Die Gerechten - Melina Hilger - E-Book

Die Gerechten E-Book

Melina Hilger

4,8

Beschreibung

Diese Kurzgeschichten beschäftigen sich mit den Missständen in unserer Gesellschaft. Der Blick richtet sich darin auf Unzulänglichkeiten einzelner Menschen, wie auch sehr aktuelle, politische Realitäten und menschliche Verhaltensweisen, die Schmerz, Elend und Ungerechtigkeiten verursachen. Keine fröhliche Unterhaltung – aber wichtig, um uns zu erinnern, dass wir – jeder Einzelne von uns - etwas beitragen können für eine bessere, eine friedvollere Welt. Dazu sollten wir die Wahrnehmung zulassen, die verhindert, dass Gerechtigkeit und Lösungen entstehen können. Gleich die Eingangsgeschichte zeigt sehr schön, dass Vorurteile und Unwissenheit viel Leid erzeugen können. Jedoch zeigen diese Geschichten genau dies, damit wir besser erkennen können, wo wir an unserem Bewusstsein arbeiten können, um unseren Beitrag zu leisten. „Ein wissender Mensch kann nicht glauben, dass Glück und Leid ohne Ursachen entstehen können.“ (560 - 480 v. Chr.), auch: Siddhartha Gautama

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Inhalt

Die Gerechten

Morgenstund` hat Gold im Mund

Marina und Parsival

Erwartungslos

Frische Trauben

Kleiner

Das Land der Hoffnung

Kragenbär

Mein Herzele

Selten so gelacht

Mikado

Stellvertreter Gottes

Sonntagstheater

Blutiger Versuch

Frondienst

Der Marterpfahl

Der Pechvogel

Die drei Frauen

Zivilcourage

Klaras Bürde

Mukaba

Unverhoffter Besuch

Ein neues Leben

Der polnische Student

Halleluja

Zwei Möglichkeiten

Vergänglicher Zauber

Der gebeugte Rücken

Alleingelassen

BarmherzigesVergessen

Elda

Vorwort

Diese Kurzgeschichten beschäftigen sich mit den Missständen in unserer Gesellschaft. Der Blick richtet sich darin auf Unzulänglichkeiten einzelner Menschen, wie auch sehr aktuelle, politische Realitäten und menschliche Verhaltensweisen, die Schmerz, Elend und Ungerechtigkeiten verursachen.

Keine fröhliche Unterhaltung – aber wichtig, um uns daran zu erinnern, dass wir – jeder Einzelne von uns - etwas beitragen kann für eine bessere, eine friedvollere Welt. Dazu sollten wir die Wahrnehmungen zulassen, die verhindern, dass Gerechtigkeit und Lösungen entstehen können.

Gleich die Eingangsgeschichte zeigt sehr eindringlich, dass Vorurteile und Unwissenheit viel Leid erzeugen können. Meine Geschichten greifen dieses Thema auf, damit wir besser erkennen können, wo wir an unserem Bewusstsein arbeiten können, um unseren Beitrag zu leisten.

Folgende Zitate bekannter Menschen aus früherer Zeit haben dies bereits vor Jahrzehnten, sogar vor Jahrhunderten erkannt und bereits ausgesprochen oder geschrieben:

„Die heutige Welt wird zusehends materialistischer. Die Menschheit nähert sich, getrieben von dem unersättlichen Verlangen nach Macht und ausgedehntem Besitz, dem Zenith äußerer Entwicklungsmöglichkeiten. In diesem vergeblichen Streben nach äußerer Vervollkommnung der Welt mit ihren relativen Werten entfernt man sich jedoch immer weiter von innerem Frieden und geistigem Glück.“

Dalai Lama (1935-), tibetanischer buddhistischer Mönch

„Heutzutage hat die Gier nach Besitz einen solchen Grad erreicht, dass es nichts im Reich der Natur gibt, weder heilig noch profan, aus dem nicht Profit herausgepresst werden kann.“

Erasmus von Rotterdam (Gerhard Gerhards) (1469-1536), holländischer Theologe, Philologe und Humanist

„Die Habgier kennt keinen Ort und Grenze für ihre Weite. Ihr einziges Ziel ist zu produzieren und zu konsumieren. Sie hat weder Mitleid für wunderschöne Natur noch für lebende Wesen. Ohne einen Moment zu zögern ist sie rücksichtslos bereit, die Schönheit und das Leben aus ihnen zu drücken und sie zu Geld zu formen.“

Rabindranath Tagore (1861-1941), indischer Dichter, Literaturnobelpreisträger

„Der Materialismus ist nie etwas anderes als die Nebenerscheinung einer Lebensanschauung, die ihrem Wesen nach Menschenkultus ist.“

Sigrid Undstet (1882-1949), dänische Schriftstellerin, Literaturnobelpreisträgerin

„Der Sieg der Materie über die Menschlichkeit ist das Grundübel unserer Kultur.“

Sarvepalli Radhakrishnan (1888-1975), indischer hinduistischer Religionsphilosoph, Präsident Indiens

