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»Was würdest du tun, wenn du mit einem Schlag alle deine Träume verlieren könntest? Würdest du kämpfen? Würdest du sterben?« Als Piper in die verschlafene Kleinstadt ins tiefste Texas ziehen muss, denkt sie nicht im Traum daran, wie rasant sich ihr Leben in wenigen Wochen verändern wird. Von den abergläubischen Menschen dort erfährt sie die Legende um die Krieger des Horns, die auserwählt sein sollen, die letzten Einhörner ihrer Welt vor finsteren Mächten zu bewahren - und sie selbst soll dazugehören! Erst als sie in einem Moment des Schreckens ihre eigene übernatürliche Fähigkeit entdeckt, glaubt Piper tatsächlich, dass es in ihrer Welt mehr geben muss, als sie bisher geahnt hat. Aber für ihre beste Freundin ist es da schon zu spät ... Der erste Band des vierteiligen Fantasy-Zyklus »Die Krieger des Horns« bildet den Auftakt einer abenteuerlichen Mission, die den Leser in eine andere Welt führt, und erzählt von tiefer Freundschaft, Liebe und Verrat - bis über den Tod hinaus!
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Inhalt
Titel
Prolog
I Piper
II Gillian
III Piper
IV Piper
V Gillian
VI Piper
VII Piper
VIII Gillian
IX Piper
X Andy
XI Piper
XII Andy
XIII Piper
XIV Robin
XV
XVI Gillian
XVII Piper
XVIII Brendan
XIX Joice
XX
XXI Piper
XXII Gillian
XXIII Andy
XXIV Gillian
XXV Piper
XXVI Gillian
XXVII Brendan
XXVIII Andy
XXIX Piper
XXX Andy
XXXI Dina
XXXII Joice
XXXIII Robin
XXXIV Andy
XXXV Piper
XXXVI Piper
XXXVII Piper
Epilog
Die Autorin
Fortsetzung folgt ...
Josefine Gottwald
DIE KRIEGER DES HORNS
FEUERMOND | Band 1
IMPRESSUM
ISBN-13: 9783757923280
Überarbeitete Ausgabe 2023
Copyright © 2003, 2011, 2013, 2014, 2023 Josefine Gottwald
Schlachthofgäßchen 1 | 01796 Pirna | [email protected]
Umschlaggestaltung: Tobias Roetsch, GTGraphics.de
Lektorat/Korrektorat: Jana Isabella Treuter
Alle Rechte vorbehalten.
Jeden Moment wird es wieder passieren. Sobald die Sonne untergegangen ist, kommt es über sie. Alle wird es treffen, keinen verschonen – das Grauen. Wie in jeder Nacht schleicht es sich heran und macht sie zu seinen Gefangenen. Zu Sklaven der Finsternis.
Die letzten Strahlen der Sonne senken sich langsam zur Erde. Zu Hunderten kriechen sie aus ihren Verstecken, die Dunkelheit lockt sie hervor. Menschen sind es nicht mehr – sie waren zu schwach, sind es immer noch. Sie dienen als nützliche Werkzeuge, hinterfragen die Aufträge ihrer Herren nicht. Würden es nicht wagen. Sie sind genügsam und unterlegen. Und es kostete kaum Mühe, sie zu unterwerfen; sie waren der Macht der Vampire schnell ausgeliefert.
Die Schmerzen zwingen sie in die Knie. Voller Qualen reißen sie den Mund auf; die langen Zähne wachsen schon. Werden zu todbringenden Fängen, denen kein Opfer entkommt.
Muskeln und borstiges Fell zerreißen die Kleidung. Blutrünstiges Geheul über dem ganzen Kloster durchbricht die Stille der Nacht.
Als der Mond am höchsten steht, ist die Verwandlung vollzogen. Mit angriffslustigem Knurren hetzen sie in Rudeln die Festung hinab, auf zur Jagd! Sklaven der Finsternis ...
* * *
Jeder kannte Coastville als die verschlafene Stadt, in der schon ein auf der Straße ausgetragener Streit mehr Aufsehen erregte als anderswo eine Schießerei. Eine typische Kleinstadt eben, wie man sie tausendfach in den Vereinigten Staaten finden kann. Hier kennt man die Nachbarn des gesamten Viertels und die Leute, die seit dreihundertfünfzig Jahren nicht umgezogen sind. Eine mittlere Ansammlung von Häusern, dort, wo sich in Texas als Viehweide genutztes Grasland – die Prärie – breit gemacht hat, irgendwo im Tal des Red River gelegen, dessen Zufluss der unfreiwillig bekannte Bloody River ist. Die meisten wissen von ihm nur, dass er im Sommer austrocknet, es dort Blutegel gibt, man dort baden kann und die ganzen Belanglosigkeiten. Doch weitaus interessanter ist wohl das Geheimnis, welches den Namen dieses Flusses umgibt ...
