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Eine wunderbare Frühstückspension. Der Duft von Butterkuchen. Zwei Frauen, die endlich ihr Glück finden ... Der SPIEGEL-Bestseller von Sylvia Lott!
Auf der Suche nach einer beruflichen Auszeit mietet sich die Journalistin Nina in der Borkumer Frühstückspension ein, in der sie einst den schönsten Sommer ihres Lebens verbrachte. Damals verliebte sie sich in Klaas und träumte von einem Leben an seiner Seite — bis er ihr Herz brach. In der Zwischenzeit arbeitet Ninas Nichte Rosalie in der Pension. Sie interessiert sich sehr für die Geschichte der Insel und für das, was Nina dort erlebte. Während Nina es endlich wagt, ihrer Vergangenheit ins Auge zu sehen, befindet sich plötzlich auch Klaas wieder auf der Insel. Und dann ist da noch ein Walzer, dessen Melodie eine Liebe beschwört, die nie verging ...
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Der Dünensommer
Die Fliederinsel
Die Inselgärtnerin
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Seitenzahl: 553
Buch
Borkum, 1967: Nach dem Abitur jobbt Nina in der idyllischen Frühstückspension ihrer Tante Theda. Jeden Tag backt sie leckere Rosinenstuten, Butterkuchen und Waffeln für die Gäste. Ihre Freizeit verbringt sie mit einer unbeschwerten Clique – und Klaas. Die beiden verlieben sich, sie genießen den Sommer. Doch Klaas soll den Krabbenkutter seines Vaters übernehmen, Nina dagegen will hinaus in die Welt. Als Klaas am Tag von Ninas Abreise nicht am Bahnhof erscheint und später nie auf ihre Briefe antwortet, versucht sie, ihn zu vergessen.
Im Jahr 2010: Genau wie ihre Tante Nina als junge Frau, arbeitet Rosalie den Sommer über in der Pension. Als sie von deren vergangener Liebe zu Klaas erfährt, wird sie neugierig. Was ist damals wirklich passiert? Und lassen sich die Wunden der Vergangenheit noch heilen? Doch auch Rosalie selbst wird vom Charme der Insel und besonders eines Mannes in den Bann gezogen …
Autorin
Die freie Journalistin und Autorin Sylvia Lott ist gebürtige Ostfriesin. Viele Jahre schrieb sie für Frauen-, Lifestyle- und Reisemagazine, heute konzentriert sie sich auf ihre Romane. Sylvia Lott lebt in Hamburg.
Weitere Informationen unter www.romane-von-sylvia-lott.de
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Die Rose von DarjeelingDie Glücksbäckerin von Long IslandDie Lilie von Bela Vista
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Sylvia Lott
DieInselfrauen
Roman
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Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.
1. Auflage
Deutsche Erstveröffentlichung April 2016bei Blanvalet, einem Unternehmen der VerlagsgruppeRandom House GmbH, München
Copyright © 2016 by Blanvalet Verlag
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Umschlaggestaltung: www.buerosued.de
Umschlagmotiv: StockFood/Jalag/Szczepaniak,Olaf; www.buerosued.de
Das Gedicht Nicht müde werden von Hilde Domin stammtaus folgender Ausgabe: Hilde Domin, Sämtliche Gedichte,© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2009
Redaktion: Margit von Cossart
JB · Herstellung: sam
Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
ISBN: 978-3-641-18822-1V001
www.blanvalet.de
Zur Einstimmung
Die Idee zu diesem Roman kam mir, als ich zum ersten Mal einen ganz besonderen Walzer hörte. Wie in einem Film sah ich eine Schlussszene vor mir, die auf der Promenade von Borkum spielt. Ich hörte den Walzer noch einige Male, und er erzählte mir auch die Geschichte, die sich vor der Promenadenszene ereignete.
Für diese wunderbare Inspiration möchte ich mich ganz herzlich beim Komponisten bedanken – dem Hollywood-Schauspieler Sir Anthony Hopkins – sowie bei André Rieu und seinem Orchester, die den Walzer fünfzig Jahre, nachdem er komponiert wurde, in Wien uraufführten. ZDF und ORF übertrugen das Konzert, bei dem Kameras den mitten im Publikum sitzenden, tief bewegten Sir Anthony Hopkins und seine Frau zeigten.
Der Walzer ist die perfekte Einstimmung auf Die Inselfrauen. Sein Originaltitel lautet And the Waltz goes on, auf Deutsch Und der Walzer lebt weiter. Vielleicht, liebe Leserin, lieber Leser, haben Sie ja Lust, sich die Melodie anzuhören, bevor Sie mit der Lektüre beginnen. Notieren Sie Ihre Assoziationen, vergleichen Sie sie später mit der Handlung und den Stimmungen in Die Inselfrauen und schreiben mir davon auf www.facebook.com/Sylvialott-romane. Ich freue mich auf Ihre Eindrücke!
Sylvia Lott
1
Ein heiseres, tiefes Tuten ließ Nina zusammenfahren. Die Fähre hatte abgelegt, jetzt gab es kein Zurück mehr – sie befand sich auf dem Weg nach Borkum. Über vierzig Jahre hatte sie die Insel gemieden. Das sollte ja wohl reichen. In sentimentalen Erinnerungen würde sie jedenfalls nicht schwelgen. Nina freute sich einfach nur auf die Ruhe, die sie erwartete. Das war alles, was sie suchte.
Während der Reha war sie von einer unbändigen Sehnsucht nach Abgeschiedenheit und kraftvollen Naturgeräuschen überfallen worden. Sie wollte Wellenschlag und Sturmgebraus, die Möwen schreien hören, tief durchatmen, sich am Ozon berauschen, Salzwasser, Seetang und Dünenrosen riechen – ach, die wilden Rosen, die so intensiv dufteten …
Natürlich freute sie sich auch auf ein Wiedersehen mit Tant’ Theda. Und mit ihrer Nichte Rosalie, der Tochter ihres Bruders, die eigentlich in Hamburg studierte, aber zurzeit in der Pension Bi Theda aushalf und gleichzeitig Stoff für ihre Examensarbeit sammelte. Ihr Thema, das hatte sie Nina während ihres letzten Telefonats berichtet, lautete Die Frauen von Borkum. Ein Vergleich von Lebenssituationen im Laufe der Jahrhunderte an ausgewählten Beispielen.
Dass ihre Nichte diesen Sommer auf Borkum verbrachte, hatte den Ausschlag für Ninas Entscheidung gegeben, ein paar Wochen auf der Insel zu verbringen. Es dauerte ohnehin noch eine Weile, bis sie wieder arbeiten durfte. Man hatte ihr in dem Kölner Funkhaus, für das sie viele Jahre als Auslandskorrespondentin tätig gewesen war, eine Stelle als Redakteurin im Innendienst angeboten, worüber sie sehr froh war. Das ständige Reisen vom Standort New York aus hatte sie geliebt, aber die Gesundheit ging nun mal vor.
Ja, sie hatte ein aufregendes Berufsleben gehabt, nur leider immer viel zu wenig Zeit für Rosalie, ihr Herzblatt. Schon als Kind war ihre Nichte besonders liebenswert und empfindsam gewesen. Nina lächelte leise vor sich hin. Die Kleine hatte unter nervösen Magenbeschwerden gelitten, bis Nina ihr ein angebliches Zaubermittel geschenkt hatte – Pfefferminzkaugummi, das dann auch augenblicklich geholfen hatte! Seitdem glaubte Rosalie, dass ihre Tante eine Lösung für jedes Problem fand. Bis heute.
Nina seufzte. Schön wär’s!
Es nieselte und war zu kühl, um die zweieinhalb Stunden Schiffsfahrt von Emden Außenhafen bis Borkum, der westlichsten und größten der Ostfriesischen Inseln, oben auf dem Deck zu verbringen. Nina hatte ganz vergessen, dass es an der Nordsee im Sommer manchmal genauso kalt wie im Winter sein konnte, zehn Grad kam schon mal vor. Sie saß allein auf einer gepolsterten Eckbank ganz hinten im Fahrgastsalon und schaute aus dem großen Fenster. Es war an den Ecken abgerundet und wirkte wie ein Bilderrahmen im Museum. Hatte Mark Rothko eigentlich auch Farbflächen nur in Grautönen kombiniert? Zwei Drittel ihres Ausblicks füllte ein Steingrau mit ein paar durchhängenden dunklen Wolken aus. Eine schmaler grüngrauer Streifen war alles, was man von dem entfernten Deich mit seinem Gebüsch sah, und im unteren Drittel bewegte sich ein schlammiges Waschwassergrau mit dunklen, kabbeligen Schatten. Das hatte wenig Ähnlichkeit mit der Sommer-Sonne-Strand-Idylle, auf die Nina hoffte.
