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Mit dem Bergpfarrer Sebastian Trenker hat der bekannte Heimatromanautor Toni Waidacher einen wahrhaft unverwechselbaren Charakter geschaffen. Sein größtes Lebenswerk ist die Romanserie, die er geschaffen hat. Seit Jahrzehnten entwickelt er die Romanfigur, die ihm ans Herz gewachsen ist, kontinuierlich weiter. "Der Bergpfarrer" wurde nicht von ungefähr in zwei erfolgreichen TV-Spielfilmen im ZDF zur Hauptsendezeit ausgestrahlt mit jeweils 6 Millionen erreichten Zuschauern. Wundervolle, Familienromane die die Herzen aller höherschlagen lassen. Die Geschichte, die ich Ihnen, liebe Leser, heute erzähle, könnte auch den Titel 'Das Aschenbrödel von St. Johann' tragen. Es ist die Geschichte der dreiundzwanzigjährigen Angela Kiendl, die ihrer Mutter vor drei Jahren am Totenbett geschworen hatte, immer für ihren Vater und den fünf Jahre jüngeren Bruder da zu sein. Angelas Vater, ein griesgrämiger, verbitterter Landwirt, der sich vom Schicksal ungerecht behandelt fühlt, pocht unerbittlich darauf, dass Angela das Versprechen, das sie ihrer sterbenden Mutter gab, erfüllt, und zwar vierundzwanzig Stunden am Tag, sieben Tage in der Woche. Während ihre Freundinnen und ehemaligen Schulkameraden ihre Jugend genießen, werkelt sie von früh bis spät, hält den Haushalt in Ordnung und kümmert sich um mehr als vier Dutzend Kühe. Doch dann verliebt sich Angela. Und die Probleme sind vorprogrammiert. Oder wendet sich doch alles zum Besseren? Im Wachnertal war der Frühling eingekehrt. Auf den Wiesen blühten der Löwenzahn, das Wiesen-Schaumkraut und der Klee, Bäume und Büsche zeigten zartes Grün, in den Gärten verging die Kirschblüte und die Knospen der Rhododendren begannen aufzuspringen. Oben, auf den Gipfeln des Hochgebirges, lag noch der Schnee. In den Schattenfeldern würde er sogar der Sommersonne widerstehen. Die Bauern hatten ihre Felder bestellt, Rüben und Kartoffeln begannen auszutreiben, das Wintergetreide bedeckte mit seinem dunklen, satten Grün weite Ackerflächen. Ein Tag, der viel Sonnenschein versprach, war angebrochen. Angela Kiendl war seit halb fünf Uhr auf den Beinen, hatte die Kühe gemolken und gefüttert, den Stall sauber gemacht und das Frühstück für die Ihren vorbereitet. Jetzt war es sieben Uhr, und die kleine Familie saß am Frühstückstisch. Bernhard Kiendl, der Bauer, schaute, wie jeden Morgen, verdrossen drein. Schweigend aß er das Stück Butterbrot mit Marmeladeaufstrich, in kleinen Schlucken, geradezu schlürfend, trank er seinen Kaffee, in den er viel Milch und Zucker gerührt hatte. Benjamin, Angelas achtzehnjähriger Bruder, besuchte das Gymnasium in Garmisch und beeilte sich, um rechtzeitig zum Bus zu gelangen, der ihn und einige andere Schüler aus den drei Gemeinden des Wachnertals, die weiterbildende Schulen besuchten, nach Garmisch brachte. Das Schweigen am Frühstückstisch auf dem Kiendlhof empfand Angela schon lange nicht mehr als bedrückend oder unangenehm.
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Seitenzahl: 136
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Die Geschichte, die ich Ihnen, liebe Leser, heute erzähle, könnte auch den Titel ‚Das Aschenbrödel von St. Johann’ tragen. Es ist die Geschichte der dreiundzwanzigjährigen Angela Kiendl, die ihrer Mutter vor drei Jahren am Totenbett geschworen hatte, immer für ihren Vater und den fünf Jahre jüngeren Bruder da zu sein.
