Die Inselgärtnerin - Sylvia Lott - E-Book

Die Inselgärtnerin E-Book

Sylvia Lott

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Beschreibung

Wenn das Meer glitzert und es nach Sommer riecht, ist es Zeit, sich zu verlieben ...

Sonja ist kaum über die Trennung von ihrem Mann hinweg, als sie auch noch ihren Job verliert. So hält die Gartenarchitektin nichts in der Heimat, als sie überraschend ein Strandhaus in Florida erbt. Dolphin Island ist zauberhaft: pastellfarbene Häuschen und türkisblaues Meer. Bald findet Sonja nicht nur eine neue Aufgabe – sie möchte so schöne wie umweltfreundliche Dünengärten anlegen –, sondern trifft mit Nick Winslow auch einen Mann, der sie tatsächlich zum Bleiben bewegen könnte. Doch irgendjemand will verhindern, dass Sonja Erfolg hat und auf Dolphin Island heimisch wird. Zum Glück gibt es Lebenskünstler Sam, der ihr immer wieder aus der Patsche hilft ...

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Seitenzahl: 575

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Das Buch

Die Gartenarchitektin Sonja befindet sich an einem persönlichen Tiefpunkt, als sie nach Florida reist, um das von ihrer Tante geerbte Häuschen zu verkaufen. Das Licht und die Farben von Dolphin Island tun ihr gut. Sie findet Freunde, probt mit ihnen im Kulturzentrum für einen bunten Abend Motown-Hits der Sechziger – und fasst einen Plan: Sie möchte bleiben und auf der Insel Dünengärten anlegen. Nick Winslow, ein attraktiver Manager, erteilt ihr den ersten Auftrag. Und Sam, ein Philosoph in der Krise, hilft ihr bei den Arbeiten. Im Gegenzug coacht sie ihn mit ihrer neuen Freundin Stormy für den Hemingway-Lookalike-Contest.

Endlich groovt das Leben wieder für Sonja. Nach und nach erfährt sie auch mehr über das Geheimnis ihrer Tante Sandy, die einst zum Wasserballett von Esther Williams gehörte, Delfine liebte und nie geheiratet hatte. Doch irgendjemand arbeitet gegen Sonja, und durch eine Intrige stehen plötzlich all ihre Pläne vor dem Aus. Als dann der bunte Abend beginnt, kommen die Beteiligten aus dem Staunen nicht heraus …

Die Autorin

Die freie Journalistin und Autorin Sylvia Lott ist gebürtige Ostfriesin und lebt in Hamburg. Viele Jahre schrieb sie für verschiedene Frauen-, Lifestyle- und Reisemagazine, inzwischen konzentriert sie sich ganz auf ihre Romane. Ihre Romane stehen regelmäßig auf der SPIEGEL-Bestsellerliste.

Mehr unter www.romane-von-sylvia-lott.de und

www.facebook.com/sylvialott.romane

Von Sylvia Lott bei Blanvalet bereits erschienen:

Die Rose von Darjeeling

Die Glücksbäckerin von Long Island

Die Lilie von Bela Vista

Die Inselfrauen

Die Fliederinsel

Die Inselgärtnerin

Die Rosengärtnerin

Der Dünensommer

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Sylvia Lott

Die

Inselgärtnerin

Roman

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Deutsche Erstveröffentlichung 2018 bei Blanvalet, einem Unternehmen der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Copyright © 2018 by Blanvalet Verlag, einem Unternehmen der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung und -abbildung: www.buerosued.de

Redaktion: Margit von Cossart

JB · Herstellung: sam

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-20956-8V004

www.blanvalet.de

1

Feuchtwarme Luft schlug Sonja entgegen, als sie die Tür zum Gewächshaus öffnete. Sie hoffte, dass ihre jüngste Rhododendronzüchtung die Blätter nicht mehr hängen ließ. So viel Liebe und Arbeit steckten schon in dem kleinen Pflänzchen, dem letzten überlebenden einer Versuchsreihe. Es stand ganz hinten in der Ecke für Experimentelles, wo sie immer noch Grünes hegte und pflegte, obwohl sie mittlerweile als Landschaftsarchitektin und nicht mehr als Gärtnerin im Familienbetrieb der Hagemanns arbeitete. Wenn sich mein Rhodo erholt hat, dachte Sonja, dann wird auch sonst endlich alles gut werden. Er ist mein Omen. Quatsch, schimpfte sie gleich darauf mit sich selbst, diese dämlichen Wenn-dann-Verknüpfungen bringen überhaupt nichts. Hör auf damit!

Lisa, die pummelige Azubine, wässerte gerade die Kübelpflanzen. Leise sprach sie auf die Sträucher ein. »Na, fühlt ihr euch wohl? Ihr seid alle ganz wunderschön, macht nur weiter so!«

Sonja musste grinsen. »Die haben sich ja prächtig entwickelt«, lobte sie.

»Sag ich doch«, erwiderte Lisa mit einem breiten Lächeln, das ihre Zahnspange zum Aufblitzen brachte. Die Männer im Betrieb machten sich längst schon lustig über ihre verbale Düngemethode, Lisa aber ließ sich nicht beirren. »Sogar Prinz Charles redet mit seinen Pflanzen. Die spüren das …«

»Na, dann geh ich mal nach hinten, das Unkraut beleidigen.«

Sonja zwinkerte Lisa zu. Auf ihrem Gesicht lag noch ein Lächeln, doch sie fühlte sich seltsam beklommen, als sie durch den kleinen Urwald der lang gestreckten verglasten Halle schritt. Der Geruch torfiger Erde stieg ihr in die Nase. Ach bitte, hoffte sie inständig, sei stark und grün, mein kleiner Rhodo! Sie hatte eine kultivierte Sorte mit einer Wildart gekreuzt. Das Ergebnis könnte eine sensationelle Schönheit werden, vielleicht sogar eine mit Duft. Aber alle Jungpflanzen bis auf diese eine waren inzwischen eingegangen. Sonja bemühte sich, nicht schon von Weitem Ausschau nach dem Sprössling im blauen Übertopf zu halten. Sie hatte wirklich alle Expertenkniffe angewandt – für optimale Bedingungen gesorgt, was Erde, Licht und Temperatur betraf und Schutzmaßnahmen gegen Schädlinge getroffen.

Sonja richtete ihren Blick nach oben. Erst als sie kurz vor dem Rhodo stand, sah sie genau hin – auf einen Strunk, der fast sämtliche Blätter abgeworfen hatte. Drei hingen mehr schlecht als recht gelblich verfärbt an den Zweiglein und betonten deren Nacktheit. Schlagartig spürte Sonja eine unangemessen heftige Enttäuschung. Nur mühsam konnte sie ihre Tränen zurückhalten. Sie zerrte den kleinen Rhodo aus seinem Übertopf und warf ihn in die Schubkarre für den Kompost. Nichts ist gut!, schrie es in ihr, und es wird auch nie wieder gut werden! Mein Vater wird nicht von den Toten auferstehen, und mein Mann wird nicht aufhören, mich zu betrügen! Wenn ich es zulasse, wird Michael mich immer wieder hinhalten. Ich muss mich endlich ganz und gar von ihm trennen, nicht nur räumlich. Ich will nicht mehr an ihn denken, am besten wäre es, jeden Kontakt zu ihm abzubrechen.

Sonja atmete stockend. Bloß nicht heulen im Betrieb! Es war Freitag, sie würde früher Feierabend machen. Nachher, in der kleinen Zweizimmerwohnung im Zentrum von Bad Zwischenahn, wo sie seit zehn Monaten lebte, konnte sie weinen, solange ihr danach zumute war. Sie schüttelte den Kopf, als ihr klar wurde, dass sie sich tatsächlich darauf freute, zu Hause endlich ihren Tränen freien Lauf zu lassen. Sich aufs Weinen freuen … Wie pervers war das denn?

Aber ein bis zwei Stunden musste sie noch durchhalten.

Sonja stöhnte leise auf und ging zurück ins Büro. Ihre beiden Kollegen waren zu Beratungsterminen außer Haus. Erleichtert drehte sie die Heizung höher, bevor sie sich wieder an ihren Computer setzte. Sie fror fast ständig, seit sie von Michaels Affäre mit Jennifer erfahren hatte und Hals über Kopf aus dem gemeinsamen Haus ausgezogen war. Peinlich für eine Gärtnerin, die doch Wind und Wetter trotzen sollte. Wahrscheinlich lag es daran, dass sie von einer strammen Kleidergröße 42 auf eine lockere 40 geschrumpft war.

Hinter ihr lag eine grauenvolle Zeit. Seit vier Jahren folgte eine Katastrophe auf die nächste. Zuerst die Krankheit ihres Vaters, dann sein Tod vor drei Jahren. Anschließend hatte sie geholfen, ihre Schwiegermutter nach einem Schlaganfall bis zu ihrem Ende zu pflegen. Und immer schön die Augen verschlossen vor den Flirts ihres Mannes. Eigentlich hatte sie schon lange so nicht mehr weitermachen können und es dennoch getan – bis zu jenem Tag, als Michael ihr gestanden hatte, dass er »ernsthaft« in Jennifer verliebt sei. Eine Yogalehrerin aus Oldenburg, zehn Jahre jünger als sie, blond und unbekümmert.

Doch kaum war Sonja zutiefst verletzt ausgezogen, hatte Michael angefangen zu zweifeln. Und seitdem schwankte sie mit. Zwischen Liebe und Enttäuschung, Hoffnung und Wut, Selbstkritik und Sehnsucht. Geht’s weiter mit uns? Ja … nein … vielleicht? Ganz … halb … teilweise? Liebst du mich noch, lieb ich dich noch? Kann ich dir wieder vertrauen, kannst du mir verzeihen und darauf verzichten, mir ewig Vorwürfe zu machen? Aber wie ernst ist es mit Jennifer? »Du bist mein Lebensmensch«, hatte Michael gesagt, »ich lieb dich mehr als Jenny. Nur – wenn ich sie ansehe, dann spüre ich so einen Schauer im Nacken …«

Wie rücksichtsvoll, dass er es nicht deutlicher formuliert hatte. Sonja wusste es auch so: Mit der Yogalehrerin war der Sex wieder richtig aufregend. Michael wollte allerdings auch die Ehe fortführen, er wollte am liebsten beide Frauen behalten.

