24,99 €
»Kaum ein anderer Denker veranschaulicht die Widersprüche des heutigen Kapitalismus besser als Slavoj Žižek.« New York Review of Books Das heutige Leben ist vom Überfluss geprägt. Es muss immer mehr sein, nie ist es genug. Lacan hat jedoch gezeigt, dass wir immer einen Überschuss an dem benötigen, was wir brauchen: Sonst können wir das, was wir haben, nicht genießen. Mit dieser Gedankenfigur, die Žižek mit Marx' »Mehrwert« und Freuds »Lustgewinn« zusammendenkt, analysiert der Meisterdenker aus Slowenien die Paradoxien der gegenwärtigen politischen Lage. Unter anderem anhand von Hollywood-Filmen wie der »Joker«, Thomas von Aquin, der Corona-Pandemie und den Zwängen der »Cancel Culture« zeigt Žižek, dass wir vielleicht einen Ausweg aus unserer verzwickten Lage finden, wenn wir nur erkennen, dass der Gewinn, den die »Mehrlust« verspricht, substanz- und nutzlos ist. »Žižek ist der Philosoph, der den richtigen Leuten auf die Nerven geht.« The Spectator
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 741
Slavoj Žižek
Ein Leitfaden für die Nichtverwirrten
Mehrlust: Mit dieser Verbindung aus Marx‘ »Mehrwert« und Freuds »Lustgewinn« untersucht Slavoj Žižek die aktuellen politischen und kulturellen Probleme: von der viel diskutierten »Cancel Culture« über die Geschlechterbinarität bis zur Querness, von den jüngsten Spielarten des Kapitalismus über konservativen Kommunismus bis zu COVID-19, von Serien wie »Vikings« über Martin Luther bis Antigone versucht Žižek, den Irrsinn unserer sozialen Wirklichkeit zu dechiffrieren.
»Žižek ist der Philosoph, der den richtigen Leuten auf die Nerven geht.« The Spectator
Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de
Slavoj Žižek, geboren 1949, ist Philosoph, Psychoanalytiker und Kulturkritiker. Er lehrt Philosophie an der Universität von Ljubljana in Slowenien und an der European Graduate School in Saas-Fee und ist derzeit International Director am Birkbeck Institute for the Humanities in London. Seine zahlreichen Bücher sind in über 20 Sprachen übersetzt. Im S. Fischer Verlag sind zuletzt erschienen »Hegel im verdrahteten Gehirn« (2020), »Wie ein Dieb im Tageslicht. Macht im Zeitalter des posthumanen Kapitalismus« (2019), »Mut zur Hoffnungslosigkeit« (2018) sowie »Absoluter Gegenstoß. Versuch einer Neubegründung des dialektischen Materialismus« (2016).
»Kaum ein anderer Denker veranschaulicht die Widersprüche des heutigen Kapitalismus besser als Slavoj Žižek.« New York Review of Books
Vom Leben in einer verkehrten Welt
Von der Katastrophe zur Apokalypse … und zurück
Ein unerwarteter Lustgewinn
2 + a
»Viel Glück, Mr. Hegel!«
1 Wo ist der Riss? Marx, Kapitalismus und Ökologie
Neokonservativer Kommunismus
Hegel in der Kritik der politischen Ökonomie
Wirkliches Leben gegen substanzlose Subjektivität
Ökoproletarier und die Grenzen der Verwertung
Kein Kapitalismus – und kein Weg aus ihm heraus – ohne die Wissenschaft
Ist abstrakte Arbeit universell?
Die oder der Arbeiter?
Fiktion und/in der Realität
Das emanzipatorische Potenzial des kapitalistischen Irrsinns
Ökologie mit Entfremdung
Der letzte Ausweg für den Kommunismus
2 Eine nicht binäre Differenz? Psychoanalyse, Politik und Philosophie
Kritik der Kritik
»Sie sind beide schlimmer!«
Eine Kritik lacanianischer Ideologie
Eine (böswillige) politische Neutralität des Analytikers
Die Grenzen der Historisierung
Die Formeln der Sexuierung
Die Launen der Wahrheit
Trans vs. Cis
Die Geschlechterdifferenz ist nicht binär
Von der speziellen zur allgemeinen Queernesstheorie
Warum es keine wahre Liebe ohne Verrat gibt
Kurc te gleda … Durch Lubitschs looking glass
3 Mehrlust oder warum wir unsere Unterdrückung genießen
Vikings, Solaris, Katla: Der große Andere und seine Wechselfälle
Die Geburt des Über-Ich aus dem Bruch des Gesetzes
Von der Autorität zur Freizügigkeit … und zurück
Keine Freiheit ohne Unmöglichkeit
Repression, Unterdrückung, Depression
Was ist Mehrlust also?