Es roch nach Putzmitteln und Kaffee. Der Dieselmotor dröhnte, und Nina spürte, wie sich das Vibrieren unter ihrem Gesäß auf ihren Körper übertrug. Hunde bellten, ein Kleinkind blies zur Freude seiner stolzen Eltern unermüdlich in eine Tröte. Zum Glück war die Fähre nicht überfüllt wie an den Wochenenden, wenn Bettenwechsel war.
Draußen zog mal eine Boje, mal ein Seezeichen vorüber. Nach einer Weile tauchten am westlichen Emsufer, wo der Grenzfluss in die Nordsee mündete, Windräder und Industrieanlagen auf, die Nina nicht kannte. Hässliche große Kästen wie aus einer düsteren Zukunft.
»Das ist Eemshaven!«, erklärte der Mann am Nebentisch seinem Sohn. »Den Hafen bauen die Holländer erst seit ein paar Jahren aus.«
Nina zweifelte plötzlich, ob ihre Idee wirklich so gut gewesen war. Vielleicht jagte sie einer Illusion hinterher. Wie mochte sich die Insel verändert haben? Na ja, jetzt war es sowieso zu spät umzuplanen.
Nina streckte sich wie viele andere Fahrgäste auch der Länge nach auf ihrer Sitzbank aus, legte ihre aufgerollte Windjacke unter den Kopf und überließ sich schläfrigen Gedanken. Ob Tant’ Theda noch immer so leckere Teekekse backte? Die musste man unbedingt in den malzigen Ostfriesentee tunken, auch wenn es gegen sämtliche Tischmanieren verstieß. Mhhh …
Nina schreckte auf, als durch den Lautsprecher eine asiatisch gefärbte Stimme kreischte. »Achtunddreißig!« Ein Passagier holte sich mit seinem Zahlenbon heiße Würstchen und Kartoffelsalat vom Buffet. Nina musste kurz auflachen. Ihre Mutter hatte früher zu Beginn der Sommerferien, wenn die ganze Familie von Oldenburg aus auf die Insel reiste, stets verkündet: »Die Erholung fängt schon auf der Fähre an.«
Wieder schmetterte die Stimme aus dem Lautsprecher. »Dreiundvierzig!« Diesmal gab’s eine Dampfnudel mit Pflaumenmus. Sicher tiefgefroren und in der Mikrowelle erhitzt. Ach, wie köstlich hatte doch früher der selbst gemachte Mehlpütt von Tant’ Theda geschmeckt, im Leinentuch über Wasserdampf gegart, dazu gab’s gekochte Birnen und warme Vanillesoße!
Das gleichmäßige Vibrieren des Schiffes machte Nina bald wieder schläfrig. Sie glitt in einen angenehmen Dämmerzustand. Seit der Reha entwickelte sie wilde Fantasien von Backorgien. Völlig untypisch für sie, die sie doch immer der intellektuelle Typ gewesen war. Schließlich gehörte sie noch zu jener Generation, die sich vom »Heimchen am Herd«-Rollenbild emanzipieren musste. Ihr Leben lang hatte sie sich strikt geweigert, eine gute Köchin zu werden, und nun stellte sie sich schon seit Wochen mit allergrößtem Vergnügen vor, wie sie mit ihren Händen einen Teig für Rosinenstuten kneten und ziehen und klopfen würde. Nina träumte von Buchweizenpfannkuchen mit Zuckerrübensirup, wahlweise mit knusprigem Speck oder selbst gemachtem Apfelmus, von dicker Fliederbeersuppe mit Grießbreiklößchen oder von Rhabarberkuchen mit Eischnee. Vor dem Einschlafen überlegte sie sich Füllungen für Windbeutel, oder sie rief sich den Duft von Anis und Kardamom ins Gedächtnis, der aus dem zischenden Waffeleisen emporstieg, wenn man knusprige dünne Waweltjes zubereitete. Sie visualisierte, wie sie mit leichter Hand Mandelscheibchen über einen im Backofen vor sich hin brutzelnden Butterkuchen warf. Und jetzt gerade, während die Geräuschkulisse durch einen von Tisch zu Tisch klirrenden Geschirrabräumwagen bereichert wurde, konnte Nina förmlich den luftig leichten Biskuitteig unter ihren Fingerspitzen spüren, den sie, bestrichen mit einer Schmand-Creme und zerkleinerten Orangenfilets, zu einer perfekten Rolle drehte.
Bislang hatte Nina vom Backen nur fantasiert. An die praktische Umsetzung traute sie sich nicht heran. Den Bürgermeister von New York interviewen – kein Problem! Über eine Kunstausstellung im Guggenheim Museum schreiben – eine ihrer leichtesten Übungen. Aber backen? Bestimmt würde sie sich zuerst die Finger verbrennen und dann die Küche abfackeln. Woher kamen bloß diese seltsamen Gelüste? Erst im Halbschlaf auf der Fähre wurde Nina klar, dass sie seit Wochen von Leckereien träumte, die sie damals bei Tant’ Theda kennengelernt hatte. Bei der Zubereitung des Rosinenstutens war sie ihr häufig zur Hand gegangen. Wie seltsam, dachte sie, was doch alles in den tieferen Schichten unseres Bewusstseins schlummert. Nur … warum kam es ausgerechnet jetzt hoch?
Hing diese Wesensveränderung mit dem Älterwerden zusammen oder mit der Krankheit? Man hatte ja hier und da schon von Menschen gehört, die nach einem Unfall plötzlich in fremden Zungen sprachen. Ein Kollege des Neurologen Oliver Sacks hatte nach Drogenexperimenten drei Wochen lang die Welt angeblich fünfhundertmal intensiver als ein Durchschnittsmensch durch die Nase wahrgenommen. Ein anderer Mann, der sich zuvor am liebsten von Fast Food ernährt hatte, entwickelte nach einer Hirnverletzung so etwas wie den absoluten Geschmack – er vermochte auf einmal jede Zutat eines Gourmet-Menüs zu identifizieren.
»Sechsundsechzig!«, schrillte die Stimme.
Nina setzte sich wieder auf, noch benommen, doch schon ein wenig gestärkt. Sie blickte aus dem Fenster – der Himmel klarte auf. Irre, zwischen den aufgerissenen Regenwolken leuchtete ein strahlendes Blau! Nina sah auf ihre Uhr, noch gut eine halbe Stunde bis zum Borkumer Hafen. Sie zog ihre Jacke an, stieg die breite Treppe aus dem Schiffsbauch nach oben und ging nach draußen. Endlich fuhren sie auf dem offenen Meer. Einige Sonnenanbeter besetzten schon die besten Plätze auf den weißen Plastikbänken. Damals hatten die Fähren noch braune Holzbänke und -planken gehabt. Sie waren auch kleiner gewesen, es hatte kein Autodeck gegeben. Was für ein Riesenaufwand war es immer gewesen, wenn der Opel Kapitän, Borgward oder Mercedes eines reichen Urlaubers mit einem Kran an und von Bord hatte gehievt werden müssen! Nina und ihr jüngerer Bruder Michael hatten beim Schwenk durch die Lüfte jedes Mal fasziniert und gleichzeitig besorgt zugeschaut.
Versonnen stand sie an der Reling. Ach, wie herrlich, diese Weite und die frische Seeluft! Nina atmete tief in ihre Lunge hinein. Der Wind zerzauste ihr brünettes Haar.
