Die Kima und ihr Lutz 1909-1945 II: Auf dich traut meine Seele - Jürgen Joachim Taegert - E-Book

Die Kima und ihr Lutz 1909-1945 II: Auf dich traut meine Seele E-Book

Jürgen Joachim Taegert

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Beschreibung

Einem bislang wenig beachteten Aspekt der Geschichte des Dritten Reichs wendet dieser packende und fundierte zweite Band von "Die Kima und ihr Lutz" sein Hauptaugenmerk zu: der Rolle der Deutschen Reichsbahn für Hitlers beispiellose Feldzüge des Schreckens durch ganz Europa. Jeder Heeresgruppe war eine eigene Einheit von Feldeisenbahnern zugewiesen, die für das Funktionieren von Truppen- und Materialtransport, Nachschub und pünktlichem Urlaub verantwortlich war. Ludwig Tägert leitete das wichtige Maschinenamt der "FMA 6". Zwar wollten die meisten Feldeisenbahner von der Nazi-Ideologie nichts wissen. Dennoch wurden erst durch ihre unglaublichen Transportleistungen, gepaart mit höchster Improvisationskunst und größter Einsatzbereitschaft, Hitlers "Erfolge" möglich, die bis zu den Ölquellen im fernen Kaukasus führten und mit "Stalingrad" ihr Menetekel erfuhren. Währenddessen erleben die "Kriegskinder" daheim ihre Kindheit ohne Vater. Aber als Segen erweist sich für ihre Entwicklung ausgerechnet eine junge ukrainische Ostarbeiterin, die mit ihrer hemmungslosen Liebe tapfer der "Schwarzen Pädagogik" der Nazis entgegenwirkt. So entstehen schon damals mitten im Krieg Szenen einer befreiten Kindheit, die manches von den Erfahrungen eines "Michel aus Lönneberga" vorwegnehmen. 308 S., Format 17/22, Paperback, mit zahlreichen auch farbigen, bislang unveröffentlichten Abbildungen und Karten

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Die KIMA und ihr LUTZ mit Tochter URSULA und Sohn JÜRGEN JOACHIM im Mai 1942 in STEPHANSKIRCHEN

Psalm 57

Auf dich traut meine Seele

Sei mir gnädig, Gott, sei mir gnädig!

Denn auf dich traut meine Seele,

und unter dem Schatten deiner Flügel habe ich Zuflucht,

bis das Unglück vorübergehe.

Ich rufe zu Gott, dem Allerhöchsten,

zu Gott, der meine Sache zum guten Ende führt.

Er sende vom Himmel und helfe mir

von der Schmähung dessen, der mir nachstellt. SELA.

Gott sende seine Güte und Treue.

Ich liege mitten unter Löwen;

verzehrende Flammen sind die Menschen,

ihre Zähne sind Spieße und Pfeile

und ihre Zungen scharfe Schwerter.

Erhebe dich, Gott, über den Himmel

und deine Herrlichkeit über alle Welt!

Sie haben meinen Schritten ein Netz gestellt

und meine Seele gebeugt;

sie haben vor mir eine Grube gegraben –

und fallen doch selbst hinein. SELA.

Mein Herz ist bereit, Gott,

mein Herz ist bereit, dass ich singe und lobe.

Wach auf, meine Seele, wach auf, Psalter und Harfe,

ich will das Morgenrot wecken!

Herr, ich will dir danken unter den Völkern,

ich will dir lobsingen unter den Leuten.

Denn deine Güte reicht, so weit der Himmel ist,

und deine Wahrheit, so weit die Wolken gehen.

Erhebe dich, Gott, über den Himmel

und deine Herrlichkeit über alle Welt!

Eine kleine Familienchronik der Taegert

Teil III-2 (1939 – 1946):

Stephanskirchen – FMA 6 Russland und Italien – Hameln

Version 19-11-2016

Gewidmet meinen Geschwistern URSULA FISCHER und Dr. WERNER TAEGERT, sowie meinem verstorbenen Bruder LUTZ-PETER TAEGERT

EINFÜHRUNG

Die Familie ist gegründet und findet ihr erstes Heim

Die Hochzeit der KIMA im Januar 1939 war ein Desaster gewesen. Als Blinddarm-Patientin in der Klinik BOMHARD in BAD KISSINGEN hatte sie auf jede traditionelle Feierlichkeit verzichten müssen.

Und auch die verspätete Hochzeitsreise nach Oberitalien Ende April bis Mitte Mai desselben Jahres hatte sich in mancherlei Hinsicht als ein enttäuschender Reinfall entpuppt: Immer wieder hatten die beiden frisch Vermählten bei meist miesem Wetter gefroren, ratlos in ihren klammen Geldbeutel geschaut, bittere Erfahrungen mit typischem Nepp gemacht und manche abstoßende Schmuddeligkeit hinter den einladenden italienischen Fassaden entdeckt.

Und doch bleibt diese Reise, zumindest familienpolitisch betrachtet, nicht ohne erfreuliche Folgen: Genau neun Monate später wird sich am 28. Januar 1940 mit der Geburt der kleinen URSULA jr. in der Entbindungsklinik in ROSENHEIM der erste freudig begrüßte Nachwuchs einstellen. Aus dem „Grauen Bären“ von INNSBRUCK wird ein niedliches rotbackiges Bärlein in STEPHANSKIRCHEN hervorgehen.

Nach einer frustrierenden Untermiet-Erfahrung in der Rosenheimer Dahlienstraße wird es also nach der Rückkehr von der Reise für das junge Paar Zeit, sich endlich den lange geplanten eigenen Hausstand einzurichten.

Doch weil im Frühherbst 1939 die versprochene Wohnung im Haus LEX in der Kielinger Straße 12 in STEPHANSKIRCHEN immer noch nicht bezugsfertig ist, beziehen die beiden am 2. September 1939 ein paar Hundert Meter entfernt südlich der Bahnlinie im Ortsteil EITZING bei der Familie SCHÄFFLER eine weitere Interimswohnung. Mit dieser Familie entspinnt sich eine lange Freundschaft.

Begegnung nach 27 Jahren: Der Verfasser (links) mit Familie Lex in STEPHANSKIRCHEN im Sept. 1968 [J.T.]

14 Tage später können sie dann doch endlich bei der Familie LEX ihren ersten „richtigen“ Hausstand begründen. Nun können sie auch die Möbel aufstellen, deren Vorlage sie sich in ihrer Verlobungszeit bei einem Messemuster in BERLIN abgeschaut hatten und die ihnen der tüchtige mainfränkische Tischlermeister HALBICH inzwischen nach ihren Plänen gefertigt und geliefert hat.

Äußerlich verrät die sportliche Erscheinung der KIMA zu dieser Zeit des Einzugs noch nicht, dass Nachwuchs unterwegs ist. Doch die zukünftigen Eltern verraten natürlich ihren Vermietern von den besonderen Umständen und ihrer guten Hoffnung, und die Gastgeber freuen sich mit ihnen. Es entspinnt sich auch mit ihnen ein freundschaftlich-herzliches Verhältnis, das über Jahrzehnte hinweg Bestand hat und noch bei den Nachfahren positive Erinnerungen auslöst.

Inzwischen ist der Zweite Weltkrieg zwei Wochen alt. Am 1. September hat HITLER mit dem Angriff auf Polen sein Projekt zur Eroberung von „Lebensraum im Osten“ gestartet. Anders als im Ersten Weltkrieg ist von Begeisterung in der Bevölkerung aber nichts zu spüren. Krieg war ja beim überwiegenden Teil der Volksgemeinschaft lange Zeit keine gedankliche Option gewesen; zu nachhaltig wirkten immer noch die Schrecken des Ersten Weltkrieges in den Gemütern der Menschen nach. So machen sich jetzt die meisten Deutschen große Sorgen.

Es sind vor allem die Jüngeren, die ihr Vertrauen dennoch in Hitlers Hände legen: Er, der Deutschland, wie sie meinen, in den ersten sechs Jahren seiner Regierungszeit so viele traumhafte außen- und innenpolitischen Erfolge beschert hat, wird das Land auch in diesem Krieg weiter zu Ansehen und internationaler Größe führen und die bittere Schmach von Versailles vergessen lassen, so hoffen viele Deutschen damals. Sie verehren deshalb auch den „Krieger“ HITLER bald wie einen Gott und erwarten, dass seine Erfolgsserie ungeschmälert anhält.

Tatsächlich unterscheidet sich diese zweite Hälfte von Hitlers Regierungszeit in jeder Hinsicht völlig von der ersten, doch bald haben die Menschen gar keine Zeit mehr, darüber nachzudenken. So völlig sind sie eingespannt von den Interessen und Gesetzmäßigkeiten von Hitlers Krieg und passen sich an. Nun ist nur noch das Überleben wichtig. Im Alltag und bei freudigen Ereignissen wird Normalität vorgegaukelt. Man tanzt auf einem Vulkan – bis zum Ende.

Dieses Buch zu schreiben, ist mir nicht leicht gefallen. Als ich seinerzeit im Jahr 2001 bei einem Besuch meiner schwer kranken, 86-jährigen Mutter im Theresienkrankenhaus in BAD KISSINGEN aus einer Ahnung heraus meinen Laptop mitnahm und sie bat: Erzähl mir von Deinem Leben, da hatte ich noch keine Vorstellung, wohin mich meine Recherchen wohl führen würden. Das meiste habe ich ohnehin erst herausgefunden, nachdem meine Mutter im Jahr 2001 verstorben war.

Die ersten damaligen Zeilen über ihr Leben zu ergänzen mit dem, was ich in Alben, Arbeitsbüchern, Ausweisen, Briefen und vor allem im Kontext der Zeitgeschichte herausfand, war für mich ein sehr schmerzhafter Prozess. Ich war bestürzt über die Breite der Verstrickung der Menschen in das Nazisystem. Zugleich befiel mich immer wieder das schuldhafte Gefühl, mit meinen Recherchen ein Sakrileg zu begehen und den eigenen Eltern in den Rücken zu fallen. Aber als „Kriegskind“, so denke ich, habe ich doch das Recht, meine Kindheit ungeschminkt zu sehen.

So ist ein sehr bewegendes Buch entstanden, das nichts beschönigt. Doch können manche Schatten der Vergangenheit die heiteren Seiten des Kindseins nicht verdrängen. Neben der „schwarzen Pädagogik“ ist uns auch viel Liebe zuteil geworden, die uns den Weg ins Leben ermöglicht hat. Wir alle sind ohnehin darauf angewiesen, das die nachfolgenden Generationen uns verstehen und vergeben. Nur so kann sich das Leben erneuern.