Nördlich vom Bloody River liegt ein Wald, der Wolfswald. Niemand, der darüber reden würde, hat eine Ahnung davon, ob es dort noch Wölfe gibt oder überhaupt jemals gab. Niemand spricht freiwillig oder gar viel über diesen Wald. Früher wagte sich kaum jemand – und das nicht ohne Grund – auch nur in seine Nähe.
Heute sind diese Zeiten und mit ihnen die Erinnerungen immer mehr in Vergessenheit geraten. Die Kleinstadt ist eingeschlafen. Aber Neugier und Misstrauen bringen Spannung nach Coastville. Immer mehr Wissbegierige treibt die Abenteuerlust auf dunkle Mission, um Geheimnisse zu lüften. Auf Leben und Tod.
Seit ich mich erinnern kann, lebe ich mit meiner Mutter Julia in einem Haus in Goldvalley, Kalifornien. Über das Leben dort habe ich mich nie beschwert; die Stadt war zwar ziemlich groß, doch für die wenigen Freunde, die ich hatte, bin ich meistens dagewesen, wenn sie sich langweilten oder Ärger hatten. Dafür luden sie mich zu ihren Partys ein, weil sie der Meinung waren, ich müsste mal ein bisschen fröhlicher werden und aufhören, zu grübeln. Aber jetzt werde ich sie wahrscheinlich nur noch auf Facebook sehen ...
Als meine Mom auf diesem Seminar (ich weiß nicht einmal mehr das Thema) Danny kennen lernte, habe ich mich noch für sie gefreut. Sie war zu lange alleine – und eigentlich sogar froh darüber, mit meinem Vater nichts mehr zu tun haben zu müssen –, aber die ausgelassenen Abende mit ihren Freundinnen waren eine Fassade, hinter der sie verbarg, dass alles, was sie hatte, ein Haus war, auf dem ein Kredit lastete. Und ich.
Eine fünfzehnjährige Tochter, die mit Romanen mehr anfangen kann als mit Make-up, die bei Songs auf die Texte achtet und die ihre Hausaufgaben macht, ohne dass man sie daran erinnern muss. Ich glaube, ich wusste immer besser als sie, wie hoch unsere Schulden eigentlich waren. Aber wenn ich davon anfing, fragte sie mich nur, wo eigentlich der Sekt stand.
Die Mails mit Danny lenkten sie ab und ließen sie ganz ohne ihre Freundinnen lächeln. Plötzlich vertrockneten unsere Blumen nicht mehr aus Gleichgültigkeit, sondern aus gestresster Vergesslichkeit heraus – auch wenn das Ergebnis dasselbe war. Während ich aus dem Autofenster sehe, erinnere ich mich, wie ich immer mit der Gießkanne durchs Haus ging, während Mom mir hastig einen Kuss auf die Wange drückte, weil sie mit ihren „Mädels“ einen Film im Kino sehen wollte – Frauen, die fast alle von ihren Männern sitzengelassen worden waren oder dazu noch nicht einmal die Gelegenheit bekamen ...
Aber dann wurden aus den Mails Telefonate. Ich räumte den Geschirrspüler immer öfter alleine ein und begann, den Fernseher in meinem Zimmer lauter zu drehen, um ihr Rumgealber mit Danny nicht hören zu müssen – die Art, wie Mom übertrieben in den Hörer kicherte, machte mich krank! So aufgedreht habe ich sie sonst nur mit Marina, Rachel und Belinda gesehen, aber die wollten sie nun immer seltener mitnehmen. Sie machten ihr Mut, es „ernster“ werden zu lassen, und wahrscheinlich waren auch sie daran schuld, als Mom eines Tages den Entschluss fasste.
„Es wird dir total gefallen, Piper!“, sagt sie, während ich neben ihr im Wagen sitze und gelangweilt mit meinem Handy spiele. Ich brumme nur, aber sie lässt nicht locker. „Drei Pferde hatten sie auf der Ranch, als ich dort war! Und schau mal, hier sind überall Koppeln, ist das nicht toll?“
Ich hebe den Blick. Aber meine Mutter passiert schon den Ortseingang – der Schriftzug Coastville saust in einer halben Sekunde an mir vorüber.