Sie fand einen geschützten Platz ein Deck tiefer an Backbord. Gleich war es viel wärmer. Wie flüssiges Silber tanzten Sonnenreflexe auf dem nun tiefblauen Wasser. Nina blinzelte, um das Flimmern und Schimmern auch ohne Sonnenbrille in sich aufnehmen zu können. Ja, das war’s doch! Wie hatte sie nur so lange ohne die Nordsee, ohne dieses Licht sein können? Wie viel Kraft die Natur besaß – und wie viel Kraft sie einem verleihen konnte! Nein, sie hatte es nicht wirklich vergessen. Gewiss war es kein Zufall, dass sie an diesem Punkt ihres Lebens hierher zurückkehrte, dass die Sehnsucht sie wieder nach Borkum trieb …
Nina strich den stufig geschnittenen halblangen Bob mit beiden Händen aus dem Gesicht und zupfte ihn wieder einigermaßen in Form. Dann lehnte sie ihren Kopf gegen die weiße Schiffswand. Sie erinnerte sich an den Sommer 1967, als sie gleich nach dem Abitur für eine Saison nach Borkum gekommen war, um bis zum Studienbeginn im Herbst bei Tant’ Theda in der Pension als Zimmermädchen, Küchenhilfe und Mädchen für alles zu arbeiten. Damals schon war es Tradition gewesen, dass die weiblichen Familienmitglieder wenigstens in den großen Sommerferien einmal bei den Verwandten auf der Insel aushalfen. Ihre Urgroßmutter stammte von Borkum. Den Kontakt hatte man nie abbrechen lassen.
Als Nina damals auf die Insel gekommen war, hatte sie um ihren Vater getrauert. Er war einige Monate zuvor nach einer schweren Operation gestorben.
Manchmal vermisste Nina ihren Vater heute noch wie aus heiterem Himmel ganz plötzlich so sehr, dass sie kaum Luft bekam. Papa, wo bist du? Sie hielt ihr Gesicht in die Sonne. Ein warmes Rotorange breitete sich hinter ihren geschlossenen Lidern aus. Im Stillen rezitierte sie den Gedenkspruch, den ihr Vater selbst für seine Todesanzeige ausgewählt hatte. Er stammte von Ringelnatz.
Wenn ich tot bin, sollst Du gar nicht trauern,
meine Liebe wird mich überdauern und in
fremden Kleidern Dir begegnen und Dich segnen!
Oft war Nina in der kleinen Dachkammer der Pension viel zu früh aufgewacht und hatte nicht wieder einschlafen können. Wie an jenem Morgen …
Borkum, Sommer 1967
Seit einer gefühlten Ewigkeit starrte Nina auf die weiß gestrichene Dachschräge, unter der ihr Bett stand. In der bleichen Morgendämmerung warfen Zweige bewegte Schatten ins Zimmer. Am liebsten hätte Nina die Decke über den Kopf gezogen und laut aufgeschluchzt. Aber sie wollte ihre Freundin Daggy, die in dem Bett auf der anderen Seite des schmalen Dienstbotenzimmers gleichmäßig atmete, nicht wecken.
Die Trauer überfiel Nina ohne Vorwarnung, sprang sie einfach an, umklammerte ihre Brust, raubte ihr die Luft zum Atmen, senkte Bleigewichte in die Eingeweide. Ihr Vater fehlte ihr so sehr. Sie begriff es nicht wirklich. Der Tod war zu groß. Ungeheuerlich. Nina wusste, dass sie nicht wieder einschlafen würde.
Leise stand sie auf und zog sich an. Jeans, grüner Nickipullover, Wildlederjacke. Sie nahm ihre Holzclogs in die Hand und schlich die knarzende Treppe des Inselhauses hinunter. Ihr Fahrrad lehnte hinterm Haus an der Backsteinmauer. Es war kurz vor Sonnenaufgang, als Nina durch das noch träumende Dorf zum Hauptstrand radelte. An einer Strandbude ließ sie das Rad und ihre Clogs stehen. Barfuß lief sie durch den weichen Sand zur Brandung. Zwischen den Strandzelten hing noch die Kälte der Nacht. Bis hierher hatte ihre Bettwärme gereicht, am Wasser jedoch empfing sie eine frische Brise. Sie krempelte sich trotzdem die Hose bis über die Waden hoch, schließlich wärmte sie die schützende Jacke ihres Vaters, cognacfarben und viel zu groß.
Nina musste sich bewegen. Gehen, gehen! Das war das Einzige, was ein wenig half, wenn sie sich so furchtbar fühlte wie an diesem Morgen. Weit in der Ferne schleppte ein Mann auf seinen Schultern Holzbretter, die er beim Strandjern erbeutet hatte. Bei aufkommendem Wasser und Ostwind lohnte es sich besonders. Wie an den vergangenen frühen Morgen auch fuhr ein Krabbenkutter im diffusen Licht eine Weile parallel zum Strand und dann aufs Meer hinaus. Es kam Nina so vor, als gäbe ihr der Kutter Geleitschutz wie einst ein Ritter seiner hohen Dame. Das war natürlich albern, aber irgendwie tröstlich.
Nina dachte an das letzte Lebenszeichen, das sie von ihrem Vater erhalten hatte – einen leichten Händedruck. Es war im Oktober gewesen, als sie ihren Vater noch einmal allein im Oldenburger Krankenhaus besucht hatte, ohne ihre Mutter und ihren Bruder, vor der alles verändernden Herzoperation.
Seine Chance war gering. Sie kannten das Risiko. Sie bemühten sich, voreinander Stärke zu zeigen. Es war alles gesagt. Sogar »Ich hab dich lieb«. Etwas, das ihm schwer über die Lippen kam und ihr den Ernst der Lage verdeutlichte. Ihr Vater sprach normalerweise nicht über Gefühle, er war im Krieg als Soldat an der Front gewesen. »Sei ein guter Kamerad, aber verlass dich nicht auf andere«, lautete eine seiner Lebensweisheiten.
»Sieh zu, dass du ein gutes Abitur baust«, sagte er zum Abschied, »und dann studier was Vernünftiges!« Ihr Vater war Kaufmann, ein typischer Selfmademan der deutschen Nachkriegs- und Aufbaujahre. Er hätte gern selbst studiert. Jura, das wäre sein Fach gewesen. Und dann studier was Vernünftiges… Ninas Herz machte trotz des Kummers einen Hüpfer. Ich werde studieren!, dachte sie. Ich werde dich nicht enttäuschen, Papa. So lange hatte er sich dagegen ausgesprochen. Mädchen heiraten ja doch. Und jetzt gab er ihr seinen Segen. Ich werde studieren! Laut sagen mochte Nina es nicht. Ihr Vater war nicht so für große Worte. Aber er konnte in ihren Augen lesen, das wusste sie.
Er begleitete sie in seinem blau-grau gestreiften Bademantel bis in die Eingangshalle des Krankenhauses. Sie reichten einander die Hände. Nina konnte nicht länger verhindern, dass ihr Tränen in die Augen stiegen. Sie versuchten beide, sich ein letztes Mal anzulächeln, sein Kinn zitterte, ihr Blick verschwamm. Sie wandten sich in verschiedene Richtungen, er zurück in sein Krankenzimmer, sie zum Ausgang. Aber immer noch hielten sie einander mit der Linken fest. Nina spürte die weiche Handinnenfläche ihres Vaters, seine Wärme, das Pulsieren, sie mochte ihn nicht loslassen. Auch er zögerte. Dann gab seine Hand ihrer einen leichten Druck, und zugleich setzten sie sich in Bewegung, ohne sich noch einmal umzusehen. Ihre Hände glitten ganz langsam auseinander.
Fliegende Sandkörner piekten Ninas feuchte Haut wie kleine Nadelstiche. Warum hatte ihr Vater so früh sterben müssen? Er war noch viel zu jung gewesen! Er wurde doch noch gebraucht! An stürmischen Tagen schrie sie ihren Zorn aufs Meer hinaus. Warum hatte er sie im Stich gelassen? Sie konnte an der Brandung entlanglaufen und weinen und schluchzen, ohne dass es jemand sah. An diesem Morgen war die Trauer weniger aggressiv. Es tat einfach gut, den Tränen im Gehen freien Lauf zu lassen. Sie vermischten sich mit dem salzigen Sprühnebel der Brandung.
Im Herbst würde sie sich an der Universität Göttingen einschreiben. Das hätte ihrem Vater gefallen. Er hatte ihr ein Sparkonto mit Geld für das Studium hinterlassen. Wie vorbildlich er alles geordnet hatte.
