hatte sie empfunden, weil Oskar ohne sie, nur mit seinem Vater und dem Großvater zusammen Ferien machen wollte. Aber nach einiger Überlegung hatte sie auch die Vorzüge gesehen. So konnte sie in Ruhe an der Übersetzung arbeiten, die sie Ende Mai abgeben musste. Es war nichts Aufregendes, nur der Nachhaltigkeitsbericht einer russischen Papierfabrik. Nicht direkt ein Vergnügen. Aber die Arbeit wurde gut bezahlt.

Celia kämmte sich vor dem Autospiegel das Haar mit den Fingern, brachte ihre sorgfältig gezupften Augenbrauen in Form und trug etwas Lippenstift auf. Ihre braunen Augen glänzten. Sie wirkte schon richtig erholt. Es machte doch was aus, wenn man mal ausschlafen konnte!

Voller Vorfreude kurvte sie zum Hof ihrer Vermieterin. Die Äcker waren offenbar erst kürzlich mit Mist gedüngt worden, unverkennbar der Geruch. Schnell ließ sie das Seitenfenster wieder hochfahren. Die Landschaft erinnerte sie an die Holsteinische Schweiz – leicht hügelig mit satten Weiden und Ackerflächen, auf denen vereinzelt Eichen standen, mit Alleen, Getreidefeldern und zwischendurch immer wieder überraschenden Ausblicken aufs blaue Meer.

Ein Schlagloch ließ den Wagen hüpfen, die aufgerollte Leinwand verrutschte. Celia schob sie behutsam zurück. Bestimmt würde Inger Olsen vor Neugier platzen, wenn sie ihr erzählte, dass sie ein altes Gemälde gefunden hatte, und es sofort sehen wollen. Ihr würde es jedenfalls so gehen.

Celia parkte vor dem weiß geschlämmten Fachwerkgebäude, einem Vierseitenhof, an dessen Eingangstür sie erst drei Tage zuvor die Schlüssel abgeholt hatte. Hier war das Fachwerk schwarz gestrichen, große verwitterte Holzklammern hielten am First das Reetdach fest. Mit der Rolle unter dem Arm ging Celia auf das Haus zu. Es roch nach Pferdeäpfeln, Weißdorn und Seetang. Durch eine halbrunde hölzerne Toreinfahrt sah sie in einen feldsteingepflasterten Innenhof. Inger Olsen machte sich im Blumenrondell in der Mitte an verblühten Osterglocken zu schaffen.

»Guten Tag!«, rief Celia ihr zu.

»Hej, goddag!« Die Vermieterin richtete sich auf, schob lächelnd ihren ausgefransten Strohhut zurück und wischte sich die Hände an ihrer Gartenschürze ab. »Fühlst du dich wohl im Sommerhaus? Oder fehlt irgendwas?«

Celia hatte schon am ersten Tag darüber gestaunt, dass die Dänin sie gleich duzte. Aber es war in Ordnung. Celia mochte die alte Dame, sie kannte diesen Typ Mensch – schon viel erlebt, offen, kultiviert, aber handfest und noch voller Energie. Nicht schlank, nicht dick. Gepflegt, doch nicht so übertrieben, dass es eitel wirkte. Ihre kinnlangen durchgestuften Haare waren blond gefärbt, aus dem faltenreichen Gesicht leuchteten jung gebliebene bernsteinfarbene Augen.

»Nein, alles wunderbar!«, antwortete Celia. »Bin ganz verliebt in das Häuschen. Hab Ihnen etwas mitgebracht … Gestern Abend, da hab ich zufällig etwas entdeckt … Äh … könnten wir vielleicht ins Haus gehen?« Sie fürchtete, dass das Bild hier draußen schmutzig werden oder sonst irgendwie Schaden nehmen könnte.

Verwundert hob Inger Olsen die Augenbrauen. Doch sie nickte. »Ja natürlich«, erwiderte sie freundlich. »Ist sowieso Zeit für eine kleine Kaffeepause. Du magst doch Kaffee – oder lieber einen Tee?«

»Ja, Kaffee, danke gern.«

Wenig später saßen sie in einer gemütlichen Wohnküche mit cremefarbenen Einbauschränken. Die Hausherrin tunkte ihren Keks in den Kaffee. Sie unterhielten sich ein wenig über das Wetter und die Sehenswürdigkeiten der Umgebung. Celia bewunderte die Gelassenheit der alten Dame, die sie als die Jüngere natürlich weiter siezte.

»Ach, Entschuldigung«, unterbrach sich Inger Olsen daraufhin im eigenen Satz, »ich vergesse das immer wieder! Mein Deutsch ist nicht so gut!«

»Wie bitte? Ihr Deutsch ist hervorragend!«, widersprach Celia, »man hört kaum, dass es für Sie eine Fremdsprache ist.« Sie sprach nur das S schärfer aus und brachte gelegentlich eine drollige Verdrehung in die Satzstellung.

»Ich vergesse immer, dass ihr euch Sie sagt.« Die Vermieterin lachte. »Wir Dänen duzen eigentlich alles – außer unserer Königin!« Ihr Blick fiel auf die Rolle, die gegen einen Schrank gelehnt stand, und blieb neugierig daran haften.

Celia schilderte, welches Missgeschick ihr am Abend zuvor unterlaufen war. »Und das ist die Entdeckung!« Sie stand auf, nahm die Leinwand und trat ein paar Schritte zurück, damit das Licht durch die Küchenfenster noch besser darauffiel, hielt sie mit hochgestreckten Armen oben an den Ecken fest und ließ sie mit einem sanften Schwenk entrollen. Celia versuchte, die untere Ecke zwischen Küchenstuhl und Bein zu klemmen, damit das Bild möglichst vollständig zu sehen war. Dahinter konnte sie zu ihrem Bedauern Inger Olsens Gesicht nicht beobachten. Sie hörte auch nichts. Kein staunendes »Ah!« oder »Oh!«, keinen Ausruf des Entzückens. Celia hielt das Bild weiter hoch. Als sie nach einer gefühlten Ewigkeit noch immer keinen Ton vernommen hatte, ließ sie die Arme sinken. »Na, was sagen Sie?«

Ihre Vermieterin starrte auf das Gemälde. Ihre Miene wirkte wie eingefroren. Sie blieb stumm. Irritiert rollte Celia die Leinwand wieder auf und stellte sie ab. Da sah sie, dass Inger Olsen eine Träne die Wange hinunterlief. Und jetzt erschütterte ein kleines Beben den Oberkörper der alten Dame.

Celia schlug die Hand vor den Mund. Herrje, was hatte sie da angerichtet? »Ich dachte, Sie freuen sich …«, murmelte sie betroffen.

»Das große Fliederbild!«, stieß die Dänin mit belegter Stimme hervor. Sie wischte sich mit dem Ärmel über die Wange. »Das hat meine Mutter gemalt. Es ist … es galt seit dem Krieg als verschollen!«

»Ach!« Celia sank auf den Küchenstuhl.

Inger Olsen sah aus, als würde sie jeden Moment in Ohnmacht fallen. Doch allmählich fing sie sich wieder. Sie versuchte sogar zu lächeln. »Es ist unglaublich! Nach all den Jahren …« Zitternd griff sie nach ihrer leeren Kaffeetasse, und Celia schenkte ihr rasch nach. Die alte Dame trank ein paar Schluck. Ihr Blick war eine Weile wie nach innen gerichtet, ganz abwesend. Dann schaute sie Celia bittend an. »Kann ich es noch einmal sehen?«

»Natürlich!« Celia sprang auf. Sie suchte nach Möglichkeiten, die Leinwand an den Ecken zu beschweren.