In Phasen tiefster Verzweiflung hatte sie die Möglichkeit, Michael zu teilen, tatsächlich in Erwägung gezogen. In französischen Spielfilmen wirkten Dreiecksbeziehungen oft leicht, charmant verrückt und durchaus machbar. Im Anschluss an solche Vorstellungen hatte sie sich jedoch immer übergeben müssen. Was dazu geführt hatte, dass sie jetzt so schlank war, wie sie es sich immer erträumt hatte. Schade nur, dass sie diesen Zustand nicht richtig genießen konnte.

In den vergangenen Jahren war wirklich alles schiefgelaufen. Bis auf die Sache mit Florida. Doch ob sich Florida eines Tages tatsächlich einmal positiv auswirken würde, das stand noch in den Sternen. Sonja malte sich lieber nichts Schönes aus, dann konnte sie auch nicht enttäuscht werden.

Ein Hagelschauer knispelte gegen die Fensterfront. So laut, dass sie beinahe das Klopfen an der Tür überhört hätte.

»Sonja, du sollst bitte kurz vor Feierabend noch beim Chef reingucken!« Petra, die rechte Hand des Juniorchefs Andreas Hagemann, blieb in der Tür des Planungsbüros stehen. »Du hast die Heizung aber hochgedreht.«

»Findest du?«

»Für die Wechseljahre bist du doch noch viel zu jung.« Petra pustete sich eine rot gefärbte Ponysträhne aus dem Gesicht. »Ich hab ja damals auch viel mehr geschwitzt als gefroren.«

Sonja überhörte die Bemerkung. »Vielleicht hat der Chef sich endlich meinen Entwurf für den Park der Gärten angesehen«, sagte sie hoffnungsvoll.

Fachbetriebe durften für den Park am Ufer des Zwischenahner Meeres Mustergärten gestalten, und Sonja hatte für ihre Firma einen mit Heilpflanzen und essbaren Blüten vorgeschlagen. Sie hatte sich dabei an alten Klostergärten orientiert, aber Hochbeete geplant, sodass Rollstuhlfahrer und Leute mit Rückenproblemen trotzdem darin gärtnern konnten. Dazu inspiriert hatte sie das Schicksal ihrer kranken Schwiegermutter.

»Tja … äh …« Petra, sonst einem Schwätzchen nicht abgeneigt, räusperte sich verlegen. Der Hagelschauer wurde heftiger. »Guck dir das bloß an!«, sagte sie kopfschüttelnd.

Myriaden feinster Körnchen überzogen den gepflasterten Betriebshof ebenso wie die Gewächshäuser des Garten- und Landschaftsbaubetriebs innerhalb von Sekunden mit einer weißen Decke.

Fröstelnd rieb sich Sonja die Arme. »Oder der Chef will über den Gartenentwurf für Familie Brunken reden«, überlegte sie, »der ist fast fertig.«

Die Unternehmerfamilie hatte neu gebaut – drei Generationen in zwei Häusern, verbunden durch einen gemeinsamen Garten. Hoffentlich machte Andreas ihr nicht wieder alles kaputt. Er hatte die grobe Richtung vorgegeben, wie immer. Aber sie war dort gewesen! Sie hatte mit allen Familienmitgliedern geredet, von der dreijährigen Mia bis zum achtzigjährigen Senior. Sie hatte die Ausblicke aus den Neubauten zu verschiedenen Tageszeiten gesehen, das Erdreich des Gartengrundstücks geprüft und, wie üblich, eine Vision gehabt.

Das war eine besondere Gabe, ein Talent, über das Sonja nicht oft sprach. Schon als Jugendliche hatte sie es bemerkt und zunächst für ganz normal gehalten. Während ihrer Ausbildung jedoch hatte sie festgestellt, dass andere Gartenplaner sich schwer erarbeiten mussten, was ihr einfach zuflog – innere Bilder vom perfekten Garten für einen ganz bestimmten Menschen, eine ganz bestimmte Familie, für genau dieses eine Gelände.

Natürlich hörte sie sich auch die Vorstellungen der Kunden an und stimmte alles miteinander ab. Aber sie wusste oft besser als die Auftraggeber selbst, in welcher grünen Umgebung sie am glücklichsten sein würden. Andreas’ Vater, der Seniorchef, hatte sie einfach machen lassen. Das war auch der Grund gewesen, weshalb sie nach ihrem Studium der Landschaftsarchitektur aus Hannover zurückgekehrt war in ihren alten Ausbildungsbetrieb. Sein Sohn dagegen …

Sonja versuchte immer, ihre inneren Bilder möglichst gleich aufzuzeichnen, sonst entfleuchten ihr manchmal wichtige Details. Sie brauchte dafür einige Momente der Ruhe. Zuerst musste sie die Augen schließen, um im Geiste alles genau betrachten zu können, dann skizzierte und notierte sie eilig. Ihr seltsames Verhalten hatte schon manchen Kunden irritiert. Meditieren Sie, junge Frau?, war sie früher häufig gefragt worden. Doch inzwischen beherrschte Sonja ihre Technik so weit, dass sie ähnlich wie vor einem Niesanfall spürte, wenn es losging. Beim ersten Kribbeln entschuldigte sie sich, gab vor, noch etwas im Garten nachmessen oder sich die Hände waschen zu müssen.

Erzwingen ließen sich ihre Gartenvisionen allerdings nicht. Manchmal blieben sie aus. Was dann meist daran lag, dass Grundstück und Hausbewohner überhaupt nicht zusammenpassten. Waren die Widersprüche zu stark, legte Sonja den Kunden einen Katalog mit Mustergärten vor oder bat einen ihrer Kollegen, mit ihr den Auftrag gegen einen anderen zu tauschen. Das kam allerdings selten vor. Häufiger baten die Kollegen sie um Rat. Und meist fand sie auf Anhieb eine zufriedenstellende Lösung.

Für die Brunkens würde Sonja am liebsten einen Generationengarten auf zwei Ebenen anlegen, mit einem Bereich zum Spielen für die Kinder, einem zum Grillen und Chillen für die Erwachsenen, außerdem einen Rückzugsort mit Springbrunnen hinter einer halbrunden berankten Backsteinmauer. Doch das ging nicht. Ihr Chef hatte den Kunden einen »coolen und pflegeleichten« Garten eingeredet, mit dem sie nach Sonjas Überzeugung nicht zufrieden sein würden. Also hatte sie auch dieses Mal versucht, wenigstens ein bisschen was zu retten und mit lebendigem Grün, Staudenblumen und Naschobst etwas Lebensfreude in den Entwurf hineinzuschmuggeln.

Sonja nahm ihre Gabe als Geschenk. Nur Andreas Hagemann, falls er überhaupt je etwas davon mitbekommen hatte, würdigte sie kein bisschen. Er war ein glühender Verfechter von Steinwüsten. Vlies auslegen, Schotter drauf, hier und da ein paar Buchskugeln, Koniferen, exotische Formgehölze und Araukarien dazwischen, vielleicht noch als Sichtschutz eine Kieselwand hinter Gittern – fertig.

Vor anderthalb Jahren hatte Andreas nach einem Herzinfarkt seines Vaters die Leitung übernommen, und seitdem musste Sonja Tag für Tag Mondlandschaften planen. Für öffentliche Grünanlagen ebenso wie für Privatgärten. Wäre die Sache mit Michael nicht eskaliert, hätte Sonja sich längst einen neuen Job gesucht. Aber sie konnte nicht an mehreren Fronten gleichzeitig kämpfen. Aufseufzend fuhr sie sich durch das fingerkurze Haar. Von Natur aus war es dunkelblond, seit dem letzten Friseurbesuch jedoch weckte es Assoziationen an ein Streifenhörnchen.

Petra grinste schief. »Sieht schon wieder besser aus, deine Frisur, das wird langsam.«

»Du bist eine schlechte Lügnerin.«

»Na ja, so schlimm wie am Anfang ist es wirklich nicht mehr. Die seltsamen gülden schimmernden Strähnchen sind ja schon halb rausgewachsen.«

»Danke. Deine Komplimente klingen wenigstens nicht geheuchelt!« Sonja kannte die Büromanagerin des Chefs nun schon so lange, dass sie ihr die direkte Art nicht verübelte. Und die blöde Kurzhaarfrisur hatte sie eindeutig selbst verbockt. Nach einem ihrer gescheiterten Versöhnungsgespräche mit Michael war sie in den nächsten Friseursalon marschiert und hatte ihr langes Haar, das Michael so geliebt hatte, streichholzkurz schneiden lassen. Das klassische Symbol für Neuanfang. Ratzfatz. War aber irgendwie nicht richtig gelungen. Es stand ihr nicht, es sah entsetzlich langweilig aus. Und der anschließende Strähnchenversuch hatte in einem Desaster geendet! Die blonden Highlights, die eigentlich dezent unterm Deckhaar hervorblitzen sollten, hatten sich breitgemacht und waren spröde geworden wie Borstenpinsel. Petra runzelte die Stirn. »Du bist doch allmählich drüber weg, oder?« Sie meinte natürlich die Trennung von Michael.

»Klar«, erwiderte Sonja so lässig wie möglich. »Wir leben mittlerweile schon fast ein Jahr getrennt.«

»Hast du die Scheidung denn schon eingereicht?«

Sonja senkte den Kopf. »Das eilt ja nicht«, murmelte sie. »Geht ja auch erst nach dem Trennungsjahr. Und steuerlich ist es so noch günstiger.«

»Hm …« Petra schien sich eine Bemerkung zu verkneifen. »Ist er denn inzwischen mit dieser Tussi zusammengezogen?«

»Nein«, sagte Sonja schroff.