Sie spürte immer noch etwas … Was war es nur? Liebe. Ihre Liebe zu ihm. Und ja, seltsam, tröstlich, auch seine Liebe zu ihr. Es stimmt also doch, sagte ihr Gefühl, die Liebe stirbt nicht. Sie begriff es nicht, aber sie empfand es, und das machte sie in ihrem Gefühlschaos auch von Herzen froh. Nina dachte wieder daran, wie bei ihrer letzten Begegnung zum Abschied ihre Hände auseinandergeglitten waren. Sie hatten sich nicht mehr gesehen, aber noch gespürt. Eigentlich war es jetzt ganz ähnlich. Sie sahen sich nicht, doch sie wussten voneinander. Nina fühlte sich verbunden. Mit Wind, Wetter, Meer, Luft, Himmel. Hier fiel es ihr leichter zu glauben, dass es ein Leben nach dem Tod geben sollte, als zu glauben, dass alles mit ihm endete.
Sie atmete tief durch. Und plötzlich wurde sie von einer großen Hoffnung ergriffen. Nina begann, schneller zu laufen, sie hüpfte und sprang und tanzte. Sie tanzte die Gymnastikkür, die sie fürs Abitur einstudiert hatte, und ließ die viel zu langen Jackenärmel statt des Gymnastikbands Figuren in der Luft beschreiben. Als endlich die Sonne aufging, improvisierte Nina einen Tanz. Das Licht, die Farben, das Rauschen der Wellen verliehen ihr Kraft. Nina wirbelte im Kreis, zog Achten durch den Sand. So lange, bis sie Seitenstiche bekam.
Verrückt, wie ihre Stimmungen wechselten! Wie das Wetter auf Borkum. Da zeigten die Wolken oft auch mehrere Wetterarten gleichzeitig an.
Auf dem Rückweg beruhigte Nina sich allmählich wieder. Zügig und gefasst ging sie am Strand zurück, bereit für den neuen Tag. Nach einer Weile sah sie, dass ihr ein Mann entgegenkam. Auch er lief barfuß am Meeressaum entlang. Ihr schien, als hätte er sie schon länger im Blick. Was sollte sie tun? Einen großen Bogen um ihn schlagen? Das würde wohl seltsam aussehen. Rasch wischte sie sich übers Gesicht. Hoffentlich sah man ihr nicht mehr an, dass sie geweint hatte.
Der Mann hatte breite Schultern – einige irrwitzige Sekunden lang glaubte Nina, es könnte ihr Vater sein. Nein, natürlich nicht. Der Mann war größer, sein Gang jugendlicher. Er trug einen dunkelblauen Seemannspullover, die Morgensonne verlieh seinem braunen Haar einen rötlichen Schimmer. Beim Näherkommen sah sie klare blaue Augen in einem gebräunten Gesicht. Hohe Wangenknochen, volle Lippen. Beobachtete er sie etwa? Und verlangsamte er jetzt nicht seinen Schritt? Verwirrt richtete Nina den Blick auf ihre rosa lackierten Fußnägel. Sie ging im gleichen Tempo weiter, aber ihr Herz fing an, schneller zu schlagen. Kurz bevor sie einander begegneten, hob sie den Kopf wieder, fest entschlossen, einen neutralen Gesichtsausdruck zu zeigen und im Vorübergehen freundlich »Guten Morgen« zu sagen. Doch als sie nur noch gut einen Meter voneinander entfernt waren, blieb er einfach stehen. Unwillkürlich tat sie das auch. Ihre Blicke verfingen sich ineinander. Er erinnerte sie an jemanden … An wen nur? Nina hielt die Luft an. Was passierte hier gerade?
Vorsichtig machte er zwei kleine Schritte auf sie zu. Regungslos wartete Nina ab. Sie vergaß zu atmen. Der junge Mann, er mochte vielleicht zwei oder drei Jahre älter sein als sie, griff nach ihrem rechten Arm, nein tiefer, nach dem viel zu langen Ärmel der Lederjacke. Er packte die Manschette und krempelte sie in aller Ruhe bis übers Handgelenk hoch. Ein angenehmer Schauer lief Nina über Schultern, Arme und Rücken. Wie gelähmt stand sie da und ließ zu, dass er auch den anderen Ärmel aufkrempelte.
Scheu musterte sie das frische Gesicht des jungen Mannes. Ihr fiel auf, wie schön seine dunklen Brauen geschwungen waren.
»So«, sagte er zufrieden, als er fertig war.
Sein Lächeln entblößte gesunde weiße Zähne, in den Wangen vertieften sich Grübchen, auch er schien aufgeregt zu sein. Sein Blick und eine leichte Röte, die ihm ins Gesicht stieg, verrieten Nina, dass er wie sie das Besondere dieser Situation empfand!
Der Wind wehte ihr eine Strähne vors Auge. Ihre Füße standen im Watt und versanken langsam in kleinen Trichtern. Was sollte sie denn jetzt sagen oder tun? Sie spürte eine Mischung aus Hitze, Prickeln und Elektrizität auf ihrer Haut. Puh, diese Spannung war ja kaum zu ertragen! Nina klemmte sich die Strähne hinters Ohr und ging weiter. Ohne ein Wort, als wäre nichts gewesen. Das Herz klopfte ihr dabei bis in den Hals. Sie musste an den Ringelnatz-Spruch denken.
Wenn ich tot bin, sollst Du gar nicht trauern,
meine Liebe wird mich überdauern und in
fremden Kleidern Dir begegnen und Dich segnen!
Nina begann zu rennen. Was für eine seltsame Begegnung! Erst als sie außer Atem den Hauptstrand erreichte, blieb sie stehen und wagte es, sich umzudrehen. Der Mann war ihr nicht gefolgt, sondern offenbar in die andere Richtung weitergegangen. Immer noch fühlte sich Nina wie elektrisch aufgeladen.
Unter der Holzbank eines der Strandzelte, die für Borkum so typisch waren, lagerten ihre Badesachen. Onkel Okko, Tant’ Thedas Mann, zimmerte seine gelb-rot-blau gestreiften Zelte eigenhändig und hatte ihr und Daggy eines in bester Lage zum Familientarif überlassen. Bislang hatte sie sich nur gesonnt und war höchstens mal bis zu den Knien durchs Wasser gewatet. Kurz entschlossen zog Nina sich nun aus, streifte rasch ihren blau-weißen Badeanzug über und rannte mit Anlauf in die Nordsee. Das Wasser war kalt! Schlimmer noch, auch die Luft war kalt und der Wind frisch. Aber sie brauchte einfach eine Abkühlung. Nina juchzte und quiekte, als die Wellen ihre Oberschenkel umspülten, sie hüpfte auf der Stelle, tauchte tiefer ein, schüttelte sich, und endlich schwamm sie mit kräftigen Bewegungen. Nach einigen Zügen wurde ihr Körper wieder warm, noch einige Züge später fühlte er sich ganz herrlich lebendig an. Eine unbekannte erwartungsvolle Stimmung erfüllte sie – etwas Schönes stand bevor!
2
Wieder tutete der Dampfer laut und heiser. Vor Schreck machte Nina auf der Sitzbank einen kleinen Satz in die Höhe, sie riss ihre Augen weit auf. Zurück in der Gegenwart.
Passagiere an der Reling fütterten trotz des Verbots Möwen. Nina blickte übers Meer. Man konnte schon die Leuchttürme und den Südstrand von Borkum erkennen. Einige Schiffe glitten vorüber, Containerfrachter, Marinekreuzer, Segelboote.
Und dann sah sie im Gegenlicht einen Krabbenkutter.
Die beiden Schleppnetze schwebten neben dem Rumpf seitlich ausgespannt wie Schalen an einer großen Waage, und ein aufgeregter Schwarm Möwen folgte ihm. Der Anblick versetzte Nina einen Stich. Das Flirren von Licht und Wasser machte die Szene surreal, für Augenblicke hatte sie das Gefühl, in ihre Vergangenheit zu schauen.
