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Eine starke Frau und eine Geschichte für alle Sinne 1230: Die junge Adelige Leni steht kurz vor ihrer Hochzeit, als die Burg ihres Vaters in der Nähe des Klosters Zwettl überfallen wird. Dabei gerät Leni in die Fänge des brutalen Hadmar von Kuenring. Mit letzter Kraft kann sie sich schließlich in den Wald retten. Doch hier muss sie feststellen, dass sie ein Kind von Hadmar erwartet. Leni findet Unterschlupf bei einer Kräuterfrau und bringt ihren Sohn Jakob zur Welt. Fortan leben die beiden verborgen im Schutz des Waldes, bis Leni eines Tages einen verletzten jungen Mann findet. Damian kommt aus Genua und handelt mit Gewürzen aus dem Orient. Während Leni ihn gesundpflegt, kommen die beiden sich näher, und gemeinsam entwickeln sie einen günstigen Pfefferersatz, der großen Absatz findet. Lenis Glück scheint zum Greifen nah, doch dann wird ihr Sohn von Hadmar entführt.
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Die Kräuterhändlerin
BEATE MALY, geboren in Wien, ist Autorin zahlreicher Kinderbücher, Sachbücher und historischer Romane. Sie ist verheiratet und lebt mit ihrem Mann und drei Kindern in Wien.
Von Beate Maly sind in unserem Hause bereits erschienen:
Die Hebamme von WienDie Hebamme und der GauklerDer Fluch des SündenbuchsDie DonauprinzessinDer Raub der StephanskroneDie SalzpiratinDie KräuterhändlerinFräulein Mozart und der Klang der LiebeDie Frauen von SchönbrunnDie Kinder von Schönbrunn
Beate Maly
Historischer Roman
Ullstein
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Originalausgabe im Ullstein Taschenbuch 1. Auflage März 2020 © Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2020 Umschlaggestaltung: zero-media.net, München Titelabbildung: © FinePic®, München (Kräuterstrauch); © Mary Wethey / Arcangel Images (Frau) E-Book-Konvertierung powered by pepyrusAlle Rechte vorbehalten.Wir behalten uns die Nutzung unserer Inhalte für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG ausdrücklich vor.
ISBN 978-3-8437-2144-8
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Das Buch
Titelseite
Impressum
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Nachwort
Leseprobe: Die Bildweberin
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Cover
Titelseite
Inhalt
Prolog
Burg Lichtenfels Frühling 1230
Der gleißend helle Sonnenstrahl, der durch das schmale Fenster der dicken Burgmauer drang, konnte über die eisige Kälte in der winzigen Schlafkammer nicht hinwegtäuschen. In der Nacht hatte es erneut zu schneien begonnen, dabei hatte Leni letzte Woche schon die ersten Schlüsselblumen auf der Waldlichtung hinter der Burg gepflückt. Ihre Cousine Margot hatte Leberblümchen gefunden. Leni setzte sich auf. Wo war Margot? Hatte Leni etwa wieder verschlafen? Brunhilde, ihre Erzieherin, würde ihr eine Standpauke halten. Warum hatte Margot sie nicht geweckt? Manchmal hatte Leni den Eindruck, ihre Cousine hatte Freude daran, wenn Leni wegen eines Vergehens bestraft wurde. Ein eisiger Wind wehte in die Schlafkammer. Es war ein Fehler gewesen, Josef, den Tischler, darum zu bitten, die Holzbretter, die im Winter vor der Kälte schützten, von den Fensterluken zu entfernen. Leni fror unter der dicken Wolldecke und dem Schaffell, das zusätzlich wärmen sollte. Es war allerhöchste Zeit, dass der Winter dem Frühling wich. Schnee, Kälte und Eis hatte es in diesem Jahr schon viel zu lange gegeben. Voll Grauen dachte Leni an all die endlosen Stunden, die sie in den letzten Monaten vor ihrem Stickrahmen verbracht hatte. Ihre Finger waren wund von den vielen Stichen, die danebengegangen waren. Das Einhorn auf dem wertvollen Stoff glich einer trächtigen Kuh. Nie und nimmer würde Abt Ebro vom Kloster in Zwettl einen seiner Altäre mit diesem Tuch schmücken. Leni konnte es dem strengen Kirchenmann mit dem verkniffenen Gesicht nicht einmal verübeln.
Lautes Kettenrasseln und das Quietschen des Burgtores vertrieben den letzten Rest Müdigkeit aus ihren Knochen. Fast hätte sie vergessen, was heute für ein Tag war. Ihr Vater hielt Gericht. Als Burg- und Lehnsherr war Otto von Rauheneck für all die großen und kleinen Streitigkeiten der Bewohner der umliegenden Dörfer zuständig. An sechs Tagen des Jahres konnten die Menschen gleich nach Sonnenaufgang zur Burg kommen und ihre Anliegen vorbringen. Leni liebte diese Tage, die Abwechslung in den eintönigen Burgalltag brachten.
Beim letzten Gerichtstag hatte sich eine Bäuerin darüber beschwert, dass ihre Nachbarin die Wäsche zu nah neben ihrer Kuh zum Trocknen aufhängte, weshalb das Tier nervös wurde und weniger Milch gab. Ein Wirt hatte sich über zwei Gäste beklagt, die ihr Bier nicht bezahlt hatten, und wieder ein anderer Mann war davon überzeugt gewesen, dass der Müller Sägespäne unters Mehl mischte, um mehr Gewinn zu erzielen. Für gewöhnlich hörte ihr Vater den Menschen aufmerksam zu, besprach sich dann mit Gerold, dem Burgverwalter, und fällte erst danach ein Urteil. Ganz selten schoss Otto von Rauheneck über das Ziel hinaus. Dafür sorgte Gerold, der mit viel Bedacht vorging. Die Zechpreller hatten Strafzahlungen leisten müssen, ebenso der Müller. Die Frau war gebeten worden, ihre Wäsche in Zukunft woanders aufzuhängen.
Leni wusste, dass auf anderen Burgen die Schuldigen mit härteren Strafen rechnen mussten. Aber sowohl Otto von Rauheneck als auch Gerold waren friedliebende Männer. Daran hatte auch der Tod von Karoline von Rauheneck vor drei Jahren nichts geändert. Lenis Vater hatte zwar seine Lebensfreude verloren, nicht aber sein sanftes Gemüt. Es verging kein Tag, an dem er nicht wegen des Verlustes seiner Frau und seines ungeborenen Kindes trauerte. Dabei schien er zu vergessen, dass er eine lebende Tochter hatte. Und Leni hätte einen durchsetzungsstarken Vater, der sie unterstützte, sehr nötig gehabt.
Es war nicht leicht, ohne Mutter aufzuwachsen. Ihre Cousine und sie waren die einzigen Mädchen unter einem Haufen Jungs, die nicht gerade zimperlich mit ihnen umgingen. Während Margot jedes Mal weinend zu ihrer Kinderfrau lief, sobald einer der Pagen oder Knappen ihr ins Haar fasste und daran zog, versuchte Leni, ihre Probleme selbst zu lösen. Nicht selten hatte sie hinterher ein paar blaue Flecken. Erst gestern hatte Hadmar sie mit dem Fuß gegen das Schienbein getreten, weil sie ihm nicht schnell genug ausgewichen war. Sie strich sich über die Stelle, wo sich heute ein rotblauer Bluterguss und eine Beule gebildet hatten. Zum Glück konnte man die Verletzung unter den Röcken ihres Kleides nicht sehen. Leni gönnte Hadmar die Freude nicht, dass er ihr Schmerzen zugefügt hatte.
Stimmen drangen vom Burghof in ihre Kammer. Höchste Zeit aufzustehen, wenn sie den Gerichtstag nicht versäumen wollte. Bereits zu Mittag war das Spektakel wieder vorbei. Rasch schob sie Wolldecke und Schaffell zur Seite und griff nach ihrem Kleid, das auf der Holztruhe neben ihrem Bett lag. Dazu musste sie mit den nackten Füßen auf den kalten Holzfußboden treten. Ihre Zehen fühlten sich wie Eisklumpen an. Geschickt zog sie den klammen Stoff ihres Kleides über den Kopf und schlüpfte in die ledernen Schuhe. Ein teures Geschenk ihres Vaters. Er hatte ihr die Schuhe letzten Sommer zu ihrem vierzehnten Geburtstag gekauft. Sie waren aus weichem Leder, mit hübschen kleinen Schnallen, und stammten aus einem Land im Süden, wo angeblich immer die Sonne schien und die Menschen weder Schnee noch Eis kannten. Wie gerne würde Leni dort leben, sie hasste den Winter auf Burg Lichtenfels. Jedes Mal, wenn sie in ihre Schuhe schlüpfte, wurden ihre kalten Zehen allein von der Vorstellung eines Landes gewärmt, in dem immer Sommer herrschte.
