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Ein großer Generationsroman über die Liebe und das Leben
An einem Montagmorgen erhält Georg von Heuken von seiner Sekretärin eine schlimme Nachricht: Sein Vater, Richard von Heuken, ist mit einem zweiten Herzinfarkt ins Krankenhaus eingeliefert worden. Es stellt sich heraus, dass er seinen Geschäften im Verlag nicht mehr nachgehen kann – eine Chance für seinen Sohn, endlich die Leitung sämtlicher, zum Familienbesitz gehörender Verlage zu übernehmen. Mit dem Vater verliert in Ortheils Roman die Generation ihre Macht, die nach dem Krieg unbekümmert ihren Erfolg gesucht hat und ihren Söhnen nur widerstrebend Platz machte. Vor diesem Hintergrund hat Hanns-Josef Ortheil einen großen Familien- und Generationenroman geschrieben, in dessen Mittelpunkt keineswegs bloß der Kampf um ein Erbe steht – sondern auch der um eine geheimnisvolle Frau.
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Seitenzahl: 581
An einem Montagmorgen erhält Georg von Heuken von seiner Sekretärin eine schlimme Nachricht: Sein Vater, Richard von Heuken, ist mit einem zweiten Herzinfarkt ins Krankenhaus eingeliefert worden. Es stellt sich heraus, dass er seinen Geschäften im Verlag nicht mehr nachgehen kann – eine Chance für seinen Sohn, endlich die Leitung sämtlicher, zum Familienbesitz gehörender Verlage zu übernehmen. Mit dem Vater verliert in Ortheils Roman die Generation ihre Macht, die nach dem Krieg unbekümmert ihren Erfolg gesucht hat und ihren Söhnen nur widerstrebend Platz machte. Vor diesem Hintergrund hat Hanns-Josef Ortheil einen großen Familien- und Generationenroman geschrieben, in dessen Mittelpunkt keineswegs bloß der Kampf um ein Erbe steht – sondern auch der um eine geheimnisvolle Frau.
Hanns-Josef Ortheil wurde 1951 in Köln geboren, er lebt als Schriftsteller in Stuttgart und Wissen an der Sieg und lehrt als Professor für Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus an der Universität Hildesheim. Seit vielen Jahren gehört er zu den bedeutendsten deutschen Autoren der Gegenwart, sein Werk ist mit vielen Preisen ausgezeichnet worden, zuletzt mit dem Brandenburger Literaturpreis, dem Thomas-Mann-Preis der Hansestadt Lübeck und dem Georg-K.-Glaser Preis des SWR und des Landes Rheinland-Pfalz. Sein Werk erscheint im Luchterhand Verlag
Hanns-Josef Ortheil
Die geheimen Stunden der Nacht
Roman
btb
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Copyright © 2005 by Luchterhand Literaturverlag, München einem Unternehmen der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München. Umschlaggestaltung: Design Team München unter Verwendung eines Motivs von Philipp Keel Satz: Filmsatz Schröter GmbH, München
KS · Herstellung: BB
ISBN 978-3-641-11186-1 V002
www.btb-verlag.de
Dieser Roman istder Verlegerin Imma Klemm,der Enkelin des Verlegers und Lyrikers Wilhelm Klemm,der Urenkelin des Verlegers Alfred Kröner,der Ururenkelin des Verlegers Adolf von Kröner,der als Vorsteher des »Börsenverein des Deutschen Buchhandels«in Deutschland die Preisbindung von Büchern durchsetzte,gewidmet.
GEORG VON HEUKEN verläßt sein Haus kurz nach neun, es ist ein herbstlicher Montag, Wochenbeginn also, einer dieser Tage, an denen es auf seine Anwesenheit ankommt, mittags gegen zwölf zum Beispiel während der großen Konferenz mit den Lektoren des Verlages, den von Heuken seit erst zwei Jahren leitet. Auf dem Weg zur Garage schaut er kurz hinunter zum Rhein, das Haus liegt kaum zweihundert Meter vom Ufer entfernt in Rodenkirchen, einem südlichen Stadtteil von Köln. Jeden Morgen scheint das bekannte Bild für einen kurzen Vertrautheits-Moment stillzustehen: der graublaue Fluß-Fries mit dem Wellenrelief, der milchige Dunst des anderen Ufers mit seinen fleckigen Wiesen, wo längst die Jogger von ihren herumeilenden Hunden eingekreist werden.
Der Rhein hier bei Köln mit dem dicht gestaffelten Parcours der Brücken und den darunter hergleitenden Schiffen ist eines der frühsten Kindheitsbilder, das von Heukens Leben begleitet, nicht weit von diesem Ufer, im nobleren Stadtteil Marienburg, wurde er vor zweiundfünfzig Jahren geboren, manchmal verbindet das Rheinbild sich mit einem schwachen Ölgeruch, der vom Ufer heraufflackert, dann sind die Szenen der Kindheit plötzlich da: barfuß mit den Geschwistern am schimmernden Ufer, die Hosen hochgekrempelt, ein scharfes Sonnenätzen im Nacken und das weiße Unterhemd, das ein Windzug manchmal kurz aufbläht.
Heute morgen aber ist keine Zeit für sentimentale Schübe, von Heuken schaut wieder zu Boden, wie er es oft tut bei diesen wenigen ersten Schritten am Morgen ins Freie, am liebsten wäre er unsichtbar zu dieser Uhrzeit oder höchstens ein blasser Schatten, dem ein paar stumme Helfer alle Handgriffe abnehmen. Das Tor der Garage springt langsam und schwerfällig auf, von Heuken duckt sich und drängt sich leicht gebückt in den kühlen, etwas zu niedrigen Bau, wo der neue rote Mazda RX mit seinen schwarzroten glänzenden Ledersesseln nur auf ihn wartet, er steht da wie ein exotisches fettes Insekt, das in solchen Standboxen auf ideale Weise gedeiht und bei Sonnenlicht ausrastet. Vier Türen, vier Sitze – das war der Kompromiß, auf den von Heuken sich gerade noch eingelassen hatte, dafür ist der Wagen für seinen Geschmack immer noch Sportwagen genug, auf den Punkt getrimmt und mit einem leicht arroganten Design, durchaus also etwas für Fahrer, die ihre Runden auch einmal allein drehen wollen.
Er startet den Wagen und läßt ihn aus der Garage rollen, er glaubt förmlich zu spüren, wie scharf dieses Auto darauf ist, loszubrausen, und wie es sich denn doch zurückhält, um fast lautlos auf die schmale Straße vor seinem Haus zu gleiten. Neun Uhr vier, denkt von Heuken, exakt in der Zeit, in seinem Büro schaltet Joana jetzt das Schreibtisch-Licht ein und stimmt es mit dem Dimmer ab auf das mulmige Dunkel des Herbstes. Der Glaspalast des Konzerns, der aussieht, als habe man einen gewaltigen Haufen glänzender Gelatine mitten in eine wüste Leere gestellt, liegt im Kölner Norden, vom frühen Morgen an bekommen die Mitarbeiter die Veränderungen des Wetters bis in jedes Detail mit, das ist lästig und kostet nur Zeit, insgeheim war von Heuken immer gegen solche angeblich radikalen Extravaganzen, Pa aber war davon begeistert, Pa mit seinem koreanischen Star-Architekten, der ihm etwas von Transparenz und Klarheit vorgeschwärmt hatte, jetzt war es zu spät, und Transparenz und Klarheit waren nichts anderes als lächerlich gewordene Begriffe eines asiatischen Snobs, der nicht einmal an das Kölner Wetter gedacht hatte.
Kölsch Wetter, denkt von Heuken und bläst etwas kühle Luft gegen das Lederlenkrad des roten Mazda, Wolken, die sich gerade noch über den Rheinbrücken halten, die Blätter der Uferalleen eindicken und sich mit einem Platzregen in den Fluß sacken lassen, und dazu jede halbe Stunde ein taumeliger Wind aus einer anderen Richtung. Er hält das Lenkrad mit beiden Händen und biegt in den dichten Verkehr ein, der direkt am Rhein entlang nach Norden fließt, er überlegt kurz, ob er das Radio einschalten soll, dann aber spürt er, wie er fast von allein tiefer hineinsackt in den schräggestellten, bequemen Sitz, wie er abtaucht und dem Wagen die Fahrt überläßt.
Die Kinder, Marie und Johannes, sind längst in der Schule, Marie ist fünfzehn und Johannes kaum ein Jahr jünger, morgens bekommt er nicht viel von ihnen mit, sie frühstücken unten in der Küche, wo ihnen das englische Hausmädchen, dessen Namen er immer wieder vergißt, etwas hinstellt. Wenn sie das Haus verlassen, hört man die schwere Tür ins Schloß schlagen, dann schnarren die beiden Mofas kurz auf, selbst bei diesem Sauwetter fahren die Kinder damit zur Schule, mit eingezogenen Köpfen, regungslos in sich zusammengekrümmt, als verstopfe ihnen das britische Frühstück, das sie wegen ihrer Begeisterung für irgendwelche Pop-Gruppen von der Insel jeden Morgen in sich hineinschaufeln, den Magen.
