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Als die Hamburger Modedesignerin Josie das antike Collier ihrer Großtante erbt, ahnt sie nicht, dass dieses auf eine dramatische Liebesgeschichte zurückgeht – und ihr Leben verändern wird. Idar-Oberstein, 1830. Sophies Verlobter ist wie so viele Männer nach Brasilien ausgewandert – und entdeckt dort Edelsteine. Als Karl nicht kommt, um Sophie wie versprochen in die neue Heimat zu holen, ahnt sie, dass er ihre Hilfe braucht. Kurzentschlossen reist sie ihm hinterher und wird in einem Indiodorf im Dschungel fündig. Doch Karls langes Schweigen hat Gründe, die Sophie erst langsam durchschauen wird ...
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Seitenzahl: 706
Buch
Die Hamburger Modedesignerin Josie erbt von ihrer Großtante Martha aus Idar-Oberstein ein antikes Amethyst-Collier, das einst ihrer Vorfahrin Sophie gehört hat. Josie hat noch nie von Sophie gehört, doch ihre Nachforschungen ergeben bald, dass diese als junge Frau nach Südbrasilien reiste, um ihren dorthin ausgewanderten verschollenen Verlobten zu suchen. Jahre später kehrte sie als Witwe zurück – mit ihrem kleinen Sohn Carlos. In ihrer Heimatstadt Idar-Oberstein gründete sie ein Familienunternehmen, das immer noch besteht und das auf Edelsteine spezialisiert ist. Doch Josies Neugierde wird gerade von dem geweckt, was ihr niemand in der Familie berichten kann: Was ist damals in Brasilien geschehen? Wieso kam Sophie ohne ihren Mann zurück? Als sie sich auf die Spuren der dramatischen Vergangenheit ihrer Familie macht, ahnt Josie noch nicht, dass sich damit auch ihr eigenes Leben verändern wird …
Autorin
Die freie Journalistin und Autorin Sylvia Lott ist gebürtige Ostfriesin. Sie schreibt für verschiedene Frauen-, Lifestyle- und Reisemagazine und veröffentlichte bei Blanvalet bereits die Romane »Die Rose von Darjeeling« und »Die Glücksbäckerin von Long Island«. Sylvia Lott lebt in Hamburg-Winterhude.
Weitere Informationen zur Autorin finden Sie unter www.facebook.com/Sylvialott.romane und www.romane-von-sylvia-lott.de
Von Sylvia Lott bei Blanvalet außerdem lieferbar:
Die Rose von Darjeeling
Die Glücksbäckerin von Long Island
Besuchen Sie uns auch auf www.facebook.com/blanvalet und www.twitter.com/BlanvaletVerlag.
Sylvia Lott
Die Lilie von Bela Vista
Roman
Die Handlung und alle handelnden Personen sind frei erfunden.
Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden oder realen Personen wäre rein zufällig.
1. Auflage
Originalausgabe September 2015 bei Blanvalet,
einem Unternehmen der Verlagsgruppe Random House GmbH, München.
Copyright © 2015 by Blanvalet Verlag, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Umschlaggestaltung: www.buerosued.de
Umschlagmotive: Flora Press und www.buerosued.de
Redaktion: Margit von Cossart
ES · Herstellung: sam
Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
ISBN: 978-3-641-15928-3
www.blanvalet.de
Glauben bedeutet, sich bereits im Voraus auf etwas zu verlassen, was erst im Nachhinein einen Sinn ergibt.
Philip Yancey
1
Endlich Feierabend!
Josie Wagner griff nach dem kleinen Poststapel auf dem Couchtisch, während sie mit ihren Füßen den Hocker näher ans Sofa zog, um die Beine hochlegen zu können. Viel war es ja nicht mehr, was man abends aus dem Briefkasten holte. Das meiste kam mittlerweile per E-Mail. Edgar saß mit dem Rücken zu ihr am Schreibtisch und brütete noch über einem Schriftsatz für einen Mandanten – wahrscheinlich in Sachen Mietrecht, das war schließlich sein Spezialgebiet. Der Fernseher lief ohne Ton. So konnte Josie den Regen sanft gegen die Scheiben tröpfeln hören.
Ganz oben lag ein Schreiben ihrer Bank. Routiniert schlitzte Josie den Umschlag auf. »Nanu, was soll das denn?« Sie las die Aufforderung ein zweites Mal. »Das kann ja wohl nicht stimmen! Die von der Bank spinnen doch! Ich soll 47,60 Euro für ein Bankschließfach nachzahlen.« Ihre großen graugrünen Augen funkelten. »Phhf!« Empört stieß sie die Luft aus und pustete ihren Pony aus dem Gesicht. Edgar wandte sich um, fragend schaute er sie an. »Angeblich ist die Jahresmiete im Rückstand!« Josie schüttelte mit Nachdruck den Kopf. »Dabei besitze ich überhaupt kein Schließfach!«
»Welche Bank ist es denn?«, wollte Edgar wissen.
»Na, meine Hausbank. Ich dachte eigentlich, die sei seriös! Haben die es etwa auch schon nötig, mit Tricks zu arbeiten, um die Managergehälter zahlen zu können?«
»Es wird sich schon aufklären«, sagte Edgar beruhigend.
»Ja … Wahrscheinlich hast du recht.«
Josie legte den Brief zur Seite und sah die restliche Post durch. Werbung, die Zeitschrift der Krankenkasse, Urlaubsgrüße ihrer Freundin Tania von Gibraltar, wie versprochen auf einer altmodischen Postkarte. Sie waren auch Kolleginnen in einem Versandhauskonzern und entwarfen gemeinsam Katalogmode fürs Internet, die nur ein bisschen trendy sein, aber nicht anecken durfte und in Stadt und Land alltagstauglich sein musste. Josies Berufsleben war längst nicht so aufregend, wie sie es sich während ihres Modedesignstudiums vorgestellt hatte. Immerhin hatte sie einen relativ gut bezahlten und sicheren Job – im Gegensatz zu so manchen Mitabsolventen, die zehn Jahre nach dem Diplom immer noch am Existenzminimum herumkrebsten.
»Denkst du daran, dass wir mit dem Makler einen Besichtigungstermin ausmachen müssen?«, fragte Edgar beiläufig.
Auch er hatte seine Träume nicht verwirklicht, doch ihm schien das nicht einmal mehr aufzufallen oder zu fehlen. Er pflegte zu sagen: Ich bin Realist, lass uns das Beste aus dem machen, was ist – während Josie immer wieder überfallen wurde von Sehnsuchtsattacken nach etwas, von dem sie selbst nicht wusste, was es eigentlich war. Vielleicht ein Kind? Oder der Entwurf einer wirklich tollen eigenen Kollektion? Ferne Länder bereisen? Irgendetwas fehlte … Aber was?
Sie überflog Tanias launige Zeilen und lächelte – offenbar hatte die Freundin auf dem großen Felsen zwischen Spanien und Afrika gerade viel Spaß mit einem Engländer.
»Meinst du für das Reihenendhaus in der Nordheide«, fragte sie, ohne hochzublicken, »oder für die Doppelhaushälfte in Henstedt-Ulzburg?«
»Am besten für beides«, brummelte Edgar. Noch lebten sie in einer Mietwohnung mitten in Hamburg zwischen Stadtpark und Alster. Ein Siebzigerjahre-Mietblock, nichts Dolles, wegen der Lage allerdings ziemlich teuer. Und natürlich hatte Edgar recht, sie waren jetzt beide in einem Alter, in dem man Eigentum erwerben sollte. Sonst würden sie die Abzahlung bis zur Rente nicht schaffen. »Bitte vergiss es nicht wieder«, setzte er noch mahnend hinzu.
Josie hatte sich den kommenden Tag freigenommen, und ihre Erledigungsliste war schon ziemlich lang. Vor allem wollte sie mal wieder über den Jungfernstieg bummeln, um Trendrecherche zu betreiben.
Edgar nahm seine Hornbrille ab und massierte sich die Nasenwurzel. Die grauen Augen unter seinen struppigen Brauen wirkten überanstrengt. Eigentlich war er ein gut aussehender Mann, er strahlte Ruhe aus und wirkte vertrauenerweckend. Die ersten grauen Strähnen in den braunen Haaren gaben ihm etwas Seriöses, nur war er in letzter Zeit oft so müde.