Mit dem Kamm aus Elfenbein, der ihrer Mutter gehört hatte, frisierte sie ihr langes rotblondes Haar und kniff dabei die Augen zu, weil es ziepte. Wer hatte eigentlich die Regel aufgestellt, dass Frauen und Mädchen langes Haar tragen mussten? Warum konnte sie es nicht einfach abschneiden, so wie Richard oder Wolf, die beiden Pagen ihres Vaters? Mit einem Ruck riss sie einen der vielen Knoten aus ihrem dichten Schopf und warf ihn verärgert zu Boden. Mit flinken Fingern flocht sie zwei Zöpfe, die sie mit drei Spangen aus Kirschholz zu einem Kranz hochsteckte. Dann warf sie sich den Wollumhang über die Schultern und verließ die Kammer, die sie sich mit Margot teilte. Sie befand sich im Wohnturm der Burg, über dem Schlafgemach ihres Vaters. Es war mit Abstand einer der ungemütlichsten, weil nicht beheizten Räume in der Burg. Nur in besonders eisigen Nächten wurde ein Kohlebecken aufgestellt, das dermaßen qualmte und rauchte, dass man die eigene Hand vor den Augen nicht sehen konnte und von Hustenreizen geplagt wurde. Leni und Margot überlegten es sich zweimal, ob sie die Wärmequelle wirklich benötigten.
Immer zwei Stufen auf einmal nehmend, lief sie die enge, steinerne Wendeltreppe hinunter. Winzige Auslassungen in den Wänden sorgten für Licht, aber auch für Kälte. Der scharfe Nordwind pfiff bei einem Loch hinein und beim gegenüberliegenden wieder hinaus. Im Jänner waren die Stufen vereist gewesen, und sie hatte aufpassen müssen, dass sie nicht ausrutschte. Margot war es passiert. Sie hatte tagelang über einen blauen Fleck am Ellbogen geklagt und nicht sticken müssen. Dabei behauptete sie, es bereite ihr Freude.
Sosehr Leni sich auch bemühte, ihre Cousine ins Herz zu schließen, es wollte ihr einfach nicht gelingen. Jeden Sonntag bat sie Gott um ein bisschen mehr Verständnis und Liebe, bis jetzt ohne Erfolg. Manchmal überlegte Leni, ob Gott ihr Margot zur Seite gestellt hatte, um ihre Nächstenliebe auf eine Prüfung zu stellen. Es war wahrlich schwierig, jemandem mit Wohlwollen zu begegnen, der einem das Leben schwer machte, indem er einen ständig verpetzte und sich dann daran erfreute, wenn man bestraft wurde. Leni wünschte sich von ganzem Herzen eine Freundin und Verbündete. Leider war Margot weder das eine noch das andere.
In der großen Halle vertrieben Essensgerüche des Vorabends Lenis Gedanken über Margot. Reste von kaltem Hammelfleisch, Fett und verbranntem Holz hingen in der Luft.
»Fräulein Leona!« Maria, eine der Mägde, entdeckte sie und rief ihr zu. Sie trug einen schweren Korb Brennholz zum offenen Kamin am Ende der Halle, wo am Abend wieder ein Feuer angezündet werden würde. Über dem Kamin hingen riesige Hirschgeweihe, Jagdtrophäen ihres Vaters. »Frau Brunhilde sucht schon seit Stunden nach Euch. Sie wartet im Turmzimmer.«
Das Turmzimmer war den Damen der Burg vorbehalten, was auf Burg Lichtenfels nur drei Personen waren: Leni, ihre Cousine Margot und ihre Erzieherin Frau Brunhilde, eine strenge Frau, die eigentlich ins Nonnenkloster der Benediktinerinnen gehen wollte. Zu Lenis Bedauern hatte dazu die Mitgift nicht gereicht. Jetzt quälte Brunhilde sie täglich mit Lektionen in Demut und Pflichterfüllung. Angeblich die wichtigsten Tugenden einer zukünftigen Burgherrin.
Das Turmzimmer lag auf der Westseite der Burg. Leni hatte in diesem Winter schon viel zu viele Stunden dort verbracht, ganz bestimmt würde sie sich heute nicht in das winzige Kämmerchen einsperren lassen, um sich erneut die Finger blutig zu stechen, auch wenn es dort immer angenehm warm war. Brunhilde bestand auf zwei Kohlebecken, die man nah ans Fenster stellte, wodurch der Rauch abziehen konnte. Außerdem wurden die Becken alle paar Stunden von einer Dienstmagd mit frischen glühenden Kohlen bestückt, wodurch eine gleichbleibende, beständige Wärme im Raum herrschte.
»Ich gehe gleich«, log Leni. Doch statt über den Hof zum schmalen Westturm zu laufen, bog sie neben der Backstube nach links ab und flitzte in die Küche. Mit etwas Glück hatte Hilde, die Köchin, eine Schale Haferbrei für sie zur Seite gestellt. Lenis Magen knurrte, sie hatte gestern Abend nur wenig vom Hammelfleischeintopf gegessen. Als sie das niedrige Gebäude betrat, stieß sie mit Hadmar zusammen. Der Bursche trat ihr absichtlich in den Weg. Er war Knappe bei ihrem Vater. Genau wie Gotthart, der dicht hinter ihm stand.
»Hast du keine Augen im Kopf?«, schimpfte Hadmar. Seine Schultern waren im letzten Jahr breiter und seine Stimme tiefer geworden, weshalb er sich besonders wichtig fühlte. Gotthart hingegen haftete immer noch etwas Kindliches an. Er war um einen ganzen Kopf kleiner als Hadmar, dafür aber doppelt so breit und litt darunter, dass seine Wangen immer noch seidig glatt waren, während Hadmars Gesicht bereits von dichten blonden Bartstoppeln übersät war.
»Das Gleiche könnte ich dich fragen«, sagte Leni unbeeindruckt. Hadmars selbstgefälliges Auftreten löste von jeher Widerstand in ihr aus. Bloß weil er der Sohn von Azzo Kuenring war, der direkt an der Donau die riesige Burg Aggstein bewohnte, glaubte er, dass er sich alles herausnehmen konnte. Obwohl die Kuenringer bloß Ministeriale waren, gehörten sie zu den mächtigsten und einflussreichsten Familien im Land und verwalteten riesige Landstriche für den Babenberger, Herzog Friedrich II., Herzog von Österreich und der Steiermark. Er hatte auch den Namen Friedrich, der Streitbare, weil er sich mit seinem Namensvetter, dem Stauferkaiser Friedrich II., angelegt hatte. Es wurde gemunkelt, dass der Kaiser einen Bann über den Babenberger verhängen würde, wenn er sich weiter weigerte, ihm bedingungslose Gefolgschaft zu leisten. Aber sowohl der Herzog als auch der Kaiser waren weit weg. Der römisch-deutsche Kaiser verirrte sich nur alle paar Jahre mal in den Norden. Den Großteil seines Lebens verbrachte er südlich der Alpen, wo er erst vor Kurzem ein Ketzeredikt erlassen hatte, um die Macht der Bischöfe zu stärken.
Leni wusste von alldem, weil sie den Gesprächen der Erwachsenen lauschte. Nicht alles ergab immer Sinn, aber nachfragen war zwecklos. Weil sie bloß ein Mädchen war, hätte niemand sich die Mühe gemacht, ihr die Situation zu erklären. Was sie jedoch mit Sicherheit wusste, war die Tatsache, dass die Kuenringer ihren Reichtum den Zöllen verdankten, die sie auf der Donau einhoben. Jedes Schiff, das an ihrer Burg flussab- oder -aufwärts fuhr, musste zahlen, oder die Durchfahrt wurde ihm verweigert. Dafür sorgte eine dicke Eisenkette, die die Kuenringer an der schmalsten Stelle der Donauschlinge unterhalb ihrer Burg gespannt hatten. Auf die anderen politischen Fragen musste sie selbst Antworten finden, die nicht immer befriedigend ausfielen.
»Solltest du nicht bei den anderen Frauen sein und sticken?« Hadmar musterte Leni mit unverhohlener Neugier. Seit Lenis Körper an Weiblichkeit gewann, lag etwas Forderndes in seinem Blick, das ihr nicht gefiel. Mit besonders viel Interesse betrachtete er ihren Busen.