Angelas Vater, ein griesgrämiger, verbitterter Landwirt, der sich vom Schicksal ungerecht behandelt fühlt, pocht unerbittlich darauf, dass Angela das Versprechen, das sie ihrer sterbenden Mutter gab, erfüllt, und zwar vierundzwanzig Stunden am Tag, sieben Tage in der Woche. Während ihre Freundinnen und ehemaligen Schulkameraden ihre Jugend genießen, werkelt sie von früh bis spät, hält den Haushalt in Ordnung und kümmert sich um mehr als vier Dutzend Kühe.
Doch dann verliebt sich Angela. Und die Probleme sind vorprogrammiert. Oder wendet sich doch alles zum Besseren?
Im Wachnertal war der Frühling eingekehrt. Auf den Wiesen blühten der Löwenzahn, das Wiesen-Schaumkraut und der Klee, Bäume und Büsche zeigten zartes Grün, in den Gärten verging die Kirschblüte und die Knospen der Rhododendren begannen aufzuspringen. Oben, auf den Gipfeln des Hochgebirges, lag noch der Schnee. In den Schattenfeldern würde er sogar der Sommersonne widerstehen.
Die Bauern hatten ihre Felder bestellt, Rüben und Kartoffeln begannen auszutreiben, das Wintergetreide bedeckte mit seinem dunklen, satten Grün weite Ackerflächen.
Ein Tag, der viel Sonnenschein versprach, war angebrochen.
Angela Kiendl war seit halb fünf Uhr auf den Beinen, hatte die Kühe gemolken und gefüttert, den Stall sauber gemacht und das Frühstück für die Ihren vorbereitet. Jetzt war es sieben Uhr, und die kleine Familie saß am Frühstückstisch. Bernhard Kiendl, der Bauer, schaute, wie jeden Morgen, verdrossen drein. Schweigend aß er das Stück Butterbrot mit Marmeladeaufstrich, in kleinen Schlucken, geradezu schlürfend, trank er seinen Kaffee, in den er viel Milch und Zucker gerührt hatte.
Benjamin, Angelas achtzehnjähriger Bruder, besuchte das Gymnasium in Garmisch und beeilte sich, um rechtzeitig zum Bus zu gelangen, der ihn und einige andere Schüler aus den drei Gemeinden des Wachnertals, die weiterbildende Schulen besuchten, nach Garmisch brachte.
Das Schweigen am Frühstückstisch auf dem Kiendlhof empfand Angela schon lange nicht mehr als bedrückend oder unangenehm. Es war zur Gewohnheit geworden. Jetzt aber brach es Benjamin, nachdem er den letzten Schluck Kaffee getrunken hatte:
»Ich verschwinde. Der Schulbus wartet net.« Mit dem letzten Wort stemmte er sich am Tisch in die Höhe. An seine Schwester gewandt, endete er: »Ich komm’ um die gleiche Zeit wie jeden Tag heim, Angela.«
Benjamin eilte zur Tür.
»Trödel mit dem Mittagessen net zu lang herum!«, rief ihm sein Vater hinterher. »Ich brauch’ dich im Wald.«
»Ja, ja, ist schon gut, Papa«, erwiderte Benjamin, ohne seinen
Vater anzuschauen. Er warf lediglich seiner Schwester einen genervten Blick zu und verdrehte die Augen. Draußen im Flur schnappte er sich die alte Aktentasche mit seinen Schulsachen, deren Leder schon recht mitgenommen und brüchig war, und verließ das Haus. Er atmete auf. Mit Angela kam er gut zurecht. In der Gegenwart seines Vaters war die Atmosphäre dagegen immer angespannt und bereitete Unbehagen.