Josies Blick fiel wieder auf das Schreiben ihrer Sparkasse. »Bucht die Bank das Geld für dieses rätselhafte Schließfach vielleicht sogar automatisch ab?«, fragte sie und sah dann Edgar irritiert an.
Er schüttelte den Kopf. »Das dürfen die überhaupt nicht, Josie. Du musst gar nichts zahlen.« Da sprach der Jurist aus ihm. »Es ist bestimmt nur ein Irrtum.« Jetzt grinste er selbstironisch, und sein schmales Gesicht wirkte gleich viel jünger, fast jungenhaft. So wie damals, als sie sich kennengelernt hatten. »Soll ich dir eine hieb- und stichfeste Antwort aufsetzen?«
Josie brauste zwar schnell auf, aber sie beruhigte sich auch schnell wieder. »Nöö … Lass mal, Schatz!« Dankbar warf sie ihm einen Luftkuss zu. »Ich muss sowieso morgen in die City. Dann geh ich da vorbei und klär das direkt.«
»Es kann sich nur um ein Missverständnis handeln«, sagte Josie.
»Hm …« In der Hauptgeschäftstelle ihrer Bank vertiefte sich der Kundenberater sogleich in die mitgebrachte Mahnung.
Josie taxierte sich an einem der verspiegelten Pfeiler aus den Augenwinkeln wie eine Fremde. Mittelgroß war sie und brünett. Sie hatte sich schicker und damenhafter als sonst gestylt, meist kleidete sie sich etwas flippiger. Aber sie wollte, dass die Banker gleich einen seriösen Eindruck von ihr bekamen. In ihrem ovalen Gesicht fielen zuerst die Augen unter den dichten dunklen Brauen auf. Meist blickten sie freundlich, neugierig und immer bereit zu einem spitzbübischen Zwinkern, doch hier in der Bank bemühte Josie sich um einen businessmäßigen Ausdruck. Zu einem schmal geschnittenen Rock trug sie Wildlederstiefel mit hohen Absätzen und einen taillierten Trenchcoat. Alles in Schwarz und Camel. Nur das edle Seidentuch schimmerte in Olivtönen und betonte ihre Augenfarbe. Eine elegante Beuteltasche aus Wildleder machte ihren Aufzug perfekt.
In dieser toughen Aufmachung konnte Josie anschließend auch gleich noch durch die Flagship-Stores von Chanel, Gucci & Co rund um den Neuen Wall spazieren und ihre Trendbeobachtung für die eigene Arbeit machen, ohne dass die Verkaufspersönlichkeiten dort sie von oben herab beäugen würden.
Eigentlich mochte Josie ihr sommersprossiges Gesicht am liebsten ungeschminkt. Ihre Wimpern waren von Natur aus dunkel, dicht und schön gebogen. Sie benutzte meist nur Lipgloss für ihren Mund, den sie allerdings für zu groß hielt. Edgar fand ihn zum Glück sexy. Heute betonte ein gekonntes Make-up ihre Augen, die einen Tick schräger standen, als es für eine Norddeutsche typisch war. Sobald sie das unterstrich, verwirrte ihr Blick leicht ihr Gegenüber, meist ohne dass der- oder diejenige auf Anhieb sagen konnte, was der Grund dafür war. Sie hörte dann oft, sie habe so etwas Besonderes.
Josie fand es eher anstrengend, als faszinierend zu gelten. Sie war doch ganz normal und wollte einfach nur sie selbst sein. Angeblich hatte es ja vor langer Zeit einen Franzosen unter ihren Vorfahren gegeben. Ob sie ihm dieses gewisse Etwas zu verdanken hatte? Mochte sein. Es war ihr ziemlich egal, gelegentlich allerdings spielte sie mit diesem Geschenk der Natur. Und so bedachte Josie den jungen Bankangestellten jetzt mit einem ernsten Augenaufschlag.
»Ein Missverständnis«, wiederholte sie, »anders kann ich mir das nicht erklären.«
»Da … da muss ich meinen Vorgesetzten holen«, stammelte der junge Mann verunsichert und nahm ihr Schreiben mit.
Josie sah ihn hinten im Schalterraum mit einem anderen Mann reden. Der telefonierte daraufhin. Und endlich kam ein dritter Herr in einem dunkelblauen Anzug, der ihr vorgestellt wurde als der Verantwortliche für die Kundenschließfachanlage.
»Dürfte ich Sie bitten … Können Sie sich ausweisen?«, fragte er sehr höflich.
Josie schluckte. Irgendwie schien es doch eine Bewandtnis mit dem Schließfach zu haben. Sie fühlte sich ein wenig beklommen, wie zu unrecht angeklagt.
»Ich denke schon, dass ich das kann«, erwiderte sie kühl und kramte in ihrer Tasche. Sie reichte dem Herrn ihren Ausweis.
Er verglich die Angaben mit seinen Unterlagen. Dann nickte er. »Das hat alles seine Richtigkeit, Frau Wagner. Sie besitzen eine Vollmacht für dieses Schließfach. Seit zwanzig Jahren bereits.«
Josie schüttelte ratlos den Kopf. »Aber …«
»Als Besitzerin ist eine Martha Wahring eingetragen.«
»Ach!«, jetzt fiel ihr etwas ein. »Tante Martha! Daran hab ich ja ewig nicht mehr gedacht …« Josie war damals achtzehn gewesen, gerade volljährig geworden und zum Studium von Oldenburg nach Hamburg gezogen, als ihre Großtante sie gebeten hatte, eine Vollmacht für deren Schließfach in der Hansestadt zu unterschreiben. Sie lebte eigentlich in Idar-Oberstein und war nur zu einem Zwischenstopp an der Elbe gewesen. Ihre Ehe galt als turbulent, es gab öfter Streit, und gelegentlich mochte die Tante wohl mit der Idee geliebäugelt haben, sich scheiden zu lassen. Jedenfalls hatte sich Josie das in ihrer jugendlichen Fantasie so zurechtgelegt. Sie hatte vermutet, Martha habe für den Fall der Fälle ein kleines finanzielles Depot anlegen oder vielleicht auch Briefe eines Liebhabers außerhalb des Hunsrücks sichern wollen, und sie, ihre Großnichte, sollte notfalls Zugriff darauf haben. Wenn Josie sich recht erinnerte, hatte die Tante damals von Hamburg-Fuhlsbüttel aus auch eine Reise nach Rom unternommen – ohne ihren Gatten, aber mit einer ihr unbekannten Begleitung, die sie nicht zu Gesicht bekommen hatte. »Dass dieses Schließfach überhaupt noch existiert!«, sagte Josie völlig perplex.
»Ich vermute, Ihre Frau Tante ist verstorben?«, fuhr der Banker fort. Josie nickte stumm. »Denn sonst«, fuhr er fort, »wäre die Jahresmiete wie in all den Jahren zuvor wieder von Martha Wahrings Konto abgebucht worden. Dieses Konto ist vor einigen Monaten aufgelöst worden. Deshalb mussten wir uns an Sie wenden.« Er lächelte konziliant. »Sie sind zwar mehrfach umgezogen seit damals, aber glücklicherweise unsere Kundin geblieben.«
»Ach herrje!«
Am liebsten hätte Josie sich irgendwo hingesetzt. Ihr war ganz flau im Magen, und sie bekam auf einmal ein sehr schlechtes Gewissen. So oft hatte Tante Martha sie gebeten, sie zu besuchen. So oft hatte sie angekündigt, sie habe ihr noch spannende Familiengeschichten zu erzählen. Immer wieder hatte Josie versprochen zu kommen. Sie hatte es ja auch wirklich vorgehabt. Aber … Na ja, wenn sie ehrlich war, interessierte sie sich nun mal nicht besonders für olle Kamellen aus dem Hunsrück.