Clara aber sitzt jetzt noch unten im Erkerzimmer, wo sie gegen acht meist zusammen frühstücken, sie durchblättert die Zeitungen und die Trend-Journale, von denen alle paar Tage welche ins Haus flattern, für einen kurzen Moment sieht er sie hinter der breiten Glasfront in ihrem Korbsessel sitzen, der breite Gürtel des Bademantels hängt längst schlaff zu beiden Seiten herab, seit sie Fünfzig geworden ist, läßt sie sich ein wenig gehen, Georg von Heuken hat die kleinen Signale müder Resignation genau bemerkt, aber natürlich hat er sie nie erwähnt, sie sprechen darüber nicht, sie geben sich Mühe, weiter zusammenzuhalten, erst recht jetzt, wo von Heuken den Verlag endlich führt, an dessen Spitze er seit mehr als zehn Jahren hatte stehen wollen.
Caspar & Cuypers hat der alte von Heuken Mitte der fünfziger Jahre gekauft, damals war es ein, wie man so sagt, alteingesessener Kölner Verlag ohne Erben, Pa hat sich mit seinem Duzfreund Walter Caspar angeblich im Früh am Dom während eines langen Mittagessens geeinigt, noch heute erzählt er davon, von Rheinischem Sauerbraten und sechzehn Kölsch, von vier holländischen Zigarren und acht Klaren, niemand konnte damals mit Pa mithalten und erst recht nicht Walter Caspar, der noch an seinen Kriegsverletzungen laborierte, während Pa bereits zu einer Inkarnation des Wirtschaftswunders geworden war, ein junger, zielstrebiger Mann um die Dreißig mit einem ausgeprägten kaufmännischen Instinkt, der begonnen hatte, sich eine Unternehmensgruppe zusammenzukaufen.
Caspar & Cuypers also …, mit seinen mehr als zehn Lektoren und hundert Mitarbeitern ist er inzwischen ein Traditionsverlag der Heuken-Gruppe, Belletristik und Sachbuch, Reisebücher, nicht zu vergessen die nach wie vor florierende Abteilung Kunst & Fotografie, Caspar & Cuypers ist ein hoher Gewinnposten in der Bilanz, aber wenn man diesen Verlag leitet, ist man noch lange nicht an der Spitze des Konzerns angelangt, zu dem noch sechs weitere Verlage, vier Zeitungen, mehrere Zeitschriften und ein Buchclub gehören. Die Konzernleitung hat der alte von Heuken noch nicht aus der Hand gegeben, seit Jahren werden Gespräche geführt, Planungen angestellt, Umstrukturierungen sind angeblich notwendig, bis jetzt ist aber nichts Greifbares dabei herausgekommen, außer mehreren eintägigen Treffen des Alten mit seinen drei Kindern, Georg ist der älteste, aber es gibt auch noch Christoph und Ursula, auch diese beiden leiten jeweils einen Verlag, zum Glück nicht hier in Köln, sondern in Stuttgart und Frankfurt.
Der rote Mazda kommt immer wieder in den langen Schlangen, die sich am Rheinufer entlangziehen, zum Stehen, Georg von Heuken wartet jetzt in Höhe des Doms, manchmal sucht er mit seinen Blicken nach einem Halt in diesen schwarzgrauen Massen, aber es gelingt ihm nie, kein Detail, nichts bietet sich an, jeder Blick malt nur ein paar stumpfe, bohrende Kreise in die Außenfassade, die aussieht wie erstarrter dunkler Biskuit. Einmal ist er mit einem amerikanischen Geschäftspartner in einem Außenaufzug an all diesen spitzen Fialen und Kreuzblumen entlang in die Höhe gefahren, schon der Gedanke an das enge Gefährt und den hereinpläddernden Wind läßt ihn zusammenzucken, seither macht ihm dieses Gebäude noch mehr angst als früher, als er sich als Kind in seinen unterkühlten Hallen bewegte, in der Sakramentskapelle des Doms wurde er sogar getauft, der Alte hatte darauf bestanden, all seine Kinder und auch die drei Enkel erhielten die Taufe in dieser Kapelle, seit vielen Jahren hat Georg von Heuken sie nicht mehr betreten.
Als er wieder anfahren will, klingelt das Handy, Joana meldet sich aus seinem Büro, »entschuldigen Sie, Herr von Heuken, es handelt sich um eine dringende Sache«, sagt sie so leise, als dürfe es niemand hören, er gibt kurz durch, wo er sich gerade befindet, »spätestens in zehn Minuten bin ich da«, sagt er betont gelassen, doch sie insistiert, »Ich glaube, Sie sollten es sofort erfahren, Herr von Heuken.« Joanas Ton klingt ganz anders als sonst, er hört es sofort, und es wundert ihn, da er diesen gepreßten, etwas unruhigen Ton von ihr nicht kennt, Joana ist eine Person, die ihre Emotionen perfekt kontrolliert, gerade deshalb hat er sie ja zu seiner Sekretärin und rechten Hand gemacht, vor genau zwei Jahren, als sie sich mühelos gegen fünf Bewerberinnen durchsetzte, drei Sprachen fließend, nicht aus Köln, wohl aber aus der Region, eine schmale, große und doch wohltuend unauffällige Frau, die ihn bisher noch nie enttäuscht hat. Er sagt, daß er sofort zurückrufen werde, dann zieht er sich, die beiden Hände jetzt noch fester am Steuer, in seinem Sitz hoch, er biegt von der Uferstraße nach links ab und parkt den Wagen in der nächsten Lücke, die sich in dem zum Rhein hin gerichteten Parkstreifen auftut.
»Was gibt’s denn, Joana?« meldet er sich wieder und schaut jetzt direkt auf den Rhein. »Ihr Herr Vater hatte heute früh eine Herzattacke«, antwortet die Stimme, der er einen Moment nachhorcht, während er gleichzeitig schon die Wagentür öffnet und den Wagen verläßt, er steht jetzt im Freien und lehnt sich mit seinem ganzen Gewicht schwer gegen die hintere Tür, er schluckt kurz, mit einem Mal ist seine Zunge so trocken und rauh, als habe er tagelang nicht getrunken.
»Hören Sie mich?« fragt Joana, von Heuken bemüht sich, ruhig zu antworten, »ja, ich höre Sie gut, Joana, sprechen Sie weiter«. Er schluckt mehrmals und hastig, er versucht, den trockenen Mund zu befeuchten, jetzt ist der Moment da, denkt er, der Moment, von dem wir Geschwister manchmal gesprochen und an den wir doch nicht geglaubt haben, der zweite Herzinfarkt, immerhin mehr als zehn Jahre nach dem ersten, der Moment, nach dem, wie Christoph einmal spöttisch gesagt hat, nichts mehr so sein wird wie früher. Von Heuken kratzt sich am Kopf, es ist ein purer Reflex, in San Francisco hat er als junger Buchhändler einmal einen Kurs in Katastrophen-Training besucht, wie reagiere ich auf plötzliche, unerwartete Ereignisse, auf den Tod eines nahen Menschen, auf Unfälle, auf alles, was den Lebensfaden mit einem einzigen Hieb zerteilt, so daß er sich vielleicht jahrelang nicht neu knüpfen läßt. Einige Kurs-Teilnehmer hatten solche Kurse bereits hinter sich und berichteten detailliert, was sie unternehmen würden, ihm war es schließlich zuviel geworden, er hatte nachts von diesen Berichten geträumt, es hatte ihn richtiggehend hineingezogen in das finsterste Unglück, Wochen hatte er gebraucht, die depressive Lethargie loszuwerden, die all diese Ego-Manien in ihm ausgelöst hatten.
Jetzt ist genau die Stimmung von damals wieder da, das fahle Entsetzen, der offene Mund mit der pelzigen, rasch dicker werdenden Zunge, Gary, der Coach, hatte das alles exakt anhand von bunten anatomischen Skizzen erklärt, diesen ganzen Aufruhr des Körpers mit seinen hintersinnigen, minimalen Zeichen, die sich bald von außen nach innen verlagern und zu Bildern einer entwürdigenden Abwesenheit und eines apathischen Herumfummelns führen. Er kratzt sich weiter, er fährt mit der flach ausgestreckten Rechten immer wieder über sein Haar, dann sagt er noch einmal: »Sprechen Sie weiter, Joana, ich höre«, er steht jetzt steif neben seinem roten Mazda RX, der ihm noch nie so lächerlich vorkam, deplaziert, eine Schnapsidee, ein kastrierter Traum, am liebsten würde er ihn sofort im Rhein versenken.