»Am besten in die Stube!« Inger Olsen stand auf und ging voran durch die Eingangshalle in zwei miteinander verbundene Räume, an die sich ein Wintergarten anschloss. Die Wände waren dunkelblau gestrichen. Daran hingen kleinere Ölbilder und Aquarelle, die von derselben Künstlerin zu stammen schienen wie das Fliedergemälde, und diverse kunstvolle Scherenschnitte. Einige baumelten als Mobiles von der Decke. Zwischen Biedermeiermöbeln und bequem aussehenden Arne-Jacobsen-Sesseln in verschiedenen kräftigen Farben stand ein großer antiker Arbeitstisch. Tolles Stück, dachte Celia, so was hätte ich auch gern! Rotbraunes Holz, schwer, mit gedrechselten Beinen und charmanten Gebrauchsspuren. Die Hausherrin räumte einen Stapel Bücher und Papierarbeiten auf den Flügel, in dessen schwarz glänzendem Lack sich silbergerahmte Familienfotos spiegelten. »Kannst du das Bild bitte da auf den Tisch legen?« Sie holte bunte Glaskugeln aus einer Sammelvitrine und stellt eine auf jede Ecke. Celia überlegte, ob sie sich jetzt diskret zurückziehen sollte. Aber vielleicht fiel die alte Dame am Ende doch noch in Ohnmacht? Gewiss wäre es besser, sie jetzt nicht allein zu lassen. »Dass es wieder da ist!«, rief Inger Olsen aus, als würde es ihr eben erst richtig bewusst. Sie beugte sich über das Gemälde, zeichnete mit den Fingerspitzen zärtlich die Konturen der Vase nach, berührte jede Fliederdolde. »Alle Farben …«, begann sie, rang aber offenbar wieder um Fassung. »Ich brauche erst einmal einen snaps«, sagte sie. Es klang niedlich. Sie schenkte auch Celia einen Gammel Dansk ein, kippte den Magenbitter mit einem Schluck hinunter und schüttelte sich.

»Das Bild bedeutet Ihnen viel …«, sagte Celia leise.

»Das kann man wohl sagen. Meine Mutter hieß Ruth Liebermann. Sie kam übrigens aus Deutschland und war eine Zeit lang als Malerin ziemlich bekannt.«

Celia hatte den Namen noch nie gehört. »Sind die anderen Bilder hier auch von ihr?«

»Ja. Ich hab noch mehr Gemälde von ihr. Interessieren sie dich?«

»Oh ja, sehr!«

Inger Olsen nahm eine schlanke Pfeife und Tabak aus einem intarsienverzierten Holzkästchen. Celia versuchte, ihr Erstaunen nicht zu zeigen. »Sorry. Ich versuche, es mir abzugewöhnen … Normalerweise rauche ich auch nicht mehr im Haus«, sagte Inger Olsen. Die Prozedur, das Tabakstopfen und Anzünden, dauerte etwas. »Komm doch morgen Nachmittag wieder vorbei. Sagen wir um drei. Ich bin jetzt noch ein bisschen durcheinander und aufgeregt … und ich möchte mit dem großen Fliederbild allein sein … Das ändert so einiges.« Sie zog, paffte, lächelte entschuldigend. »Ich muss nachdenken. Aber morgen mache ich gern eine kleine Führung.«

Celia konnte es kaum abwarten, noch mehr Werke von Ruth Liebermann zu sehen. Weshalb war die Deutsche nach Dänemark gekommen? Warum änderte die Entdeckung des Fliederbildes »einiges« für Inger Olsen? Und was?

Celia googelte im Internet, konnte aber nichts über die Malerin in Erfahrung bringen. Nachdenklich schaute sie in den Garten des Ferienhäuschens hinaus. Wie viele Künstler mochten wohl im Laufe der Zeit in Vergessenheit geraten sein? Wie viele wunderbare Kunstwerke waren der Nachwelt nicht überliefert worden?

Celia übersetzte noch drei Seiten. Kunst war das sicher nicht, nur solide Handwerksarbeit. Bislang war sie mit ihrem erledigten Pensum zufrieden. Am Abend telefonierte sie mit ihrem Mann. Michael reichte sein Handy bald an den drängelnden Oskar weiter – beide versicherten, dass sie ganz prima ohne sie zurechtkämen.

»Mama, wir haben heute neun Heringe und einen Dorsch gefangen. Ich hab mehr gefangen als Papa und Opa!«

Zu dritt in einer Fischerhütte an der Schlei … Celia konnte sich die Männerwirtschaft lebhaft vorstellen. Wahrscheinlich spritzten sie das dreckige Geschirr mit dem Gartenschlauch ab und ließen es an der Sonne trocknen. Sie unterdrückte ein Grinsen.

»Toll, mein Schatz! Vergiss nicht, die Zähne zu putzen. Und schlaf schön«, sie hauchte ein Küsschen ins Handy. »Ich hab dich lieb!«

Am folgenden Nachmittag besorgte Celia im nächsten Floristikgeschäft, zwei Dörfer entfernt, einen bunten Blumenstrauß. Pünktlich um drei machte sie sich mit dem Türklopfer bemerkbar.

»Wollen wir erst die Bilder angucken?« Inger Olsen führte Celia durch das ganze Haus. »Das Dachgeschoss haben mein Mann und ich vor dreißig Jahren ausgebaut.« In beinahe jedem Raum hingen Gemälde von Ruth Liebermann. Viele Fliedermotive, aber auch Landschaftsbilder zu verschiedenen Jahreszeiten, Porträts eines kleinen Mädchens. »Das bin ich als Kind«, sagte die Vermieterin stolz.

Celia mochte den kräftigen, entschiedenen Pinselstrich, das delikate Farbempfinden, die sinnliche Kraft und vor allem das helle nordische Licht in diesen Gemälden. Mal flirrte es wie durch Birkenblätter gefiltert, mal strahlte es in einer unglaublichen Klarheit.

»Ganz herzlichen Dank«, sagte sie, als sie wieder nach unten gingen, »das war wirklich beeindruckend! Muss eine interessante Frau gewesen sein, Ihre Mutter.«

Inger Olsen bat sie ins Wohnzimmer. Dort zeigte sie auf ein Porträtfoto, das auf dem Flügel stand. »Das ist sie. Da wird sie so Mitte zwanzig gewesen sein.«

Neugierig kam Celia näher, sie guckte sich gern alte Fotos an. Die Frau mit dem ovalen Gesicht und dem vollen dunklen Haar gefiel ihr. Hatte sie die Wellen gebändigt, indem sie es am Hinterkopf zusammengesteckt hatte, oder war es ohrläppchenkurz geschnitten und nach hinten gebürstet?

»Ist das ein Bubikopf?«, fragte Celia.

»Ja, zu der Zeit trug sie die Haare kurz, hinten durchgestuft«, sagte Inger Olsen. »Ihre Naturkrause ließ sich nur schwer bändigen.«

Im wohlproportionierten Gesicht der Malerin dominierten dunkle Augen, die ernst und selbstbewusst blickten, die aber sicher auch leicht etwas Verträumtes bekommen konnten. Sie trug einen hellen Sommermantel mit Bindegürtel und ein gemustertes Halstuch, die Hände steckten wohl in den Manteltaschen, aber das Bild war etwas unterhalb der Taille abgeschnitten. Eigentlich, so fand Celia dann bei näherer Betrachtung, wirkte Ruth Liebermann gar nicht wie eine Künstlerin, jedenfalls schien sie nicht chaotisch zu sein. Sie sah eher wie eine Medizinstudentin aus, entschieden und zuverlässig. Sie strahlte eine gewisse Klarheit aus, so wie manche ihrer Bilder. Und trotzdem lauerte in ihren Augenwinkeln auch etwas Schalkhaftes, das nur darauf wartete, Oberhand zu gewinnen. Die hätte man gern zur Freundin, dachte Celia spontan.

»Eine schöne Frau«, sagte sie anerkennend, »und sehr sympathisch.« Sie schaute ein paarmal hin und her zwischen Porträtfoto und Tochter. Ingers Gesicht war etwas breiter, die Haarfarbe unterschied sie, doch die Verwandtschaft war nicht zu übersehen. »Sie haben Ähnlichkeit miteinander. Sind die Scherenschnitte eigentlich auch von Ihrer Mutter?«

»Oh nein … Die sind von mir.« Inger Olsens Gesichtsausdruck schwankte zwischen Stolz und Bescheidenheit.