Jürgen-Joachim Taegert,

Kirchenpingarten 2016

INHALTSÜBERSICHT

EINFÜHRUNG

ORIENTIERUNG: Was bisher geschah – und was nun kommt

DIE REICHSBAHN IST DAS RÜCKGRAT BEI HITLERS WELTEROBERUNGSPLÄNEN

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Bei der Reichsbahn im Voralpenraum

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ISENBAHN STEHT UND FÄLLT

Als Feldeisenbahner im Zweiten Weltkrieg

Die „FMA 6“ wird aufgestellt

Erste Berührungen mit Shoa und Porajmos

Strapazierte Bahnlogistik für den Angriff auf die Sowjetunion

KARTE: Bahnlinien und Einsatzorte der FMA 6 im Russlandfeldzug 1941–43

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KRAINE

Die Ukraine: Kerngebiet von Stalins Hungerpolitik und Hitlers Judenvernichtung

Durch Kornfelder und Flusstäler ins Herz der Ukraine

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INTER ENTGEGEN

Soldatenleben in Nässe und Kälte

Früher Wintereinbruch im russischen Osten der Ukraine

Snjamenka – Pjatychatky – Dnjepropetrowsk

Östlich des Dnjepr

EINE „OSTARBEITERIN“ IM BÜRGERHAUSHALT

Das ukrainische Mädchen Nadja

Wie schon vorher eine deutsche Hausgehilfin bei der Kima arbeitete und ins Gefängnis kam

Vom Himmel in die tiefsten Klüfte

AUF DEM WEG IN DIE KATASTROPHE

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RÄUME

Bahn und Heer in der Transportkrise

Trügerische Erfolge

Am Kaukasus enden die deutschen Träume

Ein „endloser Rückzug“

WIE KRIEGSKINDER IHREN VATER KENNENLERNEN

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LÜGEL

Geborgen im Glauben der Kirche

Wozu sind Väter nütze?

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ICHEL AUS

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ÖNNEBERGA

Schon Astrid Lindgren hat es gewusst

Erste Konfrontation mit den Zehn Geboten

DIE FELDEISENBAHNER IN DEN LETZTEN KRIEGSJAHREN

Eisenbahnverkehr für die Marionettenregierung des „Duce“

Mit geheimem Führerbefehl zu den Ölquellen Ungarns

Eine große Enttäuschung für die Tschechen

Bewahrt in vielen Gefahren

HERAUSFORDERNDER AUFBRUCH ZU KRIEGSENDE

Im Bannkreis der „Alpenfestung“ dem Unheil knapp entkommen

Abschied von Oberbayern

Verschleißerscheinungen der Liebe nach fünf Kriegsjahren

Lebensdaten und Wendepunkte

ANHANG

Erfahrungsbericht des Amtsvorstandes Ludwig Tägert über den Einsatz der FMA 6 von Beginn der Aufstellung am 22.3.1941 bis zum 30.9.1941

Parteimitgliedschaft für „überzeugte Nationalsozialisten“

Über den Verfasser und sein Projekt

Bücher von Jürgen Taegert im internationalen Buchhandel

Bildnachweis

ORIENTIERUNG

Was bisher geschah – und was nun kommt

KIMA, so nannten wir unsere Mutter, URSULA TÄGERT, geb. SCHACHENMAYER, erst mit der Geburt ihrer ersten Enkelkinder. Mit diesem Namenskürzel in Babysprache wollten wir die „Kissinger Oma“ von der anderen Oma unterscheiden, die in KATZWANG wohnte und dementsprechend für uns seitdem die „KAMA“ war.

Nach dem allzu frühen und schockierenden Tod ihres „Lutz“ – der eigentlich LUDWIG TÄGERT hieß und zuletzt als Bundesbahnoberrat im aktiven Dienst der Eisenbahndirektion HANNOVER gestanden hatte – im Jahr 1966 war die nun Heimatlose wieder an den Ort ihrer Kindheit und Jugend im idyllischen Staatsbad KISSINGEN zurückgekehrt; sie wollte dort noch einmal anknüpfen an ihre familiären, kirchlichen, kulturellen und beruflichen Wurzeln.

Wie im ersten Band von „Die Kima und ihr Lutz – Das Schweigen durchbrechen“ berichtet wird1, stammte die KIMA aus dem Haus des protestantischen Zeitungsverlegers TOBIAS AUGUST SCHACHENMAYER. Er war im Jahr 1868 vom reichsstädtisch-evangelischen KEMPTEN im Allgäu ins katholische KISSINGEN gezogen und hatte das „Kissinger Intelligenzblatt“, die heutige „Saalezeitung“, aufgekauft. Ihr Vater MAX war der jüngste Sohn des Firmenpatriarchen und im gleichen Jahr 1868, unmittelbar nach dem Umzug nach KISSINGEN, geboren worden.

Von Jugend auf hatte es MAX an die See getrieben, und nach einem Ingenieurstudium für Maschinenbau und Elektrotechnik hatte er sich immer wieder zu Reserveübungen bei der kaiserlichen Marine einberufen lassen. Parallel hatte er Praktika bei namhaften Firmen auf dem Gebiet der innovativen Stromerzeugung und -nutzung absolviert und dort auch zeitweilig Anstellungsverhältnisse gehabt.

Als der Erste Weltkrieg ausbricht, begleitet MAX SCHACHENMAYER gerade Kaiser WILHELM II. bei dessen jährlicher Skandinavienreise. Als Marine-Stabsingenieur ist er im Krieg bei Landkommandos in WILHELMSHAVEN und später HARBURG eingesetzt. Kurz nach Kriegsbeginn, am 29. Oktober 1914, kommt in HALBERSTADT in der thüringischen Heimat der Ehefrau MARGARETE, geb. GRABE als drittes Kind der Familie URSULA zur Welt.

Die 27-jährige Mutter MARGARETE stammte aus einer kulturbewussten und sozial eingestellten Dynastie lutherischer Pfarrer in der preußischen Unionskirche Thüringens, hatte aber selber vor allem musische und künstlerische Neigungen. Vom unausweichlichen Konflikt mit der Tradition des Pfarrhauses wurde sie bei einer Kur erlöst, die sie als 19-Jährige in BAD KISSINGEN absolvierte, denn dort lernte sie ihren zukünftigen Ehemann, den inzwischen 38-jährigen Junggesellen MAX SCHACHENMAYER, kennen. Drei Jahre später heirateten die beiden. Schon vor der Geburt der KIMA bekamen sie zwei Töchter.

Nach ihrer Volksschulzeit in BAD KISSINGEN haben die beiden jüngsten Töchter LISELOTTE und URSULA auf Initiative der Mutter als Fahrschülerinnen die weiter führenden Schulen in SCHWEINFURT und WÜRZBURG absolviert und sollen nun beide ein Studium ergreifen. Das ist aber bei der Emanzipationsfeindlichkeit der inzwischen zur Macht gekommen Nazis nicht einfach; wer studieren will, muss sich zur Ableistung eines Diensthalbjahres beim „Deutschen Frauenarbeitsdienst“ verpflichten. Obwohl die KIMA diese sechs Monate auf einem landwirtschaftlichen Gutsbetrieb absolviert und einigen praktischen Nutzen daraus zu ziehen meint, verwenden die Nazis diese Zeit vor allem, um die Frauen ideologisch zu indoktrinieren.

Die Hitlerleute verzeichnen einen vollen Erfolg: Die KIMA wird für ihr weiteres Leben zu einer Verehrerin Hitlers und des Nationalsozialismus. Sie glaubt, den unausgesprochenen Wünschen Hitlers zu folgen, indem sie aus der Evangelischen Kirche austritt und sich als Anhängerin der neuheidnischen „Gottgläubigen“ von den Wurzeln ihrer Familie trennt. Auch der wachsende Kunstterror der Nazis, der sie dann im Jahr 1936 zum vorzeitigen Abbruch ihres Studiums als Kunsterzieherin verleitet, ist für sie kein Anlass, Hitlers Verlockungen zu misstrauen. Sie lässt sich als Kreisgeschäftsführerin bei der NS-Frauenschaft für eine schäbige Bezahlung einstellen. Die schräge Doktrin der Nazis ist für sie kein Grund zur Besorgnis.

Dabei wird sie schon bald von den Abgründen im System der Nazis erfahren: Diese vollziehen ihre Programme der Euthanasie an Kindern und Erwachsenen und leiten damit die Vorstufe zum Mord an den Juden und anderen unerwünschten Menschen ein. Der eigene zukünftige Schwager ist in die Euthanasieaktion „T4“ involviert. Vom anderen Schwager wird sie von Geheimaktionen der Nazis auch im fernen SHANGHAI und im ostasiatischen Raum erfahren; sie verfolgen auch hier die Juden, und sie machen Propaganda für sich und den Bündnispartner Japan.

Den Posten bei der Frauenschaft in KISSINGEN gibt die Kima aber nach 1½ Jahren Mitarbeit auf. Von den geringen Einkünften kann sie nicht leben. Vor allem aber ist sie verärgert über die Frauenfeindlichkeit der Nazis, die ihr beim Aufnahmeantrag in die Nazipartei anfangs Steine in den Weg gelegt haben. Doch noch im Jahr 1937 hält sie stolz ihren roten Parteiausweis in den Händen, der bei den Frauen eher seltener ist und der sie rückwirkend zum 1. Mai als „Parteigenossin“ ausweist.

Auf Anraten einer Freundin bewirbt sie sich als Sekretärin bei der „Wirtschaftlichen Forschungsgesellschaft“, einer geheimen Tarnorganisation der Nazis zur logistischen Vorbereitung des nächsten Krieges. Hier lernt sie am Tag vor ihrem Dienstbeginn ihren zukünftigen Ehemann, den Ingenieur LUDWIG TÄGERT kennen, der von nun an ihr „Lutz“ oder „Lutz Peterle“ ist. Seitdem sind die beiden unzertrennlich.

LUTZ stammt aus einer angesehenen Familie von Gymnasialpädagogen mit niederdeutschen Wurzeln. Die Vorfahren – die sich lange Zeit noch ohne das „t“ am Ende des Namens „TÄGER“ geschrieben haben – kamen vom Gebiet der unteren Elbe und versuchten, nach den Schrecken des 30-jährigen Krieges als „Tropfhäusler“ durch die Verwaltung und Zucht von Schafen und Produktgewinnung von Ziegen emporzukommen. Sie lernen Ziegenleder zu verarbeiten und Bier zu brauen.