»Und wenn es so wäre, was ginge es dich an?« Sie stemmte die Hände in die Hüften, um größer zu erscheinen. Leider ohne viel Erfolg. Sie war eine kleine, zierliche Person. »Oder willst du Margots Rolle übernehmen und mich verpetzen?«
Der Vergleich mit einem ewig jammernden Mädchen, das quietschte, wenn man es bloß schief ansah, machte Hadmar wütend. Er ballte seine Rechte zu einer Faust und boxte Leni in den Oberarm. Der Schlag kam unerwartet, weshalb er schmerzte. Leni hatte es verabsäumt, ihre Muskeln anzuspannen. Später würde die Stelle sich wieder verfärben. Das wäre dann der zweite Bluterguss innerhalb weniger Tage.
»Ein angehender Ritter schlägt keine junge Dame«, zischte sie verärgert und schlug doppelt so fest zurück.
Hadmar schien ihren Schlag nicht zu spüren. Er lachte hämisch. »Wenn du eine Dame wärst, dann würde die Regel vielleicht gelten. Aber du bist bloß eine zerrupfte Waldschnepfe.« Sein Blick glitt zu ihrem Haar, das sie zuvor so sorgsam hochgesteckt hatte. Waren ein paar der vorlauten Locken wieder herausgerutscht?
»Und wenn du wie ein Ritter denken würdest, dann wären dir die Regeln des Anstandes und der Sitte nicht unbekannt.«
Diesmal wich sie seinem Schlag geschickt aus, er ging ins Leere.
»Ach, hört doch auf!«, forderte Gotthart von Gars versöhnlich. Er stammte aus einer Adelsfamilie und stand im Rang über Hadmar, was jedoch niemand vermuten würde, der die beiden Knaben nebeneinander sah. Gotthart war bequem, etwas langsam und vor allem ängstlich. Er konnte Streitigkeiten nicht ausstehen und mied für gewöhnlich jede körperliche Auseinandersetzung. Hadmar gegenüber benahm er sich beinahe unterwürfig. An manchen Tagen ertrug Leni dieses Verhalten kaum. Sie mochte Gotthart und hätte es lieber gesehen, wenn er sich gegen Hadmars Unfreundlichkeiten zur Wehr gesetzt hätte. Bevor der Streit weiter eskalieren konnte, kam Hilde aus der Speisekammer. Die dicke Köchin hielt ein lebloses Huhn in der einen und ein Schlachtmesser in der anderen Hand.
»Gibt es irgendwelche Probleme, Fräulein Leona?« Auf ihrer fleckigen Schürze befanden sich frische Blutspritzer. Angeekelt drehte Gotthart sich zur Seite. Aber auch Hadmar schien sich mit der stämmigen Frau mit der scharfen Waffe nicht anlegen zu wollen.
»Ich hab ohnehin keine Zeit«, murrte er grimmig. »Muss in den Hof zum Gerichtstag. Den will ich nicht verpassen.«
Er stieß Leni so brutal zur Seite, dass sie heftig gegen die Wand prallte. Doch sie presste bloß die Lippen aufeinander und gab keinen Mucks von sich. Nie und nimmer würde sie zugeben, dass Hadmar sie schon wieder verletzt hatte.
Im Burghof hatten sich bereits einige Bewohner der umliegenden Dörfer versammelt. Vor der Burgkapelle, die Lenis Vater im letzten Sommer mit prächtigen bunten Wandmalereien hatte ausstatten lassen, war ein langer Tisch auf einem Holzpodest aufgebaut worden. Dahinter saßen Otto von Rauheneck, der Burgverwalter Gerold und zwei der Dorfältesten von Rastenfeld. Bruder Oswald, ein Benediktinermönch, der für den geistigen Beistand auf der Burg verantwortlich war, hockte abseits auf einem kleinen Schemel. Seine Tonsur war nur noch zu erahnen, dichtes schwarzes Haar lag über der winzigen kahlen Stelle auf seinem Hinterkopf. Lenis Vater trug einen dicken, mit Hermelinpelz besetzten Mantel, der ihm eine herrschaftliche Präsenz verleihen sollte. Doch auch das wertvolle Kleidungsstück konnte nicht über die Leere in seinem Gesicht hinwegtäuschen. Es war, als würde er jeden Tag tiefer in seiner Traurigkeit versinken, ähnlich dem schlammigen Moor in Heidenreichstein, aus dem es kein Entkommen gab, wenn man einmal darin feststeckte.
Der erste Fall wurde vorgetragen. Der Bauer Hannes behauptete, dass sein Nachbar Leichtfried eines seiner Schafe gestohlen hätte. Der Beschuldigte wies jeden Vorwurf von sich und meinte, dass das Schaf von allein seinen Weg auf sein Grundstück gefunden hätte, und das, obwohl er es wiederholt zurückgebracht hatte. Aber das Schaf kam immer wieder zu seiner Herde.
»Vielleicht fühlt es sich bei dir wohler!«, rief ein Zuschauer. Es war der Schmied im Dorf, der immer für einen Scherz zu haben war. Als die Menschen lachten, fügte er hinzu: »Ich glaub, der Leichtfried hat die kräftigeren Schafsböcke!«
Nun grölte die Menge. Leni sah aus den Augenwinkeln, dass sowohl Hadmar als auch Gotthart sich amüsiert auf die Schenkel klopften. Gerold stand auf und forderte mit beruhigenden Gesten und seiner tiefen Stimme die Menschen auf, wieder leise zu sein. Er war ungefähr im gleichen Alter wie Otto von Rauheneck, wirkte aber deutlich jünger. Eine tiefe Freundschaft verband ihn mit seinem Dienstherrn, für den er sich seit dem Tod von Lenis Mutter auf eine seltsame Weise verantwortlich fühlte. Er fragte den angeklagten Leichtfried, wie oft er das Schaf des Klägers zurückgebracht hatte.
»Dreimal«, sagte dieser.
Gerold drehte sich zu Lenis Vater und beugte sich zu ihm. Die beiden Männer tuschelten miteinander. Schließlich stand Otto von Rauheneck umständlich auf. Er wirkte wie ein alter Greis. Mit zittriger Stimme verkündete er sein Urteil.
»Leichtfried soll Hannes, dem Kläger, eines seiner besten Schafe geben.«
Ein missbilligendes Raunen ging durch die Menge. Aber Lenis Vater war noch nicht fertig.
»Im Gegenzug kann Leichtfried Hannes’ Schaf behalten, das sich bei ihm offenbar wohler fühlt als bei seinem Besitzer. So kommt jeder zu seinem Recht.« Die Menschen murmelten und beruhigten sich wieder.
Die beiden Bauern schienen mit dem Urteil zufrieden zu sein. Sie reichten einander die Hände und machten dem nächsten Kläger Platz. So verging der Vormittag, und eine Streitigkeit nach der andern wurde bereinigt. Als die ersten Zuschauer müde wurden und sich auf den Weg nach Hause machten, trat ein kleiner, dürrer Mann vor den richtenden Burgherrn. Er trug die Kleidung eines reichen Bauern. Sein Wams war aus guter Wolle genäht. Sein Gesicht war grau, seine Augen hasserfüllt. Anklagend streckte er seinen Arm aus und zeigte auf eine Frau, die von zwei Wachmännern mit gefesselten Händen vor den Richttisch geführt wurde.
»Ich fordere den Tod dieses Weibes. Sie hat meine Frau auf dem Gewissen.«
Mit einem Mal war es mucksmäuschenstill im Burghof. Niemand wagte, etwas zu sagen, seit Jahren hatte es keine Anklage wegen eines Mordes gegeben. Alle reckten neugierig die Köpfe, um die angebliche Mörderin zu sehen. Leni musste sich auf die Zehenspitzen stellen. Die dicke Frau vor ihr war deutlich größer als sie selbst. Als sie die Beschuldigte erkannte, setzte ihr Herz für einen Moment aus. Die Frau, die mit hoch erhobenem Kopf vor ihrem Vater stand, war Mara. Leni würde das kantige Gesicht und die smaragdgrünen Augen mit dem stolzen Blick nie vergessen können. Mara hatte ihrer Mutter bei der Geburt beigestanden. Doch knapp bevor ihr Bruder oder ihre Schwester zur Welt kommen sollte, hatte Lenis Vater Mara aus der Burg gejagt und die Hilfe einer anderen Frau geholt. Leni konnte sich nicht mehr an den Namen der anderen erinnern. Sie hatte nie erfahren, warum Mara weggeschickt worden war. Jedes Mal, wenn sie nachgefragt hatte, war sie gegen eine Wand des Schweigens gestoßen. Weder ihr Vater noch sonst irgendwer hatte jemals ein Wort darüber verloren. Nur eines war klar: Otto von Rauheneck hasste Mara und war fest davon überzeugt, dass sie für den Tod seiner Frau und seines ungeborenen Kindes verantwortlich war. Mara war die Frau, die das Unglück über ihn gebracht hatte.