Es gab doch keine Krabbenfischer mehr auf Borkum! Sie hatte extra angerufen bei der Kurverwaltung und in der Pressestelle der Stadt Borkum, hatte so getan, als plante sie für den Hörfunk einen Bericht über die Situation der letzten Krabbenfischer an der Nordsee. Und man hatte ihr versichert, dass es auf Borkum schon seit Jahren keine hauptberuflichen Kutterkapitäne mehr gebe. Dieses Schiff musste folglich im Hafen von Ditzum oder Greetsiel an der Küste zu Hause sein. Vielleicht kam es auch aus Holland. Kein Grund jedenfalls, sich aufzuregen. Er konnte es nicht sein. Und überhaupt wollte sie nicht an Klaas Teerling denken. Nie wieder. Das war zu lange her.
Rosalie wartete an der Mole auf die Nachmittagsfähre, die Nina bringen sollte, und schäkerte mit einem kleinen Kind, das im Buggy neben seiner ebenfalls wartenden Mutter saß. Es hatte die ersten Zähnchen und strahlte sie an. Ach, wenn Fabian doch erst aus China zurück wäre, sie würde ihn schon auf Ideen bringen …
Gerade als die Fähre in den Hafen einlief, klingelte ihr Handy.
»Rosalie Remmers?«
»Hallo, hier ist David«, sagte eine tiefe, angenehme Männerstimme, »der mit dem Cello.« Sie spürte, wie ihre Wangen heiß wurden, obwohl es für Juni eindeutig zu frisch war. Seine Stimme klang, als würde er lächeln. »Ich hoffe, du erinnerst dich noch an mich …«
»Hallo, David!«, sagte sie überrascht. »Ja, natürlich. Ich …äh … hatte jetzt gar nicht …«
»Wo steckst du gerade, Rosalie?«
»Ich steh am Borkumer Hafen und warte auf meine Tante. Ihre Fähre legt gleich an.«
»Ich versteh dich so schlecht. Du wartest auf Tante Theda?«
Rosalie drehte sich mit dem Handy, sodass der Wind nicht direkt hineinblasen konnte. »Nein, Tant’ Theda ist nicht meine Tante, sie ist eine entfernte Verwandte.«
»Sorry, hätte ich ja auch von allein drauf kommen können.« Er lachte. »Nur weil sie so heißt …«
»Ich warte auf Nina.«
»Tante Nina?«
»Ja. Die ist zwar meine Tante, aber keiner käme auf die Idee, Nina als Tante zu bezeichnen«, sprudelte es aus ihr heraus. »Womit ich jetzt nicht sagen will, dass die Titulierung Tante an und für sich irgendwie geringschätzig wäre. Bei Tant’ Theda hab ich als Kind allerdings immer geglaubt, das wäre Teil ihres Vornamens – Tantheda. Weil jeder sie so … Ach!« Was redete sie da für einen Unsinn? Sie war einfach nicht darauf gefasst gewesen, dass sich ihr heißer Mai-Flirt noch einmal melden würde. »Wie geht’s dir denn so?«, wechselte Rosalie verlegen das Thema. »Wo gastiert ihr gerade?«
Um Pfingsten herum hatte David mit seinem Orchester zwei Wochen lang im Borkumer Musikpavillon täglich außer montags drei Kurkonzerte gegeben – vormittags, nachmittags und abends. Mit großem Erfolg. Wer abends erst kurz vor Beginn gekommen war, hatte keinen freien Platz mehr gefunden. Viele Leute hatten sogar auf den Stufen gesessen, die von der Promenade zu den Lokalen in der Wandelhalle führten.
»Deshalb rufe ich an, Rosalie. Wir kommen nächste Woche nach Norderney! Wir springen für eine Band ein, die aus irgendwelchen Gründen ihren Vertrag nicht erfüllen kann. Autounfall oder so was. Na jedenfalls …« Während er redete, rollten die ersten PKW und Lieferwagen vom Autodeck, Rosalie passte auf, dass sie den Strom der Passagiere im Auge behielt, die zur selben Zeit das Schiff zu Fuß verließen. »Also, ich dachte«, fuhr David fort, »vielleicht hättest du ja mal Lust auf einen Tagesausflug nach Norderney …«
Jetzt erkannte sie Nina. Groß, schlank, in Jeans und Sneakers und einer schicken dunkelblauen Windjacke, den kinnlangen kastanienbraunen Bob vom Wind zerzaust. Rosalie winkte ihr zu.
»Du, tut mir leid, David, aber ich kann Tant’ Theda nicht mal einen Tag mit der Arbeit in der Pension allein lassen, wir haben Hochsaison.«
Natürlich schade, irgendwie, dachte Rosalie. Seinetwegen und wegen Norderney. Dahin würde sie gern mal einen Abstecher machen. Aber sie wurde auch von einem schlechten Gewissen geplagt, weil sie Fabian zum ersten Mal, seit sie zusammen waren, und das waren immerhin schon vier Jahre, betrogen hatte. Mit David. Es war irgendwie passiert, bei den Konzerten abends, die sie sich selten entgehen ließ, weil sie es liebte, dort vor der Wandelhalle an der Promenade zu sitzen, aufs Meer zu schauen und den Sonnenuntergang zu beobachten. Der Solocellist und sie hatten immer wieder Blickkontakt gehabt.
Rosalie liebte das Instrument Cello. Bei bestimmten tiefen Tönen spürte sie die Vibrationen geradezu körperlich, wohlig-erotisch, da sträubten sich die Härchen an ihren Unterarmen. Na, und nach dem letzten Kurkonzert hatte es sich einfach so ergeben, sie verstand es selbst nicht genau. Okay, sie mochte nicht nur das Instrument. Sie fand David süß. Er erinnerte sie an den Tenor, der gerade den ECHO-Klassik-Preis als bester Sänger des Jahres erhalten hatte. Er war noch nicht so alt, aber auch dieser Typ jugendlicher Held, unbeschwert, unkompliziert. Dunkelbraune verwegene Locken, verschmitztes breites Lächeln, Dreitagebart. Außerdem hatte die warme Luft in dieser Nacht ihrer Haut geschmeichelt, allen Sinnen. Rosalie hatte Lust verspürt, sie war in leichtsinniger Stimmung gewesen. Sie hatten Fasanenbrause getrunken, Sanddornlikör mit einem Schuss Sekt, waren bei Vollmond am Meer spazieren gegangen. Anschließend hatten sie noch in einem Strandzelt, das jemand vergessen hatte abzusperren, eine Flasche Wein geleert. Sie hatten sich geküsst, David küsste sehr gut, es hatte geprickelt … Er hatte gesagt, er habe noch einen guten Tropfen auf seinem Zimmer. Na ja, und dann war eben noch ein bisschen mehr passiert. Am nächsten Morgen hatte Rosalie ein paar Gedächtnislücken, ihre Oberlippe war geschwollen und das Kinn vom Knutschen durch seine Bartstoppeln aufgeschürft. Ein kleines Abenteuer, an das sie aber eigentlich nicht mehr denken wollte.
Nina winkte ihr zurück. »Hallo, Rosi!« Sie steuerte mit einem großen Rollkoffer und zwei poppig gemusterten Umhängetaschen auf sie zu.
»Na gut«, tönte plötzlich wieder Davids Stimme an Rosalies Ohr. »Dann komm ich eben mal mit dem Inselflieger nach Borkum rüber. Okay?«
»Ach, ich weiß nicht …« Aber sie konnte ihm ja wohl kaum verbieten, die Insel zu besuchen, oder? »Du, meine Tante ist jetzt da, ich muss Schluss machen.«
»Ich ruf dich wieder an.«
»Ja«, erwiderte Rosalie hastig. Nina setzte ihren Koffer ab, sie breitete schon ihre Arme aus. »Bis dann, David.« Schnell steckte Rosalie das Handy weg und umarmte Nina.
»Wie schön, dass du endlich da bist!«
Sie küssten sich auf die Wangen. Nina duftete nach einem edlen frisch-herben Parfüm. Rosalie war immer schon stolz auf ihre erfolgreiche Tante gewesen, die beim Hörfunk Karriere gemacht und als Korrespondentin aus vielen Großstädten der Welt berichtet hatte. Wenn sie sich bewegte, sah man ihr das Weltgewandte an, selbst die Art, wie sie im Supermarkt ihren Trenchcoat über den Einkaufswagen warf, wirkte lässig-elegant.