In der Küche erhob sich jetzt der Bauer. »Ich fahr’ ins Holz und schneid’ kaputte Bäume heraus«, gab er zu verstehen. »Du kannst, wenn du hier im Haus fertig bist, auf den Friedhof gehen und das Grab ein bissel richten. Gegen sechs Uhr komm’ ich wieder nach Hause. Dann steht ein vernünftiges Essen auf dem Tisch, verstanden? Sollt’ der Benjamin, nachdem er von der Schule heimgekommen ist, recht herumtrödeln, dann tret’ ihn ins Kreuz. Im Wald wartet eine Menge Arbeit auf ihn. Irgendwelche Fragen?«
»Die Lena hat mit mir gestern Abend telefoniert«, sagte Angela. Sie sprach fast zaghaft, mit dünner, unsicherer Stimme. »Sie möcht’, dass ich am Samstagabend mit ihr und ein paar Freunden nach Garmisch fahr’.«
»Was willst du denn in Garmisch?«, erkundigte sich Bernhard brummig. Seine Brauen hatten sich zusammengeschoben.
»Wir wollen einen Heimatabend besuchen, ein bissel Tanzen und alle fünfe gerade sein lassen. Der Winter war lang und …«
Eine wegwerfende Handbewegung ihres Vaters ließ Angela verstummen. »Tanzen! Alle fünfe gerade sein lassen!«, stieß er geradezu verächtlich hervor. »Bei dir geht’s wohl langsam los, Tochter. Ich denk’, du hast hier auf dem Hof genug Arbeit, um ausgelastet zu sein. Wenn du am Samstag die halbe Nacht auf dem Tanzboden herumhopst, bist du am Sonntag kaum einsatzfähig. Aber die Kühe wollen auch am Sonntag versorgt werden, und net nur die Kühe. Auch ich, Tochter, und der Benjamin. Der Haushalt muss auch am Sonntag in Ordnung gehalten werden.«
Angela duckte sich ein wenig, als hätte ihr Vater nach ihr geschlagen. Ihre Augen begannen unruhig zu flackern. »Ist ja schon gut, Papa«, murmelte sie. »Ich sag’ der Lena ab.«
»Das rate ich dir«, knurrte Bernhard unwirsch. »Wir auf dem Kiendlhof haben keine Zeit für solchen Firlefanz. Bei uns heißt’s ranklotzen. Und jeder muss mitmachen. Wer versucht, aus der Reihe zu tanzen, kriegt ein Problem, und zwar mit mir. Ich denk’, wir verstehen uns, Madel.«
»Natürlich, Papa. Gib auf dich acht im Wald. Die Arbeit ist net ungefährlich. Ruf’ von Zeit zu Zeit mal an, damit ich mir keine Sorgen machen muss.«
»So viel Fürsorge lob’ ich mir«, versetzte der Bauer. »Aber du kannst beruhigt sein, Madel, ich bin immer vorsichtig und darauf bedacht, dass alles seinen geregelten Gang geht. Was der Hof heut’ ist, hab’ ich aus ihm gemacht. Wenn ich nimmer könnt’, wenn ich vielleicht gar nimmer da wär’, wär’s schlecht um das Anwesen bestellt. Der Benjamin fühlt sich zu Höherem berufen, und bei dir bin ich mir auch net sicher, ob du in meine Fußtapfen treten würdest. Du hast immer noch viel zu viele andere Dinge im Kopf. Ich käm’ nie auf die Idee, am Samstagabend zum Tanzen nach Garmisch fahren zu wollen.«
»Es ist halt, weil ich …«
»Es ist, weil dir die Lena lauter Flausen in den Kopf setzt«, schnitt Bernhard seiner Tochter schroff das Wort ab. »Mir wär’s lieber, du würdest dich net so sehr nach ihr richten. Sie lebt in den Tag hinein und macht sich keine Gedanken, was morgen oder übermorgen ist. Aber es ist halt mal so, dass der Apfel net weit vom Stamm fällt. Ihre Leut’ haben ihr Leben lang von der Hand in den Mund gelebt. So ein Leben möcht’ ich net geschenkt. Das sind Hungerleider, und schuld sind s’ selber, weil s’ nix aus sich gemacht haben. – Hör’ auf mich, Madel, und du tust gut dran. Tust du’s net, wirst du schon sehen, was dabei herauskommt. – Ich fahr’ jetzt. Wie gesagt, geh’ auf den Friedhof und richt’ das Grab. Und koch’ mir abends ein vernünftiges Essen.«
Mit schweren Schritten verließ er die Küche. Draußen im Flur verklangen sie, dann klappte die Haustür. Angela ging zum Fenster und beobachtete, wie ihr Vater den Traktor aus der Garage holte. Wenig später fuhr er vom Hof. Angela seufzte, ging vom Fenster weg und nahm ihr Smartphone, das auf einer Anrichte lag, holte eine Nummer aus dem digitalen Telefonbuch und stellte die Verbindung her.