»Die Nachricht kam vom Empfangschef des Dom-Hotels«, macht Joana nun weiter, »Ihr Herr Vater ist etwa vor einer halben Stunde in seiner Suite zusammengebrochen, ganz plötzlich, der Zimmerservice servierte gerade das Frühstück.« Wieder versteht er nur langsam, wieder verdrehen sich diese Worte zu einem Strudel, der sich in lauter schwarzen Blasen verliert, welche Suite, wieso im Dom-Hotel, heißt das, daß Vater nicht zu Hause übernachtet hat, nicht in Marienburg also, sondern außerhalb, im Hotel? Aber warum sollte er im Dom-Hotel übernachten, von dem aus ein Taxi kaum zehn Minuten bis nach Marienburg braucht?
»Die Klinik wurde sofort verständigt«, sagt Joana, »soll ich nachfragen, ob der Transport schon dorthin unterwegs ist?«
»Nein«, antwortet von Heuken, »ich fahre hin, ich bin nicht einmal drei Minuten vom Hotel entfernt, sprechen Sie mit niemandem darüber, Joana, keinerlei Auskünfte, Sie wissen von nichts, ich melde mich sobald es geht wieder bei Ihnen.«
»Ich habe verstanden«, sagt Joana, »und es tut mir leid, Herr von Heuken, auch für Sie tut es mir leid, meine ich.«
»Danke, Joana«, antwortet er, während er rasch einsteigt und das Handy auf den Beifahrersitz legt. Wenn der Transport unterwegs ist, lebt Vater noch, denkt er, genauer nachzufragen hat er nicht gewagt, noch lebt Vater, denkt er stur immer wieder, dann aber sagt er sich, daß er diese schräge Sitzgarnitur so schnell es geht vor das Dom-Hotel fahren muß, rechts abbiegen, ein paar hundert Meter geradeaus, gleich wieder rechts, in maximal fünf Minuten wird er dasein, aber was wird sein, wenn man ihm dort doch einen Toten präsentiert, für Sekunden sieht er das Bild eines Leichnams, dessen harte Konturen sich durch eine über ihn gebreitete Decke pressen, weiß ist diese Decke, milchweiß, gleich wird eine Hand am Kopfende sie zurückschlagen und den Blick auf einen Schädel mit weitgeöffnetem Mund freigeben, so jedenfalls stellt er es sich vor, Pas großen, beinahe kahlen Schädel mit den fleischigen, sinnlichen Lippen, die bereits etwas gesprungen und von feinen, welken Lamellen durchzogen sind. Den Leichnam seiner Mutter hat er nie gesehen, sie ist vor acht Jahren gestorben, nachdem sie bald zwei Jahre allein in einer Drei-Zimmer-Wohnung verbracht hatte, kaum fünfhundert Meter von seinem Elternhaus entfernt, in dem der alte von Heuken bis jetzt mit seiner Haushälterin lebt.
Liesel Burger, die Haushälterin … – während er viel zu schnell zum Dom-Hotel einbiegt und durch zwei Ampeln aufgehalten wird, überlegt Georg von Heuken, ob er sie anrufen und fragen soll, warum sein Vater im Dom-Hotel übernachtet hat, rasch aber überlegt er es sich anders, erst will er wissen, wie es Vater geht, dann kann das Nachfragen beginnen, das nicht leicht werden wird, erst recht nicht im Fall von Liesel Burger, die Pa schließlich seit über fünfzig Jahren betreut. Seltsam, diese stabilen Lebenskreise, denkt er, Liesel leitet Vaters irdischen Hofstaat, das große Haus mit den Angestellten und dem weiten Gartengelände, fast ebensolang wie Minna Zech sein Büro, schwer zu sagen, wer die Stärkere von beiden ist, sie konnten sich niemals ausstehen, sie haben immer darum gekämpft, in Pas Umkreis die wichtigste Rolle zu spielen, richtig erbittert wurde das, als Pa sich von Mutter trennte, sie war der einzige stabile Halt, den er nach vielen Ehejahrzehnten preisgab. Was da vor zehn Jahren passiert ist, weiß niemand genau, und Mutter hat darüber mit niemandem eingehender gesprochen, höchstens, vielleicht, mit Ursula, aber aus Ursula war noch nie etwas herauszubekommen.
DAS NADELÖHR, denkt Georg von Heuken, als die Glastür des Hoteleingangs vor ihm aufspringt, dahinter empfängt ihn die smarte, heimlichtuerische Dunkelheit, die Grand-Hotels im Rezeptionsbereich gern zelebrieren, im Aufenthaltsraum zur Linken sitzen bereits ein paar ältere Gäste in den Sesseln und haben sich die neuesten Zeitungen geschnappt, von Heuken hat gleich den Verdacht, daß es Menschen mit Schlafstörungen sind, die sich so früh wie nur möglich über das Frühstücksbuffet hergemacht haben, um sich im Ausgleich für den fehlenden Schlaf mit so schwerer Kost wie geräuchertem Lachs, Eiern und Speck zu versorgen. Die beiden jungen Empfangsdamen, die wie zwei Schwestern dicht nebeneinander stehen, schauen zu ihm auf, erkennen ihn aber nicht, sie halten ihn für einen Gast, der jetzt sein Anliegen vortragen wird, von Heuken geht direkt auf sie zu und bleibt dicht vor ihnen stehen, um sie gut fixieren zu können.
»Guten Morgen, mein Name ist Georg von Heuken«, sagt er mit einem gewissen Nachdruck, mehr glaubt er nicht sagen zu müssen, damit sie sofort reagieren und ohne jedes Zögern davonschwirren, um den Empfangschef zu holen. Sie starren ihn einen Moment an, während er überlegt, welche von beiden aus der Region ist, vielleicht die blonde mit dem glatten, gepäppelten Teint und der unvermeidlichen Solarium-Bräune, mit Menschen aus der Gegend kommt er gut zurecht, und jetzt ist es wichtig, mit den Angestellten dieses Hotels gut klarzukommen. Er fixiert die beiden weiter, doch es ist genau die andere, die antwortet, sie sagt nur »ja, sofort, Herr von Heuken, ich hole sofort den Empfangschef«, ihr Ton wirkt bedrückt, das bekommt sie gut hin, auch ihr Gesicht zeigt Züge leichter Erschütterung, als habe sie immerhin ein schwaches Mitleid gepackt. Georg von Heuken ist soviel Schauspielerei zuviel, er wendet sich ab und wartet ohne ein weiteres Wort auf den Empfangschef, er mustert die zeitunglesenden Paare, die schon wieder leicht schläfrig und voll der satten Müdigkeit, in die Eier mit Speck einen am frühen Morgen versetzen, auf ein Taxi oder den Start zu ihren Vormittags-Unternehmungen lauern, nie hätte Pa am frühen Morgen so ergeben und beinahe devot dagesessen, eher wäre er hinüber in die gleich dahinter liegende Hotelbar gegangen, um dort ein Glas Champagner zu trinken. Sir Peter Ustinov’s Bar – von Heuken hat ihren Namen sofort parat, kurz schaut er hinüber zum Oval ihrer Theke mit den hohen, lederbezogenen Barhockern, ein viel zu junges Gör füllt dort gerade eine Serie Glasschälchen mit Chips, Vater hätte sich mit ihr unterhalten, aber solche Mädchen sind heutzutage mißtrauisch, man hat ihnen eingeimpft, Abstand zu den Gästen zu halten, seit ein paar Jahren achtet man selbst an jedem lumpigen Post-Schalter auf diesen deutschen Sicherheits-Abstand, auf Intimität und Privatsphäre, inzwischen geben sich die meisten so privat, daß es ihnen nicht mal mehr gelingt, den richtigen Partner zu finden und mit ihm Kinder zu zeugen, all die nicht-gezeugten Kinder verdanken sich in Deutschland diesem elenden, mimosigen Sicherheits-Abstand, der so gar nicht zu Vater paßt, denn er kann nicht allein sein, stets zieht er sein Gegenüber in eine Unterhaltung, es gibt solche Menschen, es sind Meister der Konversation, die selbst von einem Gespräch mit einem beliebigen Fremden profitieren, oft waren sie auch gute Psychologen, erfahren jedenfalls in der Kunst, jemanden für sich einzunehmen, die besseren Vertriebs-Chefs der großen Verlage sind solche Meister, versierte Unterhalter, pfiffig, munter, solche Leute unterhalten sich schon frühmorgens mit ihrer elektrischen Zahnbürste und summen Melodien zu ihrem nervigen Brummen.