Entfremdung genießen
Martin Luther als eine Figur des Film noir
Ein Begehren, keine Mutter zu haben
Subjektive Destitution als politische Kategorie
Die zwei Enden der Philosophie
Der Mensch als katastrophé
»Wir müssen leben, bis wir sterben«
Vom Sein zum Tode zum Untotsein
Revolutionäre Selbstdestitution …
… gegen religiösen Fundamentalismus
»Les non-dupes errent«
Lämmer zur Schlachtbank
Die zwei Seiten des Anachronismus
Destruktiver Nihilismus
Die Wiederkehr der verschwindenden Vermittler
Namens- und Sachregister
Ouvertüre:
In der Phänomenologie des Geistes verwendet Hegel den Ausdruck »die verkehrte Welt«, um den Irrsinn der sozialen Wirklichkeit seiner Zeit zu bezeichnen. Im Englischen wird der Ausdruck üblicherweise mit topsy-turvy world übersetzt und das Online-Wörterbuch www.yourdictionary.com erklärt dazu: »Ein Beispiel für topsy-turvy ist, wenn ein sorgfältig vorbereiteter Plan in letzter Minute über den Haufen geworfen wird, so dass alle wild durcheinander rennen, ohne zu wissen, wo es lang geht.«[1] Ist dieser Wörterbucheintrag zu topsy-turvey nicht die perfekte Zusammenfassung der grundlegenden Umkehrung in einem Hegel’schen dialektischen Prozess, in dessen Verlauf sich selbst die besten Vorhaben in ihr Gegenteil verkehren – ein Traum von Freiheit in die Schreckensherrschaft, Moral in Heuchelei, übermäßiger Reichtum in die Armut der Mehrheit? Thomas Rogers schrieb 1576 in seinem Werk A Philosophicall Discourse, entituled, The Anatomie of the Minde: »Teuflisch ist es, eine Stadt zu zerstören, aber mehr als teuflisch, Städte umzustürzen, Länder zu verraten, Diener dazu zu bringen, ihre Herren umzubringen, Eltern ihre Kinder, Kinder ihre Eltern, Ehefrauen ihre Männer und alles auf den Kopf zu stellen [to turn all things topsy turvy].«[2] Drei elementare Herrschaftsbeziehungen werden hier umgekehrt oder vielmehr umgestülpt (Herren über Diener, Eltern über Kinder, Ehemänner über Ehefrauen) – ist dies nicht eine treffende Formel für Hegels Denken?
Handelt es sich also bei dem vorliegenden Werk wieder einmal um ein Buch über Hegel? Um die Logik der Verneinung zu erklären, zitiert Freud die Bemerkung eines seiner Patienten: »Sie fragen, wer diese Person im Traum sein kann. Die Mutter ist es nicht.«[3] Freuds (sprichwörtlich gewordene) Reaktion darauf lautet, dass die Frage damit geklärt sei – wir können sicher sein, dass es in der Tat seine Mutter ist.[4] Genau dasselbe kann ich auch über mein Buch sagen: Wovon auch immer es handeln mag – Hegel ist es nicht, und das ist keine Freud’sche Verneinung, sondern buchstäblich wahr. Ja, es stimmt, dass Hegel darin omnipräsent ist. Selbst wenn er nicht direkt genannt wird, lauert er im Hintergrund, aber das Thema des Buches ist genau das, was der Titel sagt: Es handelt davon, wie die Paradoxien des Mehr-Genießens das Durcheinander unserer Zeit aufrechterhalten.