Eine helle Stimme erklang: »Grüaß di, Angie. Ich hoff’, du sagst mir jetzt gleich, dass du am Samstag mit uns nach Garmisch fährst.«
»Tut mir leid, Lena, aber der Papa ist gleich wieder ausgeflippt, als ich es ihm gesagt hab’. Du kennst ihn ja.« Angelas Stimme klang traurig.
»Viel zu gut«, stieß Lena Nordgauer, Angelas beste Freundin, fast ein bisschen aggressiv hervor. »Wahrscheinlich gibt’s keine schlimmere Zwiderwurzn als deinen alten Herrn. Warum stellst du dich net mal auf die Hinterfüß’ und setzt deinen Willen durch? Du bist doch net seine Sklavin.«
»Ich will keinen Streit«, erklärte Angela. »Hier, auf dem Hof, gilt sein Wort. Wenn ich net tu’, was er sagt, gibt’s Ärger.«
»Ich würd’s drauf ankommen lassen, Angie«, sagte Lena. »Aber du bist ein richtiges Schaf, das zu allem, was von deinem Vater kommt, Ja und Amen sagt. Das ist doch kein Leben. Irgendwann bist du eine alte, verbitterte Jungfer, die anderen keine Freud’ gönnt.«
»Wenn ich mich gegen ihn auflehn’, muss ich damit rechnen, dass er mich vom Hof jagt«, erwiderte Angela. »Ich hab’ niemand, zu dem ich gehen könnt’. Nein, darauf lass’ ich es net ankommen, Lena. Lieber bin ich irgendwann mal eine alte, verbitterte Jungfer.«
»Wem net zu raten ist, dem ist auch net zu helfen«, erklärte die Freundin ergeben. »Okay, ich hab’s zur Kenntnis genommen. Solltest du es dir anders überlegen, kannst du mir ja Bescheid sagen.«
»Tut mir leid, Lena. Ich wünsch’ dir viel Spaß bei dem Heimatabend, und natürlich auch den anderen. Servus.«
»Pfüat di, Angela.«
*
Angela machte die Betten, räumte in der Küche auf, schaute nach den Kühen und fuhr dann mit dem Fahrrad in den Ort. Sie musste gut fünf Minuten lang radeln, denn der Kiendlhof lag fast anderthalb Kilometer außerhalb St. Johanns inmitten der Felder, Äcker und Wiesen, die zu dem landwirtschaftlichen Anwesen gehörten.
Die Maiensonne hatte den halben Weg zum Zenit zurückgelegt, die Schatten wurden immer kürzer, die Wärme nahm zu. Die Gipfel der Berge glänzten regelrecht im grellen Sonnenlicht, als würden sie von einem Strahler angeleuchtet. Hoch über ihnen spannte sich blau der Himmel. In den Bäumen und Büschen zwitscherten Vögel, über den Wiesen flatterten Schmetterlinge, um die Blüten summten Bienen herum und sammelten eifrig Pollen und Nektar.
Ein tiefer Friede lag über dem gesamten Tal.
Während sie in die Pedale trat, dachte Angela über ihr Leben nach. Manchmal schmerzte es sie sehr, dass sie ihre Jugend nicht genauso genießen konnte wie zum Beispiel ihre Freundin Lena. Lena arbeitete in der Gastronomie, bezog während der Wintermonate Arbeitslosengeld, war keinem Menschen Rechenschaft schuldig und tat, was ihr gerade gefiel. Obwohl ihre Eltern auch in St. Johann lebten, hatte sie eine eigene kleine Wohnung gemietet. 'Alt und Jung gehören net zusammen' war Lenas Devise. Dabei verstand sie sich sehr, sehr gut mit ihren Eltern.