Er aber hat nichts von dieser Art, er bleibt in Gesprächen stets auf Distanz, das hat man ihm in den USA und in England beigebracht, schon mit zwanzig hat man ihn in die klassischen Disziplinierungs-Camps dieser Länder geschickt, Pa hatte die Kontakte vermittelt, natürlich Pa, der selbst niemals einen Rhetorik-Kurs belegt hätte, aber unbedingt darauf drängte, daß er bei so etwas mitmachte, in den 70ern hat er in New York und London eine Lehre und die weitere Ausbildung zum Verlagskaufmann absolviert, New York und London waren damals noch voller unruhiger, kaputter, vom kulturellen Aufbruch der sechziger Jahre zersprengter Zonen, die immer wieder durchspült wurden von den letzten, bereits verebbenden Wellen der bunten Revolten, ihn aber erreichten sie nicht, ihm brachte man bei, sich zu benehmen und das, was dort communication genannt wurde, freundlich, höflich und sachlich zu meistern, sein Leben verlief gegen den Zeitgeist, und er wurde ein Mensch mit gut versteckter Berührungsangst, der sich mit Ironie gegen die laufenden Moden abdichtet, dafür aber weiß, wo man die richtigen Anzüge kauft.
Als der Empfangschef erscheint, überprüft Georg von Heuken unwillkürlich Sakko, Hose und Hemd, der breite, schon etwas zerlaufene Typ trägt einen Blazer in Dunkelblau mit den obligatorischen Goldknöpfen, ein helles Hemd und eine Hose aus grauem Flanell, in die Brusttasche des Blazers ist ein winziges Wappen eingenäht, von Heukens Blick bleibt kurz an dieser Geschmacklosigkeit hängen, so daß er den Namen des Mannes nicht mitbekommt, nur einen leicht amerikanischen Akzent hört er heraus, anscheinend hat auch dieser Bursche Lehrjahre in den USA hinter sich, fade, zu große Steaks am Mittag mit etwas Salat, dazu ein kleines, labbriges Bier, von Heuken muß beinahe lächeln, dann jedoch zwingt er sich, zur Sache zu kommen. Er stellt sich kurz vor, dann bringt er es über die Lippen: »Wie geht es meinem Vater?«
Er hat damit gerechnet, nicht sofort eine Antwort zu erhalten, in diesem Ambiente wechselt man keine vertraulichen Sätze, »Bitte kommen Sie mit«, sagt der Empfangschef auch wirklich und macht eine beinahe galante Bewegung in Richtung des Fahrstuhls. Georg von Heuken studiert ihn, während er hinter ihm hergeht, er hat das Taxieren und Vergleichen gelernt, diesem Mann geht es jetzt darum, das Hotel aus der Sache herauszuhalten, so einer kennt die jetzt abzuwickelnden Schritte genau. Als sie im Fahrstuhl dicht nebeneinander stehen und der Fahrstuhl sich schleichend nach oben bewegt, beginnt er in einem gedämpften Kammerton mit der Schilderung der Vorgänge: »Es ist gegen acht Uhr dreißig passiert, der Zimmerservice brachte das Frühstück, Ihr Herr Vater stand am Fenster und schaute nach draußen. Als er sich umdrehte, brach er zusammen, es war wohl eine Herzattacke, vielleicht aber auch ein Infarkt. Ich wurde jedenfalls sofort informiert und habe wiederum augenblicklich die Klinik und Prof. Loeb verständigt, ich habe die beiden Nummern gewählt, die uns Ihr Herr Vater für den Notfall notiert hatte, nicht daß wir mit so etwas rechneten, aber ich hatte sie sofort zur Hand. Zum Glück erreichte ich Prof. Loeb auch persönlich, ich vermute, wenn jemand weiß, wie Ihrem Herrn Vater geholfen werden kann, ist er es, ich kenne ihn übrigens von einem Vortrag in unserem Hause anläßlich eines Ärzte-Kongresses her auch, er ist ein wunderbarer Mann, humorvoll, gelassen, eine echte Kapazität.«
Sie verlassen den Fahrstuhl, die obligatorischen Goldknöpfe gehen voraus, Georg von Heuken spürt eine leichte Beruhigung, das Ankommen auf diesen breiten Veloursteppichen mit den schwarzen Mäandermustern ist wohltuend, das gestreifte Weiß der Wände, die Messinggold-Töne der Lampen, die vollkommene Stille, dicht und intensiv wie in den Tiefen einer menschenleeren Krypta – all das sorgt für diese Entspannung, zu der sich ganz passend das Bild des Professors gesellt, Loeb ist ein kleiner, munterer Mann mit einer großen Brille in einem Osterhasen-Gesicht, er ist der Hausarzt der Familie und der angesehenste Kardiologe von Köln, Loeb wird nicht der geringste Fehler unterlaufen, sein vertracktes, kluges Hirn ortet noch die verstecktesten Symptome, ganz zu schweigen von den psychischen Begleiterscheinungen der Krankheiten, über die er zwei Bücher verfaßt hat.
»Solange wir auf den Krankenwagen warteten, hat eine unserer medizinisch sehr erfahrenen Angestellten mit den Sofortmaßnahmen begonnen, ich war selbst zugegen. Mund-zu-Mund-Beatmung, Herzdruckmassage, alles, was man in solchen Fällen tun kann, der Krankenwagen war in weniger als zehn Minuten zur Stelle«, macht der Empfangschef mit schräg zur Seite gedrehtem Kopf weiter, während er entschieden vorangeht. »Der Notarzt übernahm die weitere Versorgung, ich konnte sie aber selbst nicht mehr verfolgen, da Ihr Herr Vater unverzüglich abtransportiert wurde. Leider konnte ich auch nicht in Erfahrung bringen, wie ernst es um ihn steht. Zum jetzigen Zeitpunkt wird Ihr Herrn Vater sicher schon in der Klinik sein, ich denke, Sie brauchen sich nicht allzusehr zu beunruhigen.«
Sie stehen nun vor der Türe der Suite, der Empfangschef öffnet sie und geht ohne jedes Zögern voraus, plötzlich und vollkommen unerwartet steht Georg von Heuken im Reich seines Vaters, er spürt es sofort, alle seine Nerven und Sinne nehmen Witterung auf: der rote Schal auf der Couch, das zurückgeschlagene Bettuch, das die kleine Schlafmulde freigibt, die Vaters schwerer Körper die Nacht über in dieses glatte Weiß gepreßt hat, und dazu der unverwechselbare Geruch, etwas Herb-Erdiges, gepaart mit einer beinahe schwelgerischen Süße, es ist der Geruch, den er seit Kindertagen kennt, er füllt alle Zimmer, in denen sein Vater sich häufiger aufhält, bis in die letzten Ritzen. Von Heuken räuspert sich, Pas Nähe, die dieses Zimmer und die in ihm verstreuten Gegenstände vermitteln, ist fast zuviel für ihn in diesem Moment, die meterhohen Gardinen sind noch beiseite gezogen und geben den Blick frei auf die Südfassade des Doms, die mit ihren hellgrauen Steintönen zu diesem Zimmer zu gehören scheint und wie eine spanische Wand wirkt, hinter der sich eine geheime, illustre Gesellschaft verbirgt.
Er würde sich gerne setzen, er fühlt sich nicht wohl, aber das kann er sich jetzt nicht leisten, »wir haben nicht das geringste verändert«, sagt der Empfangschef und schaut lauernd, als wartete er auf einen Vorwurf, während Georg von Heuken den Halbkreis der Ecksuite durchmißt, um vor dem Schreibtisch stehenzubleiben, wo er auf die geöffnete Briefpapier-Mappe mit dem Briefpapier und den Briefumschlägen des Hotels stößt, Pa, erinnert er sich, schreibt gerne Briefe auf Hotel-Briefpapier, Pa schreibt fast alles, was er schreibt, mit der Hand, das meiste davon ist von einer bestechenden, beinahe kalligraphischen Schönheit, unwillkürlich schließt seine Hand die Mappe, als wollte er andeuten, daß sie etwas birgt, das niemanden angeht.
»Ich werde jemanden vorbeischicken, der sich um alles kümmert«, sagt er, während er die Atmosphäre des Raums genießt, etwas ihm sehr Nahes und doch Fremdes schlummert in ihm, etwas von Stille, Reife und Luxus, die verstreuten Dinge hier erscheinen wie Dinge auf einem Stilleben, die eine starke Magie eng miteinander verbindet, der ganze Raum wirkt daher beinahe wie ein dichtes, von einer Künstlerhand geordnetes Bild, kein Detail stört, überall setzen sich vielmehr die Verweise auf den letzten, hier eingekehrten Gast wie teure Relikte in Szene.
Er könnte Liesel Burger anrufen und sie mit der Abwicklung dieser Sache beauftragen, Liesel wäre in ihrer Verschwiegenheit für diese Angelegenheit genau die Richtige, andererseits würde er dann aber nur in Bruchstücken erfahren, was Pa veranlaßte, sich gerade hier einzuquartieren.
»Was hat mein Vater für dieses Zimmer bezahlt?« fragt er und bemerkt gleich, daß er Suite und nicht Zimmer hätte sagen müssen, typisch, daß ihm so etwas passiert, er mag das Wort Suite nicht, es ist ein Wort für die neureichen Geldesel, denen jedes anständige Zimmer zu klein ist.