Petra verstand. »Na dann … Also, kurz vor Feierabend, du weißt Bescheid.«

»Alles klar, danke.«

Petra zögerte noch, sie sah sie mitleidig an. »Und was auch kommt, denk daran … Du hast noch Florida.«

Irritiert sah Sonja hoch. »Ach, so doll ist das auch wieder nicht«, wiegelte sie ab. »Hab schon ewig nichts mehr von drüben gehört.«

»Egal, da wird auf jeden Fall ein bisschen was übrig bleiben. Hach …«, Petras Stimme bekam etwas Schwärmerisches, »… wenn ich ein Häuschen in Florida geerbt hätte, wäre ich schon längst rübergeflogen und hätte es mir angeguckt.«

»Na ja«, antwortete Sonja leicht genervt. Sie konnte sich noch nicht mal den Flug leisten. Natürlich erinnerte sie sich an ihre Freude, als sie erfahren hatte, dass die ältere Schwester ihrer Mutter, Tante Sandy, ausgerechnet sie als Alleinerbin eingesetzt hatte. Und an die Desillusionierung, die kurz darauf gefolgt war. »Ich glaub’s irgendwie gar nicht mehr.«

»Quatsch! Warum hat sie sich wohl für dich entschieden?«, fragte Petra nachdenklich. »Du hast doch vier Brüder.«

»Du, keine Ahnung! Vielleicht aus weiblicher Solidarität. Ich hab sie nur ein Mal in meinem Leben getroffen, da war ich achtzehn. Das war auf ihrer einzigen Deutschlandreise, nachdem sie Anfang der Fünfzigerjahre ausgewandert ist. Sie hat mir einen silbernen Delfinanhänger mit Kette geschenkt, das weiß ich noch. Aber sonst …«

»Hast du den Delfin noch?«

»Nö …« Sonja schüttelte den Kopf. »Und was die Entscheidung für mich angeht … Meine Brüder sind deutlich älter als ich, die haben alle längst ihr Leben eingerichtet, mit Haus und Familien und so. Vielleicht meinte Sandy ja, ich als Nesthäkchen könnte noch am ehesten Unterstützung gebrauchen.« Sie lachte leise auf. »Als ich mich angekündigt habe, glaubte meine Mutter, sie wäre in der Menopause. Sie hat erst kurz vorm fünften Monat vom Arzt erfahren, dass sie schwanger ist.«

»Was für eine tolle Überraschung!« Petras Augen leuchteten vor Begeisterung. »So etwas kommt heutzutage nicht mehr vor. Und dann nach vier Jungen ein Mädchen! Deine Mutter war sicher total happy.«

»Und wie«, stimmte Sonja zu, »da konnte sie endlich den Vornamen vergeben, den sie schon für das erste Kind ausgesucht hatte. Sonja. Ich meine, wer in meinem Jahrgang heißt schon Sonja? Ein total altmodischer Name.« Sie hatte ihn nie besonders gemocht.

»Sei froh, in meiner Klasse gab’s drei Petras, das ist auch nicht so erstrebenswert.« Beide lachten. »Wie war denn der deutsche Vorname deiner Tante?«, fragte Petra.

»Sandra.«

»Und was hat sie drüben gemacht?«

»Ich weiß kaum was über sie. Meine Mutter und sie hatten keinen guten Draht zueinander. Tante Sandy ist unverheiratet geblieben, sie hatte keine Kinder. War wohl mal eine sehr gute Schwimmerin, sie hat in irgendwelchen Shows Geld damit verdient, glaube ich. Angeblich hat sie sogar mal Esther Williams gedoubelt. Sagt dir das was?«

»Meinst du etwa die Badenixe aus den alten Hollywoodfilmen? Die hab ich als Kind ja so gern gesehen! Diese unglaublichen Wasserballettnummern!« Petra machte mit den Armen weite, übertriebene Schwimmbewegungen. »Die sah toll aus und lächelte noch unter Wasser!«

Sonja wiegelte ab. »Vielleicht ist das mit dem Doubeln auch nur ein Gerücht.«

»Aber es klingt total spannend!«

»Sie war dann letztlich auch nicht besonders erfolgreich.«

»Wieso?«

»Das Haus, in dem meine Tante gelebt hat, ist eher eine Hütte mit Blechdach, total runtergekommen. Fast unverändert, seit es Ende der Fünfziger gebaut worden ist. Also mit jeder Menge Reparaturstau.«

»Woher weißt du das? Du warst ja noch nicht mal da.«

»Der Nachlassverwalter hat mir Fotos geschickt. Und ein Minivideo, auf dem nichts als Sand und Ödnis zu sehen ist, am Rand Mangroven und Sumpf und ein paar Alligatoren.«

»Uaarr!« Petra schüttelte sich. »Aber du kannst es meistbietend verkaufen.«

»Dieses Land hinter dem kleinen Garten steht zum Teil unter Naturschutz, der andere Teil fällt in so ’ne Kategorie wie Vorstufe zum Naturschutzgebiet. Das bringt also auch nicht viel.«

Petra kam nun doch näher, sie setzte sich mit einer Pobacke auf Sonjas Schreibtisch. »Du bist viel zu gutgläubig, weißt du das eigentlich? Hast du das mal überprüft?«

»Natürlich!«, erwiderte Sonja. »Die Anwaltskanzlei in Oldenburg, die meine Eltern immer vertreten hat, wenn mal was war, hat den Nachlassverwalter gecheckt. Seriöse Kanzlei in Fort Myers, honoriger Mann, haben sie gesagt.« Und außerdem hatte sie sich das Grundstück mithilfe von Google Maps selbst angesehen. Sogar das gelbe Holzhäuschen und den Kanal mit Bootssteg hatte sie erkennen können. »Ein paarmal hab ich auch mit Mr. Marx telefoniert, sogar per Skype.«

»Kannst du denn so gut Englisch?«, fragte Petra skeptisch.

»Na ja, den Slang der Amis hab ich zwar nicht so drauf, aber ich war doch während des Studiums zwei Mal zu längeren Praktika in englischen Gärtnereien«, erklärte Sonja. »Mr. Marx spricht außerdem Deutsch. Er stammt ursprünglich aus Frankfurt.«

»Und was hat er dir erzählt?«

»Dass deutsch-amerikanische Erbschaftsfälle extrem komplex sind.« Sonja verzog den Mund. »Der Erbe muss an den Gerichten in Florida ein Nachlassverfahren durchlaufen, und das dauert in der Regel Monate.«

»Mist«, sagte Petra, »das kannst du doch von hier aus gar nicht regeln! Wie will du denn dann …«

»Ich hab ja auch Mr. Marx damit beauftragt. Erst muss die Erbschaftssteuer bezahlt werden, vorher darf ich gar nicht über irgendwas verfügen.« Sonja erinnerte sich, wie sie aus sämtlichen Wolken gefallen war, als er ihr umständlich die Gesetzeslage verklickert hatte. »Und diese Erbschaftssteuer, die kann locker fünfzig Prozent übersteigen!«

»Von was?«, fragte Petra.

»Na, vom Wert des gesamten Erbes. Haus, Inventar, Sparkonto, falls vorhanden, et cetera …« Sonja stöhnte auf. »Vielleicht war’s am Ende ein großer Fehler, das Erbe überhaupt anzunehmen.« Ihr schwirrte immer noch der Kopf, wenn sie an all die Fachbegriffe dachte, mit denen der Anwalt sie verwirrt hatte. Ausgerechnet in der Phase, als ihre Ehekrise unaufhaltsam dem Höhepunkt zugestrebt war. Erst mussten verschiedene lokale öffentlich-rechtliche Lasten, die auf dem Grundstück liegen könnten, ermittelt und bezahlt werden. Außerdem musste man prüfen, ob der Bruttonachlasswert über oder unter dem gesetzlich festgelegten Freibetrag lag. Der Grad der Verwandtschaft spielte eine Rolle. Und neun Monate nach dem Tod des Erblassers musste der Nachlassabwickler beim US-Finanzamt die Steuererklärung abgeben. Erst wenn diese Steuern ordnungsgemäß entrichtet seien und eine gerichtlich bestätigte Abschrift der Todesurkunde vorliege, werde der Erbschein ausgestellt, hatte Mr. Marx erklärt. Erst dann könne Sonja das Erbe in Besitz nehmen und im Grundbuch eingetragen werden. Und danach endlich dürfe sie verkaufen, was noch übrig geblieben sei, hatte Mr. Marx mit seiner etwas näselnden Sprechweise ausgeführt. Die Immobilienpreise in Florida seien nach der Bankenkrise 2008 gewaltig eingebrochen, mittlerweile würden sie allerdings wieder steigen, und je länger man warte, desto besser.

Es war also klug von Sonja, geduldig zu sein. Jedoch hatte Mr. Marx ihr nicht verschwiegen, dass sie für das Häuschen ihrer Tante – es stand auf Dolphin Island im Lee County am Golf von Mexiko – nicht mit den sonst üblichen Preisen rechnen konnte, weil nach dem Unfall eines Öltankers vor etlichen Jahren immer wieder Ölplacken an den Strand gespült wurden, was natürlich den Wert senkte. Während ihres letzten Telefonats hatte Mr. Marx gefragt, ob er lieber das Boot oder das Auto verkaufen sollte, um irgendeine Inselsteuer zu bezahlen, die gerade fällig war. Da hatte Sonja ihn entnervt gebeten, er möge die Angelegenheit doch bitte einfach mit gesundem Menschenverstand erledigen und sich erst wieder melden, wenn alles in trockenen Tüchern sei.