Die Menschen in den Vorgärten sehen misstrauisch aus, nur kühl mustern sie unser Kennzeichen, aber trotzdem sind sie neugierig genug, um sich nicht abzuwenden. Mom winkt und lächelt, aber niemand lächelt zurück. Sie bauen Zäune um ihre Häuser – hohe, stabile Zäune, die aussehen, als wären die Nachbarshunde hier mutierte Bestien, die nachts kleine Kinder rauben ...
„Sieht nett aus“, behaupte ich eintönig und widme mich wieder meinem Spiel.
Wahrscheinlich werden wir nie richtig dazugehören. Warum auch, wir sind die Leute aus der Stadt, die Zugezogenen, die nicht wissen, wie es hier läuft. Aber ich kann es mir vorstellen. Meine Mom lebt glücklich bis ans Lebensende und ich bleibe ewig „das Mädchen aus Kalifornien“.
„Oh, da ist deine Schule!“, ruft sie begeistert. Mein Blick bleibt an einem Gebäude hängen, das so groß ist, dass es wahrscheinlich die Schüler im Umkreis von vierzig Meilen beherbergen könnte.
„Wow, und das in der Einöde“, murmele ich. Eigentlich bin ich ganz froh, dass ich noch einen Tag frei habe und hier erst einmal nicht hin muss. Der Gedanke daran, mich vor der neuen Klasse vorstellen zu müssen, macht mir Bauchschmerzen. Aber Moms gute Laune kann er nicht trüben.
„Vielleicht können wir morgen zusammen hingehen“, überlegt sie, „dich vorstellen und deinen Stundenplan abholen, was meinst du?“
Ich zucke mit den Schultern. Um vom Thema abzulenken frage ich: „Und wo sind jetzt die Pferde, die du mir versprochen hast?“
Sie lacht und ihre roten Locken wippen. Wenn sie lacht, sieht sie aus wie Julia Roberts, hat Sandra einmal zu mir gesagt. Sie war meine beste Freundin und hatte selber Locken. Mir wollte sie auch ständig welche einreden, aber ich habe mich immer gewehrt. Und das, obwohl ich meine glatten dunklen Haare von meinem Vater geerbt habe, von dem ich eigentlich nichts mehr wissen will. Vielleicht trage ich sie gerade deswegen, um ihn nie zu vergessen, als eine Art Mahnung. Und manchmal glaube ich, ich erinnere auch meine Mutter an ihn.
„Gleich wirst du sie sehen!“, kündigt Mom an und reißt mich aus meinen Gedanken.
„Sind wir denn endlich da?“
„Es ist nicht mehr weit, da drüben ist schon der Friedhof. Wir müssen nur noch diese Straße hier rauf.“
Es ist die Cemetery Road, von der sie spricht, ich habe vorhin das Straßenschild gelesen. Aber Mom achtet natürlich nicht auf solche Kleinigkeiten. Na das passt ja gut zu meiner Stimmung, denke ich ironisch. Fühl dich wie zu Hause, Piper! Und mach die Gruft zu, es zieht!
Auf der linken Seite zweigt eine lange Einfahrt zu einer Ranch ab, eine ganze Herde Pferde grast auf der riesigen Koppel. Ich frage mich, ob das echte Mustangs sind ...
„Das ist es! Wir sind da!“
Mom deutet auf ein heruntergekommenes Anwesen rechts vor uns, und ich spüre förmlich, wie die Last der Fahrt von ihr abfällt. Unterwegs haben wir in Arizona und New Mexico übernachtet – trotzdem klemmt sie schon wieder seit fünf Stunden hinter dem Lenkrad, ihre Bluse ist zerknittert und das Make-up vom Schweiß zerlaufen.
Als ich aus der Tür springe, strecke ich meine schmerzenden Glieder und versuche dabei, mich unauffällig umzusehen. Der Stall ist winzig und heruntergekommen, von den Zäunen blättert die Farbe und das Haus sieht aus, als müsste ich darin meinen Kopf einziehen, um mich nicht an der Decke zu stoßen.
Mom hupt wie verrückt, während sie mit einer Hand unbeholfen ihre Haare richtet, und aus der Scheune kommt ein kräftiger Mann, der sich die Finger an einem Lappen abwischt, als er auf uns zu schlendert.