In einem ideologischen Raum werden verschiedene Haltungen zu dem verbunden, was Ernesto Laclau eine »Äquivalenzkette« genannt hat – so werden zum Beispiel rechtsextreme Verschwörungstheorien über die COVID-19-Pandemie mit esoterischer Spiritualität kombiniert. Melissa Rein Livelys starke Beschäftigung mit Wellness, Naturheilkunde, biologischer Ernährung, Yoga, ayurvedischen Heilmethoden, Meditation und so weiter führte dazu, dass sie Impfstoffe als gefährliche Kontaminationsquelle vehement ablehnte.[1] Heute ist dieser Prozess überall um uns herum spürbar. Wir leben in einem seltsamen Moment, in dem mehrere Katastrophen – Pandemie, globale Erwärmung, soziale Spannungen, die Aussicht auf die vollständige digitale Kontrolle unseres Denkens … – um die Vorherrschaft kämpfen, und zwar nicht nur quantitativ, sondern auch im Hinblick darauf, welche von ihnen als »Stepppunkt« gelten wird (Lacans point-de-capiton), der alle anderen totalisiert. Der Hauptkandidat im öffentlichen Diskurs ist gegenwärtig die globale Erwärmung, während, zumindest in unserem Teil der Welt, der entscheidende Antagonismus in letzter Zeit der zwischen Impfbefürwortern und Impfskeptikern zu sein scheint. Das Problem dabei ist, dass die Hauptkatastrophe für die COVID-Skeptiker heute die falsche Sicht der (pandemischen) Katastrophe selbst ist, die in ihren Augen von den Mächtigen manipuliert wird, um die soziale Kontrolle und die wirtschaftliche Ausbeutung zu verstärken. Wenn man sich genauer anschaut, wie der Kampf gegen die Impfung andere Kämpfe verdichtet (den Kampf gegen soziale Kontrolle, gegen die Wissenschaft, gegen die wirtschaftliche Ausbeutung durch Unternehmen und den Kampf für die Verteidigung unserer Lebensweise …), dann wird klar, dass die Schlüsselrolle des Kampfes gegen die Impfung das Ergebnis einer ideologischen Mystifizierung ist, die in einigen Punkten sogar Ähnlichkeiten mit dem Antisemitismus hat. Denn ebenso wie dieser eine verschobene bzw. mystifizierte Form des Antikapitalismus ist, ist der Kampf gegen die Impfung eine verschobene bzw. mystifizierte Form des Klassenkampfes gegen die Mächtigen.
Um einen Ausweg aus diesem Durcheinander zu finden, sollten wir uns vielleicht auf die Unterscheidung zwischen Apokalypse und Katastrophe besinnen, wobei der Begriff »Katastrophe« auf das beschränkt bleibt, was Günther Anders die »nackte Apokalypse« genannt hat. Eine Apokalypse (altgriechisch »Enthüllung«) ist eine Aufdeckung oder Offenbarung von Wissen; im religiösen Sprachgebrauch ist das, was die Apokalypse enthüllt, etwas Verborgenes, die letzte Wahrheit, für die wir in unserem Alltag blind sind. Heutzutage bezeichnen wir gewöhnlich jede größere Katastrophe oder Kette schädlicher Ereignisse für Mensch oder Natur als »apokalyptisch«. Man kann sich zwar unschwer die Enthüllungs-Apokalypse ohne die Katastrophen-Apokalypse vorstellen (etwa in einer religiösen Offenbarung) und auch die Katastrophen-Apokalypse ist leicht ohne die Enthüllungs-Apokalypse denkbar (etwa ein Erdbeben, das einen ganzen Kontinent hinwegfegt), aber es herrscht dennoch eine innere Verbindung zwischen den beiden Dimensionen. Wenn wir (glauben, dass wir) einer höheren und zuvor verborgenen Wahrheit ausgesetzt sind, unterscheidet sich diese so sehr von unseren gewöhnlichen Ansichten, dass sie unsere Welt notwendigerweise erschüttert, und jedes Katastrophenereignis, und sei es auch vollkommen naturbedingt, offenbart vice versa etwas, das wir in unserem normalen Dasein ignoriert haben und das uns direkt mit einer unterdrückten Wahrheit konfrontiert.