Der sonst so ruhige und gefasste Gerold wirkte nervös. Mit fahrigen Händen fuhr er sich übers Gesicht.
»Das ist ein schwerwiegender Vorwurf«, sagte er ernst.
»Meine Frau hat drei Tage lang in den Wehen gelegen und vor Schmerzen geschrien«, sagte der Kläger. »Die da hat ihr eine Medizin eingeflößt, wegen der sie gestorben ist, und jetzt bin ich Witwer, habe keine Frau und auch kein Kind. Das Weib ist eine böse Mörderin, die mit dem Teufel im Bunde ist. Sie tanzt jede Nacht mit dem Beelzebub und verspricht ihm neue Kindlein, die sie unschuldigen Frauen wegnimmt.«
»Kannst du deine Anschuldigung beweisen?«
Leni beobachtete sorgenvoll ihren Vater. Die Leere in seinem Gesicht war einer Wut gewichen. Otto von Rauheneck war kein Mann, der zu Zornausbrüchen neigte. Doch jetzt sah er aus, als würde er am liebsten aufspringen und die gefesselte Frau eigenhändig erschlagen. Der grenzenlose Hass in den Zügen ihres Vaters flößte Leni Angst ein.
Mara hingegen wirkte gefasst. Ihre mandelförmigen Augen schweiften ruhig über die Menge. Für einen Moment verharrten sie bei Leni. Deren Herz klopfte schnell. Sie wagte es kaum zu atmen, so aufgeregt war sie. Ob Mara sie als Tochter des Burgherrn erkannt hatte? Warum schaute sie ausgerechnet sie an?
»Was für einen Beweis braucht Ihr noch? Meine Frau ist tot, und die da hat ihr einen Saft gegeben, den sie vom Leibhaftigen selbst bekommen hat«, geiferte der Kläger. Mara würdigte ihn keines Blickes.
»Eine Geburt ist immer eine gefährliche Angelegenheit, bei der es zu Komplikationen kommen kann«, gab Gerold zu bedenken.
»Es war das Gift, das sie getötet hat.«
»Du einfältiger Mensch!«, sagte Mara nun so laut, dass alle sie hören konnten. »Warum hätte ich deine Frau umbringen sollen? Sie litt furchtbare Schmerzen, deshalb habe ich ihr verdünnten Mohnsaft verabreicht, der linderte ihre Qualen. Aber das Kind lag verkehrt herum in ihrem Bauch, und ihr Becken war zu eng. Da hätte die erfahrenste Hebamme nichts ausrichten können. Es war ganz allein Gottes Wille, dass er sie zu sich genommen hat.«
»Das sind böse Lügen, du bist eine Mörderin«, schrie der Mann, und auch der Benediktinermönch stand auf und mischte sich ein: »Weib, wage es nicht, den Namen des Herrn in den Mund zu nehmen. Du bist des Mordes angeklagt.«
Aufgebrachtes Murmeln erhob sich. Die Zuhörer waren geteilter Meinung. Viele der Frauen, die im Burghof standen, hatte Mara bei der Geburt unterstützt und ihnen dabei gute Dienste erwiesen. Aber es gab auch welche, bei denen nicht alles glatt verlaufen war. Dennoch hatte noch nie jemand der Hebamme die Schuld für eine Totgeburt gegeben und sie deshalb vor den Richter geführt. Mara half nicht nur bei Geburten, sondern auch bei Krankheiten und Verletzungen. Niemand im Umkreis mehrerer Meilen kannte sich besser mit Kräutern und deren heilenden Kräften aus als Mara.
Plötzlich stand Otto von Rauheneck unvermittelt auf. Er verschaffte sich Ruhe mit seiner Rechten, ohne sich zuvor mit Gerold beratschlagt zu haben. Der Ausdruck in seinen harten Augen versprach nichts Gutes. Etwas Irres, Unversöhnliches und Grausames lag darin. Nichts davon hatte mit dem Mann zu tun, den Leni als ihren Vater kannte.
»Mara soll für ihre Vergehen hängen«, sagte er knapp.
Mit einem Mal verstummte alles Gemurmel. Es war gespenstisch still im Burghof. Lenis Herz setzte für einen Moment aus. Ihr Vater hatte soeben den Tod der Frau beschlossen. Auch Gerold schien entsetzt. Er versuchte, seinen Herrn sanft am Oberarm zu berühren, aber Otto schüttelte ihn erbost ab und ignorierte seine geflüsterten Einwände.
»Glaubst du, so dein Gewissen reinwaschen zu können?« Es war Mara, die nun sprach. Ihre Stimme war nicht laut, dennoch erfüllte sie den Burghof, denn es war immer noch so still, dass jede Bewegung unter den Zuschauern zu hören war. Jemand raschelte mit einem Sack. Sofort zischte es aus einer anderen Ecke: »Pst!«
»Sei still, Weib«, donnerte Lenis Vater Mara entgegen und wiederholte sein Urteil. »Du wirst hängen und nie wieder eine Frau ins Elend treiben.«
Es dauerte eine Weile, bis die Nachricht in die Köpfe der Menschen vorgedrungen war. Ein Todesurteil, so etwas hatte es noch nie gegeben, seit Otto von Rauheneck der Burgherr auf Lichtenfels war. Die Zuschauer waren überrascht. Mit diesem Urteil hatte niemand gerechnet. Einige stimmten jubelnd zu, andere schüttelten fassungslos den Kopf. Aber alle würden bleiben und zuschauen. Eine öffentliche Hinrichtung war ein ganz besonderes Spektakel, das sich niemand entgehen ließ. Otto von Rauheneck hatte den Menschen gerade ein grausames Volksfest der makabren Art beschert. Sobald der Tag der Hinrichtung bekannt gegeben wurde, würden sich fahrende Händler in der Burg einfinden, die die Zuschauermenge mit knusprigem Gebäck und frischem Bier erfreuten. Vielleicht kamen auch Reliquienhändler und Spielmänner, die das Schauspiel mit Musik untermalten. Leni fühlte sich schwindelig. Auch Gerold stand das blanke Entsetzen ins Gesicht geschrieben. Er versuchte zu retten, was noch zu retten war.
»Hat jemand etwas zur Verteidigung der Angeklagten vorzubringen, das dieses Urteil mildern kann?« Seine Stimme klang beinahe flehend. Er wollte Ottos Richterspruch verhindern, doch niemand meldete sich zu Wort. Alle schwiegen. Eine gehässige Stimme rief:
»Hängt das böse Weib!«
Schon stimmten ein paar andere ein.
Leni reckte ihren Kopf und stellte sich auf die Zehenspitzen. Es war Hadmar, der den Tod forderte. Er konnte es nicht erwarten, die Frau am Galgen zappeln zu sehen. Leni wurde schlecht. Der Frühstücksbrei, den sie zuvor so hastig hinuntergeschlungen hatte, stieß ihr sauer auf.
Noch bevor sie über mögliche Konsequenzen nachdachte, hob sie die Hand und schrie, so laut sie konnte: »Vater, diese Entscheidung ist falsch.«
Neugierig drehten sich alle zu ihr um. Frauen waren als Zeuginnen nicht zugelassen. Ihre Aussagen waren belanglos, noch dazu, wenn es Vierzehnjährige waren, die sich zu Wort meldeten. Dennoch schnappte Gerold nach dem Strohhalm, den Leni ihm zuwarf.
»Leona von Rauheneck«, sagte er gewichtig, so als wäre sie ein volljähriger Mann. »Was habt Ihr zur Verteidigung dieser Frau vorzubringen?«
Nun wurde das Murmeln noch lauter. Vereinzelte Protestrufe waren zu hören. Jemand beschimpfte Leni lautstark.
»Freches, verzogenes Frauenzimmer. Man sollte dir den Hintern ordentlich versohlen. Dein Vater hat das Weib schon verurteilt.«
»Ich glaube, dass mein Vater in diesem Fall kein objektives Urteil fällen kann«, sagte Leni mutig und suchte seinen Blick.