»Die sind unglaublich filigran! Und nicht nur dekorativ, sie erzählen ganze Geschichten. Sie sind auch eine Künstlerin! Wie machen Sie das nur?«

»Och«, winkte die alte Dame ab, »das hat bei uns auf Fünen Tradition. Hans Christian Andersen schnitt auch immer, wenn er seine Märchen erzählte, nebenbei Bilder aus gefaltetem Seidenpapier aus. Hast du das gewusst?« Sie lachte. »Nej, ich war Lehrerin. Die Scherenschnitte sind nur mein Hobby.«

»Das ist aber schon etwas Besonderes!«

»Na ja, manchmal nehme ich an Ausstellungen teil«, gab Inger Olsen zu.

Celia betrachtete die anderen Familienfotos. Darunter war eines, auf dem Inger Olsen mit ihrem Mann posierte. »Unsere goldene Hochzeit«, sagte sie, »die haben wir gerade noch geschafft. Dann ist er gestorben. Vor vier Jahren.« In ihren Augen schimmerten Tränen. Sie zeigte schnell auf das Foto von einer Kinderschar, die am Strand tobte. »Meine Enkelkinder. Das siebte ist unterwegs.«

»Wie schön!«

»Die halten mich ordentlich auf Trab!« Sie lachte und bat Celia an den Kaffeetisch, den sie draußen auf einer windgeschützten Terrasse neben dem Wintergarten eingedeckt hatte. Blau-weißes Kopenhagener Porzellan und unter einer Fliegenhaube Blätterteigspezialitäten mit Aprikosen. Hinter dem Rasen, der von Blumenrabatten und Hortensienbüschen umgrenzt war, verlief eine Feldsteinmauer, und dahinter erstreckten sich grüne Weiden und eine Pferdekoppel. »Mein Sohn bewirtschaftet den Hof weiter«, erwähnte Inger Olsen beiläufig, »er wohnt nebenan mit seiner Familie.«

Celia genoss die wärmende Sonne. Der Kuchen schmeckte knusprig leicht und schön fruchtig. »So lässt sich das Leben aushalten!«, sagte sie.

»Wie bist du denn eigentlich auf unser Häuschen aufmerksam geworden?«, fragte Inger Olsen interessiert, während sie ihre Pfeife ausklopfte und neu stopfte. »Durch Zufall oder Empfehlung?«

»Ach, das ist eine lange Geschichte. Na, eigentlich nicht lang, nein, aber die Idee gibt es schon eine Weile«, antwortete Celia. »Einer meiner Großväter hat in Israel gelebt. Und weil meine Großmutter mit ihrer Tochter, also meiner Mutter, nach ihrer Scheidung von ihm schon Anfang der Fünfzigerjahre nach Deutschland zurückgekehrt ist und dort wieder geheiratet hat, war er eigentlich immer ein Tabuthema in unserer Familie. Ich weiß kaum mehr als seinen Namen. Nur hab ich im Nachlass meiner Großmutter einmal ein Foto entdeckt …« Celia merkte, dass ihre Gastgeberin sie mit gesteigerter Aufmerksamkeit betrachtete. »Also, dieses Schwarz-Weiß-Foto«, fuhr Celia plötzlich etwas beklommen fort, denn es verursachte ihr dummerweise immer noch ein schlechtes Gewissen, wenn sie über das unerwünschte Thema sprach, »das zeigt ein Fachwerkhäuschen mit Strohdach und Garten und eine Allee blühender Fliederbüsche.«

»Weißt du, von wann das Foto ist?«, fragte ihre Gastgeberin.

Celia schüttelte den Kopf. »Ich kann es nur schätzen. Es hat diesen bräunlichen Farbstich und einen ausgefransten weißen Rand, wie das typisch für die Dreißiger- oder Vierzigerjahre ist. Auf dem Rand steht nur ›Fyn‹. Mehr nicht. Ich habe meine Mutter gefragt, und sie sagte, sie wisse auch nichts Näheres. Es könne vielleicht in Dänemark gewesen sein. Da hat ihr Vater einige Zeit verbracht, bevor er nach Palästina auswanderte.«

Inger Olsen paffte kleine Rauchwölkchen. Celia hatte den Eindruck, dass sie etwas sagen wollte, es aber doch lieber unterdrückte. Celia trank ihren Kaffee. War sie zu privat geworden?

Die alte Dame räusperte sich. »Sind auch Menschen darauf zu sehen?«

»Nein, leider nicht«, antwortete Celia. Sie holte ihr Handy hervor und zeigte es ihr. »Hier! Ich habe es abfotografiert.«

»Das ist unser Sommerhaus!«, rief die Dänin. Sie stützte sich auf den Armlehnen ab, erhob sich ein Stück, ließ sich aber gleich wieder in den Gartenstuhl zurücksinken. »Da am Rand erkenne ich noch den Apfelbaum mit der Schaukel!«

»Ach, das hatte ich gehofft! Ich hab’s einfach im Internet recherchiert«, fuhr Celia eifrig fort. Sie war stolz, aber auch etwas unsicher. Ob sie da schon wieder ein empfindliches Thema berührte? »Dass Fyn das dänische Wort für Fünen ist, hab ich ja ziemlich schnell rausgefunden«, beendete Celia ihre Erklärung. »Und dann hab ich öfter mal auf verschiedenen Ferienhausportalen geguckt und bin so schließlich auf Ihr Häuschen gestoßen.« Inger Olsen kniff die Augen zusammen und fixierte ihr Gegenüber. Verlegen zuckte Celia mit den Achseln. »Ein bisschen hab ich wohl gehofft, hier mehr über meinen Großvater in Erfahrung zu bringen«, gestand sie. »Ich weiß kaum mehr als seinen Namen: Ari Cohen.«

»Ari Cohen …«, wiederholte die Dänin. Sie zog an ihrer Pfeife. »Nichts, worüber man reden muss!« Sie sagte es wie einen Satz, den man zitiert, quasi mit gesprochenen Gänsefüßchen. Und dann schnaubte sie leise durch die Nasenlöcher, fast als müsste sie über etwas lachen. Nachdenklich schüttelte sie den Kopf. »Wenn’s kommt, kommt’s dicke.« Celia sah sie fragend an. »Ich hab dir eine Geschichte zu erzählen«, sagte die alte Frau mit sprühenden Augen. »Meine Güte! Wer hätte das gedacht?« Sie schüttelte erneut den Kopf. »Aber immer der Reihe nach.«

»Warum sagen Sie: Nichts, worüber man reden muss?«, fragte Celia verständnislos.

»Tja, also … Nicht der Rede wert oder Nichts, über das man reden müsste oder Lass die Vergangenheit ruhen …« Inger Olsens Stimme klang auf einmal aufgebracht. »Das sind so Sätze, mit denen ich aufgewachsen bin. Die ziehen sich wie ein roter Faden durch mein Leben. Das hat mich geprägt.« Celia verstand noch immer kein Wort. »So lauteten die Standardantworten bei uns zu Hause auf viele meiner Fragen«, fuhr die alte Dame fort. »Ich hab mich nie getraut, mit meiner Mutter darüber zu reden, weshalb sie damals …« Sie zögerte, offenbar bereitete es ihr Schwierigkeiten, über das heikle Thema zu sprechen. »Ja, auch bei uns gab es Tabus. Immer wurde das Gespräch abgeblockt, wenn …«

»Ach, das kenne ich!«, warf Celia erleichtert ein. »Man spürt als Kind schnell, dass man bestimmte Dinge besser nicht anspricht. An der Art, wie man indirekt bestraft wird … Wie sich Mienen verdüstern, wie die gefühlte Raumtemperatur schlagartig sinkt. Ich glaube, da verstehe ich Sie sehr gut.«

Die Dänin paffte ein paar Rauchwölkchen in die Luft. »Du musst auch du und Inger zu mir sagen, bitte. Eigentlich heiß ich ja Ingrid, Inger ist die dänische Form.«

»Oh … ja … natürlich … gern«, stammelte Celia verwirrt.

»Es ist kompliziert. Da kommt so vieles zusammen. Die Geschichte hat mit dem Sommerhaus zu tun. Und mit meiner Familie.« Inger atmete schwer. Hatte sie Tränen in den Augen?

Celia nickte nur. Sie kam sich vor wie ein Glückssucher, der soeben auf eine Goldader gestoßen war. Aber sie wollte die alte Dame nicht durch Fragen aus dem Konzept bringen.