Der Vorfahr JÜRGEN JOCHIM TÄGER schließlich wird zum Pionier; er wagt es, in die weit entfernte, damals schwedische Ostseeküstenstadt GREIFSWALD aufzubrechen. Er macht dort zunächst als Schuhmachermeister und Amtsmeister dieser Gilde seinen Weg, bis ihn Einflüsse der Halleschen Pädagogik in den Spuren von AUGUST HERMANN FRANCKE dazu bringen, sein Leben komplett neu zu ordnen: Seitdem werden viele männliche und weibliche Nachfahren der Familie Lehrer. Motiviert durch die Aufklärung und ausgebildet in der weiter entwickelten bahnbrechenden Pädagogik des Halleschen Pietismus wirken sie mit, Bildung zu einem Allgemeingut zu machen2.

In den stürmischen Umbrüchen der deutschen Märzrevolution, der frühen industriellen Revolution und des modernen Verkehrswesens erfinden sich diese Menschen ihren Lebenssinn ganz neu. Wissenschaftlichkeit und aufgeklärtes Bemühen um Bildung für Männer, Frauen und erstmals sogar Kinder brechen sich auch in frommen Kreise allenthalben Bahn. Als verlässlichen Hintergrund ihres Alltags erschaffen sie sich eine eng vernetzte bürgerliche Bildungsgesellschaft, die in „vorbildlicher Geselligkeit“ den Charakter und die eigene Persönlichkeit bildet3.

Es ist daher falsch, die Zeit des „Biedermeier“ gleichzusetzen mit Spießertum und Rückzug in eine weltabgewandte Idylle. Denn die Betroffenen erleben ihre Zeit als alles andere, als idyllisch und geruhsam: Damals, nach Napoleons Sturz und dem Ende der kleinen Territorialherrschaften in Europa, sind sie ständig bedrängt vom gewalttätigen Widerstand rückwärtsgewandter politischer Kräfte. Ihr Leben ist überschattet vom allgegenwärtigen Leiden einer erschütternd hohen Mütter- und Kindersterblichkeit.

Prägend wird dann insbesondere der Aufbruch der wissenschaftlichen Bildung und der Gymnasialpädagogik, wie sie exemplarisch für die Zeit sichtbar wird in der Gestalt von Dr. JOACHIM CHRISTOPH WILHELM TÄGERT. Der Kaiser hat ihn damals als Realschuldirektor nach SIEGEN entsandt. TÄGERT verhilft dem „Gymnasium am Löhrtor“ mit seinen kirchlichen Wurzeln, einer der ältesten höheren Bildungsstätten in Deutschland, zu neuem Glanz und Ansehen. Diese charismatische Lehrerpersönlichkeit gehörte nicht nur zu den Pionieren der neuartigen „Realgymnasien“. Sondern als Wissenschaftler untersuchte er nebenbei, visionär vorausschauend, mit mathematisch-physikalischen Mitteln die „Schwankung der Erdachse“. Wegen ihrer Auswirkung auf das Erdklima hält dieses Phänomen der „Präzession“ auch die moderne Wissenschaft in Atem.

So wirken viele hervorragende weibliche und männliche Vertreter dieser Familie aus Aufklärung, Goethezeit, Biedermeier und „Zweitem Reich“ mit ihren zukunftsweisenden pädagogischen Konzepten und ihren politischen Forderungen nach Entfaltung und Teilhabe des Einzelnen bis in aktuelle und brennende Fragen unserer Gegenwart hinein nach.

Der Generation, welcher die KIMA und ihr LUTZ angehören, stellen sich dann aber ganz andere, unerwartete und unerbetene Herausforderungen. Sie haben das „Zweite Reich“ bis zum Ausklang der Kaiserzeit miterlebt und sind zu Zeitzeugen des Aufstiegs des „Dritten Reiches“ geworden. Mit ihrem Lebensschicksal sind sie nun auf vielfältige Weise in diese dramatische und dunkle Zeit verflochten. Ihre Erfahrungen und Entscheidungen spiegeln die Wege ganz „normaler“ Bürger in dieser Zeit ab.

Vom alltäglichen Leben in diesem zweiten Teil der Herrschaft Hitlers seit Kriegsbeginn 1939 und von den Abgründen und Verstrickungen dieses Lebens handelt nun der folgende zweite Teil der Familiengeschichte „Die Kima und ihr Lutz 1909–1945 – Auf dich traut meine Seele – Die Eisenbahnlogistik für Hitlers Feldzüge des Schreckens und das Los der Kriegskinder“ .

Wir erleben mit, wie sich die Träume des jungen, frisch vermählten Ehepaars dem Diktat von Hitlers Kriegsplänen beugen müssen. HITLER hat mit dem ersten Tag des Krieges seine Zivilkleidung abgelegt und trägt seitdem nur noch Uniform; mit dieser symbolischen Geste will er sich ganz als „Krieger“ stilisieren, der alles das, was in der Kaiserzeit des Mittelalters unerfüllt geblieben ist, nun erfüllt: ein paneuropäisches Großreich unter deutscher Führung bis an die Grenzen des Ural, Lebensraum im Osten für die deutschen Siedler, die Beseitigung alles „Lebensunwerten“ und die endgültige Eliminierung des Judentums, – und der damit Deutschland in den moralischen und nationalen Untergang führt.

Ihm folgen die deutschen Männer und Frauen willig. Die Männer legen die Uniform ebenfalls nicht mehr ab. Sie tun alles, um Hitlers Krieg zu einem Erfolg zu machen. Insbesondere die Eisenbahner werden zur bislang historisch wenig beachteten, tragenden Säule für diese Feldzüge des Schreckens. Feldeisenbahner sind zwar ideologisch am wenigsten geformt, aber ihre Arbeitsauffassung, die geprägt ist von unbeirrbarem Einsatzwillen, bergeversetzender Kreativität und tatbereiter Verlässlichkeit, entspricht genau den Anforderungen, die einen solchen Feldzug in Bewegung halten. Und die Frauen daheim tun das, was der „Führer“ von ihnen erwartet: Sie pflegen ihre vom Kampf im Feld Kräfte sammelnden Helden; sie gebären dem „Führer“ Kinder und erziehen sie nach Hitlers abstrusen Wünschen und den Vorstellungen einer schockierenden „Schwarzen Pädagogik“; und sie halten den Haushalt und das Leben an der Heimatfront auch in der Mangelwirtschaft des Krieges in Gang.

Was ein solcher Krieg mit den Menschen macht, erzählt dieser zweite Teil der Familiensaga, der das dienstliche und private Tun der „Kriegseltern“ und das Los der „Kriegskinder“ in die Mitte stellt. Dazwischen eingestreut finden sich Kapitel mit farbigen Bildern einer befreienden Liebe, die unerwarteterweise von einer Fremden ausgeht, welche auch in der Bedrückung einfach ihr Menschsein vorlebt. Es ist ausgerechnet diese Liebe einer ukrainischen „Ostarbeiterin“, die den ihr anvertrauten deutschen Kindern das nötige „Urvertrauen“ ins Leben vermittelt.

1 erschienen 2016 bei BoD, ISBN 978-3-7412-3990-8

2 nachzulesen im Büchlein „Vom Tropfhäusler zum Köster und Schaulmeister – Der mühsame Weg in die Bürgergesellschaft des 18. Jh.“, erschienen 2016 bei BoD, ISBN 978-3-7412-4009-6.

3 dazu und zum weiteren vergl. das Büchlein „Wenn die Erdachse schwankt – Universale Bildung und Deutsche Revolution im 19. Jh.“, erschienen 2016 bei BoD, ISBN 978-3-7412-4012-6.

I. DIE REICHSBAHN IST DAS RÜCKGRAT VON HITLERS WELTEROBERUNGSPLÄNEN

Lange Zeit von Nazi-Bevormundung frei

Noch deuten eher wenige Anzeichen auf den nahen Krieg hin, als LUDWIG TÄGERT im Februar 1939 in MÜNCHEN seine Arbeit als Reichsbahnbauassessor antritt. Der Schwerpunkt seiner beruflichen Tätigkeit betrifft hier vorzugsweise die elektrische Zugbeförderung.

In der anschließenden Zeit beim Maschinenamt ROSENHEIM ist LUDWIG vom 1. März 1939 an zunächst „Hilfsarbeiter“, wie sich seine Assistententätigkeit für den Amtsleiter nennt. Dann wird er zum Stellvertreter des Amtsvorstandes ernannt. Für weitere 1¼ Jahre bis zum Anfang des Juni 1940 ist er nun zuständig für die gemischte Dampf- und Elektro-Beförderung, wie sie für das Bahnbetriebswerk ROSENHEIM seinerzeit noch typisch ist.

In diese Zeit fällt dann im September mit dem Überfall auf Polen der Beginn von Hitlers Krieg, der auch die Bahn als Träger der gesamten Logistik noch eminent fordern wird. Doch im ersten Kriegsjahr bleibt LUDWIG von diesen Kriegseinsätzen zunächst weitgehend unberührt. Die Eisenbahner werden auch im Kern des Reiches zur Aufrechterhaltung eines zuverlässigen Betriebes gebraucht, sie sind also für den reinen Militärdienst „unabkömmlich“ gestellt.

Auch hat LUDWIG TÄGERT in JULIUS DORPMÜLLER einen obersten Chef, der seine Eisenbahner so lange wie möglich von politischen Einflüssen freihalten will. So geht es in den Aufgaben für LUDWIG zunächst um den grenzüberschreitenden Bahnbetrieb im unmittelbaren Alpenvorland und die Koordination mit der Österreichischen Bahn, nachdem Österreich seit dem 13. März 1938 auch mit seinem Bahnnetz an das Deutsche Reich angeschlossen ist.

Bei der Reichsbahn im Voralpenraum

Dem Strom gehört bei der Bahn die Zukunft

Die bergigen Strecken Süddeutschlands sind natürlich am besten mit elektrischem Zugbetrieb zu bewältigen, denn Elektroloks entwickeln mehr Zugkraft als Dampfloks. Sie sind vor allem an Steigungen überlegen, und sie verursachen weniger Aufwand und sind jederzeit einsatzbereit. Es ging nur darum, die bestehenden Bahnverbindungen zu „elektrifizieren“. Den benötigten Strom konnte man umweltfreundlich aus Wasserkraft gewinnen.

Meisterwerk der Ingenieurkunst: Das 1824 eingeweihte Walchenseekraftwerk bei KOCHEL [L.T.]

Für die bahneigene Stromversorgung war das „Walchensee-Kraftwerk“ eine wichtige Voraussetzung, Seine Konstruktion entstammte einer weitsichtigen Idee des genialen Münchner Bauingenieurs OSKAR VON MILLER, der für die junge AEG arbeitete. Er hatte bereits an der Wende zum 20. Jh. vorgeschlagen, das ergiebige Gefälle von gut 200 m zwischen den beiden natürlichen Gewässern bei KOCHEL im Voralpenland zur Stromerzeugung zu nutzen. Der Walchensee sollte als „Oberbecken“ fungieren; sein Wasser sollte über starke Rohrleitungen und Turbinen dem Kochelsee als „Unterbecken“ zufließen. Mit dieser Idee wollte V. MILLER die Elektrifizierung der bayerischen Bahn und des Landes Bayern voranbringen4.