„Die moderne Zivilisation hat versagt. Sie ist säkular, materialistisch. Sie hat die letzten Fragen vermieden. Das Leben war weitaus interessanter, als man noch an etwas glaubte.“

Saul Bellow (1915-2005), US-amerikanischer Schriftsteller, Literaturnobelpreisträger, Soziologe

„Es gab einmal ein Zeitalter - es war das griechische - da war der Mensch das Maß aller Dinge. Heute sind die Dinge das Maß aller Menschen.“

Werner Finck (1902-1978), deutscher Kabarettist, Schauspieler und Schriftsteller

Die Gerechten

Es war am Tag der Vernichtung der Ernten des ganzen Sommers. Die Heuschrecken waren am frühen Morgen über die Felder hergefallen und zwei Stunden später fand sich kein Hälmchen mehr auf den Äckern und kein Gras mehr auf den Futterwiesen. Ein großes Wehklagen ertönte durch das ehemals fruchtbare Tal.

Rufina, die Alte, welcher der Ruf einer Kräuterhexe vorauseilte, schritt die nackte Erde entlang und murmelte unverständliche Worte vor sich hin. Sie ließen sie gewähren; was konnte sie jetzt noch für einen Schaden anrichten. Die Bauern im Dorf waren wütend, ihre Frauen verzweifelt und weinten und die Kinder wagten nicht zu spielen. Wie sollten sie nun ihre Kinder durch den strengen Winter bringen. Die Bauern fluchten, ihre Frauen weinten, und die Kinder wagten nicht zu spielen. Das kleine Dorf war in eine dunkle Wolke eingehüllt.

Der Priester läutete das kleine Glöckchen und rief die Dorfbewohner zum Gebet in die Kirche. Dort klagten sie gemeinsam Gott an. Waren sie nicht immer gottesfürchtig gewesen? Hatten sie nicht immer am Sonntag für die Gaben gedankt und die christlichen Regeln eingehalten? Wieso strafte sie Gott so sehr? Sie waren sich keiner Schuld bewusst, und in den Köpfen der Bewohner reifte allmählich der Gedanke, dass einer von ihnen dieses Unglück herauf beschworen hatte. Aber wer war dieser Verräter?

Von diesem Tag an umlauerten sie sich gegenseitig.

Der Pfarrer spürte diese Stimmung sehr deutlich und predigte immer wieder Gottvertrauen, jedoch nahm er auch wahr, dass keiner seine Worte wirklich ernst nahm. Alle suchten sie nach dem, der dieses Unglück zu verantworten hatte.

Am gleichen Tag des Heuschreckenüberfalls war ein Kind geboren worden. Es sollte am nächsten Sonntag getauft werden. Niemand wusste, wer der Vater war, und die Mutter schwieg beharrlich. Am Tag der Taufe hielt die Mutter das kleine Wesen über das Taufbecken; es war in weißes Tuch gewickelt, nur das Blondschöpfchen und die nackten Füßchen schauten heraus. Der Pfarrer segnete das Kind und sprach während des Besprengens mit geweihtem Wasser die heiligen Worte der Unschuld.

Alle in der Nähe sahen die nackten Füßchen des Kindes, die fröhlich vor sich hin strampelten.

Und sie sahen auch, dass das rechte Füßchen sechs Zehen hatte.

Still gingen die Kirchenbesucher nach Hause, aber hinter den verbergenden Wänden wurde getuschelt über diese unwürdige Mutter mit dem teuflischen Säugling, das dieses eindeutige Merkmal für das Böse trug.

Drei Tage später wurde dieses Kind vom Pfarrer beerdigt. Es war blau, als man es fand, und man bat ihn, es außerhalb der Friedhofsmauern zu beerdigen. Er tat es mit schwerem Herzen.

Nach der Beerdigung ging er in den Pfarrkeller und schlug sich wieder und wieder mit der Peitsche. Dann nahm er ein Messer und schnitt sich den sechsten Zeh von seinem Fuß.

Morgenstund’ hat Gold im Mund?

Theo streckte sich ausgiebig. Die verdammten Rabenkrähen hatten ihn mal wieder nicht länger schlafen lassen. Fünf Stunden waren einfach zu wenig. Nach einer ausgiebigen Gähnrunde beugte er sich aus dem Fenster im 5. Stock, um nach den lästigen Viechern Ausschau zu halten. Er traute seinen Augen nicht, denn was sich ihm da für ein Schauspiel bot, war mit grauenhaft gar nicht mehr zu betiteln.

Dort unten sah er eine Gestalt liegen. Sie hatte die Arme ausgebreitet, als wäre sie ein Vogel. Ihr Gesicht war himmelwärts gerichtet, die grauen Haare lagen wie ein heller Strahlenkranz um sie herum. Auf ihrer Brust saßen drei Rabenkrähen und pickten an dem leblosen Körper herum. Zum Glück war die Entfernung zu groß, um nähere Details erkennen zu können; ihm reichte auch schon dieser Anblick am frühen Morgen.