»Genau genommen war mein Vater nicht mein leiblicher Vater«, begann Inger. »Erst als meine Mutter schon sehr alt war, erzählte sie mir, wie sie den 1. Oktober 1943 erlebte, was an jenem Schicksalstag passiert war … Die Entscheidung, die sie damals traf, hat unser aller Leben beeinflusst. Nach ihrem Tod hab ich dann ihre Tagebücher und Aufzeichnungen gefunden, später hab ich selbst noch Nachforschungen angestellt und mir manches zusammengereimt.« Celia hatte nicht den Schimmer einer Ahnung, was es mit dem Datum auf sich gehabt hatte. War das ein historischer Tag? Sie überlegte. Kriegsausbruch war im September 1939 gewesen. Kriegsende im Mai 1945. »Viel häufiger«, fuhr Inger fort, »sprach meine Mutter über die Zeit davor. Sie sagte immer, ihr altes Leben sei im November 1938 zu Ende gegangen. Man muss die Vorgeschichte kennen, um zu verstehen … Sie lebte damals in Berlin …«

1

Ruth Liebermann schlief unruhig auf der Gästecouch ihrer Freundin Ilse. Sie träumte von ihren Eltern, die zwei Jahre zuvor mit der Großmutter Selma und Ruths beiden jüngeren Schwestern nach Uruguay emigriert waren. Plötzlich tauchte auch ihr Bruder auf, der doch schon lange in einem Kibbuz in Palästina lebte, und sie alle saßen draußen auf bunten Klappstühlen vor ihrem Stoff- und Kurzwarengeschäft in Montevideo, das Ruth nur von Fotos kannte. Während die Familie Wolff palaverte, sauste ihr verstorbener Urgroßvater Salomon mit fliegenden Rockschößen durch die Lüfte, gesellte sich zu ihnen und rief Ruth mit russischem Akzent zu: »Glaub mir, mein Täubchen, es ist besser, einmal zu oft wegzulaufen als einmal zu wenig!«

Ruth erwachte. Sie hatte geschwitzt, ihr Pyjama war ganz feucht, zugleich fröstelte sie. Sie schaute durch die Dachluke in den Berliner Himmel. In dieser Nacht sah man keine Sterne, nur nebliges Novembergraublauschwarz. Ruth spürte Unruhe in sich. Lag es daran, dass Jakob nicht bei ihr war? Sie gönnte es ihm doch, dass er einen Abend mit seinen alten Freunden vom Theater verbrachte. Dadurch hatte sie ja auch ganz in Ruhe bis spät in die Nacht mit Ilse an den Modezeichnungen für die neuen Abendkleider feilen und bei der Freundin übernachten können. Ilse war Modeschriftleiterin einer Frauenzeitschrift, die im Ullstein Verlag erschien. Ihre Chefin hatte kurz vor Redaktionsschluss »den zeichnerischen Ausdruck irgendwie anders, zeitgemäßer« haben wollen, »nicht so dekadent elegant, keine überlängten Körper, sondern alles fraulich-fröhlich«. Also gut, fraulich-fröhlich. Hatte sie sich eben unter Ilses gestrengen Augen daran gemacht, die gesamte Bildstrecke neu zu zeichnen.

Ilse gab Ruths Modezeichnungen als die ihren aus. Das Honorar teilten sie sich. Schließlich musste Ilse ja wegen der gestiegenen Einkünfte auch mehr Steuern zahlen, und sie ging ein hohes Risiko ein. In der Redaktion galt Ilse als Doppeltalent, weil sie nicht nur schreiben, sondern auch zeichnen konnte. Wegen des starken Arbeitsanfalls hatte sie durchgesetzt, dass sie die Illustrationen zu Hause machen durfte. Angeblich konnte sie sich im Redaktionsalltag nicht richtig aufs Zeichnen konzentrieren. Und deshalb machte sie oft etwas früher Feierabend. Vermutlich ahnte der eine oder andere in der Redaktion, vielleicht auch in der Geschäftsführung, etwas – es gab eine ganze Reihe solcher heimlichen Vereinbarungen unter befreundeten Exkollegen –, aber bislang war’s noch immer gut gegangen.

Ruth drehte sich auf die andere Seite, zog die Bettdecke bis unters Kinn. Wie spät mochte es sein? Drei Uhr oder schon vier? Sie kniff die Augen zusammen, doch sie konnte einfach nicht wieder einschlafen. Nach einer Weile richtete sie sich etwas auf und schnupperte. Roch es nicht seltsam? Es müffelte hier oben immer etwas. Nach Trockenboden, mit Lux-Seifenflocken gewaschener Wäsche, säuerlich nach alten Feudeln, nach Staub und Eierkohlebriketts. Aber es kam ihr vor, als mischte sich jetzt Brandgeruch mit hinein.

Plötzlich krachte es unten im Hauseingang. Kehrten Betrunkene heim? Ruth hörte eisenbeschlagene Schuhe trampeln und die Treppen hoch bis in die zweite Etage marschieren. Männerstimmen im Befehlston, Klingeln, grobes Klopfen, Hämmern gegen eine Wohnungstür. Hundegebell. Irgendwo begann ein Kleinkind zu weinen.

»Aufmachen! Aufwachen!«

Mit einem Ruck saß Ruth aufrecht. Ihr Herz hämmerte gegen die Rippen, ihr Hals schnürte sich zu. Was war da los? Bei wem klingelten sie? Und … wer waren diese Männer?

»Levy! Altes Judenschwein!«, brüllte jemand. »Mach auf, sonst treten wir die Tür ein!« Fäuste oder Gewehrkolben schlugen gegen Holz.

»Wo ist dein Mann, du Judenhexe?«, vernahm Ruth bis ins fünfte Stockwerk. Dann brach ein Getöse los, als ob eine Rinderherde durch die Wohnung galoppierte, Möbel niedertrat und Glasvitrinen zertrampelte. Eine Frau schrie auf, jammerte, verstummte abrupt. Die Verwüstung ging weiter.

Jetzt holen sie uns, dachte Ruth. Gleich holen sie mich. Ihre Hände wurden feucht, sie begann zu zittern. Jakob hat gesagt, so schlimm wird es schon nicht werden. Wir können uns irgendwie arrangieren. Oh Gott, Jakob!, durchfuhr es sie. Wo steckst du?

Draußen johlten Menschen, der Mob war los! Ruth sprang aus dem Bett, tippelte auf Zehenspitzen zur Dachluke, um auf die Straße vor dem Haus zu schauen. Doch das Dach versperrte ihr den Blick hinunter – stattdessen erkannte sie ein paar Straßenzüge entfernt, dort, wo die Synagoge stand, ein loderndes Feuer.

Erschrocken starrte sie auf die gelben und roten Flammen. In ihren Schläfen pulsierte das Blut. Sie versuchte, klar zu denken und sich einen Reim auf alles zu machen. Werd jetzt bloß nicht panisch, mahnte sie sich. Ihr war eiskalt. Das Gelärme zog seine Spur nun wieder durchs Treppenhaus. Ruth prüfte die Tür, vorsichtig drehte sie den großen Schlüssel noch einmal um. Dabei würden diese Barbaren sich von einem primitiven Schloss bestimmt nicht aufhalten lassen. Aber dass sie heute hier oben war, wusste ja kein Mensch. Außer Ilse. Und Jakob. Oder ob einer der Nachbarn sie beobachtet und etwas verraten hatte?

Ruth kroch zurück ins Bett. Sie zog die Decke über den Kopf wie ein kleines Kind, das Ich-bin-nicht-da spielt. Sie schloss die Augen, hielt sich die Ohren zu. Und hörte ihr Herz noch lauter bubbern.

So verharrte sie. Ruth hatte keine Ahnung, wie viel Zeit verstrich. Tränen liefen ihr über die Wangen. Irgendwann erlahmten ihre Finger, sie nahm sie von den Ohren. Ruhe. Sie schob den Kopf unter der Decke hervor. Tatsächlich Ruhe.

Ruth wagte, laut auszuatmen. Ihr wurde bewusst, dass sie dringend musste. Die Toiletten befanden sich jeweils im Halbparterre zwischen den Stockwerken. Aber um nichts in der Welt würde sie auf den Flur hinausgehen. Während sie überlegte, was sie tun sollte, hörte sie ein leises Kratzen an der Tür. Und dann ein Flüstern.