»Wir haben monatlich abgerechnet«, antwortet der Empfangschef, »je nachdem also, wie häufig Ihr Herr Vater die Suite benötigte, selbstverständlich gewährten wir ihm einen äußerst günstigen Sondertarif.«
»Wenn ich die Suite für – sagen wir – eine Woche miete, könnte ich sie angesichts der Umstände auch zu diesem Tarif bekommen?« fragt von Heuken, der die pelzige Schwere seiner Zunge wieder unangenehm spürt, Pa hat sich anscheinend also regelmäßig hier einquartiert, so muß es gewesen sein, am liebsten würde er nachfragen, doch er verkneift es sich und tut so, als wisse er von diesen Aufenthalten.
»Selbstverständlich«, antwortet der Empfangschef, »kein Problem, ich verstehe gut, daß Sie sich Zeit lassen wollen«, er versteht nichts, denkt von Heuken, bringt es aber sogar zu einem leichten Lächeln, eine erste Aufgabe hat er ohne jede Mühe gelöst, er hat sich einen Platz in diesem Zimmer verschafft, dieser Platz wird ihm dazu dienen, all seine Gegenstände und Zeichen zu lesen, so genau, so beharrlich, bis er die Rätsel, die sie ihm aufgeben, vollständig gelöst hat.
»Danke, daß Sie Verständnis haben für meine Lage«, sagt er, »ich möchte mich doch lieber persönlich um alles kümmern, ich werde selbst alles in die Hand nehmen, niemand sonst, Sie verstehen.« Sein Gegenüber nickt kurz und schweigt so deutlich, als hätten ihn das Mitleid oder die Trauer sprachlos gemacht, sie sind sich jetzt einig, von Heuken bittet darum, von hier aus telefonieren zu dürfen, so übernimmt er diesen Raum jetzt auch sichtbar, der Empfangschef ist schon auf dem Rückzug, anscheinend ist er zufrieden, daß sich dieser unangenehme und schwierige Fall so leicht lösen und bereinigen läßt.
»Ziehen Sie einfach die Tür zu, wenn Sie die Suite verlassen«, sagt er, »ich werde Ihnen an der Rezeption dann Ihre Schlüsselkarte geben. Ich lasse Sie jetzt allein, Sie können gewiß sein, daß ich Ihnen, wenn Sie es wünschen, in allen Belangen behilflich sein werde. Ihr Herr Vater war uns einer der liebsten Gäste, wir haben ihn sehr geschätzt, es tut mir unendlich leid, daß es ihn gerade bei uns ereilte.«
»Mein Vater ist nicht gestorben«, antwortet von Heuken, »mein Vater lebt, in zwei Wochen trinken wir zu dritt ein Glas Champagner in Sir Ustinov’s Bar.« Er steht jetzt ganz sicher da, auch ihm ist kein großer Fehler unterlaufen, von Heuken streckt sich etwas und macht Anstalten, das Sakko zum Telefonieren auszuziehen, als er sich noch ein letztes Mal an den Empfangschef wendet: »Ach, noch eine Kleinigkeit, in der Aufregung eben habe ich Ihren Namen nicht genau verstanden.«
»Ihr Herr Vater nannte mich Max, Herr von Heuken«, bekommt er zur Antwort.
»Max«, von Heuken lächelt, »wen haben Sie außer meinem Büro und Professor Loeb bisher noch verständigt?«
»Ich habe die Klinik und den Herrn Professor verständigt, dann habe ich sofort im Konzern angerufen. Die Sekretärin Ihres Herrn Vaters war nicht zu erreichen, deshalb hat man mich mit Ihrem Büro verbunden.«
»Das ist alles?«
»Ja, Herr von Heuken, sonst habe ich mit niemandem gesprochen.«
»Mein Kompliment, Max«, sagt von Heuken und wirft sein Sakko auf den Stuhl hinter dem Schreibtisch, »Sie haben perfekt reagiert und gehandelt. Es wäre gut, wenn sich die Nachricht nicht wie ein Lauffeuer verbreitet, vielleicht gelingt es Ihnen, dahingehend einzuwirken auf die Belegschaft.«
JETZT, als er wieder allein ist, hat er endlich Zeit, den Raum in Ruhe zu betrachten, er streicht, als wollte er weiter Fühlung aufnehmen, langsam über die Lehnen der rotbezogenen Sessel vor der Couch, während es seinen Blick an den hohen Balkontüren vorbei zu dem Flachbildschirm an der Wand zieht, er kann sich nicht vorstellen, daß sein Vater hier Zeit mit Fernsehen verbracht hat, während er selbst noch immer einen Nachholbedarf hat, viel ferngesehen hat er nie, aber er erinnert sich an den schweren Loewe-Fernseher in dem dunklen, verschließbaren Holzgehäuse, den Vater Anfang der 60er Jahre anschaffen und in einer Ecke des Bügelzimmers unterbringen ließ, wie an einen unangetasteten Schatz, um den er sich zu wenig gekümmert hat. Die Anschaffung war damals ein Zugeständnis an den Zeitgeist, in der Familie blieb das Gerät aber weiter geächtet, der bullige Kasten staubte in der Kammer regelrecht ein, und seine beiden Flügel wurden nur an historischen Tagen wie zwei Hälften eines Tabernakels geöffnet, um einen Blick auf die Zeremonien des britischen Königshauses oder die Gipfeltreffen zwischen Adenauer und de Gaulle zu werfen.
Noch heute spürt er daher angesichts eines Fernsehers eine gewisse Verkrampfung, reine Freude empfindet er höchstens wegen eines guten Designs, aber er überlegt jedes Mal kurz, ob er ihn anschalten soll, und oft kommt es ihm danach noch so vor, als probierte er ihn nur aus und als wären die scharfen, farbigen Bilder eher aseptische Zeichen, die längst nicht dieselbe starke atmosphärische Wirkung erreichen wie die von ewigem Zigaretten- und Zigarren-Rauch durchnebelten Schwarz-Weiß-Bilder seiner Kindheit.
Musik dagegen könnte er sich hier eher vorstellen, Jazz mag er am liebsten, John Coltranes Saxophon-Meditationen etwa würden die Eleganz dieses Raums mit einem schwebenden, unaufdringlichen Stream unterlegen, der ihn weiter und sachlicher machen und seine Behäbigkeit dämpfen würde. Vater aber würde auch daran wenig Gefallen finden, was Musik betrifft, ist er sehr zurückhaltend und vollkommen sentimental, während langer Autofahrten durchs Land oder manchmal spätnachts zu Hause hört er Chansons aus Frankreich, Juliette Grécos Je suis comme je suis oder Sous le ciel de Paris, ihre melancholische Seligkeit erinnert ihn, wie er einmal gestanden hat, an die Jahre direkt nach dem Krieg, an ein asketisches und doch nicht lustloses Dasein, an den Geschmack lauter Dinge, die man damals zum ersten Mal probiert hat.
Die staubige Trockenheit in seinem Mund macht ihm noch immer zu schaffen, er geht hinüber zur Mini-Bar und schenkt sich ein Glas Mineralwasser ein, Champagner- oder Sekt-Flaschen fehlen auffällig, das paßt zu Pa, denn schon kurz nach Betreten eines Hotelzimmers läßt er die kleinen Flaschen auftanzen und meldet der Rezeption dann die Marken, die sofort zu beschaffen sind, weil er sie besonders gern trinkt. Größere Mengen allerdings trinkt er nie allein, generell kann man sich nicht vorstellen, daß Pa lange allein bleibt, minutiös plant er gewöhnlich den Ablauf der Stunden und besetzt sie mit Terminen. Von Heuken steht jetzt mit dem Glas Wasser in seiner Rechten vor dem Schreibtisch und greift mit der Linken nach dem Taschenkalender aus braunem Leder, der direkt neben der Briefmappe liegt. Heute ist für zehn Uhr ein Termin eingetragen, PF lautet das Kürzel, während sich gestern nur der Eintrag 13 Uhr finden läßt, er nimmt das alles mit einer leichten Beklemmung zur Kenntnis, eigentlich geht ihn das alles nichts an, aber die Situation, sagt er sich, macht ungewöhnliches Handeln erforderlich.
Mehr noch als dieser Kalender, den er mit einer raschen Bewegung in seine linke Tasche gleiten läßt, beschäftigt ihn aber der kleine Zettel neben der Schreibtischlampe, Cip 730150 ist darauf vermerkt und zweifach stark unterstrichen. Er liest sich diese Notiz mehrfach laut vor, aber er hat nicht die geringste Ahnung, was damit gemeint ist, etwas Fremdes, Irritierendes geht von ihr aus, so daß er gleich weiß, daß er alles daran setzen wird, dieses Rätsel zu lösen. Cip könnte auf eine Sache mit Computern verweisen, etwas Technisches steckt jedenfalls bestimmt dahinter, die Zahl könnte eine Seriennummer bezeichnen, er wird das herausfinden, heutzutage kommt man solchen Andeutungen schnell auf den Grund.