„Hallo, ich bin Oliver“, sagt er grinsend und streckt uns die Hand entgegen. Mom zögert einen Moment zu lang, als sie sieht, wie schmutzig er ist, aber ich schüttele sie energisch und stelle mich vor. „Piper, von dir habe ich schon viel gehört!“, behauptet er fröhlich.
„Ach so?“, frage ich. Mein Blick springt zu meiner Mutter.
Aber bevor Oliver antworten kann, wirbelt eine kleine, vor Freude kreischende Frau aus dem Haus und fällt meiner Mom überschwänglich um den Hals. Der Mann, der ihr folgt, mustert mich mit einem Ausdruck, den ich nicht deuten kann, aber ich erkenne sofort das Gesicht, das in letzter Zeit eingerahmt bei uns im Esszimmer stand: Danny.
Ich stelle fest, dass Mom bei ihren Schwärmereien etwas übertrieben hat – vielleicht war der Blick durch ihre rosa Brille aber auch etwas verklärt. Seine Muskeln, die von der Rancharbeit kommen, sind schmal und sehnig, und er ist mindestens einen Kopf kleiner als ich ihn mir vorgestellt habe. Sein Haar ist fast bis zum Ansatz gefärbt und inzwischen deutlich grauer. Das Gel darin lässt es nur im ersten Moment aussehen, als wäre es nass vom Schweiß. Und obwohl er geschäftig mit einem Soßenlöffel hantiert, als hätte er eigentlich gar keine Zeit für uns, ist sein Shirt makellos weiß.
„Mein Schatz“, sagt er zu Mom, und mir kommt es vor, als ob er mich absichtlich übergeht. „Die Fahrt war sicher anstrengend! Aber ich habe eine tolle Überraschung: Ich habe etwas für dich gekocht!“ Er reißt sie aus den Armen der kleinen Frau, die sich nun mir widmet.
„Hallo Piper, wie schön, dass du bei uns bist! Ich bin Allie, Dannys Schwester.“ Ich will auch ihr die Hand geben, aber sie schließt mich strahlend in die Arme. „Oliver ist mein Mann“, sprudelt sie los, „wir führen die Ranch alle zusammen und züchten verschiedene Arten Rinder, die wir dann an die Konzerne im Norden verkaufen. Das läuft eigentlich gar nicht so schlecht, nicht wahr, Danny? Piper wird es doch bestimmt gefallen, hier auf dem Land, mit den Pferden und so weiter ...“
Erst jetzt scheint er sich an mich zu erinnern.
„Ach, Piper!“, sagt Danny überrascht und dreht sich zu mir herum, ohne Mom loszulassen. Sein Gesicht ist zu einer freudigen Maske geworden, mit weit hochgezogenen Brauen und einem Lächeln, das seine Augen nicht erreicht.
„Hallo“, sage ich möglichst neutral, aber zu mehr kann ich mich nicht durchringen. Die Hand kann er mir ohnehin nicht geben, da er in der einen den Löffel und in der anderen Mom hat.
Während er sie nach der Fahrt ausfragt, schiebt er sie ins Haus und erklärt, dass sie sich erst einmal ordentlich ausruhen soll ... Einen Augenblick später stehe ich allein da.
Das heißt, Allie klebt noch an mir wie ein Schatten und erklärt, dass sie mir sofort die Pferde zeigen will. Bevor ich reagieren kann, zieht sie mich mit sich, aber wahrscheinlich ist der Gedanke gar nicht verkehrt – das war schließlich der beste Grund, hierher zu kommen.
Der Stall ist düster und muffig, die Boxen vergittert bis zur Decke. In den dünnen Sonnenstrahlen, die sich durch die Bretterwand kämpfen, tanzt Heustaub, der mich zum Niesen bringt.
„Du bist doch nicht etwa allergisch?“, fragt Allie entsetzt, aber ich kann nur den Kopf schütteln, bevor es wieder in der Nase kitzelt. Typisch – das Mädchen aus Kalifornien!
Schwungvoll schiebt Allie die Boxentür auf und stellt mir ihre Stute Angel vor, die genauso klein und genauso blond ist wie sie selbst. Als ich das feststelle, muss ich grinsen. Ich streichele das Pferd am Hals und verfüttere eine Karotte, die mir Allie gibt. In dem Moment wiehert in der Nachbarbox ein stattlicher Apfelschimmel und prustet durch die Gitterstäbe. Ungeduldig scharrt er mit dem Huf, um sich auch etwas zu erbetteln.