»Ich bin’s!« Ilses Stimme. Ruth öffnete der Freundin, die ins Zimmer huschte. »Lass das Licht aus«, sagte Ilse gedämpft, entzündete die Kerze im Darmol-Leuchter, der immer mit Streichhölzern auf einer Ablage neben der Tür bereitstand, und stellte ihn auf den Tisch. Sogar verschlafen und im Morgenmantel wirkte ihre schöne blonde Freundin noch elegant. Ruth hob die Bettdecke, Ilse schlüpfte neben sie. Sie brachte den Duft von weißen Gardenien mit. »Sie sind weg«, flüsterte sie. »Ein Stoßtrupp der SA. Innerhalb von zehn Minuten war alles verwüstet! Du – kannst – es – dir – nicht – vorstellen. Sie haben Familie Levy und Dr. Rosenthal mitgenommen. Und alle Juden aus dem Haus gegenüber, auch die Frauen und Kinder.« Ilse zitterte, sie zog die Decke weiter zu sich rüber. »Die standen in ihren Schlafanzügen und Nachthemden draußen! Bei dieser Kälte! Die SA-Kerle haben sie mit Gewehren in Schach gehalten und dann auf einen Transporter getrieben … Wie Vieh.« Ilse brach in Tränen aus. »Ich schäme mich so«, schluchzte sie, »dass ich nichts getan hab! Es ist so furchtbar!« Die Freundinnen nahmen sich in die Arme. Hauptsache, sie tun Jakob nichts!, dachte Ruth. Lieber Gott, mach, dass Jakob nichts geschieht! »Aber was hätte man denn tun können?«, überlegte Ilse.

»Nichts! Sonst hätten sie dich auch noch mitgenommen!« Ruth strich ihrer Freundin über das weiche Haar. »Und mich ja sowieso«, ergänzte sie in bitterem Ton. Sie hatte plötzlich Durst. »Es ist noch Apfelsaft von gestern Abend da«, sie griff nach der Flasche mit Ploppverschluss, die neben der Schlafcouch stand. »Möchtest du etwas?«

Ilse schüttelte den Kopf, Ruth nahm einen kräftigen Schluck.

»Was ist eigentlich mit Dänemark?«, fragte Ilse, nachdem sie sich etwas beruhigt hatte.

»Das läuft, hoffentlich. Aber Jakob kann sich nicht entscheiden. Er will lieber noch abwarten. Er sagt, die deutsche Sprache ist seine Heimat.«

»Na ja«, warf Ilse verständnisvoll ein, »als Schriftsteller …«

»Und wenn schon weggehen«, fuhr Ruth fort, »dann will er nach Amerika, wo sein Freund Fritz ist. Der bürgt für uns. Oder wenigstens nach Paris oder London … Jakob …« Ruth umklammerte Ilses Arm. Was, wenn sie Jakob auch geschnappt hatten? Sie schlug die Decke zurück. »Ich halt das nicht länger aus! Ich muss zu uns nach Haus …«

Ilse drückte sie zurück auf die Couch. »Du bleibst schön da! Ich bin hier die Arierin. Wenn einer geht und guckt, dann ich. Aber nicht jetzt. Erst wenn es hell …«

Ein Knarren auf der Holztreppe ließ sie verstummen. Jemand näherte sich der Wohnungstür. Ruth hatte das Gefühl, dass ihre Körpertemperatur innerhalb von Sekunden auf Eiseskälte fiel. Alle Härchen sträubten sich.

»Pst!«, flüsterte sie. »Hast du abgeschlossen?«

Ilse schüttelte mit schreckgeweiteten Augen den Kopf.

Ganz langsam wurde die Klinke nach unten gedrückt. Die Tür öffnete sich mit einem leisen Quietschen. Ein Mann trat ein. Er trug Mantel und Hut. Ruth hielt die Luft an. Ihr war, als würde ihr Herz jeden Moment stehen bleiben. Der Mann machte einen Schritt ins Zimmer.

»Puck, bist du hier?«, raunte eine vertraute Stimme.

»Jakob!«, stieß Ruth erleichtert hervor, jetzt fiel das Kerzenlicht auf sein Gesicht. Mit einem Satz sprang sie über Ilse hinweg aus dem Bett und fiel ihrem Mann um den Hals. Er roch nach Feuer.

»Meine Ruth!« Er schloss sie so fest in seine Arme, dass sie kaum Luft bekam.

»Jakob, Jakob!« Als Ruth sein von Bartstoppeln kratziges Gesicht abküsste, spürte sie, dass ihre Wangen feucht waren. Aber ihr Herz fühlte sich auf einmal ganz leicht an. »Sie haben dich nicht gekriegt!«

»Ein paar dumme Jungen haben mit brennenden Holzscheiten nach mir geworfen.« Jakob versuchte offenbar, das Erlebte herunterzuspielen. »Bin ihnen durch einen Hinterhof entwischt. Aber der Mantel ist hin.«

»Ach Jakob! Hauptsache, du bist hier!« Ruth schmiegte sich an ihn, als wollte sie ihn so bald nicht wieder loslassen.

Ilse reichte ihm den Apfelsaft. Er trank den Rest in einem Zug leer. »Komm«, sagte Ilse, »setz dich aufs Bett und erzähl.«

Sie ruckelte sich mit dem Bettzeug an die Längsseite der Couch, Jakob und Ruth setzten sich daneben. Den Rücken gegen die Bretterwand gelehnt und mit Ruth im Arm, berichtete Jakob. Er war mit seinen Freunden versackt, sie hatten lange über neue Theaterstücke und Filmskripte geredet und getrunken. Auf dem Nachhauseweg zu fortgeschrittener Stunde hatte er an der Ecke ihres Blocks rechtzeitig eine Warnung zugeflüstert bekommen.

»Es war ein Nachbar, den ich nur vom Sehen kenne. Er sagte: Heute machen sie Jagd auf Juden, versteck dich.« Ein paar übereifrige Hitlerjungen hatten ihn vor einer brennenden Synagoge erkannt und verfolgt, bis er sie abschütteln konnte. So war er nicht in ihre Wohnung an der Konstanzer Straße zurückgekehrt, sondern hatte in Ilses Dachkammer Zuflucht gesucht.

»Wie bist du überhaupt reingekommen?«, fragte Ilse schließlich.

»Die Eingangstür steht doch sperrangelweit offen«, erwiderte Jakob.

»Die SA war auch hier«, sagte Ruth leise. »Sie haben alle jüdischen Bewohner mitgenommen.«

»Furchtbar …« Jakob fuhr sich mit der Hand durchs übermüdete Gesicht, dann lächelte er ironisch. »Da muss ich der SA sogar noch dankbar sein, was? Dass sie mir wenigstens die Tür offengelassen haben.«

Ruth war unglaublich erleichtert und weinte vor Glück. Und dann musste sie vor Entsetzen weinen. Ihre Fantasie erschuf immer neue Szenen, die erklärten, weshalb die Frau in der Wohnung im zweiten Stock bei dem nächtlichen Überfall plötzlich verstummt war. Hatte man sie geschlagen? Ihrem Kind Gewalt angedroht? Ihr einen Knebel in den Mund gestopft?

Ilse verabschiedete sich flüsternd. Ruth barg ihr Gesicht an Jakobs Brust, er hielt sie fest in seinen Armen. Sie spürte, dass auch er Angst hatte. Natürlich. Aber er zeigte sie nicht. Er sprach von ganz normalen Dingen, als wäre alles wie immer. Ruth hätte es lieber gehabt, er würde ehrlich über seine Gefühle mit ihr sprechen, aber wahrscheinlich glaubte er, dass er als Mann Stärke zeigen musste. Dabei befanden sie sich im freien Fall! Ruth wollte ja nicht jammern, aber sie fühlte sich, als hätte man ihr einen ohnehin schon schwankenden Boden nun ganz und gar entrissen. Wem durften sie noch trauen? Jeder, ob Freund, Kollege oder Nachbar, konnte sie bei den Behörden anschwärzen und von heute auf morgen ins Gefängnis bringen.