Gegen die Skepsis mancher Kleingläubiger, die eine wirtschaftliche Nutzungsmöglichkeit für den Strom angezweifelt hatten, war das Projekt noch im Ersten Weltkrieg vom Bayerischen Landtag beschlossen und sein Bau begonnen worden. Durch die Inflation, die im Jahr 1923 ihren Höhepunkt erreichte, hatten sich weitere Hindernisse für die Fertigstellung aufgetürmt. Dennoch floss im Jahr 1924 der erste Strom. Obwohl dieses Wasserkraftwerk nur etwa ein Zehntel der Leistung eines modernen großen Atomkraftwerkes erreicht, gehört es in Deutschland bis heute zu den größten ressourcenschonenden Kraftwerken seiner Art. Die Freunde von naturnaher Technik sind mit Recht stolz darauf, dass es heute noch störungsfrei läuft und in Bayern einen maßgeblichen Anteil zur „Energiewende“ beisteuert.

Zuverlässig und stark: Loks E44 an der Drehscheibe in ROSENHEIM [J.T.]

Aber die geplante Weiterführung der elektrischen Eisenbahn-Traktion in Richtung Österreich erweist sich damals als sehr mühsam. So war die Bahnstrecke MÜNCHEN–ROSENHEIM seit dem Jahr 1927 elektrisch befahrbar. Aber erst ein Jahr später kann in ROSENHEIM ein „Unterwerk“ den angelieferten Bahnstrom für den vermehrten Einsatz von Elektrolokomotiven heruntertransformieren.

ROSENHEIM ist zu der Zeit ein zentraler Bahn-Knotenpunkt. In den beiden riesigen Lokschuppen stehen damals, neben den neuen Elektroloks, noch zahlreiche Dampfloks und dazu eine bunte Palette von bayerischen Lokalbahnlokomotiven.

Vom Bahnhof zweigen zwei Hauptbahnen ab, außerdem zahlreiche Nebenbahnlinien. Die auch heute noch wichtigste Strecke führt durch das Inntal nach KUFSTEIN und INNSBRUCK und von da vor allem weiter über den Brennerpass nach Italien; sie wird gegenwärtig für den Bau des fast 60 km langen „Brennerbasistunnels“ „ertüchtigt“. Die andere Hauptroute führt nach SALZBURG und von dort über weitere Hauptstrecken nach ganz Österreich und in den Balkan.

Die Stadt KUFSTEIN hatte man bereits im Jahr 1927 auf elektrischem Weg erreicht. Ein Jahr später hatte die Strecke nach SALZBURG den Fahrdraht erhalten. Seit dieser Elektrifizierung nahm der Dampflokbestand in ROSENHEIM zum ersten Mal rapide ab.

Daneben gab es damals noch eine „Sana-Linie“, welche ursprünglich im Ersten Weltkrieg 1916 zur Entlausung und „Sanierung“ von Lazarettzügen und Armee-Einheiten dienen sollte und zwischen den Bahnhöfen ROSENHEIM und KOLBERMOOR quasi neben dem Streckengleis der Mangfalltalbahn HOLZKIRCHEN – ROSENHEIM gebaut worden war. Dieses Bahngelände wurde seitdem, insbesondere im Zweiten Weltkrieg, stets für Sonderverladungen, wie Militärtransporte oder den starke Militärverkehr nach Italien verwendet, da eine beidseitige Gleisanbindung und ein weithin damals noch freies Feld großzügige Maßnahmen zuließen.

Die Häufigkeit des Zugverkehrs war jetzt fortschrittlich. Als LUTZ TÄGERT seinerzeit beim Maschinenamt ROSENHEIM anfängt, verkehren immerhin alle Stunden je ein Schnellzug und ein Güterzug von MÜNCHEN, sowie in den dazwischen liegenden Zeiten Eil- und Personenzüge. Im Abschnitt von MÜNCHEN nach GRAFING verkehren zusätzlich jede Stunde weitere 28 Nahpersonenzüge, sodass man im Prinzip damals schon von einem modernen „Takt“ von 15 Minuten für den Personenverkehr reden kann. Doch muss man zu der Zeit die Züge in ROSENHEIM teilweise immer noch von Elektro- auf Dampfloks „umspannen“.

Fahrstromleitung vor Alpenpanorama: LUTZ TÄGERT (im dunklen Mantel) 1939 bei der Überwachung der „Elektrifizierung“ der Bahnstrecke von ROSENHEIM nach SALZBURG [L.T.]

So erwarten LUDWIG TÄGERT vielfältige Aufgaben: Er soll sich, als gelernter Ingenieur für Maschinenbau und Elektrotechnik, in erster Linie um den Betrieb und den Unterhalt der Kraft- und Umspannwerke kümmern und dafür sorgen, dass alle Hochspannungs-, Verteilungs- und Fahrleitungen in Ordnung sind. Außerdem gehört es zu seinen Hauptaufgaben, Neubaumaßnahmen an Fahrstromleitungen zu leiten und Umbauten zu planen und durchzuführen.

Daneben muss auch der laufende Fahrbetrieb begleitet und der Einsatz der „Maschinen“ – im Sprachgebrauch der Eisenbahner die Lokomotiven und Triebwagen – sichergestellt werden. Zur Leitung war ein Ingenieur erforderlich, der Ahnung hatte von den beiden Fächern Maschinenbau und Elektrotechnik, wie LUDWIG TÄGERT sie durch sein Studium erworben hatte. Denn die Entwicklung der elektrischen Lokomotiven, die man kurz und knackig „E-Loks“ nannte – das von deutschen Sprachtümlern vorgeschlagene „Bernzieh“, als Kombination von „Bern“ wegen dessen „elektrischen“ Eigenschaften und „Zieh“ anstelle von Lokomotive, hatte sich nie durchsetzen können –, hatte Mitte der dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts große technische Fortschritte gemacht.

Insbesondere mit den neuen Baureihen E 18, E 44 und E 93 standen inzwischen moderne Lokomotiven zur Verfügung, die sehr leistungsfähig und wartungsarm waren. Star war natürlich die Elektrolok „E 18“, die seit der Nürnberger Verkehrsausstellung des Jahres 1935 bekannt war; sie konnte schon damals Schnellzüge mit einer Geschwindigkeit von 150 km/h ziehen.

Der „Star“ der damaligen E-Loks, die „E 18“: Mit dem „Blauen Enzian“ vor TREUCHTLINGEN [J.T.]

Ihre noch schnellere Nachfolgerin E 19, die mit 4.000 kW Stundenleistung sogar 180 km/h fahren konnte, blieb allerdings angesichts des Krieges ein Luxusartikel und fast ein Unikat. Andererseits wurde für die bestens bewährte starke Güterzuglok E 93 seit dem Anschluss Österreichs am 1. März 1938 noch eine stärkere Nachfolgerin gebaut. Dieses „deutsche Krokodil“ E 94 sollte dann zu einer der berühmtesten Lokomotiven der deutschen E-Lokgeschichte und eine ganz wichtige Kriegslok werden. Denn sie konnte auch die steigungsreichen Rampen am Brenner, Arlberg oder über die Tauern bzw. die ständig steigenden Zuglasten etwa für Panzertransporte bewältigen und war für Hitlers Kriegsführung an den Alpenpässen unentbehrlich.

Der Überfall auf Polen – eine Revanche-Idee der Weimarer Zeit

Inzwischen hat mit dem deutschen Überfall auf Polen am 1. September 1939 der Krieg begonnen. Er zielte eigentlich von vornherein auf die Annektion Russlands ab. Seinen 50. Geburtstag vor Augen – er war am 20. April 1889 geboren –, wollte HITLER den Krieg um „Lebensraum im Osten“ möglichst bald, noch auf der Höhe seiner „Schaffenskraft“, führen.

Viele Deutsche trauten deshalb Hitlers Nichtangriffs-Verträgen nicht. Sie gewannen seit dem Beginn der Verhandlungen mit der Sowjetunion im März und dann verstärkt im Mai 1939 den Eindruck, dass mit dem deutsch-sowjetischen Nichtangriffsvertrag, der schließlich am 23. August 1939 in MOSKAU unterzeichnet wurde, in Wahrheit zwei „Todfeinde“ ein Bündnis eingegangenen waren, die nichts anderes im Sinn hatten, als unmittelbar darauf einen Krieg zu entfachen.

Freilich untersagte das NS-Regime die Benutzung des Ausdrucks „Krieg“ für den Angriff auf Polen ausdrücklich: Die NS-Propaganda sprach vielmehr von einer „Strafaktion“ wegen angeblicher Provokationen und Grenzverletzungen Polens.

Die Idee, Polen zu überfallen, war allerdings keine „Erfindung“ von HITLER. Und auch in seiner Programmschrift „Mein Kampf“ war Polen noch kein Kriegsziel. Vielmehr hatten deutsche Militärs und Diplomaten schon in der Weimarer Zeit, lange vor dem Jahr der Machtübernahme 1933, Polen als „Saisonstaat“ betrachtet; dieses Staatswesen habe über kurz oder lang wieder zu verschwinden.

Es gab viele durchaus nicht nur „braune“ deutsche Autoren, die mit ihren Schriften damals systematisch daran arbeiteten, das Thema vom „Grenzlandkampf“ bzw. der „blutenden, brennenden Grenze“ zu Polen im Bewusstsein der Deutschen zu verankern. Viele einflussreiche Zeitungsleute und Schriftsteller betrieben eine geradezu „psychologische Kriegführung“, um die Stimmung für eine Annexion Polens zu schüren. Manche Institutionen, wie etwa das „Deutsche Auslandsinstitut“ oder der „Verein für das Deutschtum im Ausland“ und andere, bemühten sich, die etwa 200.000 in Polen lebenden Auslandsdeutschen zu instrumentalisieren, um mit ihnen einen Vorposten im Feindesland zu haben, der für einen Überfall weitere schlagende Argumente liefern sollte5.

Andererseits hatte sich auch die autoritäre Regierung des neuen Polen unter General PILSUDSKI alles anderes als klug verhalten. Sie wollte um jeden Preis Polen auf Kosten seiner Nachbarn zur Großmacht des Ostens aufbauen. Dabei waren sich aber die Ratgeber nicht recht im Klaren, ob sie dabei lieber Russland oder Deutschland zum Feind haben wollten; denn das eine oder andere war bei dieser Art aggressiver Politik fast unvermeidbar.