Otto von Rauheneck hatte wieder Platz genommen. Zu Lenis Erleichterung war der Wahnsinn wieder der Traurigkeit gewichen, an die sie sich in den letzten Jahren gewöhnt hatte. Sie erinnerte sich kaum noch an eine Zeit, in der seine Wangen nicht eingefallen und grau gewesen waren und in seinem Blick eine liebevolle Lebendigkeit und waches Interesse gelegen hatten. Gerade jetzt war so ein Moment. Leni wünschte, ihre Mutter wäre noch am Leben. Selten hatte sie sie so sehr vermisst wie jetzt eben.
»Bitte, Vater, mach dich nicht zum Mörder!« Sie formte ihre Worte tonlos, doch sie war sicher, dass er sie trotz der Entfernung von ihren Lippen ablesen konnte. »Mutter hätte das nicht gewollt.« Wieder war es still im Burghof. Das Interesse der Zuschauer galt Otto von Rauheneck, dann seiner aufmüpfigen Tochter und wieder umgekehrt. Nach einer schier endlosen Pause wurden die Augen des Burgherrn feucht. Der Bann war gebrochen. Fast entschuldigend nickte er Leni zu. Dann lehnte er sich zu Gerold und redete hinter vorgehaltener Hand mit ihm. Es dauerte eine Weile. Die Menschen wurden unruhig und tuschelten ungeduldig. Doch weder Gerold noch Otto ließen sich zur Eile drängen.
Schließlich wandte Otto von Rauheneck sich an die wartende Menge.
»Meine Tochter hat recht. Es waren persönliche Gründe, die mich eben zu einem Fehlurteil verleitet haben«, begann er. »Ich ändere mein Urteil. Mara soll mit zehn Peitschenhieben bestraft werden. Außerdem muss sie dieses Gebiet für immer verlassen. Sollte sie jemals wieder mein Land betreten, wird das heute angedrohte Urteil durch Hängen vollstreckt werden.«
Kaum hatte er seine Worte ausgesprochen, erhob sich Protest. Aber auch leise Zustimmungsrufe waren zu vernehmen. Leni fand das Urteil immer noch erschreckend hoch. Mara wurde öffentlich ausgepeitscht und verstoßen, weil sie einer Gebärenden ein Schmerzmittel verabreicht hatte. Aber Leni musste einsehen, dass sie nicht mehr ausrichten konnte. Wieder einmal wünschte sie, sie wäre ein Mann. Als Burgherr würde sie für echte Gerechtigkeit sorgen. Aber Gott hatte sie als Frau auf diese Welt geschickt, damit sie sich in Demut übte und hässliche Altardecken stickte.
Sie schaute zu ihrem Vater. Als Otto von Rauheneck sich wieder setzte, wirkte er müde und erschöpft. Es hatte den Anschein, als wäre er eben um weitere zehn Jahre gealtert. Mara hingegen stand immer noch in aufrechter Haltung, mit hoch erhobenem Kopf auf dem Podest. Als sich ihre Blicke erneut mit denen von Leni kreuzten, war es Leni unmöglich, in den mandelförmigen grünen Augen zu lesen. War Mara ihr dankbar, oder verachtete sie sie, weil sie die Tochter des Mannes war, der sie hatte hängen wollen?
Immer noch protestierten einige Zuschauer gegen das Urteil. Sie sahen sich um das Spektakel einer Hinrichtung betrogen. Um die unzufriedene Meute zu beruhigen, rief Gerold:
»Das Auspeitschen wird gleich vollstreckt.«
Der Mann, der neben Leni stand, klatschte nun Beifall. Die Menschen würden ein kleines Vergnügen geboten bekommen. Der nackte Oberkörper einer hübschen Frau und aufplatzende Haut auf einem schmalen Rücken waren auch nicht zu verachten. Mit etwas Glück würde die Verurteilte ordentlich um Gnade flehen und schreien. Leni drängte sich durch die Menge. Sie wollte diesem unwürdigen Schauspiel nicht beiwohnen. Gerade als sie zurück zur Küche strebte, hielt jemand sie am Ellbogen fest.
»Fräulein Leona«, es war die vorwurfsvolle Stimme ihrer Erzieherin Brunhilde. »Ich suche seit Stunden nach Euch. Kommt sofort mit mir, bevor Ihr noch mehr Unruhe stiftet. Im Turmzimmer wartet die Stickarbeit auf Euch!«
Noch nie war es Leni so erstrebenswert erschienen, ihre trächtige Kuh zu vollenden. Ohne Protest folgte sie der kleinen, stämmigen Frau.
Burg Lichtenfels 1235
»So bleibt doch ruhig stehen, Fräulein Leona!«, forderte Brunhilde streng. »Wie soll ich denn den Saum Eures Kleides ordentlich hochstecken, wenn Ihr ständig herumzappelt.«
Immer wieder trippelte Leni zum Fenster, stellte sich auf die Zehenspitzen und blinzelte über den Fensterrand in den Hof, um zu sehen, was dort vor sich ging.
»Du wirst deinen Bräutigam noch früh genug zu Gesicht bekommen«, schmollte Margot. Die blasse Cousine saß missmutig auf einem der Stühle und betrachtete Leni, die in ihrem Hochzeitskleid beneidenswert hinreißend aussah. Lenis Haar war noch dichter geworden, weshalb die Zöpfe, die im Kranz um ihren Kopf lagen, einer mächtigen Krone glichen. Ihr Körper war schlank und geschmeidig, ohne zerbrechlich zu wirken. Ihr Gesicht ebenmäßig, die Haut rein und von einem gesunden Farbton. Das Einzige, was Gotthart von Gars, ihren zukünftigen Ehemann, davor hätte abschrecken können, mit ihr den Bund fürs Leben zu schließen, war der trotzige Ausdruck in ihren frechen blauen Augen. Lenis Kampfgeist und ihr Starrsinn waren ungebrochen, was wohl damit zu tun hatte, dass ihr Vater ihr wenig Grenzen setzte. Otto von Rauheneck hatte sich noch weiter von ihr entfernt und sich völlig in seine Trauer um seine verstorbene Frau zurückgezogen. Zum Glück gab es Gerold, der alle Aufgaben eines Burgherrn gewissenhaft übernahm. Nur für die Erziehung von Leni fühlte er sich nicht verantwortlich. Das war Brunhildes Aufgabe, die damit aber reichlich überfordert war.
»Ich wünschte, ich könnte Gotthart heiraten«, seufzte Margot neidvoll. Es war kein Geheimnis, dass sie den jungen Mann verehrte und überzeugt war, dass sie die passendere Frau für ihn wäre. Als ihr Onkel die Verlobung bekannt gegeben hatte, hatte Margot sich drei Tage lang im Turmzimmer eingeschlossen, gejammert und geweint. Ihr Gezeter war bis in die letzten Ecken der Burg zu hören gewesen, und es hatte Wochen gedauert, bis Margot wieder mit Leni gesprochen hatte. Wirklich versöhnt war sie immer noch nicht. Dabei schien sie zu vergessen, dass ihre Eltern tot waren und ihr Onkel sie aus reiner Großherzigkeit bei sich aufgenommen hatte. Margots Vater war Ottos jüngerer Bruder gewesen. Er hatte nie ein Anrecht auf Burg Rauheneck gehabt und zeit seines Lebens in der zweiten Reihe gestanden. Ein Umstand, den weder Margots Mutter noch sie selbst je eingesehen hatten.
»Es geht mir nicht um Gotthart«, sagte Leni. »Ich weiß doch, wie er ausschaut.« Sie machte eine wegwerfende Handbewegung. »Ich frage mich, was Azzo Kuenring hier will. Er hat seine beiden Söhne Heinrich und Hadmar dabei. Die drei müssen zeitig in der Früh losgeritten sein, denn selbst mit schnellen Pferden braucht man fünf Stunden zu uns.«
Margot zuckte gelangweilt mit den Schultern. »Hadmar hat hier seine Ausbildung zum Ritter absolviert, warum sollten er und sein Vater nicht vorbeischauen?«
Leni schnaufte verächtlich. »Ich bitte dich, Margot, sei doch nicht so naiv. Männer von Rang treffen einander nicht, um gemeinsam ein paar Stück Rosinenbrot oder Marzipan zu essen und dabei über Belangloses zu reden. Gottharts Vater ist ebenfalls eingetroffen, er verlässt seine Burg in Gars sonst nie. Irgendetwas Wichtiges geht vor, und wir sitzen ahnungslos in diesem Turm und stecken den Saum von Kleidern hoch.«
»Was unabdingbar ist, wenn Ihr in diesem Kleid heiraten wollt«, sagte Brunhilde undeutlich, aber streng. Zwischen ihren Lippen hielt sie mehrere Nadeln fest, die ihr der Dorfschmied letzte Woche gebracht hatte. Energisch zupfte sie nun an der Schleppe von Lenis Kleid.