»Schlaf, mein Engel!«, flüsterte Jakob ihr ins Ohr, seine Bartstoppeln piksten sie nun noch mehr. »Du bist völlig übernächtigt.«

Ruth umschlang ihren Mann mit Armen und Beinen, und endlich dämmerte sie für eine Weile weg. Die Beklemmung blieb jedoch auch im Schlaf. Sie machte ihr das Atmen schwer, noch bevor sie sich beim Aufwachen wieder an die schrecklichen Ereignisse erinnern konnte.

2

Seit zwei Tagen hockten sie nun schon in dem klammen Kabuff. Zum Glück verlief der Schornstein an einer Seite hoch und strahlte etwas Wärme in den schlecht isolierten Raum ab. Es gab nur den von Modezeichnungen übersäten Schreibtisch, einen alten Küchenstuhl, einen abgetretenen Teppich, die Ablage neben der Tür und die durchgelegene Schlafcouch mit einem Tisch vom Trödel. Ilses kleine Wohnung im dritten Stock war natürlich viel schicker eingerichtet, dieser Raum diente ihr nur als Ausweichquartier.

Hier würde auch die glücklichste Ehe spätestens nach einer Woche Eingesperrtsein scheitern, dachte Ruth.

»Wie lange wir wohl noch hierbleiben müssen?«, fragte sie Jakob, ohne eine Antwort zu erwarten. »Ob sie auch unsere Wohnung demoliert haben?«

»Wahrscheinlich.« Auf einmal erfüllte Schmerz die grünbraunen Augen ihres Mannes. Zwischen seinen kräftigen dunklen Brauen bildete sich eine steile Falte. »Ich hoffe, dass es meinen Leuten in Bamberg gut geht …«

Seine immer etwas raue Stimme klang noch rauer als sonst. Er presste die Lippen seines kleinen energischen Mundes fest zusammen. Ruth drückte mitfühlend seinen Arm. Zum ersten Mal war sie froh, dass ihre Familie weit weg im Ausland lebte. Sie schmiegte sich an ihren Mann. Sie hätte ihn so gern getröstet.

»Bamberg ist nicht Berlin«, sagte sie. »Warum schnappen wir uns nicht einfach den Horch und fahren erst mal mit einem Groschenpass rüber nach Dänemark? Das haben wir früher öfter mit der ganzen Familie von Lübeck aus gemacht.« Der sogenannte Groschenpass für den kleinen Grenzverkehr berechtigte zu Tagesausflügen ins Nachbarland.

»Das ist keine Lösung«, sagte Jakob. »Man braucht eine richtige Aufenthaltsgenehmigung, wenn man länger bleiben will. Außerdem wollen wir doch nach Amerika.«

Ruth seufzte.

Plötzlich packte Jakob sie an den Oberarmen und zog sie, während er sich rücklings auf die Couch warf, über sich.

Ruth entfuhr ein überraschter Laut. »He!«

Sie liebte es, auf ihm zu liegen, seinen warmen Körper zu spüren und mit ihm im gleichen Rhythmus zu atmen. Jakob machte ein paar anzügliche kleine Bewegungen. Ein natürlicher Impuls, den Ruth sehr mochte, aber im Moment völlig unpassend fand. Jakob umfasste ihren Kopf und schob ihr zärtlich das Haar aus dem Gesicht, um sie besser küssen zu können. Ruth spannte die Muskeln an, statt sich dem Gefühl hinzugeben, was sie eigentlich viel lieber getan hätte. Sie durften sich jetzt nicht ablenken. Sie mussten nachdenken, handeln. Schließlich konnten sie nicht ewig in Ilses Dachkammer hausen.

»Wir haben Glück gehabt«, sagte Jakob.

Für einen Augenblick erlaubte Ruth sich nun doch, den Trost durch seinen Körper anzunehmen. Ermattet bettete sie ihren Kopf auf seine Brust. Jakob hob ihr Kinn an, neigte den Kopf zu ihr hinunter. Sein Mund kam näher. Sie sah seine schön geschwungene Oberlippe und musste sie einfach küssen. Er erwiderte den Kuss ausgiebig und einfühlsam.

Ruth bedeutete der Sex nicht so viel wie ihm, sie mochte es, wenn Jakob sie liebte, aber manchmal hielt sie die ganze Angelegenheit doch für überschätzt. Allerdings kannte sie diesen legendären Höhepunkt auch noch nicht aus eigener Erfahrung, und sie war sich nicht ganz sicher, ob er, auf Frauen bezogen, vielleicht doch eher ins Reich der Mythen gehörte. Der Geschlechtsakt verband sie mit ihrem Mann, er machte ihn zufrieden und glücklich. Und wenn er glücklich war, dann war sie es auch. Manchmal empfand Ruth schon so ein fernes, tiefes Sehnen, eine Empfindung, als gäbe es tatsächlich noch mehr, etwas absolut Atemberaubendes, Weltumspannendes. Aber entweder war sie nicht der Typ dafür, das in Wirklichkeit zu erleben, oder es hatte damit zu tun, dass sie noch zu jung war.

Sie hatte mal gehört, dass Frauen erst in reiferen Jahren ihre volle Liebeskraft entfalteten. Höchstwahrscheinlich lag es aber daran, dass sie immer aufpassen mussten. Jetzt ein Kind zu bekommen, in diesen unsicheren Zeiten, das wäre extrem ungünstig. Wenn man allerdings immer aufpassen musste, wie sollte man sich dann völlig hingeben können? Und wie viel Hingabe war denn überhaupt in Ordnung? Sie war ja eine achtbare Frau.

Jakobs Hand glitt langsam unter ihren Rock, seine Finger berührten die nackte Haut zwischen Strumpfhalter und Hüftgürtel, streichelten sie, wanderten weiter zur empfindlichsten Stelle. Ruth entfuhr ein kleiner sehnsüchtiger Seufzer. Jakob presste sie an sich, umfasste mit der anderen Hand ihre Brust und massierte sie, er liebkoste ihr Ohrläppchen, küsste ihren Hals, ihre Lippen, und als seine Zungenspitze spielerisch ihren Mund öffnete, durchrieselten Schauer ihren Körper – den Nacken hoch bis unter die Kopfhaut und nach unten bis in die Zehenspitzen. Ungeduldig begann Jakob, an ihrem Rock zu zerren. Sie half, ihn auszuziehen, und öffnete seine Hose. Jakobs Küsse wurden leidenschaftlicher, fordernder. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Jakob stöhnte lustvoll.

»Gefährlich oder ungefährlich?«, flüsterte er.

Ihre letzte Periode lag gut eine Woche zurück. »Eher gefährlich …«, antwortete sie.

Immer dieses verdammte Aufpassenmüssen! Aber Ruth wusste, dass sie sich auf ihren Jakob verlassen konnte. Erwartungsvoll wölbte sie sich ihm entgegen. Sie genoss das Gefühl, wie er in sie eindrang. Diese Sekunden gehörten für sie zum schönsten Teil des Geschlechtsaktes.

Als es vorüber war, lag sie auf ihm. Jakob hatte aufgepasst. Er sah zufrieden aus. Nichts half ihm besser, Probleme zu verdrängen und abzuschalten, als die körperliche Liebe. Beneidenswert. Ruth lächelte liebevoll. Hatte sie ihm also als gute Ehefrau etwas Trost spenden können.

Sie ruhten eine Weile. Dann begannen ihre Mägen zu knurren.

»Wir könnten als Duo auftreten«, sagte Jakob grinsend.

»Ilse bringt nach der Arbeit sicher etwas zu essen hoch«, antwortete Ruth.

»Es war übrigens ein interessanter Abend mit den alten Kumpels«, wechselte Jakob das Thema. »Ich könnte an einem neuen Skript mitarbeiten. Sie planen bei der Tobis Filmkunst eine historische Volkskomödie, der Erich macht wahrscheinlich auch mit …«

»Erich Kästner?«

»Ja, unter dem Pseudonym eines Kollegen, der Mitglied in der Reichsschrifttumskammer ist. Der leiht ihm gegen eine finanzielle Beteiligung seinen Namen.« Jakob sprach begeistert über das neue Projekt, geradezu sehnsüchtig. »Du, das würde mal wieder Spaß machen, wir könnten uns gegenseitig die Bälle zuwerfen beim Schreiben der Dialoge! … Erich bleibt ja auch.«

Ruth seufzte abgrundtief. »Erich ist kein Jude!« Verstand Jakob denn immer noch nicht, wie ernst die Lage war?