Josie wusste, dass ihr Großvater, der Bruder von Martha, sich einst im Streit von seinem Elternhaus losgesagt hatte. Er hatte nicht den Betrieb, eine Achatschleiferei, übernehmen, sondern unbedingt Medizin studieren wollen. Josie wusste auch, dass die Familie sich irgendwann später mal ausgesöhnt hatte. Doch die Kontakte zu den Verwandten in Idar-Oberstein waren auf seltene Anlässe wie die großen Familienfeste beschränkt geblieben. Josie fand den Familienzweig »im Heckenland«, wie ihr Vater jene abgelegene Region zu nennen pflegte, ziemlich spießig. Auch ihr Vater war Arzt geworden. Er hatte die väterliche Praxis in Oldenburg übernommen und nicht nur das, auch die Abneigung gegenüber der Verwandtschaft. Für Josies Mutter war Idar-Oberstein ein typisches Ausflugsziel von Kegelvereinen in den Fünfziger- und Sechzigerjahren – »noch schlimmer als das Hermannsdenkmal«. Und das alles hatte dafür gesorgt, dass sich Josies Neugier auf Familienhistorie stark in Grenzen hielt.
Dass die Tante dennoch immer wieder den Kontakt zu ihrer Großnichte suchte, hatte sie selbst mal erklärt. Ich habe mir immer eine Tochter gewünscht, hatte sie gesagt, aber der liebe Gott hat mir nur Söhne und Enkelsöhne geschenkt.
Und Josie? Sie hatte die Großtante durchaus gemocht, ja, letztlich jedoch nicht wirklich gut gekannt. Sie hatte Tante Martha immer vertröstet und ihre Besuche bei ihr auf später verschoben. Nein, rief sie sich nun rasch zur eigenen Verteidigung ins Gedächnis zurück. Einmal, an einem grauen Novembertag vor fünf oder sechs Jahren, war sie, als sie ohnehin in Frankfurt zu tun gehabt hatte, mit einem Leihwagen nach Idar-Oberstein gefahren. Tante Martha war inzwischen in eine Seniorenresidenz umgezogen. Doch da hatte ihre Demenz bereits eingesetzt. Von einer Minute zur nächsten hatte die alte Dame nicht mehr gewusst, wer Josie war. Sie hatte sich peinlich wiederholt. Oder war mitten im Satz plötzlich völlig weggetreten. Es hatte wehgetan, den Verfall der einst klugen, stattlichen Frau zu erleben.
Und danach hatte Josie sich wieder verschanzt hinter Arbeit und Ausreden. Nicht einmal an Tante Marthas Beerdigung hatte sie teilnehmen können, weil sie geschäftlich auf der Modemesse in Paris hatte sein müssen. Immerhin war ihre Mutter stellvertretend für die Wagners nach Idar-Oberstein gereist. Doch sie hatte sich nicht länger als nötig dort aufgehalten und war gleich nach der Trauerfeier wieder nach Hause zurückgefahren.
»Frau Wagner? Ist alles in Ordnung?«, fragte der Banker besorgt.
Josie kehrte aus ihren Erinnerungen zurück in die Gegenwart. »Wie bitte …? Nein … ja … Ich meine, mir dämmert jetzt langsam, wie das alles zusammenhängt.« Der jüngere Angestellte bot ihr ein Glas Wasser an, das sie gern annahm.
»Nur Sie besitzen eine Vollmacht«, erklärte der Ältere nun. »Sie allein haben damit das Recht, das Schließfach zu öffnen und es aufzulösen.«
Josie lächelte. »Sicher nur vorausgesetzt, ich zahle die Jahresmiete nach …«
Er lächelte zurück. »Darum würde ich bitten.«
»Auflösen bedeutet, dass der Inhalt mir gehört?«
»Richtig.« Dem Kundenbetreuer war natürlich nicht entgangen, dass Josie etwas durcheinander war, und er ließ ihr eine Augenblick Zeit. »Sind Sie bereit?«, fragte er dann.
Sie nickte. »Ja.«
Er ging voran. Während Josie ihm folgte, überlegte sie, was sich wohl in dem Schließfach verbergen mochte, aber in ihrem Kopf zog gerade eine Nebelfront auf. Vielleicht war ja gar nichts mehr darin. Obwohl … das ergäbe keinen Sinn. Denn um nichts aufzubewahren, benötigte man kein Schließfach. Der Banker gab neben einer Glastür einen Code ein, der Raum dahinter sah eigentlich eher unspektakulär aus. An den Wänden befanden sich weiß lackierte Schubladen in unterschiedlichen Größen mit Messingschildern, auf denen Nummern standen.
»Sie haben eines der mittelgroßen Fächer«, sagte der Mann.
Er ging zielstrebig auf ihre Nummer zu, öffnete das Schloss, ließ den Schlüssel stecken und zog sich dann diskret zurück. Josie stand nun allein da. Sie holte tief Luft. Was hast du dir nur dabei gedacht, Tante Martha?, dachte sie.
Vorsichtig zog sie das Schubfach heraus. Ein Briefumschlag, auf dem in steiler, altmodischer Schreibschrift »Für Josefine Wagner« geschrieben stand, lag oben auf einer flachen Schatulle. Darunter befand sich noch etwas Größeres, eingeschlagen in festes Leinen.
Josies Herz klopfte schneller, in ihren Ohren rauschte das Blut. Sie schluckte. Als Erstes griff sie nach der Schatulle aus bemaltem Pappmaschee und drückte auf den altertümlichen Schnappverschluss. Auf moosgrünem Samt ruhte ein wunderschönes Collier! Große violette Steine, kunstvoll oval geschliffen, golden eingefasst und miteinander verbunden! Daneben lagen Ohrgehänge aus passenden Edelsteinen in Hell- und Dunkellila mit jeweils einem tropfenförmigen grünen Stein.
»Wow!«, entfuhr es Josie. Ihre Hände zitterten, einen Moment lang bekam sie schwer Luft. Sie konnte sich nicht erinnern, jemals einen bezaubernderen Schmuck gesehen zu haben! Vor Aufregung fuhr sie sich mit einer Hand durchs Haar, stieß gegen die Sonnenbrille, die zu Boden fiel. »Wahnsinn!«, murmelte sie ungläubig, dann lauter: »Das ist ja Waaahnsinn!«
Josie hob die Sonnenbrille auf, warf sie achtlos in ihre Handtasche. Zögernd griff sie dann nach der schweren Kette, und es war, als würden die Steine in diesem Augenblick anfangen zu leben. Sie reflektierten das Licht, funkelten geheimnisvoll. Ab und zu schienen sie kleine rote Blitze auszusenden! Intuitiv hielt Josie sich das Collier an, dabei konnte sie sich nirgendwo in einem Spiegel betrachten. Sie spürte eine Art Energie von der Halskette ausgehen, die ihr fremd, aber nicht unangenehm war. Wie aufregend! Allerdings … fühlte es sich auch irgendwie unbefugt an.
Respektvoll legte Josie den Schmuck zurück in die Samtmulde der Schatulle. Einen Moment versuchte sie, sich zu besinnen. Doch da griff ihre Hand auch schon nach dem Briefumschlag. Sie war ja so neugierig! Was für eine Botschaft enthielt er wohl?
Das Kuvert war nicht zugeklebt. Josie zog eine schlichte Briefkarte heraus. Darauf standen nur wenige Zeilen, wieder in dieser strengen energischen Handschrift, die typisch für Tante Martha gewesen war.
Liebe Josefine,
dieses Collier ist für Dich bestimmt. Es ist Sophies Vermächtnis. Ich werde Dir ihre unglaubliche Geschichte erzählen, wenn Du etwas mehr Lebenserfahrung hast und reif genug bist, alles zu verstehen.
Es grüßt Dich ganz herzlich
Deine Tante Martha
Josies Augen wurden feucht. Ach, jetzt schämte sie sich noch mehr! Warum nur hatte sie Tante Marthas Einladungen nicht ernster genommen? Benommen drehte und wendete sie die Karte in der Hoffnung, mehr zu erfahren. Doch diese mageren Sätze waren alles, was die Großtante ihr geschrieben hatte. Sie hatte wohl fest damit gerechnet, dass ihnen noch genug Zeit für Gespräche bleiben würde.
Josies Blick fiel erneut auf das Schließfach. Sie betastete den leinenumhüllten Gegenstand. Er war flacher als die Schatulle, aber größer. Was mochte das sein? Vielleicht ein Buch? Nein, der Rand fühlte sich erhaben an. Ein Bilderrahmen! Vorsichtig wickelte sie ihn aus und erstarrte. Das Gesicht, das ihr von einem alten Ölgemälde entgegenblickte, erschien ihr seltsam vertraut. Es erinnerte sie an einen Großonkel, den sie als Kind noch erlebt hatte. Doch es zeigte eine Frau …
Josie steckte die Schmuckschatulle und den Brief in ihre Beuteltasche. Das Gemälde schob sie vorsichtig in einen baumwollenen Einkaufsbeutel. Sie kündigte das Schließfach und zahlte die noch ausstehende Gebühr, dann verließ sie die Bank. Sie brauchte jetzt dringend frische Luft.