»Worum könnte es gehen?« Leni erwartete weder von Margot noch von Brunhilde eine Antwort. Sie richtete die Frage an sich selbst.
»Was auch immer es ist, es geht uns nichts an«, sagte Brunhilde. Sie hatte alle Nadeln wieder aus dem Mund genommen und in ein kleines Polster gesteckt, damit sie sie nicht verlor. Das filigrane Werkzeug war wertvoll. »Ich darf Euch daran erinnern, dass wir Frauen sind. Als solche haben wir mit der Politik nichts zu schaffen. Wären die Themen für unsere Ohren bestimmt, würde man uns zu dem Treffen einladen.«
Leni war anderer Meinung.
»Sollten die Männer sich gegen Herzog Friedrich auflehnen, würde uns das alle betreffen. Oder glaubt Ihr, dass Friedrich bei einem Vergeltungsschlag ausgerechnet unsere Burg verschonen würde? Man nennt ihn nicht umsonst den Streitbaren. Der Babenberger hat auch nicht davor zurückgeschreckt, dem Kaiser die Stirn zu bieten.«
»Um Himmels willen, Fräulein Leona. Das sind Themen, die gehen uns Frauen nun wirklich nichts an«, tadelte Brunhilde.
»Warum sollte sich irgendjemand gegen Herzog Friedrich erheben?« Margot klang, als hörte sie diese Theorie zum allerersten Mal. Leni wusste, dass sie bloß vor Brunhilde die Unwissende spielte. In Wahrheit wusste Margot über alles, was sich auf der Burg abspielte, genauestens Bescheid. Sie kannte Plätze, an denen man unbeobachtet lauschen konnte. Leni hatte sie dabei erwischt, wie sie ihr Ohr gegen eine der Ritzen in den Mauern gehalten hatte, um zu erfahren, wann Gotthart das nächste Mal zu Besuch kommen würde.
»Herzog Friedrich braucht Geld für seine Schlachten, die er gegen Ungarn, Böhmen und Bayern führt. Daher beschneidet er die Rechte seiner Ministerialen, die ihm ohnehin zum Dienst verpflichtet sind. Doch Azzo will sich das nicht gefallen lassen. Aber er vergisst, dass er den Herzog seit Jahren mit der unrechtmäßigen Einhebung von Zöllen verärgert. Er hat kein Recht, die Schiffe auf der Donau aufzuhalten und an der Weiterfahrt zu hindern. Wenn er sich jetzt gegen Friedrich erhebt, riskiert er eine bewaffnete Auseinandersetzung mit dem Herzog.«
Brunhilde sah Leni mit großen Augen entsetzt an. Leni hatte Angst, die Erzieherin könnte sich an den Nadeln stechen, deren Spitzen aus dem Polster schauten, den sie gefährlich nahe an ihren Busen hielt. Auch Margot spielte die Unwissende. Aber diesmal gelang es ihr nicht ganz so gut wie zuvor. Leni fand, dass sie übertrieb und ihre Augen noch weiter aus ihrem Gesicht traten, als es ohnehin schon der Fall war. Die Cousine war von Gott nicht mit Schönheit beschenkt worden, was sie versuchte, mit Bosheit wettzumachen. Jetzt stopfte Margot sich genüsslich einen der süßen Honigkuchen, die auf dem Tisch standen, in den Mund und kaute. Bei den Mengen, die sie davon täglich verzehrte, war es kein Wunder, dass Brunhilde jeden Monat Margots Kleider weiter machen musste.
»Die Männer wissen ganz genau, was sie tun«, sagte Brunhilde.
»Und was nutzt uns all das Wissen über Zölle und Rechte und drohende Auseinandersetzungen, wenn wir ohnehin nichts daran ändern können?«, fügte Margot hinzu.
»Wollt ihr denn nicht wissen, was euch erwartet?«
Brunhilde zuckte mit den Schultern.
»Außerdem glaube ich, dass eine Ehefrau sehr wohl Einfluss auf die Entscheidungen ihres Mannes nehmen kann. Gotthart wird auf mich hören, dafür werde ich sorgen.« Frech zog Leni eine Augenbraue hoch. Sie vergaß dabei, dass sie nun wieder Margots wunden Punkt erwischt hatte. Ihre Worte erinnerten die Cousine an die Tatsache, dass Leni es war, die Gotthart in ein paar Wochen, sobald der Sommer zu Ende war, heiraten würde. Wütend presste Margot ihre schmalen Lippen zusammen und ballte ihre Hände zu Fäusten.
»Entschuldige«, sagte Leni versöhnlich. »Ich wollte dich nicht verärgern.«
»Dann gib nicht ständig damit an, dass du Gotthart zum Mann bekommst.«
»Versprochen!«
Mit Brunhildes Hilfe schlüpfte sie aus ihrem Hochzeitskleid und streifte wieder ihr dunkelblaues Sommerkleid über. Leni besaß vier Kleider, zwei für den Sommer und zwei für den Winter, und bald ein fünftes, ein Hochzeitskleid, das sie auch an hohen kirchlichen Feiertagen und zu Festen tragen konnte. Es hatte modische Trompetenärmel, die bis zum Saum reichten und mit glänzender Seide gefüttert waren. Als Margot die Ärmel zum ersten Mal gesehen hatte, war sie vor Neid noch weiter erblasst. Leni liebte ihr Kleid. Jetzt eilte sie zur Tür.
»Wo wollt Ihr denn hin?«, erkundigte sich Brunhilde.
»In die Halle«, erklärte Leni mit einer Selbstverständlichkeit in der Stimme, für die Abt Ebro ihr mindestens fünf Ave Maria zur Buße auferlegt hätte. Denn als Frau hatte sie sich in Demut zu üben.
»Ich muss doch herausfinden, was die Männer vorhaben, und hinterher statte ich euch Bericht darüber ab.«
Besser, Leni sagte gleich freiwillig ein weiteres Gebet auf. Sie würde es in Windeseile herunterrattern.
Da es von der Tochter eines verwitweten Burgherrn erwartet wurde, die Rolle der Gastgeberin zu übernehmen, war es ein Leichtes, sich in die Halle unter die Leute zu mischen. Aus der Küche holte sie einen schweren Krug mit Gewürzwein.
»Das Gesöff kostet ein Vermögen«, jammerte Hilde. »Ich habe den Wein mit Pfeffer und Nelken im Wert einer ganzen Kuh gewürzt. Damit hinterher niemand sagen kann, Euer Vater wäre knausrig.«
Gewürze aus dem Orient waren mit Gold aufzuwiegen und täuschten darüber hinweg, dass der Wein sauer war. Otto von Rauheneck hatte noch nie viel Wert auf Luxus gelegt. Aber gutes Essen und schmackhafte Getränke gehörten zu den wenigen Dingen in seinem Leben, die ihm hin und wieder noch ein zufriedenes Lächeln aufs Gesicht zaubern konnten, weshalb immer genug der sündhaft teuren Gewürze in der Küche vorrätig waren.
Leni liebte den scharfen Geruch der Pfefferkörner, der, je nachdem, bei welchem Händler sie gekauft wurden, unterschiedliche Duftnoten enthielt. Manchmal erinnerte das Gewürz an Blumen, manchmal an Bergamotte oder Kampfer. Immer aber weckte es in Leni die Sehnsucht nach anderen Ländern. Als Kind hatte sie versucht, sich vorzustellen, wie die Welt außerhalb der Burg wohl aussah. Brunhilde hatte versucht, Lenis Neugier mit Geschichten über gefährliche Riesen und Furcht einflößende Trolle zu dämpfen, jedoch ohne Erfolg. Sobald ein fahrender Händler die Burgmauern passierte, wurde er von Leni mit Fragen überfallen. Seit Jahren träumte sie von pulsierenden Häfen, riesigen Schiffen und dem Meer, das unendlich weit war und angeblich nach Salz schmeckte. In ihrer Fantasie malte sie sich die Städte aus, von denen die Händler berichteten. Einige behaupteten, die Menschen wären an diesen Orten so reich, dass sie nicht nur täglich ihre Speisen mit Salz und Pfeffer würzen konnten, sondern auch Künstler damit beauftragten, Statuen und Gemälde von außergewöhnlicher Schönheit zu schaffen. Es fielen Städtenamen wie Genua, Pisa, Venedig und Florenz. Sie alle klangen in Lenis Ohren wie Musik.