Er nimmt auch den Zettel an sich und trinkt das Glas leer, dann schenkt er sich noch einmal ein und tritt neben das breite Bett, Vater hat diese Nacht allein hier übernachtet, soviel kann man immerhin sagen, zur Sicherheit schaut er kurz unter die zur Seite geschlagene Bettdecke, unter der er drei Tageszeitungen entdeckt, er zieht sie heraus, sie sind von heute, Pa hat sie sich aufs Zimmer bringen lassen und wahrscheinlich lange vor dem Frühstück noch im Bett gelesen. Einen Großteil seines beinahe unfehlbaren Instinktes bezieht er aus der Zeitungslektüre, im Grunde ist er der ideale Zeitungsleser, süchtig geradezu nach ihren Tagesrationen und dem frischen Stoff, mit dem er seinen Riecher für Tendenzen und Trends füttert, der dann auf schwer zu durchschauende Weise seine Entscheidungen beeinflußt und steuert. Auch ihm und den Geschwistern hat er immer wieder gepredigt, exzessiv Zeitung zu lesen, mit all den Projekten, die er anstößt, reagiert er auf diese Lektüre, sein geheimes Ziel ist es, ihre flüchtige Zerstreutheit in etwas Dauerhaftes zu verwandeln, in Bücher also und Buchreihen, in etwas, in das man sich vertiefen und mit dem man sich längere Zeit beschäftigen kann. Selbst seine Vorstellung von schöner Literatur, von Romanen und Erzählungen, von Dramen, ja selbst von Gedichten, gründet auf einem solchen Verständnis, er gerät beinahe aus dem Häuschen, wenn er in einem Roman auf Dinge und Zeichen des gegenwärtigen Lebens stößt, so etwas befriedigt ihn ungemein, weshalb er mit deutscher Literatur auch selten zurechtkommt, das meiste davon ist ihm zu fern von der Welt der Geschäfte und Mitteilungen, zu winkelversessen, zu wenig inspiriert von den Themen, die eine Gesellschaft auf unzulängliche Weise, aber doch fasziniert buchstabiert.
Von Heuken legt die drei Zeitungen auf den Schreibtisch, er selbst fände in ihnen nicht den Hauch einer versteckten Spur oder geheimer Offenbarungen, nichts setzt sich zusammen, wenn er sie durchblättert, wie ein Pflichtpensum erscheint ihm vielmehr das Durchgrasen der Finanz- und Wirtschafts-Nachrichten oder der Blick auf die zittrigen Fieberkurven der Rendite- und Ölpreis-Angaben, auch der Kulturteil ermüdet ihn, höchstens Sport und die Nachrichten aus aller Welt liest er mit einer gewissen Aufmerksamkeit, manchmal bescheidet er sich sogar ganz mit ein paar abgelegenen Kuriosa oder einer kleinen Geschichte über einen Basketballstar, von dessen Spiel er etwas versteht, weil er es selbst einmal nicht schlecht beherrschte. In Vaters Gehirn aber verwandelt sich Zeitungsstoff in funkelndes, reiches Material, das er auch in seine Gespräche einschleust, wo man es hin und her wenden und an Meinungen und Stimmungen anklinken kann, seine Fähigkeit, die richtigen Themen für die jeweiligen Gesprächspartner zu finden, ist groß, er bedient sich einfach solcher Motive und Stoffe und schneidet sie für jedes Gegenüber so zu, daß er sich angesprochen und aufgefordert fühlt, etwas dazu zu sagen.
Er steht jetzt wieder nahe dem Eingang, in der dunklen Zone zur Rechten sind die Schränke untergebracht, er öffnet sie kurz und wirft einen Blick auf zwei dicht nebeneinander baumelnde Anzüge, einen Mantel und den Stapel von Hemden, die ordentlich aufeinanderliegen, als habe sich jemand eigens darum gekümmert. Zwei-, dreimal atmet er rasch durch die Nase ein, je mehr er sich dem Bad nähert, um so konzentrierter und stärker wird der Vater-Geruch, als er die Tür öffnet, ist das volle Aroma da, eine Wolke des alten Nachkriegsdufts 4711, eine ganze Türkis-Batterie von Flaschen und Dosen steht auf der Ablage vor dem Spiegel, Rasiercreme, Rasierwasser, Duschgel, alles in diesem überholt-pompösen Türkis-Gold, Pa läßt nur diese Traditionsmarke an sich heran, jeden Morgen duscht er und hüllt den Körper dann in den immer gleichen Duft von Echt Kölnisch Wasser, den er selbst noch in seine Taschentücher verspritzt.
Auch die Toilettenartikel sind sorgfältig geordnet, nur der Hotel-Bademantel aus weißem Frottee liegt faul und wie eine nutzlos gewordene Haut über dem Rand der Wanne aus schwarzem Marmor. Diese Ordnung, denkt Georg von Heuken, geht nicht auf Vater zurück, vielleicht hat er zum Auspacken den Etagenservice gerufen, oder er kennt die Hausdame persönlich, sicher hat er einen beträchtlichen Teil der Belegschaft auf Trab gehalten und mit seinen großzügigen Trinkgeldern belohnt, der Zimmerpage kümmerte sich um seine Post, der Etagenservice servierte ihm das Essen aufs Zimmer und besorgte Champagner, während er die Hausdame mit seiner Kleidung beschäftigte, gerade an seinen teuren Anzügen waren oft Kleinigkeiten auszubessern.
Daß Liesel Burger ihn hierher begleitet und die Sachen eingeordnet hat, hält er für ausgeschlossen, längst ist jedoch Zeit, sie auch zu benachrichtigen, er geht zum Telefon und wählt ihre Nummer, es ist noch immer die Nummer, unter der man früher ihn selber als jungen Mann im Elternhaus erreichte. Liesel meldet sich, und er beginnt langsam, ihr die Situation zu erklären, vorsichtig spricht er und beinahe behutsam, als wollte er vermeiden, sie mit einem ungeschickten Wort in Panik zu versetzen.
Ihr gegenüber kann er offen sein, er fragt kurz, ob sie von Vaters Aufenthalten in diesem Hotel gewußt habe, und sie antwortet sofort »ja, natürlich, ich habe ihm doch jedes Mal den kleinen Koffer gepackt«. Er schweigt einen Moment und überlegt, Liesel hat es also gewußt, das bringt ihn schon wieder ein gutes Stück weiter, denn von ihr wird er dann auch erfahren können, wie es zu diesen Ausflügen kam, jetzt muß er sie nur von der Idee abbringen, gleich in die Klinik zu fahren und nach dem Rechten zu sehen, »bleib zu Hause, Liesel, bleib bitte, Du kannst jetzt nichts für ihn tun, und es sollte jemand zu Hause sein«.
Er verspricht, daß er später vorbeikommen wird, von hier aus wird er erst zur Klinik fahren, dann in den Konzern und wenn er dort die wichtigen Dinge geregelt hat, zu ihr. Als er ihr diese Route schildert, spürt er einen leichten Schweißausbruch im Nacken, als sei jemand mit einem winzigen kühlen Schwamm über die Stellen oberhalb des leicht scheuernden Hemdes gefahren. Instinktiv greift er mit der Rechten nach hinten, wahrhaftig, es ist dort etwas feucht, angeekelt schnüffelt er an den beiden Mittelfingern entlang, es kommt ihm so vor, als habe dort ein kleiner, klebriger Quell 4711 zu fließen begonnen.
Er beendet das Gespräch und öffnet die Krawatte, er geht noch einmal zurück ins Bad und fährt sich mit kaltem Wasser über den Nacken, dann hört er das Telefon läuten. Er weiß sofort, daß seine Schonfrist mit diesem Läuten vorbei ist, und streift sich, während er das Zimmer durchquert, weiter über den Nacken, als müsse er eine Wunde kühlen. Dann greift er nach dem Telefon und tritt ans Fenster, so daß er auf die Domplatte herunterschauen kann.
Das gefleckte Grau der Platte erscheint an diesem dunstigen Tag wie eine dicke Eisschicht, auf der die Skateboard-Fahrer ihre lässigen Stick-Bewegungen vollführen, von Heuken verfolgt einen Typ mit schwarzer Kapuze, der sich wie eine biegsame Playmobil-Figur zu den Rhythmen aus seinen versteckten Kopfhörern bewegt, längst sickern von allen Seiten kleine Touristenpulks auf die Platte und prallen auf das Massiv des Doms, das von außen etwas Neutrales und Kaltes hat und nicht die Spur einer intimen, sakralen Note anbietet, seit Jahren plant er ein Buch über den Dom, noch immer gibt es aber kein gutes Konzept, nichts jedenfalls, das den üblichen Dom-Bänden den Rang ablaufen könnte.
»Ja bitte?« sagt Georg von Heuken rasch und scharf, als wollte er einem unangenehmen Anruf mit dieser Schärfe entgegentreten.