Draußen herrschte unbeständiges Aprilwetter. Ein frischer Wind blies Josie um die Ohren. Fest umklammerte sie die beiden Taschen, als sie anschließend über den Jungfernstieg ging. An einen Shoppingbummel war nun nicht mehr zu denken. Viel zu viel Angst hätte sie gehabt, die unerwarteten Geschenke würden ihr gestohlen. In der City waren ständig professionelle Taschendiebe unterwegs – erst neulich hatten sie einer Bekannten den Rucksack aus dem Fahrradkorb gerissen. Dennoch erlaubte Josie sich, kurz bei einem bekannten Juwelier ins Schaufenster zu sehen. Ob er etwas anbot, das ihrem Collier ähnelte? Na, zumindest nicht auf den ersten Blick.
Klar, überlegte Josie dann, Schmuck wird ebenso wie Kleidung der Mode unterliegen. Das Alsterhaus stellt ja auch keine Kleider mit Reifröcken mehr aus. Sie hatte sich nie für echten Schmuck interessiert. Weil sie ihn sich ohnehin nicht leisten konnte. Sie hatte sogar immer die Juwelierauslagen gemieden, und selbst wenn Freundinnen sehnsüchtig seufzend davorstanden oder Männer beim Betrachten und Kommentieren teurer Armbanduhren ihre Kennerschaft demonstrierten, hatte Josie möglichst nicht genau hingesehen. Weshalb sollte sie sich Fachwissen über Dinge aneignen, die sie sich doch nie würde leisten können? Sie hatte schließlich schon genug unerfüllte Wünsche!
Ihr Sortiment an echtem Schmuck war recht überschaubar. In dem lederüberzogenen Kästchen, das sie zur Konfirmation bekommen hatte, lagen die goldene Uhr, die ihre Eltern ihr zum Studienabschluss geschenkt hatten, und die Perlenkette von Edgar zu ihrem Dreißigsten. Außerdem Perlenohrringe, ein paar Klimperarmringe aus Silber, von ihrer Großmutter mütterlicherseits eine filigrane ostfriesische Halskette aus Rotgold und eine altmodische Granatbrosche von Edgars Mutter. Hübsche Erinnerungsstücke, doch Josie trug lieber witzigen Modeschmuck.
Während sie die Juwelen im Schaufenster betrachtete, beschlich sie ein Gefühl, das sie seit Langem, eigentlich immer schon kannte. Sie hatte sich das nur nie bewusst gemacht. Das Gefühl sagte ihr: Es steht dir nicht zu. So teurer Schmuck ist für andere Frauen gemacht. Für Gattinnen von Unternehmern, für supererfolgreiche Porschefahrerinnen, für Filmstars – aber nicht für dich.
Wieder begannen ihre Beine zu zittern.
Josie ging in ein Café. Auf den Schock brauchte sie jetzt erst einmal einen starken Kaffee und ein Stück Cheese Cake als Nervennahrung. Immer wieder lugte sie verstohlen in die Schatulle. Sie traute sich nicht, den Schmuck herauszunehmen. Nein, den Bummel durch die Boutiquen am Neuen Wall würde sie heute ganz gewiss nicht mehr machen. Dafür war sie innerlich viel zu aufgewühlt. Während sie an ihrem Kaffee nippte und den Kuchen genoss, kam ihr in den Sinn, was für ein Jammer es war, dass sie Tania nicht anrufen und schnell mal mit ihr reden konnte. Edgar hatte um diese Zeit meist Termine bei Gericht. Ihre Mutter traf sich mittwochnachmittags mit ihren Kulturkreisfreundinnen in Oldenburg. Sie musste die Neuigkeit noch eine Weile für sich behalten. Josie zahlte. Statt die U-Bahn zu nehmen, würde sie sich an diesem Nachmittag ein Taxi nach Hause leisten.
Als Edgar am frühen Abend aus der Kanzlei kam, blieb Josie anders als sonst am Schreibtisch sitzen. Sie hatte sich inzwischen umgezogen, trug Jeans und ein dunkelblaues ausgeschnittenes T-Shirt, die Haare hatte sie zum Pferdeschwanz gebunden.
Sie war völlig vertieft in den Anblick des kleinen Ölgemäldes. Diese Augen! Sie schienen mehr olivgrün zu sein statt graugrün wie ihre und weniger schräg stehend. Was Josies Aufmerksamkeit fesselte, war der Ausdruck darin. Er hatte so etwas Mildes und Vertrauensvolles. Etwas ewig Gültiges. Und plötzlich wusste sie, was sie berührte. Diese Frau liebte! Gott, das klang so kitschig, aber genau das war es. Alles an ihr strahlte hoffnungsvolle Liebe aus. Josie stieß einen kleinen Seufzer aus.
Wenn man wollte, konnte man Parallelen entdecken, doch eigentlich entsprach die junge Frau auf dem Bild einem anderen, einem sanfteren Typ. Ihre Nase war klassischer, edler als Josies, der schön geschwungene Mund kleiner, das Haar, gescheitelt, geflochten und über den Ohren zu Schnecken gedreht, schimmerte heller als ihres. Goldene Lichter glänzten auf dem dunklen Blond. Kleine Löckchen kringelten sich an den Schläfen. Ob sie wohl auch Sommersprossen gehabt hatte? Der Künstler hatte keine gemalt, aber damals galten ja andere Schönheitsideale. Vielleicht hatte er sie auch weggelassen, um der Porträtierten, sie war vielleicht zwanzig Jahre alt, zu schmeicheln. Ihr Teint wirkte wie aus Porzellan, die Wangen übergoss ein apricotfarbener Hauch. Um ihren Hals schmiegte sich … das Collier mit den lilafarbenen Steinen, unter den geflochtenen Schnecken baumelten die Ohrgehänge. Aber wie merkwürdig … Auf dem Gemälde hingen daran keine grünen Steine! Offenbar waren sie nachträglich ausgetauscht worden. Oder hatte der Maler keine grüne Farbe mehr gehabt?
Die Kleidung der jungen Frau wirkte schlicht. Sie trug eine weiße Bluse mit rundem Ausschnitt und bauschigen Ärmeln, darüber ein eng geschnürtes schwarzes Mieder. Unten rechts auf dem Bild stand neben einer Signatur, die Josie nicht entziffern konnte, eine Jahreszahl. 1833.
Ob das die Sophie war, von der Tante Martha in ihrem Brief geschrieben hatte? Wahrscheinlich. Verrückt! Dass ihr eine Fremde so nahekam, das hatte Josie noch nie erlebt.
Edgar betrat mit einem Glas Rotwein das Wohnzimmer, er legte Josie seine Hand auf die Schulter und küsste sie auf die Schläfe.
»Wer ist das?«, fragte er nach einem flüchtigen Blick auf das Gemälde. »Sieht aus wie ein Jugendbildnis von dir, nur aus einer anderen Epoche. Wer hat es gemalt?« Mit einem wohligen Seufzer ließ er sich aufs Sofa sinken.