In seinem Essay »Apokalypse ohne Reich« führte Günther Anders den Begriff der »nackten Apokalypse« ein, »der Apokalypse, die im bloßen Untergang besteht, die also nicht den Auftakt zu einem neuen, und zwar positiven, Zustande (zu dem des ›Reiches‹) darstellt.«[2] Eine atomare Katastrophe war für Anders genau so eine nackte Apokalypse: Aus ihr würde kein neues Reich hervorgehen, nur die Auslöschung unserer selbst und unserer Welt. Und die Frage, die wir heute stellen sollten, lautet: Welche Art von Apokalypse kündigt sich in der Vielzahl von Katastrophen an, die eine Bedrohung für uns alle darstellen? Was wäre, wenn sich die Apokalypse im vollständigen Sinn des Wortes, also einschließlich der Enthüllung einer bislang unsichtbaren Wahrheit, nie ereignete? Was, wenn die Wahrheit etwas ist, das im Nachhinein konstruiert wird, um die Katastrophe verstehen zu können? Manch einer würde wohl sagen, dass der Zusammenbruch der kommunistischen Regime in Osteuropa 1990 eine echte Apokalypse war: Er brachte die Wahrheit zum Vorschein, dass der Sozialismus nicht funktioniert und dass die liberale Demokratie das endlich entdeckte bestmögliche sozialwirtschaftliche System ist. Doch dieser Fukuyama’sche Traum vom Ende der Geschichte endete ein Jahrzehnt später am 11. September mit einem bösen Erwachen, so dass wir jetzt in einer Zeit leben, die sich am besten als Ende vom Ende beschreiben lässt – der Kreis ist geschlossen, wir sind von der Katastrophe zur Apokalypse und zurück zur Katastrophe gelangt. Wir hören ständig, dass wir am Ende der Geschichte angelangt seien, aber dieses Ende zieht sich hin und bringt sogar sein eigenes Genießen mit sich.
Nach unserer herkömmlichen Vorstellung findet eine Katastrophe dann statt, wenn das Eindringen eines gewaltsamen Ereignisses – Erdbeben, Krieg … – die symbolische Fiktion zerstört, die unsere Realität ist. Vielleicht ist es aber eine ebensolche Katastrophe, wenn die Realität bestehen bleibt und nur die symbolische Fiktion zerfällt, die unseren Zugang zur Realität aufrechterhält. Betrachten wir das Beispiel der Sexualität, denn nirgendwo sonst spielen Fiktionen eine entscheidendere Rolle. In einem interessanten Kommentar zur Rolle des Einverständnisses in sexuellen Beziehungen erinnert sich Eva Wiseman an »einen Moment in The Butterfly Effect, Jon Ronsons Podcast-Serie über die Nachbeben der Internetpornographie. Am Set eines Pornofilms verlor ein Schauspieler mitten in der Szene seine Erektion – um sie zurückzubekommen, wandte er sich von der Frau ab, die nackt unter ihm lag, griff zu seinem Handy und rief Pornhub auf. Was mir ein wenig apokalyptisch vorkam« – man beachte das Wort »apokalyptisch« an dieser Stelle. Wiseman kommt zu dem Schluss: »Etwas ist faul im Staate des Sex.«[3] Da bin ich ganz ihrer Meinung, möchte allerdings noch die Lektion der Psychoanalyse hinzufügen: Die menschliche Sexualität ist in sich pervers, sie ist sadomasochistischen Umkehrungen und ganz besonders der Vermischung von Realität und Phantasie ausgesetzt. Auch wenn ich mit meinem/r Partner/in allein bin, ist meine (sexuelle) Interaktion mit ihm/ihr unauflöslich mit meinen Phantasien verknüpft, das heißt, jeder Geschlechtsverkehr ist potenziell strukturiert wie »Masturbation mit einem/r echten Partner/in«. Ich benutze den Körper meines Partners/meiner Partnerin als Requisit, um meine Phantasien verwirklichen bzw. umsetzen zu können. Wir können diese Lücke zwischen der körperlichen Realität meines Partners/meiner Partnerin und dem Universum der Phantasien nicht auf eine vom Patriarchat und der sozialen Herrschaft oder Ausbeutung herbeigeführte Verzerrung reduzieren – die Lücke ist von Anfang an da. Daher kann ich ganz gut verstehen, dass der Schauspieler Pornhub aufgerufen hat, um seine Erektion wiederzuerlangen – er suchte nach einer phantasmatischen Stütze für seine Darbietung.