Jedenfalls konnte die polnische Haltung in Deutschland durchaus als provozierend empfunden werden, zumal die Polen nach dem Ersten Weltkrieg bis zum Machtantritt Hitlers unverhohlen eine endgültige Liquidierung Deutschlands mit Hilfe von Frankreich oder zumindest die Gewinnung erheblicher Gebietsteile bis zur Elbe anstrebten, in der Meinung, sich damit für die erzwungenen Teilungen Polens endlich rächen zu können.

Es hatte auch ernstgemeinte diplomatische Bemühungen der Hitlerregierung gegeben, gegenseitige Abkommen mit Polen zu erreichen. Doch waren die Initiativen immer wieder ins Leere gelaufen. So hatten beide Länder bereits zu Anfang des Drittens Reichs im Jahr 1934 einen auf 10 Jahre befristeten Nichtangriffspakt geschlossen. Darüber hinaus hätte HITLER Polen sogar am liebsten als Bundesgenossen in einem „Antikominternpakt“, also gegen den Bolschewismus, gesehen.

Aber ähnlich wie vorher schon die Herrscher Preußens war Deutschland mit seinen spezifischen Interessen in Polen immer nur auf taube Ohren gestoßen. So war ja schon ein maßgeblicher Anlass für die Beteiligung Preußens an den Teilungen Polens das Bemühen gewesen, für die überwiegend deutsche Bevölkerung von DANZIG einen adäquaten völkerrechtlichen Status herzustellen und eine Verbindung für den Transitverkehr nach Ostpreußen zu schaffen.

Auch Hitler präsentierte diese Ideen. Ein exterritoriales Teilstück der Autobahn sollte dafür neu gebaut und der Schienenweg der ehemaligen preußischen Ostbahn sollte durch den „polnischen Korridor“ geführt werden. Für ein polnisches Zugeständnis in dieser historisch und politisch bedeutsamen Frage hatte HITLER die Anerkennung der übrigen deutsch-polnischen Grenzen, eine Verlängerung des deutsch-polnischen Nichtangriffspakts auf 25 Jahre und einen Freihafen in beliebiger Größe in DANZIG angeboten.

Doch Polen wollte von all diesen Vorschlägen und Wünschen nichts wissen und lehnte im Vertrauen auf seine Rüstung alle Ansinnen ab. Stattdessen verkündete die polnische Regierung bereits am 29. August 1939 die Generalmobilmachung, nachdem es schon im Frühjahr eine Teilmobilmachung veranlasst hatte. Man war und ist in Polen bis heute tatsächlich der irrigen Meinung, man hätte HITLER militärisch Paroli bieten zu können und nicht verhandeln müssen. Polen habe nur deshalb kapitulieren müssen, weil STALIN ihm mit seiner Roten Armee in den Rücken gefallen sei, so lautet Polens Selbstrechtfertigungsthese.

Der Angriff am 1. September traf jedenfalls auf eine von beiden Seiten mit Enttäuschung und Hass angefüllte Situation. Polen eröffnete vom ersten Tag an einen internen Feldzug gegen deutsch-, ukrainisch- und russisch-stämmige Einwohner seiner Landes und warf Lehrer, Pfarrer und andere Intellektuelle in eigens errichtete Konzentrationslager, wie BEREZA KARTUSKA, um sie zu demütigen, während andererseits deutschstämmige Angehörige des „Selbstschutzes“ ihre Jagd auf Polen und Juden eröffneten6.

Auf deutscher Seite war die Planung zum „Fall Weiß“ im Juni 1939 abgeschlossen. Im April hatte HITLER bereits den Nichtangriffspakt mit Polen offiziell gekündigt, im August schloss er überraschend mit der Sowjetunion verschiedene Handels- und Nichtangriffsverträge ab, in denen auch die Abgrenzung der gegenseitigen Interessen geregelt war. Diese Diplomatie der Diktatoren, an die sich die Russen auch hielten, brachte es kurioserweise mit sich, dass dank STALINS Vertragstreue die Treibstoffversorgung für die deutschen Panzer bis zum dritten Kriegsjahr 1941 weitaus besser klappte, als dies dann der Deutsche Wehrmacht gelang, nachdem sie 1942/43 die Erdölfelder des Kaukasus eingenommen hatte. Denn als sie diese nutzen wollte, musste man feststellen, dass STALIN rechtzeitig alles hatte abfackeln und die Bohrlöcher mit Beton und Eisenteilen zuschütten lassen; die wichtigsten Fördergeräte waren ins Hinterland verbracht.

Am 1. September 1939 beginnt HITLER seinen Feldzug. England und Frankreich beantworten ihn mit ihren Ultimaten; am 3. September erklären sie Deutschland den Krieg. Im Westen bleibt er für die Soldaten vorerst nur ein „Sitzkrieg“. Die Bevölkerung des Saarlandes trifft er aber voll: Die Einwohner der „Roten Zone“ müssen ihre Heimat aus Sicherheitsgründen verlassen und ins Landesinnere umsiedeln.

Bereits am 6. Oktober 1939, nach fünf Wochen, ist diese erste Schlacht zu Ende, der größte Teil der polnischen Soldaten ist gefangen, viele gefallen, die polnische Regierung geflüchtet. Am 28. September schließen der deutsche Außenminister RIBBENTROP und sein russischer Kollege MOLOTOW in MOSKAU auch offiziell den lange verabredeten Deutsch-Sowjetischen Grenz- und Freundschaftsvertrag.

In dessen geheimen Zusatzprotokollen ist die genaue Demarkationslinie für die Interessen der beiden Diktatoren festgelegt; sie ist im Wesentlichen bis heute als Grenze von Weißrussland und Ukraine gegenüber Polen in Geltung. Ein Austausch von Bevölkerungsgruppen ist damals vereinbart. Davon sind dann, neben den Wolhyniern und anderen Volksgruppen, auch die Bessarabiendeutschen betroffen, von denen im ersten Band von „Die Kima und ihr Lutz“ im Kapitel über AQUILIN ULLRICH schon die Rede war.

Einzug in Stephanskirchen

Am 16. September 1939 hatte das junge Ehepaar TÄGERT nach zwei Interimswohnungen endlich in STEPHANSKIRCHEN bei der Familie LEX ihr neues Zuhause beziehen können. Das hübsche Wohnhaus im alpenländischen Stil unterhalb des markanten katholischen Stephanskirchleins war zwar immer noch nicht ganz fertig; vom südseitigen Balkon ragten vorerst nur die Stützbalken wie spitze Rippen eines Skeletts aus dem weiß verputzten Mauerwerk heraus. Doch sobald die ersten Bretter darauf liegen, lässt es sich LUTZ nicht nehmen, dort die Beine herabbaumeln zu lassen. Mit dem unvermeidlichen Zigarillo in der Hand genießt er in der frühherbstlichen Sonne den fantastischen Ausblick auf den nah gelegenen Alpenrand.

Endspurt zum Einzug: Das alpenländische Wohnhaus der Familie LEX in STEPHANSKIRCHEN ist im September 1939 noch eine Baustelle [L.T.]

Neben seinem Aussichtsplatz hat er in wohlmeinender Absicht einen Liegestuhl für seine schwangere Frau aufgestellt. Die fühlt sich in der luftigen Höhe aber ein bisschen unsicher, solange das Geländer fehlte. Auf seiner Handzeichnung, wie sie LUTZ stets von seinen neuen Wohnungen fertigte, hatte er diesen hausbreiten Balkon noch nicht mit eingezeichnet. Dieser erhabene Logenplatz sollte dann aber auch für unser Lebensgefühl als kleine Kinder sehr prägend werden, denn von hier aus hatten wir die ganze Welt in Besitz.

Beschaulicher Ausblick in luftiger Höhe im Angesicht des Stephanskirchleins: LUTZ TÄGERT mit Zigarillo auf dem noch unfertigen Balkon des Hauses [U.T.]

Traum vieler junger Leute:: Der Plan vom eigenen zu Hause in STEPHANSKIRCHEN von Lutz‘ [J.T.]

Dafür ergibt sich aber aus dem Plan, dass die hübsche Obergeschoss-Wohnung rd. 80 m2 Wohnfläche hat und über drei Zimmer mit Wohnküche und Bad verfügt. So ist also eigentlich genug Platz vorhanden für eine kleine Familie.

Prunkstück für die Hausfrau war die nagelneue „Reformküche", die den damaligen technischen Errungenschaften Rechnung trug und eine Variante der hochfunktionalen, von Architekten ersonnenen „Frankfurter Küche“ war. Sie bestand aus drei miteinander verbundenen Schränken: Auf einem buffetähnlichen, doppeltbreiten Untersatz ruhte ein weißer Aufsatzschrank für Geschirr und mit Glasschütten für die Grundzutaten. Aus ihm öffneten sich zwei ausklappbare Türen, die zugleich als Arbeitsfläche dienen konnten. Daneben ragte ein Hochschrank auf. In seinen Fächern fanden Töpfe, Lebensmittel, aber auch Putzzeug ihren Platz.

Zu dieser von der Firma POGGENPOHL bereits Ende der 20-er Jahre ersonnenen Küchenmöblierung gehörte auch ein Tisch mit ausziehbarem Spülbecken, Stühle und ein separater Schuhschrank. Das Besondere dieser „Reformküche“ waren, neben der soliden Bauart, die neuartigen pflegeleichten Schleiflack-Oberflächen, die hygienisch wirkten und schon fast so widerstandsfähig waren, wie der heute übliche Kunststoff: Zur Verdichtung wurden die Sichtflächen je fünf Mal abgeschliffen und lackiert. Tatsächlich tat diese Küche, wie auch die übrigen Möbel, bis ins hohe Lebensalter der KIMA ihren Dienst und gaben mit ihrem Charme der 30-er Jahre unserm Leben als Kinder seine heimatliche Note.

Besinnlicher Platz zum abendlichen Arbeiten und Lesen: Die KIMA im November 1939 inmitten ihrer selbst entworfenen Möbel [L.T.]

Auch die geschmackvollen, nach einer Berliner Messevorlage selbst gezeichneten und handwerklich gefertigten Wohnmöbel im Stil der „neuen Sachlichkeit“ fanden ihren Platz im Wohn- und Schlafzimmer. Hier ist noch kein Pressspan oder Kunststoff verbaut. Auf sg. „Tischlerplatten“ aus Stabsperrholz ist echtes Nussbaumfurnier in lebendiger Maserung verleimt und mit sachlich-streng profilierten Kassetten und Lisenen gegliedert. Ich bewundere heute noch die Passgenauigkeit, mit der alle Scharniere und Schlösser eingesetzt sind. Die geschmackvolle Inneneinrichtung strahlt im eleganten Sekretär in hellem Birkenfunier. Und die großen Glasschiebe- und Holztüren gehen leicht und exakt.