»Max hier, Herr von Heuken. In unserer Bar wartet ein Herr, der behauptet, mit Ihrem Vater dort um zehn Uhr verabredet zu sein.«
»Kennen Sie ihn?«
ALS ER Sir Ustinov’s Bar betritt, zerreißen die Nebel, die sich um das Kürzel PF in Vaters braunem Taschenkalender gebildet hatten, sofort, PF meint Peter Feil, den kleinen, schwarzhaarigen Mann in der weinroten Lederjacke, der gerade einige Chips aus einem der gefüllten Glasschälchen fingert.
Peter Feil war vor einigen Jahren noch Redakteur bei einer Kölner Tageszeitung, er ist ein wacher, lebenslustiger Mann, der den alten von Heuken damals interviewte, wobei der gleich soviel Gefallen an ihm fand, daß er ihm eine Stelle im Konzern anbot, eine Weile lungerte er auf einigen Abschiebeposten herum, dann wurde die Stelle des Pressesprechers unverhofft frei und mit ihm besetzt.
Die Arbeit lag ihm, er machte aus öden Presse-Mitteilungen kleine Kabinettstücke und würzte sie mit jenem Kölner Humor, den man in der Region braucht, um heikle Dinge herunter zu reden. Das Problem sind die Kollegen gewesen, mit den meisten von ihnen kam Peter Feil nicht gut aus, für die feinen und oft übertrieben ernsten Lektoren, die durch die Konzerngänge schleichen, als hätten sie persönlich am Klassiker-Nimbus ihrer Autoren zu tragen, war er zu spontan und zu direkt, während er den offeneren Typen aus den Bereichen Herstellung und Vertrieb mit seiner Komik auf die Nerven ging. So ist er für die einen das Hänneschen gewesen, das jedes Gespräch dominierte und in einen drastischen Small-Talk verwandelte, während er für die anderen zu umtriebig war, einer, der nicht in einen Buchkonzern, sondern eher in einen Sender wie RTL gehörte, wo er mühelos eine eigene Comedy-Show gestemmt hätte.
Mit der Zeit machte die Abneigung Peter Feil nervös, Fehler schlichen sich in seine Meldungen und Berichte ein, die Stelle mußte neu besetzt werden, diesmal mit einer Frau, doch der alte von Heuken hielt weiter zu seiner Entdeckung und erfand für ihn ein Projekt, das ideal zu ihm paßte. Peter Feil wurde der Biograph des Alten, eine große Biographie stand längst aus, und Peter Feil war gut im Recherchieren, denn er durchwühlte leidenschaftlich gern Privatmüll, selbst den trockensten Fakten gab er noch eine skurrile und vor allem unterhaltsame Note.
Der Alte gab ihm zwei Jahre, sein gutes Gehalt als Pressesprecher behielt er, mindestens einmal im Monat trafen sich die beiden zu einem Gespräch, Peter Feil hatte den Ehrgeiz, aus der Biographie einen Bestseller zu machen, und sprach bereits von weiteren Plänen wie dem Heuken-Roman, einer locker erzählten Geschichte der Dynastie von ihren unschuldigen und ärmlichen Anfängen im neunzehnten Jahrhundert bis in die strahlende Gegenwart.
Sie begrüßen sich, Georg von Heuken verleiht der Anblick des jungen Mannes und die klare Sicht auf das rätselhafte PF geradezu Schwung, außerdem weiß er, daß er mit Peter Feil gut zurechtkommen wird, mit Menschen, die nichts Ambitiöses ausstellen, geht es ihm meistens so. Sie nehmen auf zwei Barhockern Platz, Peter Feil wundert sich nicht einmal, dem jungen von Heuken hier zu begegnen, er erwartet, daß der alte gleich in einem Winkel der Bar auftauchen wird, laut, die Prachtexistenz eines virilen Mannes mit rotem Schal, den es nach Champagner verlangt.
Georg von Heuken aber verträgt so früh keinen Champagner, er macht sich auch sonst nicht viel daraus, er hat Vater zu oft damit posieren sehen, als daß er sich gerade diese Trink-Rituale zu eigen gemacht hätte. Peter Feil schaut zu ihm auf, als er zwei Mineralwasser bestellt, dann nimmt von Heuken ihn kurz am Arm und führt ihn hinüber in den abgelegeneren Bereich der Bar vor die große Glasfront, durch die man hinaus auf die Domplatte blickt. Die Schlangen-Bewegung des Skateboard-Fahrers mit schwarzer Kapuze. Ein Grüppchen älterer Frauen, das sich vor der Dom-Kulisse zu einem Foto postiert. Ein Paar mittleren Alters mit diesem entsetzten und beinahe angewiderten Blick hinauf zu den Spitzen der Domtürme.
Von Heuken weiß genau, wie er es angehen muß, er wartet, bis das Mineralwasser serviert wird, dann berichtet er Peter Feil rasch und knapp, was am Morgen passiert ist. Er bewältigt den Bericht ohne Stocken, und während er erzählt, als wäre er selbst dabeigewesen, spürt er die Beruhigung, die von den Räumen des Hotels ausgeht. Im Grunde, weiß er plötzlich, will er gar nicht hinaus, solange man sich hier aufhält, scheint es nichts Böses oder Bedrohliches zu geben, denn vom losen Ärmelknopf bis zum kleinen Infarkt gibt es hier eine rasche und perfekte Lösung, selbst der kleine Infarkt ist nicht mehr als eine gut abgespulte Zwanzig-Minuten-Sequenz, die man über einen Notausgang und den Hotel-Innenhof abwickelt.
»Sie sind einer der ersten, die davon erfahren«, endet er, »nicht einmal meine Frau weiß bisher davon.«
Das alles ist etwas viel für den kleinen, schwarzhaarigen Mann in seiner chicen Jacke, sein sonst zupackender Humor kommt da nicht mit, vielleicht kalkuliert er auch in Windeseile die Chancen für sein Projekt. Georg von Heuken aber gibt sich weiter vertraulich, er wiederholt einige Brocken des gerade Erzählten noch einmal, damit es sich setzen kann, Peter Feil, denkt er, kann ihm wie kein anderer bei der Aufdeckung der Rätsel, die diese Suite oben ihm aufgibt, behilflich sein, Feil gehört nicht zum Konzern und kennt ihn doch sehr genau, Feil ist der Mann für die kleinen, aufwendigen Recherchen, für die er selbst nicht genug Zeit finden wird. Kaum zehn Minuten unterhalten sie sich, dann vereinbaren sie, sich bald wiederzutreffen.
Als von Heuken sich auf den Weg zur Klinik macht, verabschiedet er sich mit einer scheinheiligen Frage: »Ach, Peter, Sie haben sich meist hier mit meinem Vater getroffen, nicht wahr?«
»Ja«, sagt Peter Feil, der sich noch immer nicht richtig von der Nachricht erholt hat, »hier am häufigsten, es fiel Ihrem Herrn Vater leichter, an so einem Platz über sein Leben zu sprechen, er behauptete, im Konzern gelinge das nicht, da fühle er sich nicht frei genug.«
Von Heuken legt ihm die Hand auf die Schulter und nickt ihm noch einmal zu: »Dann machen wir es genauso weiter, mein Lieber, wir werden uns hier treffen, vielleicht kann ich Ihnen etwas Interessantes über meinen Vater erzählen, etwas, das selbst Sie noch nicht wußten, und vielleicht, wer weiß, revanchieren Sie sich und überraschen mich mit ein paar Neuigkeiten. Jedenfalls, Ihre Arbeit ist wichtiger denn je, bleiben Sie dran und betrachten Sie ab sofort mich als Ihren Ansprechpartner. Ich werde mir Zeit nehmen für Sie, jetzt aber haben Sie bitte Verständnis, wenn ich mich auf den Weg zur Klinik mache.«
Peter Feil hat das Glas Mineralwasser auf dem kleinen Rundtisch nicht angerührt, statt dessen schiebt er es laufend hin und her, als wollte er in den Rhythmen der Skateboardfahrer draußen mitswingen. So still wie jetzt hat von Heuken ihn noch niemals erlebt, er sitzt da wie eine kleine, in sich zusammenschrumpfende Pflanze, deren Wurzeln man ein rasch wirkendes Gift zugeführt hat. Ein anscheinend heftiger sentimentaler Impuls läßt seine Lippen ein wenig zittern, von Heuken ist dieser Anblick peinlich, aber er ist der letzte, der sich jetzt zu einigen tröstenden Worten hinreißen lassen würde. Viele Menschen haben an Pa gehangen, und nicht wenige haben ihn sogar geliebt, er hat ihnen etwas von seiner Kraft abgegeben, und vor allem hat er oft genug dafür gesorgt, daß das Leben sich für Stunden in etwas Leichtes und Schwebendes verwandelte, als seien sie alle auf der Welt, um an ihr Gefallen zu finden und für ein paar Jahrzehnte eine halbwegs gute Figur zu machen. Eine so starke Rolle wie Vater kann er nicht spielen, er ist ein ganz anderer Typ, vor allem aber ist er ein Mann, dem man noch keine Gelegenheit gegeben hat, zu seiner Höchstform aufzulaufen. Wer weiß, was alles noch in ihm steckt, wenn er gefordert wird, wer weiß?