Die traurige Schlussfolgerung, die wir aus all dem ziehen müssen, ist, dass eine Katastrophe nichts ist, was uns in der Zukunft erwartet und durch eine wohldurchdachte Strategie noch verhindert werden kann. Die Katastrophe im (nicht nur) grundlegendsten ontologischen Sinne ist etwas, das immer schon passiert ist, und wir, die überlebenden Menschen, sind das, was übrig bleibt – auf allen Ebenen, sogar in einem ganz empirischen Sinn: Zeugen die riesigen Öl- und Kohlereserven, die bis heute unsere wichtigste Energiequelle sind, nicht von ungeheuren Katastrophen, die vor der Entstehung der Menschheit auf der Erde stattgefunden haben? Unsere Normalität ist per definitionem postapokalyptisch.
Dies führt uns zu unserem Hauptpunkt zurück. Abgesehen von ein paar »rationalen Optimisten« würden die meisten von uns zustimmen, dass wir – wir alle, die ganze Menschheit – in einer mehrfachen Krise stecken: Pandemie, globale Erwärmung, soziale Proteste … Wir treten in ein neues Zeitalter ein und die Hinweise darauf mehren sich. Die Aussicht auf einen Krieg um den Zugang zum Nilwasser ist möglicherweise ein Modell zukünftiger Kriege: Vom Standpunkt der nationalstaatlichen Souveränität ist Äthiopien berechtigt, so viel für sich zu behalten, wie es will oder braucht, aber wenn es zu viel beansprucht, steht das Überleben Ägyptens auf dem Spiel, das vom Nil abhängig ist. Es gibt für dieses Problem keine abstrakte Lösung; notwendig ist ein ausgehandelter Kompromiss aus einer globalen Perspektive.
Machen wir nun einen Sprung zu einem Akt des Staatsterrorismus, der sich kürzlich ereignet hat. Belarus zwang eine Ryanair-Maschine, die sich auf dem Weg von Athen nach Vilnius befand, zur Landung, um den belarussischen Dissidenten Raman Pratassewitsch verhaften zu können. (Wenngleich man diesen terroristischen Akt unmissverständlich verurteilen muss, sollte man auch daran erinnern, dass Österreich genauso vorging und ein Flugzeug zur Landung zwang, das seinen Luftraum durchquerte – nämlich die Maschine des bolivianischen Präsidenten Evo Morales; dies geschah im Auftrag der USA, die vermuteten, dass Edward Snowden mit diesem Flug von Russland nach Lateinamerika gelangen wollte.) Was haben die beiden Ereignisse gemeinsam? Beide sind Beispiele für eine neue Art von Konflikten, die unser globales Zeitalter in zunehmendem Maße prägen wird: das Aufeinanderprallen von staatlicher Souveränität und den Interessen größerer Gemeinschaften. Obwohl sich der Kapitalismus von Krisen nährt und sie dazu benutzt, stärker denn je wiederaufzutauchen, wächst der Verdacht, dass die bewährte Formel diesmal nicht funktionieren wird.
Der Fokus dieses Buches liegt nicht auf den verschiedenen Krisen als solchen, sondern darauf, wie wir sie bekämpfen oder reproduzieren, wobei wir manchmal in einem Schritt beides tun. Ich möchte nicht nur das Durcheinander analysieren, in dem wir stecken, sondern zugleich auch darlegen, dass die meisten der Kritiken und Proteste gegen den globalen Kapitalismus im Grunde als dessen ideologische Ergänzung fungieren und seine Grundprämissen nicht wirklich in Frage stellen. Um zu verstehen, wie das möglich ist, muss man die Ideologie analysieren – nicht als ein abstraktes System aus Prinzipien, sondern als materielle Kraft, die unsere Wirklichkeit strukturiert. Des Weiteren wird es nötig sein, den komplexen Apparat der psychoanalytischen Theorie in Stellung zu bringen, um die libidinösen Besetzungen ans Licht zu bringen, die unser Alltagsleben regeln.