„Glitter!“, ruft Dannys Stimme von der Stalltür her. Ich erschrecke genauso wie das Pferd. Mit ein paar Schritten ist er bei uns und Mom folgt ihm kichernd, als wäre das ein Spiel.
„Das macht er ständig, niemand kann es ihm abgewöhnen!“, rechtfertigt sich Danny und tritt mit dem Fuß gegen die Boxentür. Der Wallach zuckt zusammen und ist still. „Kommt rein!“, sagt er zu Allie. „Wir essen jetzt!“ Er schiebt die Box der Stute so schnell zu, dass ich gerade noch herausschlüpfen kann. Danny würdigt mich keines Blickes und seine Schwester zuckt nur mit den Schultern und folgt ihm und Mom ohne Widerworte.
Als sie durch die Tür gehen, bleibe ich hinter ihnen zurück. Ich habe das Gefühl, als würde mein Leben durch meine Finger fließen. Ich gebe mir Mühe, es festzuhalten, aber es ist nicht greifbar, alles wird ungewiss. Ich brauche dringend irgendetwas Vertrautes, aber jetzt fühle ich mich nicht einmal mehr bei den Pferden wohl.
* * *
Die Kochkünste, die Danny als seine anpreist, obwohl er nicht einmal den Namen des Gerichts kennt, das Allie auftut, sind allenfalls mittelmäßig. Aber ich schlinge meinen Teller hinunter als hätte ich den ganzen Tag noch nichts gehabt – und eigentlich stimmt das ja auch fast.
„Ihr müsst halb verhungert sein!“, scherzt Allie als sie mich sieht, aber meine Mom verteidigt ihre Erziehung, indem sie erklärt, wo wir unterwegs gehalten haben. Aus dem Augenwinkel sehe ich Dannys fassungslosen Blick und rechne mit einer spitzen Bemerkung von ihm. Aber anstatt darauf zu warten, grinse ich breit und lasse mir noch etwas geben.
„Und, wie gefallen dir die Pferde, Piper?“, fragt meine Mom. „Ich hab nicht zu viel versprochen, oder?“ Ich stecke schnell die Gabel in den Mund, sodass ich nur den Kopf zu schütteln brauche. Mom lächelt glücklich und erklärt: „Piper möchte nämlich unbedingt ein Pferd haben ...“
Danny isst weiter, ohne sich etwas anmerken zu lassen, doch dabei hebt er wieder so eigentümlich die Augenbrauen. „Und wie willst du das finanzieren?“, fragt er mich. Sein Blick ist wie ein Pfeil.
Ich weiche ihm aus. „Ich werde mir einen Job suchen.“ Dann muss ich wenigstens nicht so oft hier sein, füge ich in Gedanken hinzu.
Er lacht leise. „Dann hoffe ich, dass deine schulische Leistung darunter nicht leidet. Hier ist der Abschluss nicht so einfach wie in Kalifornien!“
Als ich ihn ansehe, kommt mir der Gedanke, dass in Texas scheinbar nur die ganz harten durchkommen, und ich wische mir schnell mit einer Serviette das Grinsen von den Lippen.
Meine Mutter sagt dazu nichts. Wahrscheinlich hat auch sie genug damit zu tun, sich auf die neue Situation einzustellen.
Harmonie-Allie erzählt mir von einer Mustang-Ranch im Ort, deren Zucht einen sehr guten Namen hat. „Die Familie Davis ...“, sagt sie gerade, als Danny sie mit einem Schnauben unterbricht. „Ja, sie sind Mexikaner“, erklärt Allie mit einem Augendrehen, als ob sehr viel Nachsicht dazu gehörte, das jemandem zu verzeihen.
„In Kalifornien ist eine meiner besten Freundinnen Mexikanerin“, erfinde ich und genieße mit unschuldigem Blick, wie Danny die Gabel beiseite legt.
„Aber deine beste Freundin war doch Sandra?“, fragt Mom irritiert, doch es spielt keine Rolle mehr. Danny lehnt sich zurück und mustert mich kauend, als ob er mir sagen wollte, dass er mich durchschaut hat. Ich bekomme eine Gänsehaut auf den Armen bei der Erkenntnis, dass er mir wahrscheinlich gerade den Krieg erklärt. Wie kann man nur so aggressiv sein?