Ein Geräusch auf der Treppe ließ beide verstummen. Jemand kam hochgeschnauft, die Schritte klangen schwerfällig. Ruths Magen verkrampfte sich. Sollten sie sich verstecken? Sie schlich zur Tür, lugte durchs Schlüsselloch. Eine Frau schleppte einen vollen Wäschekorb herauf, sicher wollte sie nur nebenan auf dem Trockenboden ihre Sachen aufhängen. Ruth machte Jakob ein Zeichen für Entwarnung, aber hielt trotzdem noch den Zeigefinger vor den Mund.

Sie legte sich zurück auf die Couch und kuschelte sich in Jakobs Arme. Beide versuchten, keinen Laut von sich zu geben. Die Zeit kroch dahin. Ruths Zähne fühlten sich pelzig an, sie hätte sich gern gewaschen und frische Sachen angezogen. Als die Frau endlich ihre Wäsche aufgehängt hatte und wieder nach unten gegangen war, schlich Ruth zur Toilette ins nächste Halbparterre. Sie traute sich kaum, die Spülung zu ziehen. Am Handwaschbecken reinigte sie sich, so gut es ging. Jemand hatte eine Zeitung liegen lassen. Sie las die Überschriften. Das war ja alles noch viel schlimmer, als sie bislang geglaubt hatte!

Ruth nahm die Zeitung mit nach oben. In der Nacht vom 9. auf den 10. hatte sich angeblich der »Volkszorn« gegen die Juden entladen, und zwar überall im Deutschen Reich.

»Das waren nicht nur ein paar Idioten, die hier in Berlin Synagogen angezündet und jüdische Geschäfte zerstört haben«, sagte sie Jakob und reichte ihm die Titelseite. »Jetzt haben sie die Jagd auf uns richtig eröffnet.«

Es klopfte an der Tür. Zweimal kurz, zweimal lang. Das mit Ilse verabredete Zeichen.

»Wie geht’s euch?« Die Freundin brachte frische Unterwäsche und etwas zu essen. Schrippen, Äpfel, Schokolade, Buletten und Kartoffelsalat. Sie setzte sich auf den Stuhl am Arbeitstisch. »In Wirklichkeit war es eine von oben befohlene Aktion«, erklärte sie, während sich Ruth und Jakob über das Essen hermachten. »Ich hab in der Redaktion und auf den Fluren im Verlag die Ohren gespitzt. Alle, die dagegen sind, unterhalten sich in Chiffren … Ich glaube, von denen hat fast jeder irgendjemanden bei sich untergebracht. Man nennt das ›überraschend Besuch bekommen‹.« Sie grinste. »Mir scheint, ganz Berlin transportiert gerade heimlich Kulturbeutel und Klamotten von A nach B.« Ilse sah sehr blass aus. »Ich sag euch, für die meisten Berliner ist es ein Schock gewesen. Stummes Entsetzen allerorten! Ich hab’s ganz deutlich gespürt, als ich im Omnibus über den Ku’damm gefahren bin. Überall liegen ja noch Glasscherben herum von den demolierten jüdischen Geschäften. An der Fasanenstraße standen Passanten, die starrten mit zerknirschten Mienen auf die Rauchwolken um die Kuppel der Synagoge, aber es hat sich niemand getraut, den Mund aufzumachen.« Ilse verzog das Gesicht. »Auch ich nicht.«

»Und was hört man sonst so?«, fragte Jakob. »Warst du zufällig auch in der Konstanzer Straße?«

Ilse schüttelte den Kopf. »Hab mich noch nicht getraut, nach eurer Wohnung zu gucken. Ich dachte außerdem, ihr verhungert mir hier … Aber morgen geh ich.«

»Könntest du vielleicht versuchen, telefonisch Kontakt mit meiner Familie aufzunehmen?«

»Natürlich, Jakob.« Ilse nahm den Zettel mit der Telefonnummer, den er ihr reichte, und steckte ihn in ihr Portemonnaie. »Die jüdischen Frauen und Kinder sind gestern nach einer Nacht wieder freigelassen worden, die stehen alle noch unter Schock«, berichtete sie. »Erst heute haben sie auch etliche jüdische Männer laufen lassen.« Ruth griff nach Jakobs Hand. Er drückte sie. Ilse kämpfte mit den Tränen, als sie schilderte, was sie gehört hatte. Sie nannte einige Namen von gemeinsamen Bekannten, die es erwischt hatte. »Man hat sie malträtiert und gedemütigt, angeblich als Vorgeschmack auf das, was noch kommt. Es gibt viele Verletzte, anscheinend sogar Tote …« Jetzt strömten Ilse Tränen übers Gesicht. »Sie halten aber immer noch viele Männer fest, vor allem wohlhabende Juden …«

»Oh Gott!«

Ruth hatte sich noch nie so hilflos gefühlt. Wie viele ihrer Verwandten, Freunde und Bekannten mochten jetzt eingesperrt sein? Und was geschah in diesem Augenblick mit ihnen?

»Dieses Dreckspack!«, knurrte Jakob. »So was kann nicht von langer Dauer sein. Das können sie nicht dulden. Die internationale Staatengemeinschaft wird die deutsche Regierung zwingen, so schnell wie möglich wieder für Recht und Ordnung zu sorgen.«

Ruth schüttelte den Kopf. Zum ersten Mal war sie in einer wichtigen Frage anderer Meinung als ihr Mann. Und plötzlich hatte sie die Stimme ihrer Großmutter Selma im Ohr: Eine gute Ehefrau hat natürlich das zu tun, was ihr Mann für richtig hält, sagte sie. Aber eine kluge Ehefrau lässt sich etwas einfallen.

3

Ilse versorgte sie weiter mit dem Nötigsten und brachte sie morgens und abends auf den neuesten Stand der Gerüchte. »Die Gestapo hat sich ausgetobt«, berichtete sie am Sonntagabend und stellte eine Tasche mit Lebensmitteln und Zeitungen auf den Tisch, »die Verhaftungswelle scheint vorbei zu sein. Deiner Familie geht es übrigens gut, Jakob, ich hab mit deiner Mutter telefonieren können. Dein Vater ist wieder zu Hause. Er schlief gerade, als ich anrief. Sie sind froh, dass du entkommen bist, und lassen dich, euch, ganz herzlich grüßen.« Jakob atmete sichtlich auf. Doch bei der nächsten Nachricht verdüsterte sich seine Miene gleich wieder. Ilse hatte sich nämlich in ihre Wohnung geschlichen, um saubere Kleidung zu holen. »Es tut mir leid, dass ich euch das sagen muss. Aber eure Eingangstür ist eingeschlagen worden, völlig demoliert. Die Bücherregale sind umgestürzt, ein paar Ölbilder und Grafiken aufgeschlitzt. Das Schlimmste ist gegenwärtig wohl die Gefahr, dass umherziehende Banden plündern.«

»Oh nein! Das darf nicht wahr sein!«

Ruth hoffte inständig, dass nicht ausgerechnet ihre Lieblingsbilder hatten dran glauben müssen. Mit welchem Recht drangen Menschen bei anderen in die Wohnung ein und zerstörten, was diesen lieb und teuer war? Sie begriff den Wahnsinn einfach nicht.