Theo schauderte, und er spürte, wie es ihm kalt den Rücken hinunter lief. Wohnte die Frau etwa hier im Hause? Er hatte sie noch nie gesehen, und dabei lebte er jetzt schon zwölf Jahre in diesem Hochhaus. Er ging zum Telefon und wählte die Notrufnummer. „Hier liegt eine Frau im Hof. Offensichtlich ist sie aus dem Fenster gefallen oder gesprungen. Nein, sie ist mit Sicherheit tot. Grenzweg 12, hinten im Hof.“ Theo lauschte in den Hörer und beantwortete ein paar Fragen: „Ja, ich wohne hier…, nein, ich weiß nicht wie die Frau heißt…, Theo Wiegant…., ich wohne im 5. Stock…., die Raben picken auf der Frau rum…, ja, natürlich, ich bleibe. Läuten Sie bei T. Wiegant, ich habe heute frei.“

Irgendwie erleichtert legte er auf und sein Magen entspannte sich mit einem Knurren. An ein Frühstück mochte er jetzt trotzdem gar nicht denken. Er schloss das Fenster ohne noch einmal hinunter zu schauen. Einmal am frühen Morgen so ein Szenario, das reichte ihm.

Am nächsten Morgen wachte er spät auf, denn am Vorabend war er lange nicht eingeschlafen. Nach dem Zähneputzen setzte er sich an den Frühstückstisch. Er hatte heute kein Bedürfnis, einen Blick aus dem Fenster zu werfen. Ihm reichte die Erinnerung an diesen Morgenschock vom Vortag. Die neugierigen Gaffer vom Hause hatten sich nachdem die Polizei eingetroffen war, in Scharen im Hofe versammelt, um aus der Nähe einen Blick auf die alte Frau zu werfen. Er schüttelte all das ab und biss in sein frisches Brötchen mit Marmelade.

Er schlug die Zeitung auf, und auf der dritten Seite sprang ihm das Bild dieser Frau in Großaufnahme ins Gesicht. Weitaus näher als er es von seinem Fenster aus gesehen hatte, blickte er nun auf das Gesicht der vielleicht 70jährigen Frau. Die Augen bestanden nur noch aus blutigen Höhlen. Darunter las er den Artikel:

„72 jährige sprang aus Verzweiflung aus dem 8. Stock ihrer Wohnung. Sie wohnte seit über 40 Jahren in dem Haus, aber keiner kannte sie. Niemand wusste, dass sie mit ihrer kleinen Rente schon lange nicht mehr zurecht kam. Ihre Wohnung hinterließ sie blitzblank, Kühlschrank und Lebensmittelschränke waren total leer. Sie musste wohl schon länger nichts mehr gegessen haben.“

Betroffen legte er sein dick mit Butter und Marmelade beschmiertes Vollkornbrötchen neben seinen Kaffeebecher und schaute auf den reichhaltig gedeckten Tisch mit Käse, Wurst, Brotaufstrichen und Sahne. An diesem Tag brachte Theo keinen Bissen mehr hinunter.

Mariana und Parsival

Sie fuhr mit ihrem Einkaufsroller durch die Gegend. Was blieb ihr anderes übrig; mit dem kaputten Rücken konnte sie fast nichts an Gewicht tragen und musste doch ihre Habseligkeiten mit sich führen. Ohne Unterkunft war sie dazu gezwungen. Noch war Sommer und sie musste mühevoll fast jeden Tag einen neuen Schlafplatz suchen, denn das Obdachlosenasyl war für sie ein unsicherer Ort. Nicht nur, dass sie ständig um ihre wenigen Habseligkeiten fürchten musste, da die Armen dort stahlen wie die Elstern, - nein sie musste auch ständig befürchten, von einem der alkoholisierten Obdachlosen sexuell bedrängt zu werden. Das war ihr unbegreiflich, denn nun war sie bereits 72 geworden und wahrlich in ihrer heruntergekommenen Verfassung keine Attraktion mehr. Anscheinend war sie für manche ungewaschenen Kumpanen eine Art Freiwild.

Heute war ein guter Tag; sie hatte einen kleinen Verschlag gefunden, in dem sie sich ein wenig häuslich eingerichtet hatte. Es war eine Art Schuppen auf einem verlassenen Grundstück auf dem auch eine baufällige Ruine stand, in der niemand mehr wohnte. Es war ein Wunder, dass dieses Versteck noch von niemandem entdeckt worden war. Diesen Fund verdankte sie einem streunenden Köter, der herrenlos in einer Lücke der Ginsterhecke verschwunden war und um den sie sich Sorgen gemacht hatte, weil er so abgemagert war. Sie war ihm hinterher gekrochen und fand so das verlassene Haus und diesen Verschlag. Zwar lag das Grundstück ein wenig weit weg vom Viertel, in dem sie sich sonst aufhielt, aber das nahm sie gerne in Kauf.

Parsival, so nannte sie den Hund, war äußerst dankbar für die Brotreste und die Milch, die sie noch übrig hatte und sie nahm sich vor, ihn unter ihre Fittiche zu nehmen. Er hatte so erbarmungswürdig hastig die Brocken hinunter geschlungen, dass sie dachte, er habe wohl schon länger nichts mehr gefressen.