Mit der Untergliederung der Möbel in kompakte, anbaufähige und beliebige aufstellbare Einzelelemente aus Schränken, Sekretär, Schreibtisch, Liege, Couchtisch, Sesselchen und Betten bewiesen die KIMA und ihr LUTZ ihre stilsicheren künstlerischen und handwerklichen Fertigkeiten und zeigten sich ihrer Zeit weit voraus. Stets hatten sie das Lob der Besucher für ihr absolut modernes und dabei gemütliches zu Hause auf ihrer Seite. Und auch die vielen Umzüge der Familie mit wechselnden und manchmal rauen Transportmitteln überstanden diese Schmuckstücke der Wohnkultur klaglos und fügten sich jedem Wohnungszuschnitt klaglos ein.

Selbst kreiert waren auch der an Ketten hängende radgroße Nussbaumreifen an der Decke, auf dem fünf Lampenbirnen aus selbstgemachten kleinen Pergamentschirmen aufleuchteten, sowie die charaktervolle schmiedeeiserne Stehllampe für die Sofaecke.

Gemütliche Winterabende am eigenen Herd: Im Dezember 1939 ist das Haus LEX fertig geworden, aber noch ohne eigene Einfriedung [L.T.]

Das heimelige Licht aus dem topfgroßen Schirm, den die geschickte KIMA ebenfalls aus Pergament selbst gefertigt hatte, machte den Platz mit dem Sesselchen abends in der Zeit der Erwartung zu ihrem Lieblingsplatz. Hierhin zog sie sich zum Lesen oder zum Reparieren von Wäsche und Kleidungsstücken zurück, wenn der Mann nicht zu Hause war.

Und wenn sie Briefe schreiben wollte, was sie mit Hand und Schreibmaschine gleichermaßen gern tat – damals mussten die Briefe noch weitgehend das Telefon, Handy oder Smartphone ersetzen, das Briefeschreiben war eine ganz eigene, von vielen gepflegte Kultur – dann saß sie am liebsten am großen Nussbaumschreibtisch und ordnete hier ihre Gedanken. Es war jetzt Krieg, und sie musste jeden Tag damit rechnen, dass der Mann eingezogen wurde und sie sich lange Zeit nicht sehen würden. So gab es viel auszutauschen insbesondere mit der Mutter MARGARETE, aber auch anderen Verwandten und Freundinnen.

Und auch die Kontakte und Bekanntschaften im Ort und darüber hinaus ließen sich gut an, obwohl die jungen Eheleute zu den wenigen in der Gegend gehörten, die evangelisch getauft waren. Allerdings „fremdelte“ die Kima auch nicht. Sie nahm die ganze Landschaft des Chiemgau in vollen Zügen in sich auf, erkundete jeden Winkel und erwanderte viele schöne Flecken. Sie gab und kleidete sich bodenständig und akzeptierte die Bräuche, die ihr begegneten.

Insbesondere ließ sie sich, zumindest an Weihnachten, auch in der ortsprägenden Kirche St. Stephanus sehen, obwohl sie zu der Zeit noch aus der Kirche ausgetreten war und zur nazinahen Bewegung der „Gottgläubigen“ gerechnet wurde. Doch die hübsche spätgotische Kirche auf dem Moränenhügel am einstigen Auslauf des eiszeitlichen Inngletschers mit ihrem charakteristischen Spitzturm und dem neugotischen Innenausbau hatte es ihr angetan. Und so tat sie auch an ihren zukünftigen Kindern ein gutes Werk, indem sie sie von Anfang an zur weihnachtlichen Christvesper in diese katholische Kirche mitnahm.

Ort weihnachtlicher Gottesdienstbesuche: Das Stephanskirchlein auf dem Moränenhügel oberhalb von Haus Lex [L.T.]

Kinderfreuden

Das erste Kind der KIMA und ihres LUTZ lässt dann auch nicht mehr lange auf sich warten. Schon zur Geburtsvorbereitung hat die KIMA Verbindung zur Hebamme SOPHIE WÜHR aufgenommen. Diese hat im Jahr 1938 in Rosenheim eine Privatklinik für Frauen zur Geburtshilfe und Säuglingspflege mit anfangs drei (!) Betten aufgebaut.

Tatkräftige Hebamme: SOPHIE WÜHR, Leiterin einer privaten Entbindungsklinik in ROSENHEIM

Der KIMA wird die exklusive Unterbringung in einem dieser drei Betten zugesagt. Sie ist von der herzlichen und offenen Art der Hebamme, die so beruhigend auf die junge Mutter wirkt, sofort angesprochen. Daraus entwickelt sich eine lebenslange Freundschaft zwischen der KIMA und ihrer acht Jahre älteren „FIA“.

28 Jahre später, am 30. April 1968, ein Jahr nach dem Beginn ihres Ruhestandes, verunglückt diese hochgeachtete Klinikchefin und Rosenheimer Bürgerin auf der Inntalautobahn und stirbt im Alter von 62 Jahren. Die KIMA, die zu der Zeit, nach dem allzu frühen Verlust ihres Mann im Jahr 1966, immer noch einem seelischen Tief steckt, ist darüber untröstlich. FIA hat ihr viel bedeutet. Mit ihr war immer die glorifizierte Vergangenheit lebendig.

Diese SOPHIE WÜHR hatte vor dem Rosenheimer Projekt als Lehr-Hebamme in der Münchener Klinik an der Maistraße gearbeitet und sich dann in der Samerstraße in ROSENHEIM niedergelassen. Erst nach dem Krieg, im Jahr 1946, konnte sie ihre kleine Privatklinik von drei auf zehn Betten erweitern und an der Herbststraße eine neue Klinik-Niederlassung beziehen. Später zog sie dann in die Droste-Hülshoff-Straße um und erweiterte die Klinik auf zunächst 32, dann 78 Betten. Heute gehört dieser Klinikstandort ROSENHEIM zu den „Schön-Kliniken“ und hat seinen Schwerpunkt in therapeutischen Angeboten für Patienten mit psychosomatischen Erkrankungen.

Die glückliche Mutter und ihr erstes Kind: Die KIMA mit ihrer Tochter URSULA im Januar 1940

Am 28. Januar 1940 kommt also im exklusiven Bett der „Klinik Wühr“ am alten Standort in der Samerstraße in ROSENHEIM die kleine URSULA zur Welt. Stolz und glücklich nimmt die junge Mutter das Kind zum ersten Mal in ihre Arme. Nach der Oma MARGARETE und der „Tante Clara“, der fürsorglichen Schwester des Großvaters FRIEDRICH TÄGERT, bekommt der kleine Säugling mit den braunen Kulleraugen und dem schwarzen Haarflaum die beiden weiteren Namen MARGARETE CLARA.

Beim Wochenbett dabei: Oma MARGARETE SCHACHENMAYER mit ihrem dritten Enkelkind im Januar 1940 in STEPHANSKIRCHEN [L.T.]

Oma MARGARETE nimmt ihre Plichten ernst. Sie ist mit der Bahn extra von MURNAU gekommen, wo sie sich gerade um ihre ältesten beiden Enkel JESCO jr., den späteren Nasa-Weltraumpionier, und BOGISLAV, den zukünftigen Rechtsanwalt, gekümmert hat. Der Schwiegersohn JESCO V. PUTTKAMER sen., Sohn der Romanschriftstellerin MARIE MADELAINE GÜNTHER, ist zu der Zeit bereits als Sonderbeauftragter des Auswärtigen Amtes für Nazi-Propaganda im fernen Osten unterwegs und verschwindet bald ganz von der Bildfläche7. So ist auch die älteste Tochter INGE auf die tatkräftige Hilfe der Oma angewiesen und erhält sich auch immer wieder.

Schon nach kurzer Zeit, im Februar, ist die KIMA wieder soweit, dass sie mit ihrem Mann LUTZ die ersten Spaziergänge unternehmen kann. Draußen liegt tiefer Winterschnee. Aber nach den Strapazen der vergangenen Wochen tut die klare Luft doch gut. Auch zu Hause spielt sich der anspruchsvollere Alltag bald ein. Das einzige Problem von STEPHANSKIRCHEN ist, dass es in diesem kleinen Nest praktisch nichts einzukaufen gibt. Auch einen Arzt gibt es dort nicht. So muss man eigentlich für jede Kleinigkeit versuchen, irgendwie nach ROSENHEIM zu gelangen. Ohne Auto ist das insbesondere im Winter gar nicht so einfach.

Erste Spaziergänge im Schnee: Die KIMA und ihr LUTZ im Februar 1940 am Bahnhof STEPHANSKIRCHEN [L.T.]

4 Vergl. zur „Elektrifizierung“ auch die Ingenieurs-Tätigkeit von Ludwig Tägerts Schwiegervater MAX SCHACHENMAYER um die Wende zum 20. Jahrhundert, die in den ersten Kapiteln des Doppelwerks „Die Kima und ihr Lutz“ eingehend beschrieben wird.

5 Vergl. zu diesem Themenkomplex des Auslandsdeutschtums und seiner Rolle im Zweiten Weltkrieg die von mir 2016 kommentierten und herausgegebenen „Lebenserinnerungen“ des Wolhynienpfarrers HUGO KARL SCHMIDT „In Ängsten – und siehe wir leben“, ISBN 978-3-7392-2741-2.

6 Vergl. dazu im oben genannten Buch von H.K.Schmidt besonders die Abschnitte: „Der September 1939: Interniert im polnischen KZ“ und „Das Schreckensregiment der volksdeutschen Selbstschutz-Milizen“.

7 Mehr dazu im Band I von „Die Kima und ihr Lutz – Wie Hitler bürgerlicher Berufsanfänger einfing“, ab S. 98

Berührungen mit dem Hitler-System

Am 17. Januar 1940, kurz vor der Geburt seines ersten Kindes, wird LUDWIG TÄGERT mit persönlicher Unterschrift vom „Führer und Reichskanzler“ ADOLF HITLER zum Reichsbahnrat und gleichzeitig zum Beamten auf Lebenszeit ernannt. Der „Führer“ sichert ihm nach dem Wortlaut der Ernennungsurkunde seinen „besonderen Schutz zu“.

Mit persönlicher Unterschrift des „Führers“: Urkunde für LUDWIG TÄGERT Jan. 1940 [J.T.]

Die überformatige Urkunde ist mit geflochtenem Band eingelegt in eine große Heftmappe aus dickem Büttenpapier. Sie trägt auf der Außenseite einen eingeprägten vergoldeten Reichsadler und das Hakenkreuz im Eichenlaubkranz. Das gleiche „Hoheitszeichen“ tragen damals auch moderne Elektroloks der Reichsbahn, wie die E 19, an ihrer Stirnseite. Das eigentliche Urkundenblatt trägt dieses Emblem nochmals als farblosen reliefartigen Abdruck eines Prägestempels und ist unterzeichnet mit Adolf Hitlers typischer Unterschrift sowie vom damaligen Chef der Reichsbahn JULIUS DORPMÜLLER.