»Ich weiß nicht, von wem es stammt«, erklärte Josie. »Ich weiß nur, dass diese Frau eine meiner Vorfahrinnen aus Idar-Oberstein ist. Genauer gesagt, ich vermute es.«
Sie erzählte Edgar, was sie in der Bank erlebt hatte. Und auch, dass sie inzwischen im Internet recherchiert hatte. »Meine Verwandten, die Wahrings, betreiben nicht nur eine Achatschleiferei, wie ich immer dachte, sie schleifen auch Edelsteine für angesehene Juweliere.« Auf einmal fand Josie Familiengeschichte sehr spannend. »Als Gründerin des traditionsreichen Unternehmens wird auf der Homepage eine Sophie Kreuzer genannt. Die Gründung ist auf das Jahr 1838 datiert.«
Josie schaltete den Computer wieder ein. »Hier, guck mal! Dieses Foto von ihr wurde gemacht, als sie schon alt war. Aber wenn man sie sich jünger vorstellt … Findest du nicht auch, das könnte gut die Frau auf diesem Ölgemälde sein?«
Edgar stand wieder auf, um zu schauen. Er kratzte sich am Hals. »Ja, das käme hin. Hier hat sie noch so einen jugendlichen Schmelz …« Zärtlich strich er über Josies Wange, legte dann den Kopf schief. »Sie wirkt verträumt und ernsthaft zugleich«, sagte er. »Irgendwie rührend. Erinnert mich etwas an diese Schauspielerin in dem Film Schlaflos in Seattle. Wie heißt die noch?«
Josie nickte. »Ja, ich komm grad nicht auf den Namen, aber ich weiß, wen du meinst.«
Dann studierte er das zerfurchte Gesicht der alten Frau, die würdevoll in die Kamera blickte. »Sie muss ’ne Menge mitgemacht haben in ihrem Leben.«
Josie schmiegte ihre Wange an Edgars Hand und küsste sie gedankenverloren. »Ja, was wohl?« Sie sprang auf. »So, und jetzt muss ich dir unbedingt zeigen, was außerdem noch in dem Schließfach lag!« Barfuß lief sie ins Schlafzimmer. Als sie vor dem großen Spiegel das Collier anlegte, das kühl ihre Haut berührte, überlief sie wieder wie vorhin bei ihrer ersten Anprobe ein Schauer – vom Kopf bis in die Zehenspitzen. Josie atmete tief durch und nahm Haltung an. Stolz erhobenen Hauptes betrat sie dann wie eine Königin das Wohnzimmer. »Tädää!«
Edgar, der es sich erneut auf dem Sofa bequem gemacht hatte, schnalzte mit der Zunge. »Uiih! Ist das echt?«, fragte er. Langsam schritt Josie näher. »Auf jeden Fall antik«, sagte er beeindruckt.
Sie setzte sich rittlings auf seinen Schoß. So konnte er das Schmuckstück aus nächster Nähe betrachten. Ehrfürchtig ließ Edgar einen Finger über die Steine und die verschnörkelten Goldfassungen gleiten.
»Es gibt auch noch passende Ohrgehänge, aber ich hab ja keine Löcher, um sie einzustecken.«
»Was mögen das für Juwelen sein?«, fragte er.
Vor Aufregung wippte Josie auf ihm wie auf einem Reitpferd. »Ich vermute … Also, ich hab vorhin gegoogelt … Rubine sind es nicht, die sind ja rot, Saphire sind blau … Also, lilafarbene Steine sind meist Amethyste, und die sind nicht sooo kostbar, jedenfalls im Vergleich dazu.«
»Sehen trotzdem ziemlich bedeutend aus«, fand Edgar. »Vielleicht wegen der Machart. Man müsste mal einen Experten fragen, was das Collier wert ist.«
»Klar, kann man machen«, erwiderte Josie. »Aber eigentlich interessiert mich diese Sophie ja viel mehr … Welche Bedeutung mag dieser Schmuck für sie gehabt haben?«
Josie griff sich an ihren Ausschnitt. Das Collier lag schwer, aber angenehm auf ihrer Haut. Es hatte ihre Körperwärme angenommen und strahlte sie zurück. Erst jetzt realisierte sie richtig, was ihr heute widerfahren war. Eine Woge der Freude überrollte Josie. Was für eine Überraschung!
»Ist das nicht toll?«, rief sie aus und umschlang Edgars Nacken.
Er gab ihr einen herzhaften Schmatzer. »Du bist ja jetzt eine gute Partie, Josie!«, grinste er. »Vielleicht sollten wir doch heiraten!«
Sie streckte ihm die Zunge heraus.
Auf einmal sah Edgar sie mit einem anderen Blick an. »Das ist wirklich unglaublich!«, sagte er, plötzlich kurzatmig.
»Was?«, fragte Josie irritiert. Hatte er den Antrag gerade ernst gemeint? Und wenn ja … Will ich eigentlich, dass er es ernst meint?
»Deine Augen wirken heute unglaublich grün …«, sagte Edgar mit rauer Stimme. »So grün, wie ich sie noch nie gesehen hab.«
»Sexy?«, fragte sie neckisch mit herausfordernd gesenkter Stimme.
»Seehr!« Er umarmte und küsste sie stürmischer, als es sonst seine Art war. Dann sah er sie erneut verzückt an. »Du hast jetzt auch wieder diesen süßen Silberblick …«
»Auf den könnte ich ja gut verzichten«, sagte Josie und verzog das Gesicht.
Schnell küsste er sie noch auf die Nasenspitze. »Bloß nicht!«
Zufrieden lächelnd richtete Josie sich auf. Doch dann kam ihr ein Gedanke. »Meinst du, das liegt an der Kette? An den Steinen?« Sie öffnete den Verschluss im Nacken und ließ das Geschmeide vorsichtig mit einem klackernden Geräusch auf den Couchtisch gleiten. »Immer noch?« Sie sah ihn mit großen Augen an.
»Hm …« Edgar schürzte abwägend die Lippen und kam wie ein Kurzsichtiger näher. »Also, der leichte Silberblick ist noch da …« Doch das bewundernde Leuchten in seinen Augen, so jedenfalls erschien es Josie, war schwächer geworden. »Bin wirklich gespannt, was das Teil bringt«, sagte Edgar. Ein Gedanke ließ seine Augen aufleuchten. »Eine kleine Finanzspritze! Das ist ja ein Geschenk des Himmels!«
Josie rutschte von seinem Schoß und setzte sich neben ihn. »Ich glaube, es liegt einfach daran, dass Lila die Komplementärfarbe von Grün ist«, erklärte sie ernüchtert. »Solche Farben intensivieren sich gegenseitig.« Als Modedesignerin kannte sie sich selbstverständlich mit der Farbenlehre aus. Wenn sie violetten Lidschatten benutzte, wirkte ihre Augenfarbe ja auch zwangsläufig grüner. Mit verschränkten Armen lehnte Josie sich zurück. »Warum wollte Tante Martha, dass ich es erbe?«, überlegte sie laut. »Vielleicht sollte ich mal die Verwandten in Idar-Oberstein fragen … Aber … Ich kann auch schlecht anrufen nach so langer Zeit und sagen: Ach, übrigens, ich hab da gerade ein tolles Collier von eurer verstorbenen Mutter geerbt …« Sie grübelte. »Vielleicht sollte ich hinfahren. Ich könnte ihnen den Schmuck und das Gemälde zeigen. Dann werden sie mir schon sagen, was sie darüber wissen. Was meinst du?«
Edgar antwortete nicht sofort. »Davon würde ich abraten«, sagte er schließlich, wieder ganz der Jurist.
»Wieso das?«, fragte Josie erstaunt.
»Tja, wenn die Erben deiner Großtante davon erfahren, könnten sie das Vermächtnis anfechten«, warnte er.
Josie zog die Augenbrauen zusammen. »Aber ich hab’s doch schwarz auf weiß. Es ist eindeutig. Tante Martha wollte, dass ich das Collier bekomme.«
Edgar schüttelte den Kopf. »Na, sei mal lieber vorsichtig! Durch dieses Collier, vielleicht auch durch das Gemälde, könnte sich der prozentuale Anteil der rechtlichen Erbmasse deutlich verändern«, erklärte er.
»Ich verstehe nur Bahnhof«, erwiderte Josie unwillig.
»Angenommen, deine Tante hatte vier Kinder …«
»Hatte sie nicht, nur zwei Jungen«, warf Josie ein.
»Ist doch egal, es geht ums Prinzip«, verwarf Edgar ihren Einwand. Er ließ sich ungern aus einem Gedankengang reißen. »Angenommen, jedes der beiden Kinder erhielte fünfzig Prozent der rechtlichen Erbmasse, dann ergäbe das einen anderen Betrag, wenn man den Wert des Colliers berücksichtigen würde. Da lohnt es sich schon für die Miterben anzufechten, dass du den Schmuck bekommst. Verstehst du?« Nachdenklich nickte Josie. Diese Aussicht dämpfte ihre Freude. »Warum also schlafende Hunde wecken?«, setzte Edgar hinzu.