»Angenommen, dein Erbe ist zweihunderttausend Dollar wert, dann musst du mehr als hunderttausend Erbschaftssteuern bezahlen, bevor du irgendwas zu Geld machen kannst?«, fragte Petra ungläubig. »Wo willst du die denn hernehmen?«

Sonja ärgerte sich inzwischen, dass sie so viel ausgeplaudert hatte. »Keine Ahnung«, sagte sie ungeduldig, »das überlasse ich dem Experten vor Ort, der wird schon irgendeine Zwischenfinanzierung deichseln.«

»Irgendeine Zwischenfinanzierung? Das heißt doch im Klartext, dass du das Haus beleihen oder verkaufen musst, um die Erbschaftssteuer zahlen zu können, oder?« Petra konnte sich gar nicht wieder einkriegen. »Das ist ja absurd!«

»So sieht’s aus. Im Moment finde ich das ganze Leben absurd«, antwortete Sonja. Sie hatte nicht vor, jetzt noch weitere Einzelheiten mit Petra zu besprechen, und rang sich ein Lächeln ab. »Na, bis Montag dann, Petra, schönes Wochenende!«

»Tschüs, meine Liebe!« Petra ließ sich, was für sie ungewöhnlich war, zu einer Umarmung mit Wangenküsschen hinreißen, bevor sie entschwand.

Sonja rief das Dokument mit der Gartenplanung für Familie Brunken auf, um die Zeit bis zum Gespräch mit dem Chef sinnvoll zu nutzen, doch nach kurzer Zeit zwitscherte ihr Handy, sie hatte als Klingelton einen Amselruf installiert. Als sie sah, dass es Michael war, beschleunigte sich ihr Puls. Sonja zögerte, holte tief Luft. Sie nahm sich fest vor, freundlich, aber distanziert zu bleiben.

»Ja?«

»Hallo, ich bin’s. Wie geht’s dir?« Seine Stimme erreichte immer noch zuerst ihr Herz, wärmte es, weckte ihre Sehnsucht nach ihm, nach seiner Umarmung, dem schützenden Mantel seiner Liebe.

»Gut.« Ihr Ton verriet, dass sie log.

»Ich wollte fragen, ob wir uns nicht mal wieder zu einem Essen treffen könnten«, sagte er hörbar bedrückt. »Um in Ruhe zu besprechen, wie es weitergehen soll.«

Sonja atmete schwer aus. »Was soll das bringen?« Das hatten sie schon so oft vergeblich versucht.

»Wenn ich weiß, dass es dir schlecht geht«, setzte ihr Nochehemann nach, »dann geht’s mir auch schlecht.« Er meinte es ehrlich, das spürte Sonja, sie kannte schließlich jede Nuance seiner Intonationsbandbreite. Lass dich nicht rühren, werd bloß nicht weich, mahnte sie sich.

»Wie läuft’s denn so mit Jennifer?«, fragte sie spitz.

»Müssen wir das am Telefon besprechen?«

»Nee, lieber nicht.«

»Danke übrigens, dass du deine Raten für das Haus immer noch bezahlst.«

»Bin ständig pleite, weil ich jetzt auch noch die Miete hab. Aber es ist schließlich auch mein Haus … und …« Sonja konnte nicht weitersprechen. Und ich würde es nicht ertragen, wenn sich diese Jennifer in mein Nest setzen würde, dachte sie. Ihr kam das Sprichwort in den Sinn: Die erste Frau schnitzt das Schemelchen, und die zweite sitzt darauf. Finster zog sie ihre Augenbrauen zusammen. Und ich werde weiterzahlen, um dir keinerlei Rechtfertigung dafür zu liefern, dass du mir meine Ansprüche auf das Haus abspenstig machen kannst.

»Ich hab dir schon mal angeboten, deine Raten zu übernehmen«, sagte Michael milde.

Sonja spürte noch immer einen Kloß im Hals, sie schwieg. Im Moment war sie einfach zu geschwächt, um zu streiten oder zu kämpfen.

»Was hältst du vom alten Spieker?«, fragte Michael. »Wir könnten mal wieder einen Smoortaal essen.« Schon beim Gedanken an den Räucherfisch, der früher ihre Lieblingsspeise gewesen war, verkrampfte sich Sonjas Magen. »Viel zu fett. Lieber einen schönen Salat, vielleicht im Fährhaus.« Zack, dachte sie dann erschrocken, Falle zugeschnappt. Schon wieder verabredet.

»Okay«, stimmte Michael sofort zu. »Morgen Abend um sieben?«

»Was, am Sonnabend?«, erwiderte Sonja spöttisch. »Musst du da nicht bei Jennylein sein?«

»Könnten wir das bitte lassen?« Michael atmete vernehmbar aus. »Jennifer hat am Wochenende eine Weiterbildung. Ich hol dich also ab.«

»Okay. Bis dann.« Sonja legte das Handy zur Seite und starrte aus dem Fenster. War das ein Fehler gewesen zuzusagen? Meist ging es ihr schlechter, nachdem sie sich mit ihrem Mann getroffen hatte. Aber es stimmt ja, sie mussten irgendwie weiterkommen, raus aus dieser Sackgasse.

Andreas Hagemann lehnte sich in seinem lederbezogenen Chefsessel zurück, als Sonja ihm gegenüber Platz genommen hatte. Er warf einen besorgten Blick auf den Hof, wo sein neuer Audi stand. Doch das Wetter hatte sich beruhigt, die Hagelkörner tauten bereits.

»Ich will es kurz machen, Frau Janssen«, sagte er ungewohnt förmlich. Früher, bevor er ihr Vorgesetzter geworden war, hatten sie sich geduzt, seitdem mieden sie beide die direkte Ansprache, wenn möglich. Und jetzt siezte er sie?

Sonja war gefasst darauf, ihren Entwurf verteidigen zu müssen, aber das Gespräch nahm eine unerwartete Wendung. »Unser Betrieb wird vom Marktführer GaLaBau Zett übernommen.«

»Was?«, entfuhr es Sonja.

Die Firma Hagemann war ein solides, florierendes mittelständisches Unternehmen. Wie konnte das sein?

»Die haben mir ein Angebot gemacht, das ich nicht ablehnen kann«, erwiderte ihr Chef. Und du hast einen Witz gemacht, über den ich nicht lachen kann, dachte Sonja. »Tja, also … Ich werde nach der Übernahme Geschäftsführer der Abteilung Außenanlagen für Industrie- und Gewerbebauten. Wir bringen unseren Maschinenpark samt Personal dafür ein, aber leider kann GaLaBau Zett nicht all unsere Festangestellten übernehmen.«

Plötzlich begriff Sonja. Das Blut schoss ihr in den Kopf. Ach, und ich muss dran glauben? Nach mehr als fünfzehn Jahren!

»Ich …«

Sie öffnete den Mund. Was sollte sie darauf sagen? Sollte sie sich etwa beschweren? Betteln? Nein! Wortlos schloss sie ihren Mund wieder. Andreas Hagemann ruckelte unter ihrem aufgebrachten Blick sichtlich unbehaglich hin und her.

»Es tut mir wirklich leid. So eine Situation ist mir auch nicht gerade angenehm, Frau Janssen … Sonja … Ich weiß, Sie haben hier Ihre Lehre gemacht.« Ja, dachte sie fassungslos, damals warst du noch ein pickeliger Jüngling, und dein Vater war mein Chef. Der hat meine Arbeit immer gefördert und geschätzt. »Der Marktführer hat seine eigenen Landschafts- und Gartenarchitekten«, erklärte Andreas. »Aber«, er lächelte hilflos, »ich habe für Sie eine ordentliche Abfindung ausgehandelt.«

Sonja setzte sich ganz gerade auf. Sie drückte das Kreuz durch und versuchte, ihr Entsetzen auch durch ihre Mimik nicht zu verraten. Gefeuert, sie wurde soeben entlassen! Damit hatte sie nie im Leben gerechnet. Sie war doch immer eine der Stützen dieses Betriebes gewesen.

»Eine Abfindung?«, wiederholte sie heiser.

»Ja«, erwiderte Andreas Hagemann fast stolz, »vierzigtausend Euro! Die Höhe zeigt großes Entgegenkommen, das liegt deutlich über dem, was sein müsste.«

Sonjas Hände umschlossen die gerundeten Holzlehnen des Besucherstuhls. »Na dann«, sagte sie spöttisch, obwohl die Wut in ihr hochkochte, »kann ich mich ja nur bedanken.« Sie wollte sich erheben, doch ihr Chef schob ihr Papiere rüber.

»Sie müssten lediglich Ihr Einverständnis erklären und unterschreiben, dass Sie keine Klage erheben. Das sind Formalitäten, die das Ganze erleichtern. Je schneller wir das erledigen, desto eher kommt das Geld. Vierzigtausend.« Er betonte noch mal die Summe, die zugegebenermaßen verlockend klang in Sonjas Ohren. »Sie brauchen dann auch nicht mehr zu kommen. Übergeben Sie den Brunken-Garten Ihren Kollegen. Sie sind ab Montag freigestellt.«

Ach, dachte Sonja gekränkt, auch das noch! Als hätte ich die Portokasse geklaut! »Ich nehme die Papiere mit nach Hause«, sagte sie so ruhig sie konnte, »und lese sie mir in Ruhe durch. So viel Zeit wird ja wohl noch sein.«

2

Sonja ließ die Tränen laufen. Am Freitagabend, in der Nacht, am Samstag. Während des Staubsaugens, beim Bügeln und beim Fernsehen. Dann mischte sich – wie eine kurze Aufheiterung in einem Schauergebiet – immer mal kurz so etwas wie Erleichterung in ihr Gefühlschaos. Okay, neues Spiel, neues Glück! Sie hatte sich ja ohnehin nicht mehr wohlgefühlt mit den Mondlandschaften.

Im Bad spritzte sie sich mit beiden Händen kaltes Wasser ins Gesicht, dann betrachtete sie eingehend ihr Spiegelbild. War sie noch attraktiv? In zwei Jahren wurde sie vierzig. Die Tendenz zum Pausbäckigen, immer leicht Verschmitzten war verschwunden, dafür hatten sich die Andeutung von Schlupflidern verstärkt und die beiden Falten zwischen den dunklen Augenbrauen vertieft. Wenn sie sich selbst als Fremde irgendwo begegnen würde, wie würde sie sich, ganz ohne Eitelkeit, beschreiben? Da stand eine mittelgroße Frau in den besten Jahren, mit ovalem Gesicht, grünbraunen Augen, kräftigem Haar und Stirnwirbel, leichter Stupsnase und vollen Lippen. Sonja lächelte. Ja, ein schönes breites Lächeln, das sympathisch wirkte. Sie zog Grimassen.