»Toll, dass du mich abholst!«, rief Nina. »Ach, und die alte Inselbahn gibt’s auch immer noch!« Einige Leute drehten sich um, vielleicht kam ihnen ihre Radiostimme bekannt vor. Ninas große dunkelbraune Augen strahlten warm aus dem ovalen Gesicht. »Du siehst großartig aus! Das Inselleben bekommt dir.« Sie zupfte an Rosalies Zopf, der, sonst eher dunkelblond, unter der Inselsonne und vom Salzwasser einige Nuancen heller geworden war. Ihre Familienähnlichkeit war unverkennbar, nur hatte Rosalie graublaue Augen, und sie schaffte es nicht, so schlank zu sein wie Nina. Seit sie auf der Insel war, hatte sie auch noch zugenommen. Nordseeluft steigert nun mal den Appetit. Sie hoffte, dass die Bräune die Pfunde etwas kaschierte.
»Du siehst auch super aus!«, erwiderte sie höflich.
Dass die Krankheit, über die Nina nicht sprach, ihr sichtlich zugesetzt hatte, sagte sie besser nicht. Die Erkrankung war auch der Grund, weshalb die Tante aus New York zurückgekehrt war nach Köln. Ein Jahr zuvor hätte sie noch glatt für Anfang fünfzig durchgehen können, jetzt sah man ihr die einundsechzig Jahre deutlich an. Nina tönte ihr Haar nicht, wie einige erstaunlich wenige Silberfäden bewiesen, doch insgesamt machte sie einen erschöpften und abgekämpften Eindruck. Ihr Teint wirkte so fahl, dass Rosalie erschrak.
»Ach, lass!« Nina winkte selbstironisch lächelnd ab. »Ich weiß, wie ich aussehe. Hab ziemlich gelitten in den vergangenen Monaten … Tja, der Lack ist ab.« Als ihre Nichte anhob zu protestieren, fiel sie ihr ins Wort. »Aber wir wollen doch mal sehen, was das berühmte Hochseereizklima und Tant’ Thedas Rosinenstuten ausrichten können.«
Während sie mit der Schmalspurbahn gemächlich von der Wattseite aus über die Insel gut sieben Kilometer bis zum Inselbahnhof mitten im Ort schaukelten, hatten sie sich viel zu erzählen – immer wieder unterbrochen von kurzen Kommentaren zu den Inselattraktionen links und rechts.
»Was ist denn da jetzt?«, fragte Nina erstaunt, als sie kurz nach der Abfahrt mehrere Jugendgruppen mit Rucksäcken erblickte, die auf ein weitläufig bebautes Gelände abbogen. »Da waren doch früher die Kasernen für die Marinesoldaten!«
»Das ist inzwischen Europas größte Jugendherberge. Ein riesiges Areal mit dreizehn Häusern.«
»Ganz schön abgelegen.«
»Ja, ohne Fahrrad läuft hier nichts.« Rosalie zitierte den Werbeslogan der Jugendherberge. »Lichtjahre vom Alltag entfernt.«
»Lichtjahre vom Alltag …«, wiederholte Nina, sie lächelte. »O ja, genau dahin will ich auch!« Sie bat Rosalie, sie nicht auf ihren Gesundheitszustand anzusprechen. »Es ist schon viel besser geworden«, sagte sie knapp.
Auf der rechten Seite zogen weite Salzwiesen an ihnen vorüber.
»Na gut«, versprach Rosalie unsicher. »Wenn du meinst …«
»Nun berichte du mal«, munterte Nina sie auf. »Was macht deine Examensarbeit? Und wie geht’s Fabian? Was sind eure Pläne?«
»Also meine Recherchen laufen sehr gut! Material hab ich fast schon genug.« Sie freute sich über Ninas Interesse. Denn ihr schwante bereits seit einiger Zeit, dass ihr Problem nicht die Recherche war, sondern darin bestehen würde, die Geschichten für ihre Examensarbeit im dafür erforderlichen wissenschaftlichen Stil abzufassen. »Wenn du Lust hast, kannst du ja mal auf die ersten Texte gucken.«
»Ich brenne darauf!«
»Ansonsten kann ich nur sagen, alle unterstützen mich – der Heimatverein, die Borkumer Zeitung …«
»Wie schön, es ist ja auch ein tolles Thema!«
Rosalie musste grinsen. »Keine Ahnung, wer das Gerücht in die Welt gesetzt hat, die Ostfriesen seien wortkarg. Ich habe die Erfahrung gemacht, wenn man ihnen eine präzise Frage stellt, erhält man auch eine ausführliche Antwort. Sie hören so schnell nicht wieder auf zu reden. Nur antworten sie nicht direkt auf das, was man gefragt hat.«
Nina lächelte. »Ja, diese Spezies von Interviewpartnern kenne ich.«
»Und wie gehst du damit um?«
»Tut mir leid, ich kenne keinen Trick. Da hilft nur eins: Zeit. Lass sie einfach reden, irgendwann kommt die Antwort, die du gesucht hast. Wahrscheinlich auf eine ganz andere Frage.«
Sie lachten.
»Na, wie gut, dass ich noch ein paar Wochen hier bin.«
»Und Fabian?« Nina hatte ihren Freund schon kennengelernt, als sie zwei Jahre zuvor zur Silberhochzeit von Rosalies Eltern nach Deutschland gekommen war. »Ein sympathischer junger Mann«, hatte sie geantwortet, als Rosalie sie nach ihrer Meinung gefragt hatte. »Man glaubt kaum, dass er ein Jahr jünger ist als du. Fabian macht einen sehr erwachsenen, zielstrebigen Eindruck, er wird es sicher noch weit bringen.«
»Fabian hospitiert derzeit bei einer internationalen Unternehmensberatung in Peking«, sagte Rosalie stolz. »Er hat übrigens inzwischen sein Diplom in Wirtschaftswissenschaften.«
»Gratuliere! Fehlt er dir sehr?«
»Ja, natürlich«, antwortete Rosalie. »Aber wir schreiben uns Mails und skypen öfter. Na ja, manchmal ist das nicht so einfach mit dem Empfang hier auf der Insel, aber wir schicken uns auch richtig altmodisch Briefe …« Nina seufzte, als wollte sie sagen: Hach, es geht doch nichts über so richtig romantische Liebesbriefe! Rosalie biss sich auf die Zunge. Es war nicht der Augenblick zu erklären, dass Fabian in Wort und Schrift nicht so zur sentimentalen Fraktion gehörte. Aber sie verstand trotzdem immer genau, was er empfand. Manchmal fragte er sie sogar, so wie ihr Vater ihre Mutter manchmal fragte: »Brigitte, worauf hab ich Appetit?« Rosalie erklärte Fabian dann, was er ihrer Meinung nach fühlte. Männer, die Süßholz raspelten, waren Rosalie suspekt. »Außerdem«, erklärte sie Nina, »bleibt er ja nicht ewig, und so kann ich mich auch besser auf meine Examensarbeit konzentrieren.«
Meist hatte Rosalie den Nachmittag frei. So war das schon immer geregelt gewesen, und deshalb hatten die Mädels in ihrer Familie auch stets gern den Ferienjob in Thedas Pension übernommen – sie bekamen Kost und Logis, dazu jeden Freitag ein Taschengeld als Wochenlohn bar auf die Hand. Für viele, die mit sechzehn oder siebzehn das erste Mal ohne Eltern oder Lehrer von zu Hause fort waren, bedeutete dieses Arrangement ein neues Stück Freiheit. Vormittags Toiletten und Zimmer putzen, nachmittags Strand und abends Disco.
Nina schaute nach draußen. »Ach, guck mal, das sind doch die Woldedünen! Ist denn inzwischen der Schatz von Störtebeker gefunden worden, der dort versteckt sein soll?«
»Nicht dass ich wüsste.«
Nun wies Nina auf das Wäldchen mit Krüppelkiefern, Heidekraut und Birken. »Und das da ist die Greune Stee, oder?«
Ihre Stimme hatte plötzlich einen anderen, einen wehmütigen Unterton, als erinnerte sie sich an etwas. Rosalie scheute sich nachzufragen.
Sie kamen in den Ort, der sich offiziell sogar Stadt nennen durfte, obwohl Borkum insgesamt nur gut fünftausend Einwohner hatte. Und Nina schwieg, während sie interessiert die spitzgiebeligen Häuser aus orangeroten Backsteinen oder rotblauen Klinkern musterte, an denen die Inselbahn vorüberschnaufte. Ein großer Supermarkt-Flachdachbau erregte offenbar ihr Missfallen. Erst als die Lok nach zwei Haltestellen in der Kurve kurz vorm Bahnhof pfiff, sagte ihre Tante wieder etwas.