»Hm«, sagte sie. »Darüber muss ich erst mal in Ruhe nachdenken.«
Josie telefonierte mit ihrer Mutter in Oldenburg. Sie verschwieg ihr das Erbstück vorsichtshalber, versuchte aber, auf unverfängliche Weise mehr über »die Obersteiner« in Erfahrung zu bringen. Doch ihre Mutter war wirklich nie richtig warm geworden mit diesem Zweig der Familie, sie wusste wenig, und ihren Vater konnte Josie leider nicht mehr fragen. Er war schon zwölf Jahre zuvor mit dreiundsechzig völlig überraschend an einem Herzinfarkt gestorben. So kam Josie in den nächsten Tagen mit ihren Nachforschungen nicht viel weiter.
Edgar vertrat die Ansicht, sie solle den Schmuck schnell verkaufen. »Dann hätten wir eine solidere Basis für die Immobilienfinanzierung«, argumentierte er. »Je mehr Eigenkapital wir einbringen können, desto besser.«
Josie hatte völlig vergessen, die Besichtigungstermine mit dem Makler zu vereinbaren, und Edgar war deshalb vergrätzt. Um ihn versöhnlich zu stimmen und weil es sie selbst interessierte, vereinbarte sie einen Termin bei einem renommierten Juwelier, der Gutachten erstellte. Der Schmuckexperte bestätigte ihre Annahme, dass es sich bei den Steinen um Amethyste handelte, und erklärte, dass diese eigentlich nicht so kostbar wie viele andere Farbedelsteine seien.
»Die Exemplare hier sind allerdings ausgesprochen schön, groß und rein«, erklärte er. »Ihre Farbe ist besonders intensiv. Die roten Feuer, die manchmal daraus blitzen, deuten darauf hin, dass sie aus Südamerika stammen, vermutlich aus Uruguay oder einer Grenzregion Uruguays.«
»Wie viel ist das Collier denn ungefähr wert?«, wollte Josie wissen.
»Das ist schwer zu sagen in diesem Fall, wissen Sie. Es könnte aus der Zeit um 1830 stammen, darauf deuten die filigranen Goldverzierungen der Steinfassungen hin. Das entspricht dem Stil und Geschmack einer Epoche, die in England als Georgian bezeichnet wird. Bei uns würde man sagen, es liegt stilistisch zwischen Romantik, Empire und Biedermeier.« Der Experte erwähnte noch, es erhöhe den Wert, dass ein passendes Paar Ohrringe vorhanden sei. »Leider waren Amethyste damals um ein Vielfaches kostbarer als heute, selbst die kleinen hellen Kristalle waren früher mehr wert. Mit den großen Amethystlieferungen, die im 19. Jahrhundert aus Südamerika nach Europa kamen, sank der Preis für diese Edelsteine im Verhältnis zu anderen enorm.«
»Ist der Amethyst denn ein Edelstein oder nur ein …«, Josie erinnerte sich dunkel an den abwertend klingenden Begriff, »… nur ein Halbedelstein?«
»Halbedelstein sagt man heute nicht mehr«, belehrte sie der Experte. »Wir sprechen von Farbedelsteinen. Unter Amethysten gibt es nur wenige von solcher Qualität, dass es sich lohnen würde, sie für kostbare Schmuckstücke zu schleifen. Das meiste ist einfach Massenware.« Sein Blick hing mit echter Bewunderung an Josies Collier. »Alle Päpste trugen und tragen bis heute übrigens einen Amethystring!«, schob er ein.«
»Also, wie viel ist das Collier wert?«, hakte Josie nach. Sie hatte so gar keine Vorstellung, was man dafür verlangen könnte.
»Wirklich schwierig«, wand sich der Schätzer. »Die Steine allein … vielleicht fünfzehntausend. Aber es ist natürlich ein Liebhaberstück mit historischem Wert. Wenn jemand genau so etwas gesucht hat, und er entdeckt es bei einer Versteigerung, dann könnte es auch dreißig bis vierzigtausend Euro bringen … oder mehr …«
»Aha …« Josie ließ sich ihre Freude nicht anmerken.
»Erwägen Sie den Verkauf?«, fragte der Mann gespannt. Er hatte offenbar Interesse.
Josie schüttelte nachdenklich den Kopf. »Ach nein, eher nicht. Jedenfalls im Moment nicht.«
Der Mann räusperte sich. »Und die grünen Steine, ich weiß nicht, ob Ihnen das klar ist, sind Smaragde von hervorragender Qualität …«
»Aber sie haben doch so kleine Einschlüsse«, sagte Josie ungläubig. »Das sehe ja sogar ich als Laie, dass die nicht vollkommen rein sind. Das senkt den Wert doch sicher ziemlich …«
»Tja, beim Smaragd nennt man diese Einschlüsse Jardins, Gärten, und sie gelten gerade als Beweis für seine Echtheit und Güte.«
»Ach.« Mehr fiel Josie nicht ein.
»Dieser hat sogar einen feinen Riss. Aber das macht nichts.« Der Experte lächelte milde. »Die beiden Smaragde dürften pro Stück locker so viel bringen wie das Collier.«
»Oh … Vielen Dank …«
Josie verabschiedete sich höflich. Erst auf dem Bürgersteig vor dem Geschäft machte sie einen Hüpfer vor Freude.
Nach der ersten Euphorie überlegte Josie hin und her, ob sie Edgars Rat folgen sollte. Sie rechnete. Auf hunderttausend Euro könnte sie also kommen. Wahnsinn! So viel Geld! Wie hoch mochte das Risiko sein, dass die Obersteiner anfochten, was Tante Martha ihr vermacht hatte? Sie brauchte die Verwandten aber, denn sie würde das Rätsel um Sophie und ihren Schmuck kaum lösen können, wenn sie nicht tiefer in die Familiengeschichte eintauchte. Andererseits konnte man für so viel Geld verschmerzen, eine Geschichte nicht zu kennen, die einen vorher auch nicht interessiert hatte, oder? Vielleicht existierte ja nicht einmal eine Geschichte.
Oder?
»So langsam könntest du dich mal wieder beruhigen«, murrte Edgar, als Josie eine Woche nach der Schließfachauflösung am Abend wieder einmal das kleine Ölbild anstarrte, statt mit ihm gemeinsam Schach zu spielen oder etwas zu kochen.
»Lass mich doch«, sagte sie nur.
Es war merkwürdig. Josie registrierte, dass etwas mit ihr geschah. Sie konnte es allerdings kaum in Worte fassen. Edgar würde sie nicht verstehen, deshalb versuchte sie gar nicht erst, es ihm zu beschreiben.
Sophies Porträt versetzte sie in eine sirrende unterschwellige Aufregung. Josie spürte, sie war einer spannenden Entdeckung auf der Spur! Und doch schwang ein »Zu spät« in diese leise brausende Empfindung hinein. Es war zu spät, die Vorfahrin noch kennenzulernen. Sie würde sie nie hören, berühren, sich mit ihr unterhalten oder sie verstehen können. Was sollte also die Aufregung, woher kam dieses sehnsüchtige Ziehen in ihrer Brust? Josie versuchte, das irritierende Gefühl klein zu halten. Ihr plötzlich erwachtes Interesse an der Familiengeschichte war nur eine Spielerei, etwas Interessantes, das am Rande ihres Lebens geschah. Mehr sollte es nicht sein dürfen. Wozu denn auch? Wem nützte es, in die Vergangenheit abzutauchen?
Edgar brachte ihr ein Glas Wein und sah sie bittend an. Josie seufzte tief. Sie legte das Gemälde in den Wohnzimmerschrank und setzte sich zu ihm. Doch als sie am kommenden Morgen erwachte, stand als Erstes wieder das Sophies Bild vor ihrem geistigen Auge. Und dazu fiel ihr ein altmodischer Begriff ein. Sophie strahlte etwas Liebreizendes aus. Ihr Gesicht, die weichen Züge, das sanft gerundete Kinn, die jugendliche Anmut – ja, die hatte sie selbst auch einmal gehabt. Sie war im Laufe der Erwachsenenjahre geschwunden.
Josie öffnete den Schrank. Nachdenklich betrachtete sie erneut das kleine Gemälde. So jung und zuversichtlich sah diese Sophie aus! So fest im Glauben, dass ihr ein gutes Leben bevorstünde und sie es schon meistern würde. Josie merkte, wie sich ihre Augen mit Tränen füllten, im Hals spürte sie einen Kloß. Geradezu zärtlich betrachtete sie das Bild, das nun vor ihren Augen zu verschwimmen begann.