»Keine Ahnung, wo Ihr gerade mit Euren Gedanken seid, Fräulein Leona!« Hildes Stimme holte Leni in die Wirklichkeit zurück. »Aber Ihr solltet Euch beeilen. Durstige Männer können zu unausstehlichen Bestien werden.«
Schwungvoll schnappte sich Leni den Krug und lief aus der Küche, über den staubigen Burghof, vorbei am Ziehbrunnen zum Wohnturm, über ein paar Stufen hinauf zum großen, schweren Holzportal und betrat die Burghalle. Aufgereiht an dem langen Tisch saßen die mächtigsten und einflussreichsten Männer der Gegend. Sie alle sprachen wild durcheinander. Es roch nach Schweiß, Leder und Pferden. Am Kopfende der Tafel hatten Lenis Vater und Gerold Platz genommen. Möglichst unauffällig ging Leni von einem Gast zum anderen und schenkte die leeren Becher voll. Durch die schmalen Fenster unterhalb der hohen Holzdecke drang Tageslicht in die Halle. Für zusätzliche Helligkeit sorgten Fackeln in den Wänden.
Gotthart und Hadmar hockten nebeneinander. Es war, als hätte sich in den letzten Jahren nichts verändert. Gotthart wirkte immer noch blass und unterwürfig neben dem stattlichen Hadmar, dessen Brust und Nacken noch breiter geworden waren. Der Kuenringer war sich seiner Männlichkeit durchaus bewusst. Selbstgefällig schaute er sich um und sonnte sich in seinem Glanz. Als er Leni erblickte, blitzten seine dunklen Augen auf. Ungeniert musterte er sie. Es war Leni, als würde er sie mit Blicken entkleiden und den Körper, den er darunter entdeckte, begutachten. Was er fand, schien ihm zu gefallen. Er schnalzte genüsslich mit der Zunge. Am liebsten hätte Leni den Inhalt des vollen Weinkrugs über seinem Kopf entleert.
Gotthart bekam von alldem nichts mit. Und wenn doch, dann ignorierte er es geflissentlich. Er wich Konflikten nach wie vor am liebsten aus. Leni war ihrem Vater dennoch dankbar dafür, dass er sie Gotthart zur Frau gegeben hatte. Sie würde sich mit dem unscheinbaren Mann, den sie kannte, seit sie sich zurückerinnern konnte, und mit dem sie eine jahrelange Freundschaft verband, irgendwie arrangieren, dessen war sie sich sicher.
»Verstehe ich Euch richtig?« Azzo Kuenring stand auf und verschaffte sich mit einer dunklen, drohenden Stimme Gehör. Vater und Sohn glichen einander wie ein Ei dem anderen, bloß dass das stehende Ei um viele Jahre älter war. Leni gefiel der Vergleich, denn genau wie ein altes Ei ungenießbar wurde und stank, war das, was Hadmars Vater sagte, faul.
»Ihr wollt mich nicht unterstützen?«
»Wir sehen keinen Grund, gegen Herzog Friedrich in den Kampf zu ziehen. Ganz im Gegenteil, wir würden uns dazu verpflichtet fühlen, ihn zu unterstützen, sollte er sich gegen den Kaiser erheben«, entgegnete Gerold. Der treue Verwalter hatte für seinen Herrn das Wort ergriffen. Lenis Vater saß teilnahmslos und in sich zusammengesunken daneben. Es hatte den Anschein, als würde das Gespräch ihn nichts angehen und als befände er sich gedanklich in einer anderen Welt. Leni hoffte inständig, dass es eine schönere Welt war. Doch so traurig, wie er aussah, musste sie annehmen, dass er auch in seiner Fantasie nicht glücklich war.
»Ich bin Azzo Kuenring. Ich will die Worte des Burgherrn von Otto von Rauheneck persönlich hören und nicht die Meinung eines einfachen Verwalters.«
Nun hob Lenis Vater träge den Kopf, reagierte aber nicht. Seine Augen waren leer. Gerold wandte sich Hilfe suchend an seinen Herrn, ergriff dessen Oberarm und rüttelte ihn sanft. Leni wusste, dass er damit nichts erreichen würde. Der Geist ihres Vaters war tot, was hier saß, war bloß noch seine körperliche Hülle.
»Azzo Kuenring. Dieses Treffen ist meinem Vater von so großer Wichtigkeit, dass er trotz seiner schwachen Gesundheit bei Euch sitzt und Euch bewirtet. Nur weil er nicht selbst die Stimme erhebt, um seine Kräfte zu schonen, heißt das noch lange nicht, dass er keine Meinung hat. Ihr könnt versichert sein, dass Gerold in seinem Namen spricht.«
Überrascht ob der Tatsache, dass eine junge Frau, die noch dazu unverheiratet war, sich erdreistete, zu den Männern zu sprechen, richtete Azzo seinen Blick auf Leni. Leider schenkte Lenis Vater seine Aufmerksamkeit weiterhin der Wand auf der gegenüberliegenden Seite der Halle und dem Familienwappen, das dort hing. Daneben stand eine etwas derbe Schnitzerei, die die Madonna mit dem Kind zeigen sollte. Wenn es nach Leni gegangen wäre, hätte man das hässliche Ding auf irgendeinem Gang versteckt. Sie trat zu Otto von Rauheneck und flüsterte in sein Ohr: »Bitte, Vater, zeig Stärke, tu es für unsere Familie.«
»Unsere Familie ist tot.«
»Nein!«, zischte Leni leise, aber bestimmt. »Ich bin deine Tochter, und ich bin nicht tot.«
Die Männer am Tisch beobachteten gebannt Vater und Tochter, konnten die Worte aber nicht verstehen, die gewechselt wurden, zu laut waren das Rücken der Stühle und das Klirren der Becher der Männer im Saal.
»Wir lassen uns von einem Weib nichts sagen!«, rief Hadmar. Zustimmung heischend, sah er zu seinem Vater und bettelte förmlich um dessen Anerkennung. Aber Azzo schnitt ihm verärgert das Wort ab.
»Sei still!«
Leni wusste, dass Azzo Kuenring nicht zimperlich mit seinen Söhnen umging. Als Kind hatte sie mit ansehen müssen, wie er Hadmar in aller Öffentlichkeit verprügelt und gedemütigt hatte. Einmal war er dabei mit seiner Peitsche so brutal vorgegangen, dass Leni Mitleid mit Hadmar gehabt und versucht hatte, ihn hinterher zu trösten. Zum Dank hatte Hadmar sie verhöhnt und in die Seite geboxt. Leni hatte sich nie ausmalen wollen, wozu ein Vater innerhalb der eigenen Burgwände fähig war, wenn er seinen Sohn schon in der Öffentlichkeit dermaßen schlimm misshandelte, dass dessen Wunden eine Woche lang unter dem Hemd nachbluteten. Doch die Zeit, in der sie Mitleid mit Hadmar verspürt hatte, war längst vorbei. Jetzt ging es darum, ihren Vater wachzurütteln.
Lenis Botschaft schien langsam zu ihm durchzudringen. Ungelenk und umständlich erhob sich Otto von Rauheneck aus seinem Stuhl. Mit Schrecken stellte Leni fest, wie abgemagert er war. Unter seinem Hemd traten die Knochen hervor. Sie hatte ihren Vater seit Wochen nicht zu Gesicht bekommen, weil er seine Gemächer nicht verlassen und außer Gerold niemanden zu sich gelassen hatte. Jetzt räusperte er sich und musste husten. Das Geräusch klang schmerzhaft und trocken.
»Meine Tochter hat recht, ich kann im Moment keine langen Reden schwingen, weshalb ich meinem Verwalter dankbar bin, dass er an meiner statt spricht. Aber ich versichere Euch, dass ich nicht vorhabe, mich gegen Herzog Friedrich zu erheben. Ich sehe darin keinerlei Vorteil.«
»Der Herzog beschneidet die Rechte seiner Ministerialen. Er will uns die Höhe der Abgaben vorschreiben, die wir von seinen Bauern einheben, und verlangt von uns höhere Zahlungen, um seine Kriege gegen Ungarn und Bayern zu finanzieren. Solange es gegen Böhmen ging, sahen wir die Dringlichkeit noch ein. Aber was gehen uns Ungarn und Bayern an? Die Länder sind weit von uns entfernt.«
Otto von Rauheneck antwortete nicht. Es war, als hätte ihn seine Erklärung all seine Kraft gekostet, die er noch aufzubringen imstande war. Erschöpft ließ er sich zurück in seinen Stuhl plumpsen.