Du siehst so süß aus, hatte Michael früher oft gesagt, ich kenne keine Frau, die so süß und so komisch sein kann wie du. Er hatte ihr ins Ohr geflüstert, dass er ihr helles Lachen liebte und ihre besänftigende Stimme. »Du vermutest immer das Beste in anderen«, hatte er einmal halb bewundernd, halb tadelnd behauptet. Mit anderen Worten: Er hielt sie für naiv. Wahrscheinlich hatte er sogar recht.

Und ihre Figur? Sonja trat einen Schritt zurück, damit sie mehr von sich im Badezimmerspiegel erkennen konnte. Nicht mehr so stämmig wie früher, kleiner Busen, breite Hüften. Sie hätte gern mehr Busen, weniger Po und schlankere Oberschenkel gehabt. Aber, na ja, es war schon in Ordnung. Sie bewegte sich wohl eher burschikos, das ergab sich einfach, wenn man mit vier älteren Brüdern auf einem Hof mit vielen Tieren aufwuchs und anschließend unter Gärtnern zeigen musste, dass man mit Schaufeln und Maschinen umgehen konnte. Entschlossen, energisch wirkte sie, jedenfalls nicht wie eine Zuckerpuppe.

»Also dann«, sagte Sonja zu ihrem Spiegelbild, »machen wir das Beste daraus.«

Kurz vor sieben wartete sie gut geschminkt in einer neuen engen Jeans und einem schicken Blazer auf Michael. Er war pünktlich. Das bedeutete, er gab sich Mühe. Rendezvous mit dem eigenen Mann, das hatte trotz allem etwas Prickelndes. Er trug ein blaues Jackett, Oberhemd ohne Schlips. Smart casual hätte das wohl auf einer der Einladungen geheißen, die er als Pharmareferent für sein auf Naturheilmittel spezialisiertes Unternehmen oft an Ärzte verschickte. Sein Bauchansatz war verschwunden.

Michael grinste verlegen und fuhr sich mit einer Hand durch das bis auf die Geheimratsecken immer noch volle braune Haar. An den Schläfen schimmerten ein paar neue silbrige Haare, aber gemeinerweise stand es ihm. Seine graugrünen Augen, die ihr so schmerzhaft vertraut waren, leuchteten auf.

»Du siehst fantastisch aus, Sonja. Und deine Figur!« Bewundernd sah er sie an. Ihr Herz klopfte heftiger, als er sie auf die Wangen küsste. »Mein Gott, muss ich ein Idiot sein!«, fügte er hinzu.

Ja, du bist ein Idiot, dachte Sonja, da werde ich dir bestimmt nicht widersprechen. Und ich bin eine Idiotin, weil es mich nicht kalt lässt, wenn du so was sagst. Sie schnupperte ein neues Aftershave, vermutlich von ihrer Nachfolgerin ausgesucht. Das ernüchterte sie und half ihr, sich gegen seinen Charme zu wappnen.

Sie ergatterten einen Tisch am Fenster mit Blick aufs Zwischenahner Meer und aßen Salat mit gegrillten Meeresfrüchten. Lichterketten beleuchteten die wegen Rutschgefahr abgesperrte Holzterrasse. Sonja machte mehrfach einen Anlauf, Michael von ihrer Kündigung zu erzählen. Doch irgendetwas hielt sie jedes Mal kurz vorher davon ab. Sie plauderten über gemeinsame Bekannte und über Belangloses. Sonja fragte sich, was ihren Mann wohl wirklich bewogen hatte, sich mit ihr treffen zu wollen. Bei der Crème brûlée rückte Michael damit heraus.

»Ich möchte dich nicht überfahren, Sonja«, sagte er. »Aber so kann es ja auch nicht weitergehen.« Sonja spannte ihre Bauchmuskulatur an wie ein Boxer, der einen Tiefschlag erwartete. Dann sollten eben alle Horrornachrichten auf einmal kommen! »Jennifer hat eine teure Wohnung in Oldenburg, wir fahren ständig hin und her. Aber das ist reine Geld- und Zeitverschwendung.« Was für eine selten dämliche Begründung, dachte Sonja. Gleich kommt er noch damit, dass Jennylein meinen Garten in Ordnung halten würde! Sie legte das Löffelchen auf den Unterteller neben ihr angenipptes Dessert. »Jennifer könnte ihre Yogakurse auch im Haus geben, dann müsste sie keinen Übungsraum mehr anmieten. Im Sommer ginge es auf der Terrasse und, also, sie würde dafür gerne den Garten pflegeleichter umgestalten.« Am liebsten wäre Sonja aufgesprungen und weggerannt. Doch sie blieb wie gelähmt sitzen. Michael legte seine Hand auf ihre, sie zog sie mit einem Ruck weg. »Ich verstehe ja«, sagte er, »dass du nicht begeistert bist, aber …«

»Dann willst du also die Scheidung«, sagte sie mit zitternder Stimme.

O Gott, dachte sie, Klischee, Klischee! Wieso klingt das auch noch nach tausendmal im Kino gehört und in Romanen gelesen, wenn man es selbst erlebt?

»Willst du denn die Scheidung?«, fragte er leise.

Sie sah ihn nur an, mit Tränen in den Augen. Was sie auch antworten würde, es wäre immer nur die halbe Wahrheit. Sonja fühlte sich entsetzlich hilflos.

»Wenn sie in unser Haus einzieht, dann führt wohl kein Weg mehr daran vorbei!«

»Wir müssen ja nichts überstürzen«, sagte Michael betreten. »Ich wollte nur nicht, dass du es von anderen erfährst.«

»Vielen Dank auch«, antwortete Sonja sarkastisch. »Außerordentlich rücksichtsvoll. Aber du möchtest dir trotzdem noch ein Hintertürchen offen lassen, wenn ich das richtig verstehe, ja? Ich geh jetzt, Michael, ich nehm mir ein Taxi. Und das war’s dann wirklich mit uns.«

Sonja unterschrieb die Papiere wie in Trance und fuhr ein letztes Mal in die Gärtnerei, um sie abzugeben und sich von den Kollegen zu verabschieden, die so beschämt waren, dass sie ihr kaum in die Augen sehen konnten. Rasch fuhr sie wieder nach Hause. Was sollte sie jetzt tun? Die Arbeit war ihr Anker gewesen. Im Betrieb hatte sie funktionieren müssen, ordentlich angezogen sein, hatte die Haare gewaschen und ein freundliches Lächeln für die Kundschaft auf den Lippen haben müssen. Jetzt, da sie ohne Verpflichtungen war und sich in aller Ruhe ausmalen konnte, wie ihre Nebenbuhlerin in ihr Haus einzog, ihren Mann, ihr Leben, ihren Bauerngarten übernahm, brach Sonja zusammen.

Sie konnte sich zu gar nichts aufraffen. Stieß Freunde und Bekannte vor den Kopf, die sie zum Weggehen animieren wollten. Fror ständig, sogar im Bett mit zwei Decken und Socken an den Füßen. Wenn sie morgens erwachte, musste sie sich zwingen aufzustehen. Hinzu kam, dass es auch jahreszeitlich bedingt überhaupt nicht mehr richtig hell wurde. Ständig war ihr übel, häufig spürte sie den Drang, einfach die Bettdecke über den Kopf zu ziehen, sich zusammenzukrümmen und hemmungslos zu weinen. Wenn sie dem nachgab, linderte es den Druck für eine Weile.

Um nicht völlig zu verwahrlosen, machte sie sich Zettel mit Tagesordnungspunkten, die sie dann unter Aufbietung großer Willensanstrengung abarbeitete. Sonja fürchtete, dass ihr Körper die Chemie dieses Unglücklichseins bald als Normalzustand speichern könnte. Dabei war sie im Grunde ein lebenslustiger, zuversichtlicher Mensch! Wie hatte es nur so weit kommen können? An welcher Stelle hatte sie nicht richtig aufgepasst? Wann hätte sie anders handeln müssen? Wie ungerecht, dass in seelischen Krisenzeiten der Körper mitlitt und schwächelte! In Romanen und Fernsehfilmen funktionierte es immer schön einfach – Frau wird enttäuscht, heult einmal kräftig, rafft sich wieder auf und schmiedet voller Tatendrang gewitzte Rachepläne. Im wahren Leben lief es ganz anders.

Sonja wollte keine Rache. Na gut, die Vorstellung, dass Michael jedes Mal, wenn er einen Schauer im Nacken spürte und zur Tat schreiten wollte, einen Hexenschuss erlitt, schenkte ihr schon eine gewisse Genugtuung. Aber eigentlich wollte sie nur, dass alles wieder war wie früher. Ihr Gefühl reagierte dümmer als ihr Verstand. Vielleicht merkt Michael, wenn er erst mit der Yogatussi Tag für Tag zusammenlebt, dass er sich furchtbar getäuscht hat, hoffte sie, und dann wird er mich auf Knien anflehen, ihm noch einmal eine Chance zu geben. Und vielleicht werde ich ihm nach einigem Zögern großherzig verzeihen. Diesen Teil malte Sonja sich besonders rosig aus.

In Wirklichkeit lebte sie aus Angst, dass es zu sehr wehtun könnte, nur mit angezogener Handbremse. Vorsichtig, abwartend. Sie verschob es, Bewerbungen zu schreiben – von einem Tag zum nächsten, wieder und wieder. So einfach war es auch gar nicht, in der Gegend etwas geeignetes Neues zu finden. Und warum sollte sie sich nicht eine Auszeit gönnen? Sie war am Ende. Sie fühlte sich fürchterlich. Wer würde sie nehmen, wenn sie eine Ausstrahlung hatte wie ein vergilbter nasser Waschlappen? Sie musste erst wieder zu Kräften kommen und konnte dann aktiv werden. Einen neuen Job suchen, einen neuen Mann.