»Wie verstehst du dich mit Tant’ Theda?«
»Prima«, antwortete Rosalie. »Sie pflegt zwar ihre Vorurteile, du kennst sie ja. Aber wir kommen gut miteinander klar. Vielleicht sollte ich dich trotzdem warnen. Es ist nicht mehr alles so ›bi Theda‹, wie du es wahrscheinlich in Erinnerung hast.«
Nina nickte. »Das hab ich auch nicht erwartet.« Dann ging ein Strahlen über ihr Gesicht. »Aber der Bahnhof«, rief sie entzückt, »der sieht ja immer noch so aus wie im Bilderbuch! Den Platz hier erkenne ich wieder, er ist sogar gepflegter als früher. Oh, und ein kleiner Park! Wie schön! Ich fühl mich wie in Lummerland.«
Der Zug hielt. Sie stiegen aus. Rosalie nahm ihr die beiden Umhängetaschen ab, Nina zog ihren Trolley. Sie schnupperte.
»Ach, immer noch dieser Geruch nach Pferdeäpfeln, Sonnenmilch und Waffeln!« Und kaum waren sie ein paar Schritte gegangen, fiel ihr wieder etwas auf. »Guck an, die Polizei hat ein neues Gebäude bekommen, und die Tourist-Info ist auch umgezogen.« Der für Autos gesperrte Ort war voller Urlauber, die bei diesen kühlen Temperaturen keine Lust aufs Strandleben verspürten. Die meisten standen ziemlich entschleunigt im Weg. Auf ihrem Fußweg bis zur Pension, die im Dorfkern in der Nähe des alten Leuchtturms lag, freute sich Nina über jedes Geschäft und jedes Gebäude, das ihr bekannt vorkam, vor allem über die weiß verputzten Villen aus der Gründerzeit mit den verglasten Frühstücksveranden. »Zum Glück ist doch noch viel vom Charme der Jahrhundertwende erhalten«, sagte sie. »Lass uns einen kleinen Schlenker machen.«
Als sie das Alte Teehaus passiert hatten und endlich vor Thedas Pension standen, schien es Nina allerdings die Sprache verschlagen zu haben. Ihre Augen schimmerten feucht. Ob vor Freude oder vor Entsetzen, vermochte Rosalie nicht recht einzuschätzen. Denn der Garten war ziemlich heruntergekommen. Rosalie hatte immerhin den Rasen gemäht, der bei ihrer Ankunft eher einer wilden Wiese ähnlich gewesen war, und sie hatte den Hortensienbüschen etwas Alaun gegeben, damit das schwächelnde Blaurosa ihrer Dolden sich wieder in leuchtendes Himmelblau färbte. Aber es gab keinen Gemüsegarten mehr, und die einstigen Blumenbeete kannte sie nur von alten Fotos. »Pflegeleicht« lautete eines von Thedas Zauberworten.
Vermutlich erschreckten Nina die nachträglichen Um- und Anbauten des kleinen Gulfhauses, wie man diese Art der Ostfriesenhäuser bezeichnete. Anfang der Siebzigerjahre waren dabei eine Menge bunter Glasbausteine zum Einsatz gekommen. An den großen Garten grenzte ein zweistöckiges verputztes Logierhaus mit Mansarddach an, das ebenfalls Theda gehörte. Doch schon lange schmückten dort keine Geranien in Blumenkästen mehr die Fenster, die Schmuckreliefs bröckelten, und die weiße Fassade benötigte dringend einen Anstrich. In den Achtzigern waren Ferienwohnungen aus den Zimmern gemacht worden, für die man bis dahin noch mit dem Hinweis »Dusche auf jeder Etage, fließend kaltes und warmes Wasser in jedem Zimmer« geworben hatte. Aber auch Achtzigerjahre-Standard genügte heutigen Feriengästen längst nicht mehr. Im Haus wie in der Pension selbst herrschte ein deutlich sichtbarer Renovierungsstau. Trotz alledem wirkte der inseltypische Backsteinbau mit seinem tief heruntergezogenen Dach heimelig wie eh und je. Wozu sicher ebenso die alten Bäume um das Grundstück herum und die Obstbäume auf dem Rasen beitrugen. Ein Teil des Gartens durfte von Gästen genutzt werden. Leider blätterte die Farbe von der weiß-grün gestrichenen verglasten Holzveranda entlang der Hausfront, sie war zur Rumpelkammer verkommen. Früher hatten hier sowohl die Gäste des Logierhauses als auch die Pensionsgäste ihr Frühstück eingenommen. Nachmittags hatte der lichtdurchflutete Raum als öffentliches Café gedient.
»Wo serviert ihr denn heute das Frühstück?«, fragte Nina mit belegter Stimme. Sie räusperte sich.
»Es gibt kein Frühstück mehr, nur Übernachtung«, erklärte Rosalie etwas betreten. »Aber wir drei werden natürlich zusammen frühstücken.«
In diesem Moment kam Theda aus dem Hinterhaus, dessen Seitentür ein üppiger Holunderbusch fast ganz verdeckte. Dort, wo einst das Vieh untergebracht gewesen war, wohnte sie im Sommer, wenn auch ihre Privaträume im Vorderhaus an Badegäste vermietet waren. Viele Borkumer Familien räumten während der Saison ihre Wohnungen und betrieben so etwas wie Camping auf dem eigenen Grundstück. Theda wedelte mit beiden Armen aufgeregt in der Luft, während sie auf dem gewundenen Gartenpfad herbeieilte.
»Nina, mien lüttje Wicht!«
»So bin ich ja schon lange nicht mehr genannt worden, Tant’ Theda!«
»Komm an meine Brust!«
Theda war einen Kopf kleiner als Nina, dafür doppelt so breit, ihre Dauerwellfrisur trug sie wie seit Jahrzehnten goldblond gefärbt, und wie immer umgab sie der Duft von Vanille. Sie verbreitete gute Laune so zuverlässig wie ein Bollerofen Wärme.
»Wir sind beide nicht jünger geworden, was, mien Söten?«, sagte sie, nachdem sie Nina ausgiebig geherzt hatte. »Früher waren wir jung und schön, jetzt sind wir nur noch schön!« Lachend schob sie Nina in Richtung Sommerküche, denn hier spielte sich während der Saison, meist halb draußen, für die Pensionswirtin das Leben ab. Vor der Sommerküche, zwischen Schuppen und Rasen, lag der private Gartenteil, und dort stand windgeschützt an einem sonnigen Platz eine Sitzgruppe, die schon für Tee und Kuchen eingedeckt war. »S-tell dein Gepäck man im Flur ab«, schlug Theda vor, »jetzt brauchst du sicher erst mal ’n lecker Koppke Tee.«
»Tant’ Theda, was hab ich dich vermisst!«, entfuhr es Nina.
»Hättest ja schon früher mal wieder kommen können«, bekam sie zur Antwort.
Thedas direkte Art war in der Familie ebenso Legende wie ihre erstaunlich weit auseinanderstehenden O-Beine.
Nina grinste. »Joo!« Theda zelebrierte ihren Tee, natürlich die Ostfriesenmischung mit Kluntjes und flüssiger Sahne. Als sie den Tee einschenkte, sah Rosalie, wie Nina die Augen schloss, um das Knistern des Kandis besser zu hören. Sie freute sich wie eine Vierjährige über die Sahne, die Theda ihr dann mit einer kleinen Drehung locker aus dem Handgelenk vom Schwanenlöffel in die dünne Tasse mit der Ostfriesenrose fließen ließ. Nina öffnete die Augen. Gespannt wartete sie ab, bis die Sahne in kleinen, Wulkjes genannten Sahnewolken langsam an die Oberfläche des Tees hochstieg, dort explodierte und schließlich zur Ruhe kam. Sie genoss die ersten Schlucke, ohne umzurühren. Wie es sich gehörte. »Zuerst sahnig, dann bitter und zum Schluss süß«, sagte sie andächtig. »Zu schön. Das ist wie nach Hause kommen.« Und dann tauschten sie endlich die neuesten Familiennachrichten aus. »Dein Apfelkuchen schmeckt prima«, lobte Nina schließlich.