»Ihr vergesst, dass Otto von Rauheneck kein Ministeriale ist, sondern ein freier Mann mit eigenem Grund und Boden!«, mischte sich Gerold ein. »Die Auflagen, die für Euch gelten, betreffen ihn nicht.« Leni hätte ihn wegen dieser Bemerkung am liebsten umarmt. Besser hätte sie es nicht sagen können. Gerold wies Azzo in die Schranken und führte ihm deutlich vor Augen, dass er trotz seines Reichtums im gesellschaftlichen Rang weit unter der Familie Rauheneck stand. Ein Umstand, der den Kuenringern, seit sie die Burg Aggstein übernommen hatten, ein Dorn im Auge war. Sie strebten nach gesellschaftlicher Gleichstellung, bisher jedoch ohne Erfolg. Aus den Augenwinkeln nahm Leni Hadmars finstere Miene wahr. War er verärgert, weil Gerold die Wahrheit sprach? Sein hasserfüllter Blick richtete sich ausschließlich auf sie.
»Zuerst sind es die Ministerialen, dann die adeligen Gefolgsmänner. Herzog Friedrich ist unersättlich. Seine kriegerischen Auseinandersetzungen mit Ungarn, Bayern und Böhmen verschlingen Unsummen, Geld, das er über kurz oder lang von uns allen herausquetschen wird.« Erchenbert von Gars, Lenis zukünftiger Schwiegervater, meldete sich zu Wort und ergriff für den Kuenringer Partei. Er trug einen dunkelblauen Mantel, der seinen mächtigen Bauch nicht verbergen konnte. Ob Gotthart in einigen Jahren auch so aussehen würde? »Mein Sohn und ich haben Azzo unsere Unterstützung zugesagt. Es ist an der Zeit, den Herzog in die Schranken zu weisen. Denn was wird Friedrichs nächster Schritt? Er wird sich mit dem römisch-deutschen Kaiser anlegen. Und wer wird dafür zur Kasse gebeten? Wir werden für seinen Größenwahn bezahlen. Dazu bin ich nicht bereit.«
Erchenberts Aussage überraschte Leni nicht, sie hatte befürchtet, dass er vor Azzo in die Knie ging. Aber seine Wortwahl war ungewöhnlich scharf und direkt. Jeder hier in der Halle wusste, dass Erchenbert jeden Konflikt mit Azzo vermeiden wollte. Lieber begab er sich in einen Krieg mit dem Herzog, der es vielleicht erst in einigen Jahren schaffen würde, eine Truppe zusammenzustellen, um seine aufmüpfigen Vasallen zur Vernunft zu bringen.
Einige der anderen Männer am Tisch teilten Erchenberts Meinung. Sie nickten zustimmend. Doch es waren bei Weitem nicht alle. Es gab auch welche, die sich ähnlich wie Lenis Vater dem Aufstand nicht anschließen wollten und lieber auf Verhandlungen setzten. Die Gefahr, dass auch der Kaiser sich einmischen könnte, war einfach zu groß, und was dann geschehen würde, konnte niemand abschätzen.
»He, Fräulein Leona. Mein Becher ist leer!«
Einer von Erchenberts Gefolgsmännern winkte Leni zu sich. Doch in dem Krug in ihrer Hand befand sich kein Tropfen Wein mehr. Sie musste in die Küche, um Nachschub zu holen. Nur widerwillig verließ sie die Halle. Viel lieber hätte sie der Unterhaltung weiter zugehört. Denn eines war gewiss: Was sie jetzt nicht hörte, würde ihr später niemand erzählen. Sie war ja bloß eine junge Frau. So schnell sie konnte, lief sie über den Burghof. Dabei musste sie an zwei von Azzos Männern vorbei. Sie saßen vor dem Brunnen und spielten Würfel. Ein paar Münzen lagen im sandigen Boden. Die Kirche hatte das Glücksspiel verboten, doch die Männer kümmerte es nicht.
»Wen wird es als Erstes treffen?«, fragte der Dicke.
Neugierig verlangsamte Leni ihre Schritte.
»Kommt ganz darauf an. Drei Sechser, das musst du mir erst mal nachmachen.« Der Glatzköpfige reichte den Lederbecher an seinen Kumpanen, grinste und legte dabei riesige Zähne frei, die ihm Ähnlichkeit mit einem Pferd verliehen.
»Azzo wird seinen Aufstand mit einem Überfall auf einen von Friedrichs Verbündeten beginnen. Dafür wird er sich den schwächsten Gegner aussuchen. Wenn du mich fragst, stehen mehrere zur Auswahl.«
Lenis Herz schlug schneller. Azzos Plan war weiter gediehen, als sie angenommen hatte. Die Worte des Dicken kündigten eine Katastrophe an, die schlimmer war als alles, was sie bisher befürchtet hatte. Der Kuenringer hatte vor, Herzog Friedrich mit dem Überfall einer Burg zu provozieren. Sie suchten wirklich den offenen Konflikt mit ihm.
Die beiden Würfelspieler unterbrachen ihr Spiel und schauten zu Leni.
»Hast du noch ein Schlückchen für uns übrig, schönes Fräulein?« Der Glatzkopf hielt Leni seinen Würfelbecher fordernd entgegen.
»Leider nicht, der Krug ist leer.«
Zum Beweis drehte sie ihn um. Benommen setzte sie ihren Weg zur Küche fort. Was sie noch vor wenigen Augenblicken als weise Entscheidung gewertet hatte, bedeutete nun eine große Gefahr. Wenn Gerold und ihr Vater sich nicht gegen Friedrich, Herzog von Österreich und der Steiermark, erheben wollten, würden sie sich zu einem von Azzos Zielen machen. Aber würden die Kuenringer wirklich so weit gehen und die Burg ihres Vaters überfallen? Ihre Familien waren durch jahrelange Freundschaft miteinander verbunden. Azzo hatte seinen Sohn Hadmar auf die Burg Lichtenfels geschickt, damit er hier zum Ritter ausgebildet wurde. Mit einem Überfall würde er gegen alle Regeln des Anstandes verstoßen. Leni versuchte, sich zu beruhigen. Sie war mit Gotthart verlobt, und Erchenbert hielt zu Azzo. Das hatte er eben klargestellt. Dieser Umstand bedeutete Sicherheit. Gleichzeitig wusste sie, dass die Worte Anstand und Kuenringer nicht zusammenpassten. Sie waren wie Wasser und Feuer und schlossen einander aus. Das hatte sie in all den Jahren, die Hadmar auf der Burg verbracht hatte, immer wieder leidlich erfahren müssen.
Die Gäste blieben zum Abendessen. Im Burghof wurden ein Wildschwein und mehrere Rebhühner gegrillt. Die beiden Küchenjungen, die die Tiere beständig drehten, schwitzten. Mit hochroten Köpfen standen sie seit Stunden neben dem Feuer und bewegten die Spieße, während eine Magd die Tiere immer wieder mit einer Paste aus Öl, wildem Knoblauch und Kräutern bestrich. Hilde hatte nicht mit Gewürzen gespart. Es duftete nach Thymian und Majoran. Aber auch Salz und Pfeffer befanden sich im Öl.
Leni half in der Küche mit, stampfte Rüben und kochte Gerste. Beides wurde als Beilage serviert. Hilde reichte ihr ein Pulver, das scharf in der Nase brannte und einen erdigen Farbton hatte. »Galgant«, erklärte sie. »Mischt es unter die Rüben, damit sie nicht geschmacklos bleiben.«
Die Köchin suchte in einer Truhe, in der sie die kostbaren Gewürze aufbewahrte, nach dem Säckchen mit den Pfefferkörnern. Es war beinahe leer.
»Ich hoffe sehr, dass der fahrende Händler, der letztes Jahr um diese Zeit zu uns gekommen ist, bald wiederkehrt«, bemerkte sie. »Meine Vorräte sind beinahe aufgebraucht. Ich benötige dringend Nachschub. Sonst werden die Speisen in den nächsten Wochen langweilig und fade schmecken.«
Nur zu gut erinnerte sich Leni an den Mann mit dem lustigen Akzent, dessen Haut die Farbe von goldenem Olivenöl gehabt hatte und dessen Haar so schwarz gewesen war wie ein Stück Kohle. Er hatte ihr ein Stück Rosenseife verkauft, das so intensiv geduftet hatte, dass es sie selbst an den kältesten Wintertagen wehmütig an warme Sonnenstunden erinnerte.