Sonja besuchte ihre Mutter, die bei ihrem ältesten Bruder und dessen Familie lebte und für ihre zweiundachtzig Jahre erstaunlich rüstig war. Hartmut hatte den landwirtschaftlichen Betrieb, der auch Urlaub auf dem Bauernhof anbot, von den Eltern übernommen. Als Sonja ihrer Mutter beim Ostfriesentee in der gemütlichen Wohnküche vom endgültigen Ende ihrer Ehe berichtete, schüttelte die alte Frau unwillig den Kopf.

»Früher raufte man sich wieder zusammen«, sagte sie streng. »Michael ist zwar ein Filou, aber er bringt gutes Geld nach Hause. Und man rennt auch nicht gleich auseinander, Kind. Es heißt: Bis dass der Tod euch scheidet. Dein Vater war mein erster und einziger Mann.«

Sonja ächzte gequält. »Die Zeiten haben sich geändert, Mama. Heute müssen Frauen nicht mehr um jeden Preis in einer unglücklichen Ehe ausharren.«

»Meine Ehe war doch nicht unglücklich!«, protestierte ihre Mutter.

»Weiß ich, Mama, das wollte ich damit auch gar nicht sagen«, beschwichtigte Sonja. Ihre Eltern waren ein gutes Gespann gewesen. »Du«, sagte sie nachdenklich, »jetzt mal ganz ehrlich, wie war das eigentlich für Papa? Bist du auch seine einzige Frau gewesen?«

Ihre Mutter schnappte empört nach Luft. So was fragt man seine Eltern nicht!, las Sonja in ihren funkelnden blauen Augen, doch sie spürte wohl, wie wichtig die Antwort für ihre Tochter war. Sie sah ihr fest in die Augen und betonte jedes Wort. »Davon. Bin. Ich. Überzeugt.« Sonja seufzte sehnsüchtig. Solche Männer wie ihren Vater gab’s gar nicht mehr! Aufrecht, treusorgend, okay, manchmal ein bisschen patriarchalisch. Aber er hatte immer gewusst, was er wollte und was richtig war, und sich entsprechend verhalten. Ihre Mutter wandte den Blick ab, sie schob Sonja ein Porzellanschälchen mit Butterkeksen entgegen. »Schmecken lecker, fast wie selbst gemacht. Greif zu, du wirst noch zu dünn.« Sie nahm selbst einen und biss ein Stück ab. »Da ist nie eine andere Frau gewesen.«

»Du Glückliche!«

Plötzlich schimmerten die Augen ihrer Mutter feuchter. »Ja, ich hab Glück gehabt«, sagte sie leise.

Sonja stand auf, schlang die Arme um ihre Mutter, ihre Wangen schmiegten sich aneinander. »Ich denke auch oft an Papa, mir fehlt er auch so!« Unter Tränen lächelten sie sich an.

Sonja setzte sich wieder, tunkte einen Keks in ihren Tee und schwieg eine Weile. »Warum hat eigentlich Tante Sandy nie geheiratet?«, fragte sie dann unvermittelt.

»Was weiß ich denn?«, antwortete ihre Mutter. »Sie hat manchmal von einem Harry geschrieben, der war wohl so was wie ein Lebensgefährte. Aber ich glaube, sie wohnten nie unter einem Dach.«

»Ihr Schwestern hattet keinen besonders guten Draht zueinander, oder?«

»Das kann man so nicht sagen. Als Kinder waren wir unzertrennlich. Natürlich haben wir uns gekabbelt, wie das unter Geschwistern üblich ist, aber …« Die Mutter verstummte, ihr Blick war in die Ferne gerichtet. Sie holte tief Luft. »Sandra war neugierig, unternehmungslustig. Sie hatte eine besondere Verbindung, so wie du zu Pflanzen, zu Tieren. Und sie war immer eine großartige Schwimmerin, hat bei den ersten Wettbewerben nach dem Krieg Pokale geholt. Einmal durfte sie zu einem Sportfest nach Bremen, da hat sie einen amerikanischen Besatzungsoffizier kennengelernt.«

»Ach, und in den hat sie sich verliebt?« Sonja witterte eine romantische Liebesgeschichte.

»Nee, der war verheiratet, sie waren sich einfach sympathisch, nix Amouröses«, erinnerte sich ihre Mutter. »Er war auch ein begeisterter Schwimmer und hat ihr einen Floh ins Ohr gesetzt. Dass es in Amerika Schwimmshows gibt, und dass in Hollywood Spielfilme mit Wasserballett gedreht werden, und dass Sandra Chancen hätte bei ihrem Aussehen und ihrem Talent.«

»Ja, und wolltest du nicht auch nach Amerika? Wann war das eigentlich genau?«

»Sandra ist Anfang 1952 ausgewandert, gerade volljährig. Damals gab’s die erste Auswanderungswelle aus Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg in die USA. Ledige hübsche Frauen hatten gute Chancen, vor allem wenn sie wie wir Flüchtlinge waren.« Aufmerksam lauschte Sonja. Sie schenkte ihnen Tee nach, der Kandis knisterte anheimelnd. Ihre Mutter erzählte so selten von früher, wohl mal allgemein von Ostpreußens schöner Natur und den Wanderdünen, aber kaum von der Flucht und den harten Nachkriegsjahren. »Ich war damals erst siebzehn. Und, nein, ich wollte nicht weg. Dein Vater und ich, wir waren doch frisch verliebt. Wir wollten uns im Ammerland etwas aufbauen, den Hof seiner Familie wieder auf Vordermann bringen.« Sonjas Vater entstammte einem alten Ammerländer Bauerngeschlecht. »Die Sandra hatte immer schon mehr Abenteuerlust im Blut als ich.« Ihre Mutter lächelte. »Ich erinnere mich an ihre erste Postkarte von drüben. Schon nach einer Woche schrieb sie, dass sie nie wieder nach Deutschland zurückkehren werde, weil es ihr in den Vereinigten Staaten so gut gefiele. Dort sei alles so weit, so großzügig.« Die alte Frau machte eine ausladende Armbewegung. »Na, erst hat sie bei Bekannten dieses amerikanischen Offiziers als Babysitterin gejobbt, danach hat sie ein paar Wochen in einer Kartonfabrik gearbeitet. Und dann landete sie tatsächlich ziemlich schnell in Hollywood, ist eingesprungen für eine Frau, die krank geworden war. Aber nur als … Wie nennt man das noch?«

»Statistin?«

»Ja, genau, für so kleine Rollen, wo man keinen Text sprechen muss. Das war wohl für sie eine aufregende Zeit. Für mich aber auch. Ich wurde bald mit meinem ersten Kind schwanger, dann haben wir den Kontakt irgendwie verloren.«

»Ihr habt euch nur zu Weihnachten, Ostern und den Geburtstagen geschrieben, oder?«

Sonja erinnerte sich an mehr oder weniger freundliche, aber nichtssagenden Tante-Sandy-Luftpostbriefe. Ihre Mutter hatte auf ähnlich standardisierte Art geantwortet.

»Ja, mein Gott, ich hatte fünf Kinder, Sonja!« Ihre Mutter schien sich angegriffen zu fühlen, weil sie sich nicht mehr um ihre unverheiratete Schwester gekümmert hatte. »Dazu kamen die Arbeit auf dem Hof und später unsere Feriengäste. Wo sollte ich die Zeit hernehmen? Sie hätte ja auch öfter schreiben oder zu Besuch kommen können – damals in den Sechzigern, als der Dollar viermal so viel wert war wie die D-Mark!« Mit zittriger Hand ließ sie von einem Schwanenlöffel dickflüssige Sahne in den Tee gleiten.

Nachdenklich betrachtete Sonja das Sahnewölkchen in ihrer Tasse. »Hast du wirklich keine Ahnung, warum sie mich zu ihrer Alleinerbin erklärt hat?«

Ihre Mutter zuckte mit den Schultern, dann hob sie den Zeigefinger. »Da mach dir mal nicht allzu große Hoffnungen! Deine Tante konnte nie besonders gut mit Geld umgehen.« Sie trank einen Schluck und verzog das Gesicht, der Tee war offenbar noch zu heiß. »Vielleicht, weil du ihr ein wenig ähnlich siehst. Sie hat mir ganz früher mal gesagt, sie würde lieber eine Tochter bekommen als einen Sohn. Aber ich weiß es nicht, sie war eben ziemlich eigensinnig. Wahrscheinlich wollte sie genau deshalb keiner heiraten.«

»Vielleicht war sie ja auch ohne Ehe glücklich, ohne Mann«, bemerkte Sonja gereizt. »So was soll’s geben! Frauen, die ein erfülltes Leben führen, ganz ohne Kerl und Kinder. Zum Beispiel weil sie für ihren Beruf brennen.«

Ihre Mutter verzog spöttisch die Lippen. »Ich hab immer nur für die Familie gebrannt.«

»Phh! Ich möchte mal wissen, wie du reagiert hättest, wenn dein Mann dir eröffnet hätte: Ich hab mich in eine andere verliebt, ich zieh aus.«

»Ganz einfach! Ich hätte gesagt: Kommt nicht infrage. Du bleibst. Fünf Kinder und ein Hof, der seit Generationen in Familienbesitz ist … Ich bitte dich!« Ihre Mutter reckte das Kinn. Sie konnte manchmal so stolz aussehen. Sonja musste trotz allem in sich hineinschmunzeln.