Die Anderen am Tisch scheinen davon nichts zu bemerken, Mom erzählt mir stolz, dass Danny sie überredet hat, auch Reiten zu lernen. Dabei tätschelt sie seinen Arm, der von hier so hart wie Stein aussieht.
„Prima Mom!“, freue ich mich. „Dann können wir ja bald zusammen lange Ausritte in der Prärie unternehmen!“
Sie lächelt, aber Danny fährt dazwischen. „Die Pferde sind hier zum Arbeiten da. Aber in Goldvalley reitet man wahrscheinlich nur in der Halle und auf grünen Turnierplätzen.“
Weil ich nicht weiß, was ich sagen soll, gebe ich mir Mühe, das Lächeln auf meinen Zügen einzufrieren. Wenn er eine Maske trägt, dann kann ich das auch.
Oliver hat sich die ganze Zeit zurückgehalten. Erst jetzt schiebt er seinen Stuhl zurück und sagt zu seiner Frau: „Es hat geschmeckt Schatz, wie immer.“
Danny scheint das zu ärgern, aber ich begegne seinem Blick zuckersüß. Aus Pflichtgefühl helfe ich Allie noch beim Abräumen, während er gar nicht schnell genug mit meiner Mom verschwinden kann. Ich höre sie auf dem Flur kichern, dann schlägt die Tür zu.
Ich schüttele die Bilder aus meinem Kopf, aber sie verschwinden erst, als ich mich ganz auf die Sortierung des Geschirrs konzentriere.
„Meine Güte“, bemerkt Allie, „du bist ja vielleicht ordentlich, Piper!“
Dann fällt ihr auf, dass sie noch gar keine Gelegenheit hatte, mir mein Zimmer zu zeigen; und sie strahlt so stolz, als hätte sie sich mit den Männern darum schlagen müssen, diese Ehre zu übernehmen.
Sie nimmt tatsächlich meine Hand und führt mich die Treppe hinauf – oben muss ich auch noch meine Augen schließen!
„Trommelwirbel!“, sagt sie überschwänglich. „Du wirst begeistert sein!“ Sie drückt die Tür auf und zieht mich hinein, sodass ich beinahe über die Schwelle stürze. Aber Allie ist so voller Erwartung, dass sie es nicht mitbekommt. „Tadaaa!“, ruft sie mir ins Ohr. „Was sagst du?“
Ich nehme mir einen Moment Zeit und suche nach diplomatischen Worten. Ich stelle mir vor, was die Leute an meiner alten High School sagen würden, wenn sie das hier sehen könnten. Piper? Das ist doch das Mädchen, das in Pferdebettwäsche schläft ... Irgendwie muss ich darüber grinsen. Die Tapetenpferde an den Wänden grinsen zurück, während sie versuchen, sich einen Weg durch die vielen Poster zu bahnen, die eigens für mich aufgehängt wurden. Und über allem baumelt der Schriftzug: Willkommen in deinem neuen Zuhause!
Ich beiße mir auf die Lippen, als mir endgültig klar wird, dass ich nun nicht mehr zurück kann. Unter dem Fenster stehen die Kartons, die der Möbelwagen gebracht hat.
„Vielen Dank für die Mühe“, sage ich leise, aber ich meine es ehrlich.
Allie drückt mich an sich. „Ich freue mich so, dass es dir gefällt! Du wirst dich bestimmt schnell einleben!“
Ich tue ihr den Gefallen, zu nicken, aber als sie verschwunden ist, sinke ich deprimiert auf das Bett. Ich stütze den Kopf in meine Hände und atme tief durch. Einen Moment später springe ich auf und packe die Kartons aus. Am besten gar nicht erst ins Grübeln kommen, Piper.
Ich nehme mir zuerst das Bücherregal über meinem Bett vor und stelle fest, dass Fury und Black Beauty ausgezeichnet hierher passen. Dann entdecke ich, wie ein plüschiges Ohr aus einer Kiste ragt, und ziehe sanft daran, bis ich Lucky Luke in Händen halte, das Pony, das mir Mom zum Schulanfang geschenkt hat. Fast zärtlich streiche ich ihm die verfilzte Mähne zurück und seufze.