Sie, Angela, hatte dagegen die Rolle ihrer Mutter auf dem Anwesen übernommen. Seit deren Tod war ihr Vater nicht mehr der, der er einmal war. Er haderte mit Gott und der Welt, hatte sich abgekapselt und war nur noch bemüht, nichts an sich und was er sein Eigen nannte heranzulassen. Dazu gehörten auch sie, Angela, und Benjamin, ihr jüngerer Bruder. Ja, er behandelte sie wie sein Eigentum, wie seine Leibeigenen.
Leider war sie nicht couragiert genug, das zu ändern und ihrem Vater Paroli zu bieten. Angela war vielmehr fest davon überzeugt, dass er sie im Falle von Ungehorsam vom Hof jagen würde. Ihr Vater hatte es zwar nie angedroht, dennoch hatte sie Angst davor, und daher kuschte sie.
In gewisser Weise hatte sie sich sogar damit abgefunden, dass sie auf vieles verzichten musste. Ohne zu murren arbeitete sie von früh bis spät, ohne sich zu beschweren, beugte sie sich der Autorität ihres Vaters. Sie wusste, dass das Leben an ihr vorbeilief, doch sie akzeptierte es.
Der Ort rüstete sich für die Saison. Vor den Eisdielen und Cafés sowie Snackbars und Biergärten hatten die Inhaber Tische und Stühle aufgestellt. Auf Tafeln, die an Laternen oder Bäumen lehnten, priesen sie ihre Sonderangebote an. Irgendwann in nächster Zeit würde auch die Badesaison am Achsteinsee beginnen. Ihr, Angelas Leben, bestand dagegen aus Arbeit. Von den Vergnügungen, die die Urlauber hier genossen, bekam sie so gut wie nichts mit.
Sie erreichte den Kirchplatz mit den alten Kastanien- und Lindenbäumen, der mit einer hohen Mauer, durch die ein Portal führte, vom Friedhof abgegrenzt war. Sie stellte bei dem Portal ihr Fahrrad ab und betrat den Friedhof. Ihr Blick schweifte über die Grabreihen mit den kunstvoll geschnitzten oder geschmiedeten Kreuzen hinweg. Der Blumenschmuck auf den Gräbern selbst stellte eine wahre Farbenpracht dar.
Auf der Grabstätte ihrer Mutter standen zwei winterharte Stauden zu beiden Seiten des Grabkreuzes, der Rest war mit Stiefmütterchen und Hornveilchen sowie Narzissen und Tulpen bepflanzt. Tulpen und Narzissen waren verblüht, und zwischen den Blumen hatte Unkraut zu wuchern begonnen. Angela zog die Zwiebeln der Narzissen und Tulpen aus dem Boden. Sie würde sie mit nach Hause nehmen und trocknen, um sie im Herbst wieder in den Boden zu stecken. Sie jätete auch das Unkraut und trug es zum Grünabfall. Zurück am Grab sprach sie ein Gebet und dachte: Ich werd’ ein paar Beetblumen kaufen und einpflanzen. Vielleicht auch einen Bodendecker. So verhindere ich vielleicht, dass sich wieder so viel Unkraut bildet.
Sie wollte sich abwenden, als sie angesprochen wurde: »Habe die Ehre, Angela. Du hast wohl das Grab deiner Mama – Gott hab’ sie selig – gerichtet.«
Es war Pfarrer Trenker, der freundlich lächelnd vor Angela stand und sie wohlwollend ansah.