Wie Dorpmüller die Reichsbahn von Nazi-Bevormundung freihält

JULIUS DORPMÜLLER (1869–1945), im gleichen Jahr geboren wie mein Großvater MAX SCHACHENMAYER, ist eine äußerst interessante Figur im damaligen Führungsgeflecht von Reichsbahn und Deutschem Reich. Er ist zum Zeitpunkt des Zweiten Weltkrieges bereits 70 Jahre alt und eigentlich ein „Dinosaurier“ der Eisenbahn. Denn er war bereits seit seinem Examen für Eisenbahn- und Straßenbau an der Technischen Hochschule AACHEN 1893 bei der Eisenbahn tätig, genauer gesagt: bei der preußischen Staatseisenbahn. In der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg hatte er auch in China Auslandserfahrungen sammeln können und galt seither als international anerkannter Eisenbahnfachmann.

Zu Anfang der Weimarer Republik hatte die Deutsche Reichsbahn, die 1920 aus der Zusammenlegung der alten Länderbahnen entstanden war, DORPMÜLLER übernommen. Er hatte rasch Karriere gemacht. Bei der Beratung zum „Dawesplan“ über die deutschen Reparationsleistungen hatte er geschickt die Interessen der Eisenbahn vertreten können. Bereits 1925, im Jahr nach Gründung der Deutschen Reichsbahngesellschaft, wurde er Stellvertreter des Generaldirektors RUDOLF OESER, dem er dann nach dessen Tod 1926 auf dem Chefsessel nachfolgte.

Machte die Eisenbahner zur stolzen Familie: JULIUS DORPMÜLLER [J.T.]

DORPMÜLLER verstand es, sich mit fähigen Mitarbeitern zu umgeben und Aufgaben zu delegieren. Geschickte Werbung verankerte die Bahn gründlich im Bewusstsein der Bevölkerung.

Im Jahr 1927 erschien für den Verkauf der Beförderungsleistungen erstmals das „Kursbuch“ mit allen Strecken und Bahnverbindungen. In der Kriegszeit wurden dann auch spezielle Kursbuchausgaben für die besetzten Länder herausgebracht. Bis zum letzten Kriegstag wiesen diese Kursbücher funktionierende Bahnverbindungen bis weit ins besetzte Ausland nach.

Als ein geschickter Schachzug für die Verankerung der Bahn im öffentlichen und politischen Bewusstsein erwies sich in diesem Zusammenhang auch der Vorschlag der Eisenbahnlobby, der im Jahr 1927 eingeweihten Bahnverbindung durchs Meer nach Sylt den Namen „Hindenburgdamm“ zu geben. Zur Belohnung für seine Verdienste durfte DORPMÜLLER übrigens des Öfteren in der Loge des greisen Präsidenten v. Hindenburg in der Berliner „Staatsoper Unter den Linden“ Platz nehmen. Im sonstigen Berliner Gesellschaftsleben erwarb er sich den Ruf als trinkfester Unterhalter.

DORPMÜLLER führte das Unternehmen streng wirtschaftlich. Er wollte einerseits die auferlegten Reparationsleistungen erfüllen und andererseits einen attraktiven Betrieb entwickeln. In den geschäftspolitisch schwierigen 20-er Jahren setzte er neben Modernisierung auch auf Rationalisierung und Verschlankung der Reichsbahn, was trotz Personalabbaues ohne Murren der „Eisenbahnfamilie“ möglich wurde. So waren noch zu Ende des Ersten Weltkrieges im Jahr 1918 über 1 Million Beschäftigte bei den Staatsbahnen beschäftigt gewesen, bis 1927 ging ihre Zahl auf knapp ¾ Millionen Eisenbahner zurück. Trotz der massiven Intervention der Gewerkschaften betrachteten die Mitarbeiter die Reichsbahn damals stets stolz als „ihre Bahn“, für die sie sich begeistert und mit allen Kräften einsetzten.

Auch kostendeckende Preise konnte der Generaldirektor durchsetzen, die, gemessen am Geldwert, um ein vielfaches höher waren, als heute. Diese Preissetzung war ihm deshalb erleichtert, weil die konkurrierende Motorisierung auf der Straße trotz Autobahnbaubau zunächst in den Kinderschuhen stecken blieb; die Autos waren einfach zu teuer, und dann forderte die Kriegswirtschaft ihren Tribut, der Privatbetrieb von PKWs kam zum Erliegen.

Auch im Güterverkehr sicherte sich die Bahn durch einen Vertrag mit der Firma SCHENKER ein starkes Teilmonopol. Nur für die zukunftsträchtige Umstellung der Zugförderung auf elektrischen Betrieb in größerem Stil fehlte zunächst das Geld; andere Länder waren bei der Elektrifizierung damals schon weiter.

Hitlergruß kontra Bremsprobe

DORPMÜLLER lag daran, die innere Autonomie der Bahn und ihre fachliche Alleinverantwortung auch gegenüber den Nazis zu verteidigen. Bei den unteren und mittleren Ebenen der Nazi-Partei eckte er aber bald an, da er kein Parteibuch besaß. Man hielt ihm sein hohes Gehalt vor und warf ihm vor, nicht genügend zum Abbau der Arbeitslosigkeit zu tun. Auch lasse er zu wenige tarifliche Vergünstigungen zu, und vor allem beschäftige er zu viele Juden.

Faktisch war es DORPMÜLLER bis dahin nur um die Qualifikation seiner Leute und um ihre Einstellung zum Betrieb gegangen, nicht um ihre Herkunft oder religiöse Einstellung. So saßen in der Reichsbahnleitung tatsächlich auch einige Juden.

Trotz der Widerstände war DORPMÜLLER in seinem Streben nach Autarkie weitgehend erfolgreich; bis zum Jahr 1937 blieb die Reichsbahn ein eigenständiges Unternehmen. Als „Kompromiss“ musste die Bahn aber zunehmend die nationalsozialistische Ideologie und die Politik des Dritten Reichs vertreten; und sie setzte die neuen Gesetze auch widerstandslos um. Nachdem das judenfeindliche „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ erlassen war, entfernte die Bahnleitung nach und nach alle „Nichtarier“. Auch Sozialdemokraten, Kommunisten und Gewerkschaftern verweigerte sie zunehmend die Arbeit.

Zur Posse wurde freilich die Einführung des „Deutschen Grußes“. Seit dem 15. Juli 1933 war es auch allen Eisenbahner vorgeschrieben, den rechten Arm zu erheben und mit „Heil Hitler“ zu grüßen. Doch in Teilbereichen des Bahndienstes musste diese Anordnung schon bald widerrufen werden, denn es war zu Verwechslungen mit den Handzeichen gekommen, die das Zugpersonal bis dahin für die unumgängliche „Bremsprobe“ ihrer Züge verwendete.

Obwohl DORPMÜLLER also nicht ganz auf Parteilinie war, behielt er bei HITLER jederzeit seinen guten Ruf als Fachmann. Und das Regime erkannte auch die imagefördernde propagandistische Wirkung einer modernen Bahn und unterstützte sie nach Kräften.

Moderne Triebwagen, wie der „Fliegende Hamburger“, oder schnelle Stromlinienzüge mit Dampfloks wurden zu Publikumsmagneten und zu Symbolen der „schnellen Bahn“.

Symbol der neuen Bahn: Dieseltriebzug „Fliegender Hamburger“ bei der Probefahrt mit DORPMÜLLER am 19. Dez. 1932 [J.T.]

So konnte man auch die große Verkehrsausstellung zum 100. Eisenbahnjubiläum im Jahr 1935 in NÜRNBERG zu einem wirkungsvollen Gemeinschaftswerk von Bahn und Parteipropaganda machen. Zusammen mit Verkehrsminister ELTZ-RÜBENACH drehte DORPMÜLLER, in historische Gewänder gekleidet, eine Runde auf dem „Adler“, dem Nachbau der ersten deutschen Lokomotive. Und zur Fahrzeugparade am 8. November in NÜRNBERG erschien HITLER sogar persönlich.

Mit dem „Adler“ von Nürnberg nach Fürth: Verkehrsausstellung 1935 [J.T.]

Bei einer Hochgeschwindigkeitsfahrt am 11. Mai 1936 erreichte dann eine stromlinienförmig verkleidete Dampflokomotive der Reihe 05 gar die Weltrekordgeschwindigkeit von 200,3 km/h. In den angehängten Schnellzugwagen saßen neben DORPMÜLLER und dem damaligen Verkehrsminister die wichtigsten Glieder der Naziprominenz, wie der Reichsführer der SS HEINRICH HIMMLER, der Gestapochef REINHARDT HEYDRICH, Reichsleiter MARTIN BORMANN u.v.a. Ihnen allen konnte DORPMÜLLER erfolgreich die technische Leistungsfähigkeit und Unentbehrlichkeit der Bahn demonstrieren und hatte in ihnen gelehrige Schüler, die die Bahn dann in den Kriegsjahren auch gezielt für ihre menschenverachtenden Projekte nutzten.

Tatsächlich schaffte es die Bahn in Friedenszeiten, auch solche monströsen Veranstaltungen wie die „Reichsparteitage“ transportlogistisch perfekt zu bewältigen; bis zu 1 Million Teilnehmer aus ganz Deutschland waren dann auf möglichst kurzen Wegen zu befördern.

Zähneknirschend stellte die Reichsbahn auch Züge zu Billigtarifen zur Verfügung, um das „Kraft-durch-Freude“-Ferienprogramm der Nazis attraktiv zu machen, oder sie bot für Reisen von Parteigruppen oder später zur Kinderlandverschickung verbilligte Karten an.

Erst im Jahr 1937 ließ HITLER die Rechtsform der Reichsbahn ändern. Sie war nun nicht mehr „Gesellschaft“, wie der Versailler Vertrag vorsah, sondern reichsunmittelbares, hoheitliches Unternehmen im Sondervermögen des Reiches. Der bisherige Verkehrsminister, der kirchlich-katholisch eingestellte ELTZ-RÜBENACH, wurde wegen seiner kritischen Einstellung zur Nazi-Kirchenpolitik entlassen und durch DORPMÜLLER ersetzt. Dessen Amtseinführung nahm HITLER öffentlich in Berlin vor.

Amtseinführung als Verkehrsminister: JULIUS DORPMÜLLER zwischen LAMMERS und HITLER 1937 in BERLIN [J.T.]