„Mein Gott, Lucky ... Wo sind wir denn hier nur gelandet?“
„Gillian!“, ruft mein Bruder durch das ganze Haus. „Kann ich fernsehen?“
Ich rolle mit den Augen, obwohl er es nicht sehen kann. Zum Glück ist Kevin aus dem Alter raus, als er noch eine Gute-Nacht-Geschichte hören wollte. Aber ehrlich, so ein Abend allein mit kleinem Bruder kann einen schon ganz schön fertig machen! Warum haben wir bloß kein Kindermädchen, so wie die amerikanischen Familien im Film?
Aber Gott sei Dank gehen meine Eltern ja nicht jeden Tag essen. Apropos essen, jetzt brauch ich erst mal was zwischen die Zähne. Also runter in die Küche.
Ich schiebe eine Pizza in die Mikrowelle. Fünf Minuten, schreit die blinkende Anzeige – mein Magen protestiert. Während ich warte, beschließe ich, meine Freundin Sophy anzurufen, sie hat mir auf der letzten Party irgendwie Sorgen gemacht.
Sophy ist eigentlich wahnsinnig hübsch, mit ihrem schwarzen Haar und den blauen Augen. Wenn sie nur nicht immer so ernst gucken und so düstere Sachen erzählen würde ... Ich bin mir sicher, wäre sie etwas freundlicher, könnte sie jeden Typen haben. Aber so bleibt uns einfachen Menschen wenigstens auch noch eine Chance. Na ja, so ganz stimmt das ja nicht ...
Und eigentlich bin ich mit meinem Aussehen auch ganz zufrieden. Während ich im Flur Sophys Nummer hervorkrame, blicke ich den Spiegel. Alle beneiden mich immer für meine blonden Locken, also lasse ich sie wachsen und trage sie meistens offen. Und meine Augen sind viel dunkler als die von Kevin, aber das liegt daran, dass wir nicht richtig verwandt sind.
Als Sophy den Hörer abhebt, frage ich sie sofort nach seltsamen Vorkommnissen.
„Irgendwelche Geister, Vampire oder Werwölfe in letzter Zeit?“
Ich spüre sogar durch die Leitung, wie sich ihr Blick verfinstert.
„Nein“, sagt sie, „aber du hast dich mit Joice getroffen, nicht wahr?“
Ich halte einen Moment inne und betrachte mich wieder im Spiegel. Joice ... Ich schwärme für ihn seit ich ihn das erste Mal gesehen habe. Es ist sein Blick, der mich immer in seinen Bann zieht. Seine Augen sind eisblau. Und wenn ich ihn sehe, kommt es mir vor, als könnte er meine Gedanken erraten – dabei dachte ich immer, ich wäre die einzige, die das kann ...
„Lass lieber die Finger von ihm, Gillian, er ist mir nicht geheuer.“
„Ach was!“ Ich winke ab und versuche, entschlossener zu klingen. „Ich habe ihn heute zu meinem Geburtstag eingeladen – hey, du kommst doch auch, oder?“
Ich höre, wie sie mit den Zähnen knirscht.
Im selben Moment piept die Mikrowelle, und ich sage: „Ich muss Schluss machen, meine Pizza ruft! Aber du kommst vorbei, versprochen? Und halte mich auf dem Laufenden, wenn du etwas bemerkst!“
Sie brummelt etwas Unverständliches und legt auf.
Ich nehme meine Pizza heraus und gehe zufrieden wieder nach oben. Auf der Treppe begegne ich Kevin, barfuß auf dem Weg zum Fernseher.
„Ab ins Bett, junger Mann!“, kommandiere ich und nach einer kurzen Diskussion gelingt es mir endlich, einen Kompromiss bei einem Glas Milch und noch ein bisschen Musikhören zu finden. Ich hab ihn eigentlich ganz gut erzogen, meinen kleinen Bruder!
In meinem Zimmer schließe ich die Tür und stelle den Teller auf den Teppich. Ich hole den roten Kristall, der auf meinem Nachttisch steht, und kauere mich auf den Boden. Auch wenn er etwas enttäuschend ist, muss ich den Status sofort weitergeben: Immer noch keine Entdeckungen.
„Gillian!“, Kevin steht in der Tür, in der Hand sein Milchglas. „Du musst mir nochmal helfen! – Spielst du schon wieder mit deinem Diamant?“
Genervt verdrehe ich die Augen. „Das ist doch ein roter Stein, Kevin, Diamanten sind durchsichtig! Und wenn wir so einen großen Diamanten hätten, müssten Mom und Dad wahrscheinlich nicht mehr arbeiten .