»Ist von Boofi«, sagte Theda zufrieden.
»Boofi?« Nina runzelte die Stirn.
»So nennen wir den Fahrer von Bofrost, der einmal in der Woche kommt. Ich hab die ganze Truhe voll mit Tiefkühlkost.« Thedas breites runzliges Gesicht bekam einen schwärmerischen Ausdruck, ihre kleinen hellblauen Augen sprühten vor Begeisterung. »Das ist ja so praktisch! Nicht, Rosalie?«
Rosalie nickte. »Sogar Fisch liefern die!«
Diesen Hinweis konnte sie sich nicht verkneifen. Sie fand es skurril, dass die Nachfahren von Fischern, die ein paar hundert Meter vom Strand entfernt lebten, sich tiefgefrorenen Fisch per Lieferwagen vom Festland bestellten.
Nina verstand ihre Andeutung. »Ein Tag mit Mr. Bofrost auf Borkum«, sagte sie augenzwinkernd, »das wäre sicher eine schöne Reportage.«
»Ich komm dann mit«, kommentierte Theda trocken. Sie mochte Boofi auch privat.
»Wisst ihr was? Seit Wochen …«, sagte Nina plötzlich mit gedämpfter Stimme, als wollte sie uns etwas Lasterhaftes gestehen, »… also ich träum seit Wochen von deinem Rosinenstuten, schön dick mit Butter bestrichen zum Tee …«
»Krints-tuut!« Theda schmunzelte. »Kein Problem, bring ich dir morgen vom Bäcker mit.«
»Nein«, sagte Nina, »ich meine deinen Stuten von früher. Ich möchte ihn zu gern selbst backen, nach deinem Rezept, aber ich brauch bestimmt etwas Anleitung.«
»Wenn’s weiter nichts ist! Das kriegen wir hin«, versprach Theda. »Du wohnst übrigens wieder in deinem alten Zimmer«, erklärte sie dann übergangslos. »Rosalie hat es extra für dich neu tapeziert!«
»Wie bitte?«, rief Nina ungläubig. »Ihr seid ja verrückt! Das wäre doch wirklich nicht nötig gewesen!«
»Das hab ich auch gesagt«, Theda zuckte mit den Schultern. »Das lohnt sich gar nicht mehr.«
Nina blickte sie irritiert an. Rosalie verdrehte die Augen und versuchte schnell, ein mögliches Missverständnis zu verhindern. »Tant’ Theda will die Pension aufgeben und verkaufen. Deshalb meinte sie, es lohnt sich nicht mehr.«
»Richtig, Rosalie! Nina, mien Wicht, vers-teh mich bloß nicht falsch!«
Theda stolperte immer so schön über den s-pitzen S-tein, außerdem rollte sie das »R«, und wie alle Borkumer, die ihr vom Niederländischen geprägtes Platt verinnerlicht hatten, sprach sie das »I« oft wie »Ei« aus.
»Moment«, Nina fuhr sich durchs Haar. »Das ist jetzt aber ein kleiner Schock! Du willst wirklich die Pension aufgeben? Was ist mit deiner Tochter oder deinem Sohn? Will von denen keiner …«
»Nein, weder Alke noch Edzard haben dazu Lust. Sie wohnen ja auch mit ihren Familien auf dem Festland und haben sich da ihre Existenz aufgebaut.«
»Ach, wirklich? Eine Familientradition geht zu Ende …« Nina seufzte fassungslos.
»Kind, ich werde nächstes Jahr achtzig, was denkst du denn, wie lange ich hier rackern soll, hm?« Theda hatte ihren Beschluss gefasst. »Ich freu mich darauf, zu Alke zu ziehen. Da seh ich meine Enkel auch jeden Tag. Und wenn mal was ist, ich meine … du weißt schon … dann kümmert sich Alke um mich.«
»Hast du schon einen Nachfolger oder Käufer?«
Theda schüttelte den Kopf. »Nein. Auf einen Monat kommt’s mir ja auch nicht an. Das wird schon. Unser Makler sagt, die Lage ist 1 a, und das ist entscheidend – Lage, Lage, Lage! Auch wenn der Verwertungswert der Gebäude wohl gering ist.«
Nina zuckte zusammen. Rosalie bedrückte die Aussicht auf diese Veränderung ebenso wie Nina, nur hatte sie schon länger Zeit gehabt, sich damit abzufinden. Wenn ich nur das Geld hätte, dachte Rosalie. Hatte sie aber nicht.
»Ach, Kinners, nun guckt mal nicht wie sieben Tage Regenwetter, das Leben geht immer irgendwie weiter«, munterte Theda sie auf. »Und diesen Sommer genießen wir noch mal so richtig! Du musst dir gleich mal dein Zimmer angucken. Ganz toll hat Rosalie das gemacht.«
»Da bin ich aber neugierig.« Nina wippte erwartungsvoll auf ihrem Gartenstuhl.
Rosalie freute sich schon seit Tagen auf den Augenblick, da sie Nina ihr Werk präsentieren konnte. Im alten Zustand war das Personalzimmer eine Zumutung gewesen, deshalb war es auch nicht vermietet worden. Rosalie wohnte in einer kleinen Mansardenwohnung im Logierhaus, die sie gleich nach ihrer Ankunft verschönert hatte. Denn wie in den Gästezimmern hatte sich auch hier im Laufe der Jahre eine höchstens für Kulturforscher spannende Mischung aus billigen Teppichboden- und zusammengestückelten Tapetenresten angesammelt. Alles heftig gemustert, nicht eine Kombination harmonierte farblich oder stilistisch. Hilfe, Augenkrebs!, hatte neulich ein Pubertierender ausgerufen, als er mit seinen Eltern in die beiden Zimmer im Erdgeschoss mit der Durchgangstür eingezogen war. Das waren damals alles Sonderangebote, hatte Theda später in der Sommerküche kopfschüttelnd zu ihrer Verteidigung vorgebracht, da musste ich doch zuschlagen!
Die drei Frauen stiegen nun hintereinander die Treppe im Hinterhaus hoch. Theda ächzte. Am Ende des Flurs rechts unter der Dachschräge lag das Zimmer, neben dessen Tür ein bemaltes Treibholzschild baumelte. »Ninas Koje« stand darauf. Mit Schwung öffnete Rosalie die Tür.
»Tädädä!«
»Oh!« Nina schlug die Hände vor den Mund. »Das ist ja ein Traum! Wie aus einem Country-Style-Magazin!« Sie betrat den kleinen, gemütlichen Raum und schaute sich um. Das warme Licht des Spätnachmittags verlieh der neuen Rosentapete und dem breiten, altmodischen Bett samt Kissen und Überdecke eine verträumte Stimmung. Damit das Ganze nicht zu zuckersüß wirkte, hatte Rosalie eine Wand einfach nur blaugrau gestrichen und auf halber Höhe mit einer weißen Holzablage unterbrochen. Eingerichtet war das Zimmer spartanisch. Neben dem Bett stand ein Nachtschränkchen, es gab einen Stuhl, einen Tisch, einen Kleiderschrank und ein Regal. Eines der beiden Fenster hatte Rosalie vorher weit aufgesperrt. Es ging nach hinten raus zum Garten und wurde von weißen Kletterrosen umrankt. Morgens schien die Sonne hier direkt hinein, man hörte dann die Spatzen tschilpen. Die duftige Gardine bewegte sich leicht im Wind, jetzt flötete im Apfelbaum ein Star sein Abendlied. Den Stuhl und das Nachtschränkchen hatte Rosalie unter all den ausrangierten Möbeln auf der Veranda entdeckt, sie ebenso wie den alten Tisch weiß lackiert und mit einer kleinen blassblauen Kante versehen. Erfreut stellte sie fest, dass ein zarter Blumenduft den Farbgeruch überdeckte – wie gut, dass sie am Vormittag einen frischen Strauß aus blauen Hortensien, rosafarbenen Levkojen und weißen Rosen auf den Nachttisch gestellt hatte. »Hier werde ich mich bestimmt himmlisch erholen!«, sagte Nina gerührt. »Danke euch beiden.«
ENDE DER LESEPROBE