Verbindet uns ein geheimes Band? Oder bin ich nur rührselig? Ist das nicht furchtbar kitschig? Aber es berührt mich. Bin ich ihr zu irgendetwas verpflichtet? Kann ich, muss ich, sollte ich noch etwas für sie tun?
Das alles verwirrte sie. Josie sah auf die Uhr. So spät schon! Zeit für die Arbeit, sie musste sich beeilen, wenn sie noch pünktlich im Atelier sein wollte. Entschieden wischte sie sich die Tränen von den Wangen.
Tania war aus dem Urlaub zurück. Die Freundin und Kollegin begrüßte Josie gut gelaunt, braun gebrannt, ein wenig molliger als zuvor und mit einem schicken neuen Kurzhaarschnitt. In der Mittagspause schwärmte sie von der Natur und von ihrer Eroberung auf Gibraltar. Ein attraktiver Engländer hatte sie öfter zu Ausflügen auf seiner Jacht mitgenommen.
»Und was gab’s hier Aufregendes?«, schloss Tania beim Nachtisch den Bericht über ihre Abenteuer, wohl ohne ernsthaft eine Antwort zu erwarten. »Hat Edgar dir endlich einen Heiratsantrag gemacht?«
Josie verdrehte die Augen. »Du weißt doch, dass er ein gebranntes Kind ist. Er sagt, noch eine Scheidung übersteht er nicht.«
»Oh, das ist hart.« Tanja seufzte. »Meint er eigentlich seelisch oder finanziell?«, fragte sie dann mit ironischem Lächeln.
»Vermutlich beides.«
Josie zuckte mit den Achseln. Sie verstand Edgar ja auch. Der Unterhalt für seine Exfrau und seine beiden Söhne schmerzte ihn jeden Monat. Sie auch, wenn sie ehrlich war. Aber das gehörte nun mal zum Schicksal von Zweitfrauen. Wegen der Alimente mussten Edgar und sie deutlich bescheidener leben. Wie viel großzügiger könnte ihr Lebensstil ohne diese Verpflichtungen sein!
Edgar wollte auch keine Kinder mehr. Josie hatte das irgendwann schweren Herzens akzeptiert. Doch sie wünschte sich schon manchmal, dass er ihr trotzdem einen Antrag machte. Es ging doch um mehr als Steuerklassen und Steuerersparnis. Es ging um Emotionen, um das Zusammengehörigkeitsgefühl, darum, es der ganzen Welt mitzuteilen … Sie wollte endlich angekommen sein. Und, na ja, sie war inzwischen achtunddreißig. Was sollte da in Sachen Liebe noch großartig passieren?
Seit dem Tod ihres Vaters verspürte Josie zudem ein verstärktes Sicherheitsbedürfnis. Es war der Schock ihres Lebens gewesen, so aus heiterem Himmel einen geliebten Menschen zu verlieren. Während sie vorher von Ferne und Abenteuern geträumt hatte, sogar einmal auch ein halbes Jahr mit dem Rucksack durch Australien gezogen war, suchte sie, seit sie eine Halbwaise war, Sicherheit, wo immer es ging. Vielleicht hatte sie sich nur deshalb in Edgar verliebt, weil er so unglaublich solide und verlässlich wirkte.
Tania durchbrach das Schweigen. »Also alles beim Alten«, sagte sie dann, zwar mit einem Seufzer, aber es klang doch irgendwie befriedigt. »Ich sag’s ja, hier passiert nie was Aufregendes.«
Nun platzte es aus Josie heraus. In wenigen Sätzen erzählte sie von Tante Marthas Vermächtnis. »Ich bin so froh, dass ich endlich mit jemand anders als mit Edgar darüber sprechen kann«, gestand sie der Freundin, die sie ungläubig anstarrte.
»Das ist ja eine irre Geschichte!«, sagte Tania und strubbelte sich durch die kurzen dunkelbraunen Haare. »Oh … Ich möchte auch überraschend Schmuck erben! Wieso passiert mir so was nicht?«
»Sei nicht undankbar!« Josie grinste. »Du hast gerade einen Urlaubsflirt hinter dir mit Jachttrips zwischen Europa und Afrika.«
Tania blinzelte verschmitzt. »Du hast recht. Und jetzt? Was willst du tun?«
»Tja«, seufzte Josie. »Was würdest du denn an meiner Stelle tun? Ich will natürlich nicht riskieren, dass ich das Collier wieder abgeben muss …«
Tania überlegte nur kurz. »Hinfahren und mit den Leuten reden. Du brauchst ihnen ja nicht von dem Schließfach zu erzählen. Du könntest doch einfach mal so zu Besuch kommen.«
Josie machte sich also auf nach Idar-Oberstein. Während der siebenstündigen Fahrt von Hamburg in den Hunsrück hatte sie viel Zeit nachzudenken. Tante Marthas ältester Sohn Reinhard Wahring hatte schon am Telefon überaus liebenswürdig reagiert, als sie ihren Besuch ankündigte, und nun nahmen er und seine Familie sie herzlich auf.
Reinhard, der Josie das »Onkel« in der Anrede gleich scherzhaft verbot, war ein selbstbewusster, bodenständiger Mann Ende fünfzig, jovial und mit gemütlichem Bauch. Er leitete das Unternehmen schon seit vielen Jahren, sein Bruder Thomas hatte sich mit der Herstellung von Schleifmaschinen selbstständig gemacht. Als Reinhards Frau Gisela erfuhr, dass Josie eine Woche im Hotel übernachten wollte, um die Heimat ihrer Vorfahren näher kennenzulernen, protestierte sie.
»Das kommt ja überhaupt nicht infrage! Du wohnst selbstverständlich bei uns!«
Die Wahrings hatten ein Gästeapartment mit eigenem Eingang in ihrem großen, weiß gestrichenen Haus. Es war etwas spießig, aber wohnlich und sehr solide eingerichtet wie das gesamte Haus, das jede Protzerei nach außen peinlichst vermied. Beim Interieur stieß man allerdings nur auf beste Qualität – Möbel aus Massivholz, Polster mit Springfedern, teuer und nach Josis Empfinden ein bisschen geschmacklos bezogen. Anfangs hatte sie sich gewundert, dass Reinhards Familie so eine komfortable Gästeunterkunft besaß, doch schon nach kurzer Zeit verstand sie, weshalb. Es war ein ständiges Kommen und Gehen bei den Wahrings.
Das in den Sechzigerjahren erbaute und in den Achtzigern modernisierte Wohnhaus mit Swimmingpool lag hinter der Werkstatt. Dort arbeiteten nicht nur zwei Dutzend einheimische Schleifer und Polierer, oft schon seit ihrer Lehrzeit und auch bereits in zweiter oder dritter Generation, es klingelten auch ständig Besucher aus aller Welt an der Tür. Darunter Händler aus Afrika, Asien oder Südamerika, die mit Rohedelsteinen nach Idar-Oberstein reisten und sie dort eben auch dem Hause Wahring zum Kauf anboten. Manchmal sah man sehr elegante Menschen, Männer, die Josie eher in der Pariser Designerszene vermutet hätte, oder schicke Frauen, die aus internationalen Metropolen kamen. Irgendwie schien das alles nicht zusammenzupassen.
»Interessiert es dich, was wir hier machen? Magst du mal mit in mein Büro kommen?«, fragte Reinhard sie am nächsten Tag beim Frühstück. Josie nickte. »Dann komm doch heute Nachmittag so gegen halb drei rüber.«
Josie vertrieb sich den Vormittag mit einem Spaziergang durch das Städtchen, ortete schon mal seine Sehenswürdigkeiten, das Edelsteinmuseum, die Felsenkirche und eine alte Schleifmühle. Vielleicht würde sie in den nächsten Tagen noch Zeit finden, sie in Ruhe zu besichtigen. Sie bummelte durch die Fußgängerzone, wo massenweise billiger Schmuck in Souvenirläden unter die Touristen gebracht wurde. Der Fluss namens Nahe, der durch Oberstein floss, war von einer breiten Schnellstraße überbaut worden. Wie viel charmanter musste Idar-Oberstein vorher ausgesehen haben! Aber offenbar hatten die Stadtväter keine andere Möglichkeit gesehen, den modernen Straßenverkehr durch die Stadt zu lenken, die in einer Enge zwischen steilen Felsenhängen und eben am Ufer der Nahe lag.