»Außerdem«, sagte ihre Mutter scharf, »nicht Michael ist ausgezogen, du bist gegangen.«

»Er hat mich doch betrogen!«, erwiderte Sonja empört. Nicht mal ihre eigene Mutter verstand sie! »Also, ehrlich.« Sonja schüttelte den Kopf und sprang auf. »Ich muss jetzt auch wieder! Tschüs, Mama.«

Ihre Mutter begleitete sie wortlos durch die Diele. »Ach komm her, Kleine!«, sagte sie an der Haustür und umarmte sie. »Wie du dich auch entscheidest, ich hab dich lieb. Das weißt du hoffentlich.« Sonja nickte gerührt. »Aber wenn ich dir einen Rat geben darf, Kind: Halte durch. Beende eure Ehe nicht aus einer Laune heraus. Versprich mir das.«

Sonja putzte sich die Nase. »Ich denk drüber nach.«

Sonja schob auch den Gang zur Scheidungsanwältin vor sich her. Und es ging ihr weiter schlecht. Ihre beste Freundin Anna gab sich alle Mühe, sie aufzurichten. Sie kannten sich seit der Kindheit. Anna arbeitete in einer Buchhandlung, war verheiratet mit Lars und hatte schon zwei Fehlgeburten gehabt. Sie schaffte es, trotzdem die Hoffnung nicht aufzugeben. Doch anders als sonst gelang es ihr nicht, Sonja mit ihrem Optimismus anzustecken. Immer häufiger verdrehte Anna ihre schönen rehbraunen Augen, wenn sie sich unterhielten, wickelte ratlos eine dunkle Locke um den Mittelfinger und schickte Sonja schließlich zum Hausarzt. Der diagnostizierte eine reaktive Depression, eine ganz normale gesunde Reaktion auf das Erlebte, kein Grund zur Sorge. Sorgen, so meinte er, müsse man sich machen, wenn sie nicht deprimiert wäre. Er riet ihr zu Sport und frischer Luft. »Sonne tut gut«, sagte er. »Und natürlich ein neuer Mann.« Beides gab es leider nicht auf Krankenschein.

Wenigstens die Abfindung traf ein, was Sonja tatsächlich ein wenig aufmunterte. Es war ein gutes Gefühl, die Zahl 40 000 mit einem Pluszeichen versehen schwarz gedruckt auf dem Kontoauszug zu lesen. Andererseits, wenn sie zusammenrechnete, wie lange der Betrag reichen würde, war es so viel dann auch wieder nicht. Sonja lebte weiter sparsam, sie hatte doch ihre monatlichen Verpflichtungen, die waren nicht zu unterschätzen.

Als sie in der Natur die ersten Anzeichen für den Vorfrühling entdeckte, wuchs auch ihre Zuversicht wieder, und sie beschloss, sich einen kleinen Urlaub irgendwo in der Sonne zu gönnen, bevor sie ins Hamsterrad des Alltags zurückkehrte. Vielleicht fand sie ja ein Reiseschnäppchen auf die Kanarischen Inseln oder eine erschwingliche Mittelmeerkreuzfahrt.

Eines Tages, als Sonja sich gerade zu einem Mittagsschläfchen hingelegt hatte, klingelte es an ihrer Tür. Müde drückte sie den Summer. Lisa, Hagemanns Azubine, eilte mit einem großen Blumentopf im Arm durch den Hausflur auf sie zu.

»Ach, Blumen immer ausgepackt überreichen«, murmelte Lisa, wickelte rasch das Papier ab und knüllte es zusammen. »Guck mal, Sonja!« Sie lächelte. Die Zahnspange fehlte, man konnte auf einmal erkennen, dass Lisa dabei war, eine hübsche junge Frau zu werden. »Ich dachte, das interessiert dich!«

»Das ist nicht meine Züchtung, oder?«, fragte Sonja und bestaunte perplex einen kleinen Rhododendron, der mehrere grüne Triebe aufwies. »Den hab ich doch halb tot auf den Kompost gefeuert.«

»Halb lebendig! Ich hab ihn auf der Schubkarre gefunden und ins Sonnenlicht gestellt«, erklärte Lisa freudestrahlend, »und ihm natürlich jeden Tag gut zugeredet.«

»Ich fass es nicht!«, murmelte Sonja. »Rhodos mögen gar keine Sonne …« Ob ihre Wildart Yakushimanum-Qualitäten hatte? Diese Rhodos von einer japanischen Insel galten als eine Ausnahme, sie ertrugen Sonne problemlos. Oder war die Wintersonne zu schwach gewesen, um zu schaden? »Jetzt weiß ich es«, sagte Sonja verschmitzt, »es liegt natürlich an deinen good vibrations, Lisa. Du hast wirklich den richtigen Beruf gewählt.« Sie bedankte sich herzlich. Allerdings bat sie Lisa, das Pflänzchen wieder mitzunehmen und noch eine Weile zu pflegen. »Ich möchte bald in Urlaub fahren, würdest du dich solange darum kümmern?«

»Kein Problem, mach ich gern«, Lisa zwinkerte. »Ein Standortwechsel wirkt ja manchmal Wunder!«

»Oh, ein Wunder wäre schön!« Sonja blickte gen Himmel. »Aber ich bin schon froh, wenn’s keine neuen Katastrophen gibt.«

Am Nachmittag rief Mr. Marx an. »Heute hab ich die Dokumente per Post verschickt«, sagte er. »Die Erbschaftssteuer ist beglichen, der Erbschein ist ausgestellt und dient somit als ordnungsgemäßer Nachweis ….«

»Sie haben also das Häuschen verkauft?«, unterbrach Sonja ungeduldig.

»Nein!« Die Stimme des alten Herrn klang beinahe triumphierend. »Ihre Tante war eine kluge Frau. In weiser Voraussicht hat sie eine Lebensversicherung abgeschlossen. Das habe ich allerdings erst bei gründlicher Durchsicht ihrer … äh …«, er räusperte sich, »well … sagen wir mal, nicht sehr übersichtlich geordneten Papiere herausgefunden. Die Lebensversicherung deckt so ziemlich genau den Betrag ab, den wir für die Steuern und mein Honorar benötigen.«

»Ach, das ist … das ist ja Wahnsinn!« Sonja traute sich noch nicht recht, in Jubel auszubrechen.

»Ja, ich musste lediglich das Boot und den kleinen Elektrogolfwagen verkaufen, mit dem Ihre Tante immer zum Einkaufen in die nähere Umgebung fuhr. Das Auto ist noch da, auch das Mobiliar. Ziemlich abgewohnt, sagt Greg, mein junger Assistent, der die Inventarliste erstellt hat.« Mr. Marx machte eine kleine Pause. »Vielleicht möchten Sie die persönliche Hinterlassenschaft, Bilder, Alben und so weiter, noch einmal durchsehen, bevor wir alles zum Verkauf anbieten? Ich habe schon ein Vorgespräch mit einem …«

In dieser Sekunde machte es bei Sonja klick. Erst ihr wiederbelebter Rhodo, jetzt diese Wendung … Das war ein Zeichen! »Halt, warten Sie!«, rief sie. »Unternehmen Sie nichts weiter! Ich komme nach Dolphin Island.«

Irmi, die Mutter einer Schulfreundin, arbeitete schon lange als Reiseleiterin. Sie gab Sonja Tipps für ihren USA-Trip, zum Beispiel für den Leihwagen und die geeignete Prepaid-SIM-Karte für ihr Handy, aber vor allem verhalf sie ihr in Rekordzeit zu einem Visum, das zu einem sechsmonatigen Aufenthalt berechtigte. Eigentlich wollte Sonja nur vier Wochen drüben bleiben. »Ach, man kann nie wissen«, hatte Irmi gesagt, »in deinem Fall ist das sinnvoller als nur ein einfaches Touristenvisum, mach das mal. Dann bist du flexibler.«

3

Vier Wochen später, es war Mitte März, saß Sonja im Flugzeug. Sie konnte es noch gar nicht fassen.

Und endlich nahm sie den Brief, den ihre Mutter ihr kurz vor der Abreise zugesteckt hatte, aus ihrem kleinen Rucksack. »Ich hab unsere Kiste mit den Familienunterlagen durchgesehen«, hatte sie gesagt. »Mir war nämlich so, als hätte Oma alle Briefe von Sandra aufbewahrt. Leider sind die meisten inzwischen unleserlich, wegen der Feuchtigkeit. Du erinnerst dich sicher, da war doch dieser Wasserschaden im Keller vor ein paar Jahren … Aber der Brief hier ist noch gut zu entziffern.« Sonja hatte ihn nicht sofort gelesen, das wollte sie jetzt in Ruhe machen. Das Luftpostbriefpapier knisterte und müffelte etwas. Hoffentlich störte es die schlummernde Dame neben ihr nicht.

Es waren vier, auf beiden Seiten schwungvoll mit dunkelblauer Tinte beschriebene dünne Bogen aus dem Jahr 1952. Das genaue Datum konnte man nicht mehr erkennen. Offenbar war der Brief abschnittweise an mehreren Tagen geschrieben worden.

Ihr Lieben!,las Sonja. Dass die Amerikaner, oder sollte man besser sagen die Kalifornier, viel ungezwungener und freier sind als die meisten Deutschen, das habe ich Euch schon berichtet. Es gefällt mir, dass die Menschen hier nicht so steif und streng sind. Das Tiefgründige sucht man hier vergebens. Heute möchte ich Euch ein wenig von meiner Arbeit schreiben, wenngleich ich das, was ich mache, überhaupt nicht als Arbeit empfinde, sondern als ein großes Vergnügen. Ich bin, wie Ihr wisst, in Hollywood gelandet, und zwar bei Metro-Goldwyn-Mayer (MGM). Das sind die, bei denen am Anfang des Films immer der Löwe brüllt. Derzeit darf ich als eines der Girls im Wasserballett für einen neuen Musicalfilm mit Esther Williams mitspielen (bin eingesprungen für ein erkranktes Mädchen). Unser Regisseur hat letztes Jahr einen Film gemacht, der nicht nur bei der Oscar-Verleihung ein großes Gesprächsthema war– Quo vadis, einer von diesen Sandalenfilmen, die im alten Rom spielen. Wir tragen aber keine Sandalen, sondern goldfarbene Badeanzüge und -hauben. Wir »Badenixen« tanzen, plantschen, schwimmen und tauchen nach einer wunderbaren Choreografie. Wir bilden große Blüten und andere schöne bewegte Formen, alles wird in Technicolor von den Kameras aufgenommen. Es macht riesig viel Spaß! Ich hoffe, dass der Film irgendwann einmal auch in Deutschland gezeigt werden wird.