»Was können wir tun?«, fragte Jakob betont sachlich. »Natürlich nur, ohne dass du dich in Gefahr begibst, Ilse …«

»Schon erledigt.« Die Freundin winkte bescheiden ab. »Der erste Zimmermann bei euch in der Nähe, den ich angesprochen habe, wollte nichts für Juden tun. Der zweite war völlig überlastet. Und dann fiel mir der Vater eines Setzers ein, mit dem ich mich ziemlich gut verstehe. Der ist so ’ne Art Allzweckhandwerker. Er hat erst mal provisorisch was davorgenagelt und setzt morgen eine neue Tür ein. Sie ist sicher nicht so schön wie die alte, aber sie erfüllt ihren Zweck. Ein neues Schloss werdet ihr natürlich auch bekommen. Die Bücher müsst ihr dann selbst einräumen. Das Geld für die Rechnung leg ich aus.«

»Ach Ilselein, du bist so ein Schatz!« Ruth umarmte die Freundin. »Wie können wir das nur je wiedergutmachen?«

»Das Geld zieh ich dir vom nächsten Honorar ab, Ruth.« Ilse grinste. Sie räusperte sich. »Äh … Ich brauche übrigens nächste Woche Illustrationen für sportliche Winterkostüme. Hier sind Fotos zur Inspiration.« Ilse sah sie forschend an. »Meinst du, du schaffst das trotz der schwierigen Umstände?«

Ruth nickte. »Sicher! Ich bin froh, wenn ich was tun kann. Hier fällt einem ja sonst das Dach auf den Kopf.« Sie lächelte bedrückt. »Aber vielleicht solltest du dich langsam schon mal nach einem Ersatz für mich umsehen.«

Jakob sah sie entgeistert an. »Warum das denn?«

»Na, es ist doch wohl klar, dass wir Deutschland verlassen!«, entgegnete sie.

»Das sehe ich anders«, erwiderte ihr Mann. »Darüber müssen wir noch einmal in Ruhe reden.«

Ruth dachte nicht daran, ihre Meinung zu ändern. Aber in diesem Moment und vor der Freundin wollte sie nicht mit Jakob streiten.

Ilse bestärkte sie mit einem traurigen, jedoch verständnisvollen Nicken. »Wahrscheinlich hat man die noch vermissten jüdischen Männer in Konzentrationslager gebracht. Auch Billhuhn soll dazugehören.« Billhuhn war ein gemeinsamer Bekannter, einst Dramaturg am Theater, ebenfalls Jude, mit dem sie früher oft zusammen gefeiert hatten. Ilse ging zur Tür. »Jetzt muss ich aber gehen. Ich komme morgen wieder«, versprach sie.

»Zieh!«, wiederholte Ruth und hielt Jakob, der im Schneidersitz neben ihr auf Ilses Couch saß, zwei halb verdeckte Streichhölzer unter die Nase. »Kurz bedeutet Dänemark, lang, die Ruhe bewahren und abwarten.«

Ihr Mann verdrehte die Augen. »Du machst unsere Zukunft von einem Streichholz abhängig?«, fragte er halb spöttisch, halb ungläubig.

»Wir haben alles tausendmal durchgesprochen«, erwiderte Ruth. »Wir haben Vor- und Nachteile aufgelistet, versucht, unsere Chancen zu berechnen, und wir ahnen doch, dass am Ende alles vom Zufall abhängt, oder etwa nicht?«

»Aber das Visum für die USA kann jeden Tag kommen!«, wandte Jakob ein.

»Das hoffen wir seit Wochen und Wochen und Wochen!«, sagte Ruth heftig.

Ihrer Meinung nach machte Jakob sich etwas vor. Er war dreiunddreißig, zehn Jahre älter als sie, aber in praktischen Dingen zu gutgläubig. Oder zu versponnen, er träumte sich durch seine literarische Welt. Ihr Mann ließ sich immer wieder vertrösten. Zuerst hatten die US-Behörden einen Freund als Bürgen nicht akzeptieren wollen, Fritz hatte ausführlich erklären müssen, weshalb seine Bindung zu Jakob und dessen Frau mindestens so eng zu bewerten sei wie die unter Blutsverwandten. Dann hatten sie weitere notariell beglaubigte Nachweise dafür verlangt, dass Fritz auch genug verdiente, um im Notfall für den Lebensunterhalt der Freunde in Amerika aufkommen zu können. Denn keinesfalls durften sie dem Staat auf der Tasche liegen.

Da Fritz als Freiberufler unregelmäßig verdiente, mal viel, dann wieder wenig oder nichts, musste er seine Auftraggeber überreden, ihm Bescheide mit positiven Prognosen auszufüllen. Und das alles zog sich hin. Als sie schon geglaubt hatten, jetzt wäre alles erledigt, stellte sich heraus, dass das Affidavit, also die Bürgschaft, auf dem Amtsweg verloren gegangen war. Fritz hatte noch einmal eine neue schicken müssen. Dann waren ihre Pässe plötzlich wie die aller Juden von den deutschen Behörden für ungültig erklärt worden. Sie mussten auf neue warten, in die ein dickes »J« für Jude gestempelt war. Zu allem kam erschwerend hinzu, dass die USA sowieso nur eine geringe Zahl von Flüchtlingen aufnehmen wollten. Dass ihre Antragsnummer sehr hoch war, deutete auf eine weitere lange Wartezeit hin.

»Ich bin für abwarten«, sagte Jakob. »Amerika bietet die größten Chancen. Ich kann einigermaßen Englisch. Sprache ist mein Handwerkszeug.«

»Abwarten, bei dem, was sich jetzt gerade in Deutschland abspielt? Das ist doch der reine Wahnsinn! Mein Urgroßvater …«

Jakob ließ Ruth nicht ausreden. Natürlich kannte er die Geschichte. Ihr Urgroßvater, der als Fünfzehnjähriger vor einem Pogrom aus dem russischen Odessa geflohen und in Lübeck gestrandet war, weil ihm das Geld für die Weiterreise mit einem Dampfschiff in die USA fehlte, hatte der Familie quasi in Marmor gemeißelt als seine große Lebensweisheit hinterlassen: Es ist besser, einmal zu oft wegzulaufen als einmal zu wenig.

»Ja, aber deine Großmutter Selma«, hielt Jakob dagegen, »die sagt immer: Ruth ist ein Sonntagskind, ihr wird nichts Schlimmes passieren. Also brauch ich doch einfach nur bei dir zu bleiben.«

Ruth lächelte kurz, doch ihr war nicht nach Scherzen zumute. »Wir können Dänemark ja als Durchgangsstation betrachten, als Transitland«, versuchte sie, ihren Mann zu überzeugen. »Falls wir die Einreisegenehmigung für Amerika doch bekommen … oder für irgendein anderes Land meinetwegen.« Dass nicht einmal sicher war, ob die Dänen sie nach den Ereignissen der vergangenen Tage überhaupt noch reinlassen würden, verdrängte sie in diesem Moment lieber. Ruth hielt Jakob erneut die Streichhölzer hin. »Los!« Ihre braunen Augen glühten. »Zieh! Wir dürfen keine Zeit mehr verlieren.«

Ihr lag immer noch der Brandgeruch in der Nase. Schicksalergeben atmete Jakob langsam tief ein und mit einem Stoßseufzer wieder aus.

»Und wenn es die falsche Entscheidung ist?«, fragte er mehr sich selbst als sie.

Endlich zog er ein Streichholz. Aber er zeigte es nicht, sondern hielt es mit seinen Fingern umfasst. Bestimmt konnte er die Länge schon fühlen. Jetzt war es besiegelt. Jakob schloss die Augen.

Was für schöne lange Wimpern er hat, musste Ruth wieder einmal denken. Eine große Zärtlichkeit flutete ihr Herz. Wie sie sein kluges Gesicht liebte! Die grünbraunen Augen blickten meist nachdenklich, oft ein wenig schwermütig. Und er war so charmant. Manchmal konnte Ruth es nicht glauben, dass dieser Mann, dem schon die attraktivsten Frauen andächtig lauschend zu Füßen gesessen hatten, nun wirklich ihr Ehemann war.

So hatte sie ihn das erste Mal gesehen, in privatem Kreis nach einer Premierenfeier, umschwärmt von kunstsinnigen Damen der Gesellschaft. Er hatte aus seinem gefeierten Theaterstück, das im Mittelalter spielte, vorgelesen. Man munkelte, er habe ein Verhältnis mit einer verheirateten russischen Gräfin im Exil. Ruth war damals noch zur Lette-Schule gegangen, um das Modezeichnen zu erlernen. Und Jakob Liebermann war ihr wie einer dieser feinsinnigen italienischen Renaissancefürsten erschienen, die man auf alten Gemälden bewundern konnte. Er hatte Ruth überhaupt nicht zur Kenntnis genommen. Erst Jahre später waren sie sich bei einem Kostümfest gemeinsamer Freunde wieder über den Weg gelaufen. Da hatte es dann sofort gefunkt.

Sie war als Puck, das Sagenwesen aus dem Sommernachtstraum,