Im Januar 1938 ordnete DORPMÜLLER die Anbringung des „Hoheitszeichens“, des Hakenkreuzadlers, auf allen Reichsbahnfahrzeugen an. Im April erließ er eine neue „Allgemeine Dienstanweisung für die Reichsbahnbeamten (ADA)“. Sie verpflichtete die Reichsbahner nochmals expressis verbis zu Treue und Gehorsam gegenüber ADOLF HITLER und den Verzicht auf jeden privaten Umgang mit Juden. Im Folgejahr, nach Hitlers Einmarsch in Österreich und in der Tschechoslowakei, übernahm die Deutsche Reichsbahn auch die österreichische und die tschechische Eisenbahn.

Eisenbahnzüge auch für Deportationen

Für den Kriegseintritt gegen Polen bereitet der mittlerweile 70-jährige DORPMÜLLER die Reichsbahn energisch vor. Schon Ende Oktober 1938 beweist die Bahn mit der „Polenaktion“ erstmals auch ihre Fähigkeit, große Zugleistungen auch für Unrechts-Aktionen zu erbringen: Unter Federführung der Sicherheitspolizei werden auf Veranlassung von Polizeichef HIMMLER kurzfristig rd. 18.000 polnische und staatenlose Juden mit weit über 20 Sonderzügen über Grenzbahnhöfe in Pommern und Schlesien nach Polen abgeschoben.

Auch die Verlegung der Truppen in die militärischen Bereitstellungsräume, sowie die Lieferung von Munition, Betriebsmitteln und Ausrüstung erfolgt meist mit der Bahn, während auf dem umgekehrten Weg die Lazarett-Transporte und Heimaturlaube zu organisieren sind.

Kurz nach Eröffnung der Kampfhandlungen des Zweiten Weltkrieges wendet sich DORPMÜLLER mit einem Appell zur Pflichterfüllung an seine Eisenbahner. Er verspricht HITLER dabei auch die „unverbrüchliche Treue“ der Eisenbahner. In allen Kriegsjahren nimmt er selbst weite Bahnreisen auf sich, um seinen Eisenbahnern an praktisch allen Fronten des Krieges, wo Bahnfahrzeuge hinkommen, moralisch den Rücken zu stärken.

Seitdem HITLER als Kriegsherr in Uniform auftritt, trägt auch DORPMÜLLER, der bislang meist zivil gekleidet war, häufiger Uniform. Immerhin noch bis zum Anfang des Jahres 1941 kann er sich aber dem Ansinnen einer Parteimitgliedschaft verweigern. Erst als HITLER ihm im Dezember 1940 das „Goldene Parteiabzeichen“ überreicht, wird auch DORPMÜLLER weich. Er glaubt, eine Antragsstellung nicht länger hinausschieben zu können und erhält die hohe NSDAP-Mitgliedsnummer 7.883.826.

Nachdem DORPMÜLLER aber nach wie vor das Leistungsprinzip favorisiert, beurteilt er das Ansinnen des „Stellvertreters des Führers“ RUDOLF HEß kritisch, der forderte, dass alle gehobenen Beamtenpositionen ausschließlich mit NSDAP-Mitgliedern zu besetzen seien. Intern hat DORPMÜLLER seinen Leuten aber möglicherweise doch den „Rat“ gegeben, sich den Forderungen anzupassen und sich in die Nazi-Partei aufnehmen zu lassen. Denn ab dem Jahr 1940 vermerkt der „Einreihungsbescheid“ der Britischen Militärregierung vom 15. Juli 1947 überraschenderweise auch für LUDWIG TÄGERT eine Mitgliedschaft in der NSDSP.

Eine glimpflich beurteilte Parteimitgliedschaft

Eine Recherche beim Bundearchiv in BERLIN bestätigt, dass Lutz‘ Mitgliedskarte aus der Gaukartei der einstigen Münchner NSDAP-Zentrale vorhanden ist (s.u. S. →). Danach hat LUDWIG TÄGERT am 18. Febr. 1940 seine Mitgliedschaft bei der NSDAP beantragt und ist am 1. April des gleichen Jahres mit der hohen Mitgliedsnummer 7.572.948 aufgenommen worden.

Er ist damit das letzte Mitglied unserer Familie, das in die Nazi-Partei eintritt. Alle anderen Verwandten, außer dem Großvater FRIEDRICH TÄGERT, sind bereits mit dem ominösen Datum „1. Mai 1937“ der NSDAP beigetreten. Diesen „Sammeleintritt“ haben die Nazis für alle Bewerber zwischen 1933 und 1937 verfügt, nachdem sie den zwischenzeitlichen Parteiaufnahmestopp vorübergehend gemildert hatten.

Diese für uns Kinder bislang unbekannte Parteimitgliedschaft unseres Vaters ist freilich nicht die einzige Zugehörigkeit von LUDWIG TÄGERT zu nazinahen Verbänden: So wurde seine Mitgliedschaft in der rechtskonservativen „Deutschen Studentenschaft“ in den Jahren von 1928–33 bereits im ersten Band von „Die Kima und ihr Lutz“ angesprochen.

Daneben vermerkt der Meldebogen für die Jahre 1933–38 eine vorläufig noch nicht klärbare Mitgliedschaft im „Nationalsozialistischen Fliegerkorps“ NSFK. Dieses war aber keine Gliederung der NSDAP und ihr auch nicht angeschlossen, war aber seit 1937 Rechtsnachfolger des 1933 von HERMANN GÖRING gegründeten „Deutschen Luftsportverbandes“. DLSV und NSFK dienten den Nazis als verdeckte Einrichtungen zur lange Zeit verbotenen Schulung von Fliegernachwuchs und machten sich das Interesse der Jugend am Luftsport zunutze. Eine Abteilung pflegte auch den Sport mit Segelflugzeugen.

Ich kann mich aus meiner Kindheit erinnern, dass mein Vater mit uns von HAMELN aus gern zum Ith-Gebirge im Weserbergland gefahren ist. Hier bestand auch eine Segelflugschule. Wenn wir dann fasziniert dem Windenstart der filigranen Gleiter zuschauten, erzählte der Vater davon, dass er früher selbst in offenen Schulungsflugzeugen gesessen hätte. Ich fand das sehr abenteuerlich, habe ihn aber selbst nie fliegen sehen.

Vermerkt ist für LUDWIG TÄGERT für die Jahre 1937–39 auch eine Mitgliedschaft bei der „Deutschen Arbeitsfront“ DAF, der Einheitsgewerkschaft der Nazis für Arbeiter und Angestellte. Dies betrifft seine Jahre als Angestellter bei der Nazi-Tarnfirma „WiFo“, die ebenfalls im vorgenannten Buch ausführlich geschildert wurde; der Eintrag ist von daher auch ohne besonderen Hintersinn nachvollziehbar.

Für die Jahre 1938–39 ist auch eine Mitgliedschaft im NSBDT vermerkt. In diesem „NS-Bund Deutscher Technik“ waren alle technisch-wissenschaftlichen Verbände und Vereine unter Führung des Nazi-Hauptamtes für Technik zusammengeschlossen. Auch diese Mitgliedschaft war offensichtlich für die Anstellung bei der Tarnfirma „WiFo“ erforderlich; und die Beendigung dieser Mitgliedschaften zeigt, dass LUDWIG offensichtlich froh war, als er im Jahr 1939 seine Mitarbeit bei der anrüchigen „Wirtschaftlichen Forschungsgesellschaft“ beenden konnte.

Auch dem „Reichsbund der Deutschen Beamten“ hatte sich LUDWIG TÄGERT aufgrund seiner Verbeamtung als Reichsbahnbauassessor angeschlossen. Das war der klassische „Beamtenbund“, also die Interessenvertretung der Beamten, die aber im Jahr 1933 gleichgeschaltet worden war. Auch hier war er nur für ein Jahr Mitglied.

Ebenfalls für das Jahr 1939 ist die Mitgliedschaft im „Reichskolonialbund“ vermerkt. Diese Sammlungsbewegung aller derjenigen, die für Deutschland die „koloniale Frage“ offen halten wollten und dafür in Zeitungen, Propagandaschriften und durch Ausstellungen und Tagungen warben, kooperierte eine Zeitlang mit den Nazis und hatte um diese Zeit bereits beachtliche 1 Million Mitglieder, in ihrer Schlussphase im Jahr 1943 sogar das Doppelte. Doch war das erklärte Ziel der Nazis ab 1939 nicht mehr die Rückgewinnung der alten deutschen Kolonien, sondern die Eroberung von „Lebensraum im Osten.“

So wurde dieser Reichskolonialbund zum 15. Februar 1943 durch MARTIN BORMANN zwangsweise aufgelöst und sein Vermögen von der NSDAP beschlagnahmt. In den Spruchkammerverfahren nach dem Krieg galt dieser „Kolonialbund“ nicht als NS-Parteiorganisation oder angeschlossener Verband, wurde also nicht als Negativ-Kriterium gewertet.

Bleibt also einzig anstößig die Mitgliedschaft in der NSDAP. Sie könnte ihren Anlass in der oben angesprochenen Berufung zum Reichsbahnrat und Beamten auf Lebenszeit gehabt haben, die im Januar 1940 erfolgt war. Auch wenn sein oberster Chef JULIUS DORPMÜLLER nichts von Parteikarrieren hielt, sondern auf Fachwissen setzte, hat sich LUDWIG TÄGERT vielleicht doch unter einen gewissen Druck gesetzt gefühlt, da die Nazis ja eigentlich von allen Beamten ein klares Bekenntnis zum System und zur Person Hitlers erwarteten.

Andererseits muss man ebenso deutlich sagen, dass der Beitritt zur NSDAP jederzeit freiwillig und eine ganz persönliche Angelegenheit des einzelnen „Volksgenossen“ war, eine „Überzeugungstat“. Ein solcher Eintritt war als das persönliche Bekenntnis einer überzeugten „Elite“ zum Nationalsozialismus gedacht und geschah schriftlich vor Zeugen.

Wie schon im oben genannten ersten Band von „Die Kima und ihr Lutz“ beschrieben, wurde ja diese Verantwortlichkeit des Einzelnen auch im Fall unserer Protagonistin „KIMA“, Lutz‘ Ehefrau URSULA, deutlich8. Ihre Anträge zum Parteieintritt im Jahr 1937 entsprangen ihrer freien Entscheidung; sie war überzeugt vom Nationalsozialismus. Wie sich dann nachträglich durch meine Recherchen herausgestellt hat, blieb es in ihrem Fall ja nicht beim „Anwärterstatus“. Trotz des Widerstandes ihres Ortsgruppenleiters, der kein Interesse an einer Mitgliedschaft von Frauen hatte, wurde ihr Aufnahmeantrag doch mit Datum vom 28. Sept. 1937 bestätigt und die eigentliche Aufnahme dann auf den Sammeleintritt des 1. Mai vordatiert.