Er trinkt sein Glas Wasser auf einen Schluck leer, dann trennt er sich von dem Bild des Kummers, das vor ihm hockt und für das ihm nicht die richtigen aufbauenden Worte einfallen wollen.
Nachdem man ihm an der Rezeption die Schlüsselkarte ausgehändigt hat, geht er eilig nach draußen, der rote Mazda RX ist ihm jetzt verhaßter denn je, er duckt sich in ihn hinein und zieht, als er losfährt, unmerklich die Schultern hoch. Er denkt daran, daß er sich jetzt auf die Strecke des Krankentransports begibt, die zeitlose Stille, mit der das Hotel seine Gäste einlullt, liegt hinter ihm, er läßt den Wagen ruhig über die Domplatte rollen, dann gibt er Gas, als wolle er nun genau erfahren, wie es Pa wirklich geht.
Obwohl er in Köln geboren wurde und den Großteil seines Lebens in dieser Stadt verbracht hat, kennt er doch längst nicht alle Ecken, überhaupt ist er kein Spaziergänger, der sich neugierig und interessiert in die entlegensten Winkel verläuft, nur in der Pubertät ist er ein wenig herumgekommen, aber das ist lange her, und außerdem hat die Stadt sich nach seinem Gefühl besonders im letzten Jahrzehnt stark verändert, obwohl er nicht exakt beschreiben könnte, in welcher Weise, ihm fällt jedenfalls auf, daß es ihn nur noch selten in die Innenstadt zieht, denn dort scheinen jetzt ganz andere Menschen als früher zu leben, Menschen, die er nicht mehr ohne weiteres versteht, weil sie sich seltsamen Kulten und Riten verschrieben haben, für die er sich längst zu alt fühlt.
Vielleicht ist aber auch er selbst an dieser Entfremdung schuld, seit der Geburt seiner Kinder hat er sich ein beflissenes Familienleben verordnet und sich, so gut es ging, an der Erziehung der Kinder beteiligt, in den ersten Jahren sind Clara und er sogar kaum noch ausgegangen, so erschöpft waren sie an den Abenden von dem immensen Programm. Nach dieser Phase der somnambulen Entrücktheit und des begrenzten Blicks auf die nächsten Umgebungen von Laufstall, Kinderwagen und Spielplatz hat er nicht wieder zurückgefunden in die Kreise der alten Freunde und der Vergnügungen, mit einem Mal hatten sie etwas Abgestandenes, Schales, er bemerkte es, als er begann, in den Kneipen auf die Uhr zu schauen, die Zeit wollte nicht mehr so wie früher vergehen, sie floß nicht mehr unbemerkt ab, sondern zerfiel mal in dichte, mal in unglaublich leere Einheiten.
Inzwischen kommt er abends beinahe besser allein als mit Freunden oder Bekannten zurecht, wenn er nach Hause kommt, schwingt er sich auf das Fahrrad und fährt am Rhein entlang, oder er läuft eine Weile in raschem Tempo, trotz seiner 1,90 m wiegt er nicht mehr als achtzig Kilo, auch in den schwierigen Jahren, in denen sich die meisten Männer wegen der großen Arbeitsbelastung fallen lassen und keine Kraft mehr für etwas anderes aufbringen, hat er weiter Sport getrieben und einen Lebens-Rhythmus gefunden, der ihn bei Laune hält. Etwas mehr Abwechslung könnte er wohl vertragen, aber er beklagt sich nicht, er hält das stabile Familienleben längst für etwas, das genau zu seiner Zielstrebigkeit und seiner Verläßlichkeit paßt. Unter den von Heukens ist er der einzige, der ein solches Leben gewählt hat, Ursula hat sich früh scheiden lassen und ihr einziges Kind auf ein Internat geschickt, während Christoph sich nicht einmal hat dazu durchringen können, eine der vielen Frauen in seinem Leben auch wirklich zu heiraten.
Der Kontakt mit Pa freilich ist in diesen Jahren schwächer geworden, zuvor dagegen hatte er noch als das Kind gegolten, das ihm am nächsten war. Als das älteste Kind hatte er ihn auf vielen Reisen begleitet und ihn hier und da bei Terminen vertreten, während Christoph zur Mutter hielt und immer wieder den Kontakt zu ihr suchte, den Ursula wiederum beinahe ebenso häufig brauchte, um sich mit ihr anzulegen.
Die Scheidung der Eltern vor zehn Jahren hatte Georg von Heuken als das deutlichste Zeichen seiner Entfremdung vom Vater empfunden, nicht einmal geahnt hatte er von diesem Bruch, und danach hatte er sich mit den damals noch kleinen Kindern immer seltener in sein Elternhaus getraut, in dem Vater nun mit der Hilfe von Liesel Burger, einem Chauffeur, einem Gärtner und einer ganzen Phalanx von Dienstboten allein residierte.
So hatte er ihn bald nur noch im Konzern getroffen, täglich hatten sie sich mindestens für eine halbe Stunde, meist aber länger gesehen, diese Zeit hatte ihnen gereicht, um über die laufenden Geschäfte zu sprechen, und selbst an hohen Festtagen kam es zu den üblichen gemeinsamen Mahlzeiten mit der ganzen Familie nur in einem Restaurant, wo Vater am Ende der Tafel stets gezeigt hatte, daß er noch immer das Haupt der ganzen Familie war, Pa, auf dessen Regungen die Kellner allein achteten, Pa, mit dem all die Autoren unbedingt essen gehen wollten, die seit Jahrzehnten an den Konzern und einen seiner Verlage gebunden waren.
Clara hatte nicht verstanden, wie er es mit diesem Patriarchen so lange hatte aushalten können, trotz seiner Brillanz im Umgang mit Menschen versagte der Alte doch oft genug im Umgang mit seinen Kindern, er hielt sie auf Distanz und begann, die Konkurrenz unter ihnen zu fördern, Christoph erhielt zuerst einen seiner Verlage, dann überließ er ausgerechnet Ursula, von der alle wußten, daß sie nie mit so etwas zurechtkommen würde, die Leitung eines anderen, erst zum Schluß war Georg dran, gedemütigt als der letzte der Reihe, der von nun an zwar den größten Konzernverlag leitete, jedoch mit dem Ruf des Spätzünders zu leben hatte, von dem man sagte, er werde es nie bis an die Spitze bringen und reiche nicht im geringsten an den Alten heran.
Während von Heuken zur Klinik fährt, gehen ihm diese Geschichten noch einmal durch den Kopf, bis heute hat Vater nicht entschieden, wer den Konzern nach ihm leiten wird, ein Leitungsgremium ist ausgeschlossen, einen solchen Konzern können nicht drei Menschen leiten, die sich laufend mißtrauisch beäugen und kaum eine Gemeinsamkeit haben. Er hat sich vorgenommen, die Geschwister erst nach seinem Aufenthalt in der Klinik zu benachrichtigen, im Moment hat er jedenfalls einen Vorsprung, den er, wenn sich die Möglichkeit dafür ergibt, Schritt für Schritt ausbauen möchte.
Alles kommt jetzt darauf an, was ihm Loeb mitteilen wird, er kennt ihn seit seinen Kindertagen, und doch graust ihm vor dieser Begegnung, wie es ihn auch vor dem Krankenhaus graust, noch vor wenigen Monaten hat er dort einen Verlagsangestellten nach einem Infarkt besucht, mit weißen Strümpfen und einem an einigen Stellen leicht durchgeriebenen Bademantel saß er in einem Lehnstuhl, eingepaßt in ein Knäuel von Schläuchen, während eine milde, stickige Brise von Urin und zu lange gedünstetem Sauerkraut durch die Flure mit ihren blitzenden Linoleumböden wehte und man laufend die in die Stille gemorsten Haltezeichen der auf dem Stock ankommenden Fahrstühle hörte. Ihm war schlecht geworden, langsam war die Übelkeit durch seine Gedärme gekrochen, er hatte sich entleert und auf der Toilette Unmengen kalten Wassers aus der geöffneten Hand getrunken, draußen aber, auf den von leise summenden Neonröhren durchstrahlten Gängen, hatte er danach den Körpergeruch jedes einzelnen Kranken, den sie in einem Rollstuhl an ihm vorbeigeschoben hatten, noch um so stärker mitbekommen, einen kleinen, fiesen Schlag nach dem andern in den Magen hatte er hinnehmen müssen, am Ende war er in die leere Krankenhauskapelle geflüchtet, um die stumm dasitzenden Reihen der Besucher mit ihren Blumensträußen und den viel zu großen Konfektschachteln in den Wartebereichen nicht länger sehen zu müssen.