Mittags besuchte Josie ein Industriemuseum, in dem man einst Art-déco-Schmuck hergestellt hatte. Ihr kamen gleich Ideen für neue Kleider, und so setzte sie sich am Marktplatz von Oberstein in ein Straßencafé und machte sich Notizen für ihre nächsten Modeentwürfe. Das Plätschern eines Brunnens mischte sich angenehm in die Geräuschkulisse. Als sie fertig war, beobachtete sie die Leute ringsum. Josie zeichnete unterwegs gern mal interessante Gesichter, dafür hatte sie immer einen Skizzenblock dabei. Das war ein wenig, wie Postkarten zur Erinnerung an eine Situation oder Atmosphäre an sich selbst zu schicken.
In einem Prospekt las sie, dass ungefähr jeder zehnte Einwohner beruflich irgendetwas mit Edelsteinen zu tun hatte und dass die Stadt sich rühmte, neben Rio de Janeiro das Weltzentrum für Edelsteinhandel und -schleiferei zu sein. Sicher hatte da irgendein Marketing- oder PR-Mensch ganz gewaltig übertrieben. Das kannte man ja – je tiefer die Provinz, desto größer der Superlativ! Und mit welchem Eifer die Einheimischen immer noch zwischen Idar und Oberstein unterschieden! Josie hatte schon gemerkt, dass ihre Verwandten Wert darauf legten, in Idar zu leben, und dass ihnen die in Josies Familie übliche Benennung als »die Obersteiner« nicht gefallen würde.
Sie schaute sich wieder die Passanten an. Unter all den typischen Touristengruppen fiel ein einzelner Mann auf. Er überquerte den Platz mit zügigen, federnden Schritten, dann blieb er am Brunnen stehen, holte sein Handy aus der Jackentasche und gab knappe Anweisungen. Josie stutzte. Meine Güte, sah der gut aus! Groß, gute Figur, um die vierzig, schwarze Haare, gebräunt, irgendwie weltläufig, lässig mit südländischem Einschlag, aber vielleicht täuschte das auch. Den konnte sie sich als Begleiter von Columbus bei der Entdeckung Amerikas ebenso gut vorstellen wie als Meistertenor auf einer großen Bühne. Die markante Nase saß etwas schief im Gesicht. Dichte schwarze Brauen, hohe breite Stirn. Sein grauer Anzug saß perfekt, das blütenweiße Hemd war am Kragen geöffnet. Und obwohl der Mann glatt rasiert war, erahnte man einen starken Bartwuchs. Hui! So hatte sie sich als Teenager einen Traummann vorgestellt. So einen hatte sie hier nun gerade gar nicht erwartet.
Josie wurde bewusst, dass sie den Mann schon länger anstarrte, und sie zwang sich, woandershin zu schauen. Als sie wieder hochblickte, war er verschwunden. Ach, wie schade.
Sie seufzte innerlich. Gedankenverloren skizzierte sie sein Porträt. Dann telefonierte sie kurz mit Edgar, der nicht hatte mitkommen wollen und können, weil diese Woche wichtige Gerichtstermine anstanden. Sie versicherten sich gegenseitig, dass alles in Ordnung war.
Pünktlich kurz vor halb drei parkte Josie ihren Golf auf dem Hof der Firma Wahring. Sie nahm ihren Skizzenblock mit, vielleicht würde sie ja auch die kleine Betriebsbesichtigung mit Reinhard inspirieren. An der Drehtür zum Empfang stieß sie mit einem Mann zusammen, der gerade herauskam. Der Notizblock rutschte ihr aus der Hand, fiel zu Boden. Sie beugten sich gleichzeitig hinunter, stießen sich die Köpfe. Wie peinlich, dachte Josie und wurde knallrot. Denn gleichzeitig mit ihr ging soeben der gut aussehende Mann vom Marktplatz in die Knie.
»Entschuldigung«, sagte sie hastig und schnupperte unauffällig.
Mmh, wie gut er duftete. Es war eine Mischung aus Sandelholz und Zeder mit Moos oder Farn und einer frischen Meeresbrise.
»Desculpe!«, erwiderte der Mann mit einem höflichen, aber unverbindlichen Lächeln, das urplötzlich erstarb.
Josie folgte seinem Blick. Ihr Notizblock hatte sich ausgerechnet auf der Seite aufgeschlagen, auf der sie seine Gesichtszüge skizziert hatte. Seine kräftigen Augenbrauen schoben sich fragend zusammen. O Gott, peinlicher ging es ja wohl nicht! Josie sagte nichts. Sie griff nur rasch nach ihrem Block und klappte ihn zu. Dann erhob sie sich mit Schwung – und stieß noch einmal gegen seinen Kopf.
Er unterdrückte einen Schmerzensruf. Während er sich an die Stirn griff, sah er sie unfreundlich an.
»Tut … tut mir wirklich leid!«, stammelte Josie und verschwand schnell in der Drehtür.
Auch ihr Schädel brummte von dem Zusammenstoß. Hoffentlich war der Mann kein wichtiger Kunde ihres Onkels!
Die Empfangsdame brachte Josie zu Reinhard ins Chefzimmer. Er bot ihr einen Platz vor seinem Schreibtisch an. Josie rieb sich noch mal die Stelle, an der ihr sicher, zum Glück unter den Haaren, eine Beule wachsen würde.
»Ich habe gerade einen Herrn angerempelt«, gestand sie. »Aus Versehen natürlich. Ich hoffe, das bedeutet nicht das Ende eurer Geschäftsbeziehungen.«
Reinhard lachte. »Das wird wohl Rico da Silva gewesen sein. Mach dir keine Sorgen. Er ist Deutschbrasilianer, ein harter Brocken. Der kann was ab. Und unsere Familien arbeiten schon seit einer Ewigkeit zusammen.«
»Da bin ich ja erleichtert.«
Reinhard öffnete einen Tresor, der hinter seinem Schreibtisch in die Wand eingebaut war. Er entnahm ihm eines von vielen kleinen Päckchen, die alle aus einem schlichten weißen Blatt Papier zusammengefaltet waren und sich etwas wölbten. Geübt öffnete er es und legte es vor Josie auf den Schreibtisch – auf dem weißen Untergrund rieselten hell türkisblau leuchtende Edelsteine auseinander.
»Neue Paraíba-Funde aus Mosambik«, sagte er. »Der Händler überlässt uns die Partie einen Tag lang zur Prüfung. Das ist so üblich. Innerhalb von vierundzwanzig Stunden müssen wir uns entscheiden.«
»Mosambik liegt doch in Afrika, wenn ich mich nicht irre«, bemerkte Josie. »Warum bietet ein Händler aus Brasilien dir diese Steine an?«
»Die hat nicht Rico da Silva gebracht. Heute Vormittag waren afrikanische Händler hier.«
»Lassen die wirklich einfach so ihre Steine hier? Wie können sie sicher sein, dass sie genau die zurückbekommen?« Vorsichtig berührte Josie mit den Fingerspitzen die Kostbarkeiten. »Ich meine … Also, ich könnte die nicht von weniger schönen oder Fälschungen unterscheiden …«
»Wir wiegen sie«, erwiderte Reinhard trocken. »Vorher und nachher.« Josie wusste nicht recht, ob er scherzte. »Doch, doch«, bekräftigte ihr Onkel. »Vertrauen gegen Vertrauen.«
»Aber ihr könntet doch einfach mal etwas Echtes gegen einen künstlichen Stein austauschen.«
»Tun wir nicht. Das würde unseren Ruf ruinieren.« Mit festem Blick sah er sie an.
Josie hatte keine Ahnung, was Paraíbas waren, aber sie sahen überirdisch schön aus. So etwas kam in der Natur vor? Sie wagte nicht, nach dem Preis zu fragen.
»Eine halbe Million Euro für so eine Partie ist nix«, fuhr Reinhard auch schon fort. »Man muss kaufen, wenn das Angebot da ist. Manchmal kommt man jahre- oder jahrzehntelang nicht mehr an bestimmte Edelsteine.«
»Wieso das?«, fragte Josie. Sie versuchte, sich wegen der gerade genannten Summe ganz unbeeindruckt zu geben.
ENDE DER LESEPROBE