Miss Williams ist wirklich umwerfend, und sie sieht auch noch fantastisch aus. Man glaubt es kaum, dass sie schon zwei kleine Söhne hat. Was sie leistet, ist einfach phänomenal. Sie lächelt zwar immerzu, aber ich weiß genau, wie anstrengend ihr »Job« ist. Das ist Hochleistungssport! Sie hat mir erzählt, dass sie 1940 in der US-Olympiamannschaft war, aber die Spiele in Tokio mussten dann ja wegen des Krieges abgesagt werden.

Unser Film erzählt die wahre Geschichte der Australierin Annette Kellerman. Die hat uns übrigens neulich am Set besucht. Inzwischen ist sie Mitte sechzig und immer noch gut in Form. Aber sie spricht bis heute mit einem ziemlich unschönen australischen Akzent. Um die Jahrhundertwende war Mrs. Kellerman die beste Schwimmerin der Welt. Sie trat in einem gläsernen Aquarium in einer Wasserschau auf, wurde ein Stummfilmstar und verursachte viele Skandale. Als erste Frau zeigte sie sich öffentlich in einem einteiligen Badeanzug, der Beine und Arme unbedeckt ließ. Das galt 1907 noch als unanständig, sie kam deshalb vor Gericht.

Das Aquariumtheater hieß Hippodrome. Es stand in New York. Sie haben es für unseren Film originalgetreu nachgebaut. Wir drehen die Wasserszenen auf Stage30. Dort befindet sich ein großer Pool, durch den schon Tarzan (Johnny Weissmüller) gekrault ist. Das Wasser wird immer angenehm temperiert gehalten. Anfangs fühlte ich mich von dem Chlorgeruch und der Wärme ständig benebelt, aber langsam gewöhne ich mich daran. Auf der Sprechbühne nebenan ist es durch eine Klimaanlage auf weniger als zwanzig Grad Celsius heruntergekühlt, was zur Folge hat, dass viele Kollegen erkältet sind. Miss Williams versucht deshalb, so lange wie möglich im Pool zu bleiben. Sie kann sogar im Wasser ein Nickerchen machen. Ich habe es mit eigenen Augen gesehen! Sie klemmt ihre Zehen unter einen Vorsprung am Poolrand, lässt sich auf dem Rücken liegend treiben und döst, ohne unterzugehen.

Auf dem Studiogelände trifft man natürlich auch jeden Tag berühmte Schauspieler. Das ist wirklich aufregend. Ihr glaubt nicht, wen ich schon alles leibhaftig gesehen habe! Clark Gable, Lana Turner, Robert Taylor, Rita Hayworth, Lex Barker, Elizabeth Taylor, Spencer Tracy und Katharine Hepburn. Ich bitte allerdings nie jemanden um ein Autogramm, das wäre mir peinlich. (Also schickt mir bitte keine diesbezüglichen Aufträge aus dem Ammerland!) Die meisten Stars sind ganz in Ordnung, sogar richtig nett und kollegial. Aber einige benehmen sich unerträglich. Joan Crawford zum Beispiel ist eine richtige Ziege, die schlimmste Diva von allen. Sie umgibt sich meistens mit einem unterwürfigen Hofstaat.

Gestern, als ich zum Sprechtraining gehen wollte (ich spare jeden Penny, um durch den Unterricht meinen deutschen Akzent schneller loszuwerden), da wäre ich fast mit Jimmy Parks zusammengestoßen. Er ist einer von diesen Schönlingen, die sich wer weiß was einbilden. Nur weil er gut aussieht, weiße Zähne hat, braun gebrannt und ein bisschen sportlich ist, glaubt er, er könnte alle Frauen mit seinem angeblich unwiderstehlichen Charme beeindrucken. Dabei ist er verheiratet und der arroganteste Mensch, der mir je begegnet ist. So, für heute muss ich Schluss machen. Dotty, meine Zimmergenossin, möchte, dass ich sie für ihr Vorsprechen morgen abfrage.

Sonja lehnte den Kopf zurück. Meine Güte, was für eine andere Welt! Wenn sie doch nur damals, als Sandy in Deutschland zu Besuch gewesen war, schon von deren Hollywooderfahrungen gewusst hätte! Sie hätte sie gelöchert mit Fragen. Was mochte ihre Tante wohl von Kalifornien nach Florida gebracht haben? Und weshalb wusste ihre Mutter so wenig über Sandys Leben? Hatte es sie nicht interessiert? Oder war sie wirklich zu beschäftigt gewesen mit ihrer jungen Ehe, der wachsenden Familie? Vermutlich Letzteres, überlegte Sonja, immerhin waren drei ihrer Brüder in aufeinanderfolgenden Jahren geboren worden. Gespannt las sie weiter.

Typisch für Hollywood ist, dass hier mehr getratscht wird als auf dem Wochenmarkt in Bad Zwischenahn. Es gibt Magazine, in denen man Berichte von Fans liest (so nennt man hier begeisterte Anhänger), die ihre Lieblinge zu Halbgöttern idealisieren, und andererseits Klatschblätter, die raffiniert böse Gerüchte verbreiten. In den Drehpausen wird nur getuschelt. Heute habe ich erfahren, dass Esther Williams’ Mann ein Trinker und Spieler sein soll. Er ist dick wie ein Walross, nicht (mehr) halb so attraktiv wie ihr aktueller Filmpartner Victor Mature, dem man Affären mit vielen Schauspielerinnen nachsagt. Ich habe die beiden heute genau beobachtet, sie waren in der Liebesszene mit außergewöhnlicher Hingabe bei der Sache. Man hörte es förmlich knistern!

Wir Synchronschwimmerinnen hatten eine Nummer, für die wir Badeanzüge trugen, die auf der einen Längshälfte pinkfarben und auf der anderen Seite grün sind. Mit solchen Tricks lassen sich durch Körperdrehungen und bestimmte Abfolgen grandiose Wirkungen erzielen. Heute wurden auch Tauchszenen gedreht. Die sind besonders kräftezehrend. Man muss nämlich unter Wasser nicht nur seine Choreografie im Kopf behalten, sondern auch immer bestimmte Markierungen beachten und jede Bewegung an der richtigen Stelle machen, damit die Kamera vor dem Unterwasserfenster auch alles korrekt aufnehmen kann. Wenn der Regisseur nicht zufrieden ist, brüllt er durch den Unterwasserlautsprecher. Dabei sind meine armen Ohren doch ohnehin schon strapaziert! Miss Williams sagt, sie habe ihre Trommelfelle längst MGM geopfert. Ja, witzig ist sie auch noch!

Ich kann übrigens nachmittags doppelt so lange tauchen wie morgens. Miss Williams geht es ebenso. Wahrscheinlich weitet sich die Lunge im Laufe des Tages. Ich glaube, die wichtigste Lektion, die ich hier gelernt habe, ist, dass man mit seiner Energie haushalten muss. Oder wie Miss Williams zu sagen pflegt: Heb dir immer etwas Kraft bis zuletzt auf, damit du ohne Hilfe aus dem Pool steigen und dabei noch lächeln kannst. Deshalb geh ich jetzt zu Bett. Morgen steht eine wichtige und sehr schwierige Nummer auf dem Drehplan. Wenn eine von uns da an der falschen Stelle das falsche Bein hebt, ist der ganze »Take« im Eimer. Miss Williams soll auf einer winzigen Plattform mit Hydraulikvorrichtung– verborgen hinter Wasserfontänen– langsam über fünfzehn Meter in die Höhe steigen. Es soll aussehen, als würde sie auf dem Wasser schweben und dann muss sie in ihrem glitzernden engen Ganzkörperanzug, der mit fünfzigtausend goldenen Pailletten bestickt ist, einen Kopfsprung in den Pool machen. Eine Kamera wird das aus der Vogelperspektive aufnehmen. Und ich werde ein Blütenblatt der »Blume« sein, in deren Mittelpunkt sie kopfüber landet! Da müssen wir alle ausgeruht sein.

Sonja wendete das Blatt. Schon an der Handschrift, die unausgeglichener wirkte, konnte sie erkennen, dass die letzten Zeilen in größter Erregung geschrieben worden waren.

O Gott! Wir stehen alle unter Schock! Etwas Schreckliches ist passiert. Miss Williams hat den gefährlichen Sprung wie erwartet mit Anmut gemeistert, sich dabei aber schwer verletzt! Es lag an der vergoldeten Metallkrone, die sie trug, heißt es. Beim Aufprall mit dem Kopf voran… Keiner von uns hat etwas gemerkt, denn gleich nach dem Sprung rief der Regisseur: Okay, Zeit fürs Mittagessen! Und wir sind schnatternd und lachend in die Umkleideräume gelaufen, froh, dass die Szene im Kasten war. Miss Williams aber lag halb gelähmt im Pool. Sie ist nur nicht ertrunken, weil ihre Garderobenfrau Flossie kam, um ihr aus dem Kostüm zu helfen.

Flossie hat sofort ein paar Männer, die im Nachbarstudio arbeiteten, alarmiert. Einer von ihnen war ausgerechnet Jimmy Parks. Ich werde meine Meinung über ihn wohl ändern müssen. Sie haben blitzschnell ihre Schuhe und Jacketts ausgezogen, sagt Flossie, und sind ins Becken gesprungen, um Miss Williams vorsichtig herauszuholen. Vor Schmerzen soll sie laut geweint haben. Miss Williams befindet sich jetzt im Hospital. Wir beten für sie. Der Unfall bringt alles durcheinander. Wir wissen nicht, was mit dem Film oder unserer Arbeit werden wird. Bitte, betet auch für Miss Williams!

Ich hoffe, Euch allen geht es gut. Ich denke oft an Euch und umarme Euch in Gedanken ganz fest.

Eure Sandra/Sandy