»Grüaß Ihnen Gott, Hochwürden«, erwiderte Angela seinen Gruß. »Ja, man muss ständig dahinterher sein. Das Unkraut wächst unglaublich schnell. Alle drei Tage zupf’ ich es aus der Erde. Es ist eine Aufgabe ohne Ende.«
»Vielleicht hättet ihr net so einen fetten Boden für das Grab nehmen sollen«, versetzte Sebastian. »Oder bedeck’ den Humus einfach mit einer dicken Lage Rindenmulch.«
»Ich hab’ mir vorgestellt, dass ich die freien Stellen mit Bodendeckern und Sommerblumen bepflanz’«, erwiderte Angela. »Im Endeffekt spielt’s aber keine Rolle, weil ich ja eh fast jeden zweiten oder dritten Tag herkomm’, um für die Mama ein Gebet zu sprechen. Sie ist uns viel zu früh genommen worden und fehlt an allen Ecken und Enden.«
»Das glaub’ ich dir gern, Madel«, erklärte der Bergpfarrer. »Gerade mal siebenundvierzig ist sie geworden, die Betty. Das ist kein Alter, um zu sterben. Aber der Tod fragt halt net danach. Wie geht’s denn allweil so bei euch daheim. Den Bernhard seh’ ich überhaupt nimmer, deinen Bruder ganz selten. Kämst du net jeden Sonntagmorgen zur Messe, hätt’ ich wahrscheinlich schon vergessen, dass es euch vom Kiendlhof überhaupt noch gibt.«
Die letzten Worte des Pfarrers wurden von einem verschmitzten Lächeln begleitet.
»Seit die Mama nimmer ist«, antwortete Angela, »hat sich der Papa mehr und mehr zurückgezogen. Er gibt sich mit keinem Menschen mehr ab, kennt nur noch den Hof und seine Arbeit und hat keine Freud’ mehr am Leben.«
»Der Bernhard ist doch auch noch net so alt«, murmelte Sebastian. »Anfang fünfzig, wenn ich mich recht erinnere. In dem Alter hat man doch noch einen Gutteil des Lebens vor sich.«
»Er ist zweiundfünfzig«, sagte Angela. »Es ist ja net so, Hochwürden, dass er resigniert hätt’, er ist auch net depressiv – zumindest noch net. Ich würd’s als ständig schlecht gelaunt bezeichnen. Anfangs, gleich nachdem die Mama gestorben ist, hat er wenigstens noch lamentiert und geklagt, dass ihm nix, aber auch gar nix erspart bleibt. Er hat immer wieder die Frage gestellt, was er verbrochen hat, weil ihn das Schicksal so hart straft. Irgendwann ist er ganz still geworden. Wenn er den Mund aufmacht, dann nur, um mir und dem Benjamin irgendwelche Anweisungen zu geben, oder mit uns zu schimpfen, weil wir ihm irgendwas net recht gemacht haben.«
Während Angela sprach und sich etwas von ihrem Kummer von der Seele redete, war Sebastians Miene ernst geworden. »Was du mir da erzählst, gefällt mir ja gar net, Madel«, murmelte er. »Das hört sich ja grad so an, als hätt’ sich der Bernhard in einen wahren Haustyrannen verwandelt.«
»Meine Freundin, die Nordgauer-Lena, hat ihn als eine schlimme Zwiderwurzn bezeichnet. Einerseits kann einem der Papa ja leid tun, denn er hat außer mir und dem Benjamin keinen Menschen mehr auf der Welt, dem er sein Herz ausschütten könnt’. Uns aber erzählt er auch net, was ihn so bedrückt oder vielleicht sogar quält. Vielleicht will er uns damit net belasten, vielleicht denkt er auch, dass uns sein Kummer und seine Sorgen nix angehen. Ich schließ’ aber auch net aus, dass er mit gar niemand drüber reden will. Er frisst’s einfach in sich hinein, und das ist der Grund für seine ständige schlechte Laune.«
»Soll ich eventuell mal zu euch hinauskommen und versuchen, mit ihm ein Gespräch zu führen?«, fragte Sebastian. »Euer Zusammenleben ist, wie du es mir eben geschildert hast, doch kein tragbarer Zustand.«
»Bitte net, Hochwürden. Er würd’ mich allenfalls anraunzen und fragen, wie ich dazu komm’, mit Ihnen über die Zuständ’ auf dem Kiendlhof zu reden. Ich will’s Ihnen mit wenigen Worten beschreiben, Hochwürden, wie’s bei uns zugeht: Der Papa bestimmt, der Benjamin und ich tanzen nach seiner Pfeife. Widerrede wird net geduldet, ebenso wenig wie eigenmächtiges Handeln. Papas Wort ist Gesetz. Wer sich net danach richtet, hat ein Problem.«