Wir stellen damit erneut die alte Freud’sche Frage: Warum genießen wir die Unterdrückung? Weil eine Macht uns nicht einfach durch Unterdrückung (und Verdrängung) im Griff hat, die auf der Angst vor Strafe basieren, sondern indem sie uns besticht, damit wir gehorsam sind und zum Verzicht gezwungen werden können – im Austausch für unseren Gehorsam und unseren Verzicht bekommen wir eine pervertierte Lust am Verzicht selbst, einen Gewinn im Verlust. Lacan nannte diese pervertierte Lust Mehrlust. Sie setzt die Paradoxie eines Dings voraus, das immer (und ausschließlich) ein Überschuss in Bezug auf sich selbst ist: Im »Normalzustand« ist es nichts. Dies führt uns zu Lacans Begriff des objet a (Objekt klein a) als der Mehrlust: Es gibt keine »Grundlust«, zu der die Mehrlust hinzugefügt würde, Lust ist immer ein »Mehr«, ein Surplus, ein Überschuss. Objet a hat in Lacans Lehre eine lange Tradition. Er verwendete den Begriff schon Jahrzehnte bevor er systematisch auf die Analyse der Waren in Marx’ Kapital Bezug nahm. Doch es ist unzweifelhaft dieser Bezug auf Marx, insbesondere auf dessen Begriff des Mehrwerts, der es Lacan ermöglichte, seinen »reifen« Begriff des objet a als Mehrlust (plus-de-jouir) zu entwickeln. Das vorherrschende Motiv, das alle Bezüge auf Marx’ Warenanalyse bei Lacan durchdringt, ist die strukturelle Übereinstimmung des Marx’schen Mehrwerts mit der Lacan’schen Mehrlust beziehungsweise dem Lustgewinn, wie es bei Freud hieß. Mit diesem Gewinn ist nicht einfach eine Steigerung der Lust gemeint, sondern die zusätzliche Lust, die ausgerechnet durch die formellen Umwege geschaffen wird, die das Subjekt bei seinem Bemühen, Lust zu erlangen, macht. Eine weitere Figur des Lustgewinns ist die Umkehrung, die die Hysterie kennzeichnet: Der Verzicht auf die Lust wird hier zur Lust am Verzicht, die Verdrängung des Begehrens wird zum Begehren der Verdrängung und so weiter. Eine solche Umkehrung bildet auch den Kern der kapitalistischen Logik: Lacan wies darauf hin, dass der moderne Kapitalismus mit dem Zählen der Lust (Gewinne zu erzielen) begann und sich dieses Zählen der Lust unmittelbar in eine Lust am Zählen (des Gewinns) umkehrt. In all diesen Fällen stellt der Gewinn sich auf einer »performativen« Ebene ein: Er entsteht durch das Auf-ein-Ziel-Hinarbeiten selbst, nicht durch das Erreichen des Ziels.[1]
Eine etwas üppigere Frau aus Portugal erzählte mir einmal eine wunderbare Anekdote: Als ihr letzter Liebhaber sie zum ersten Mal nackt gesehen habe, habe er zu ihr gesagt, dass sie nur ein oder zwei Kilo abnehmen müsse, dann wäre ihr Körper perfekt. In Wahrheit hätte sie aber vermutlich viel durchschnittlicher ausgesehen, wenn sie zwei Kilo abgenommen hätte – gerade das Element, das die Perfektion zu beeinträchtigen scheint, schafft selbst die Illusion der Perfektion, die es beeinträchtigt: Wird das überschüssige Element entfernt, geht die Perfektion selbst verloren. Hier begegnet uns das Paradox des objet a in Reinform: Einer attraktiven, aber kurvenreichen Frau fehlt das gewisse Etwas, das einen echten Zauber entfacht – was soll sie tun? Sie sollte eben nicht versuchen, noch perfekter oder schöner zu werden, sondern ihrer Erscheinung ein Zeichen der Unvollkommenheit hinzufügen, irgendeine Kleinigkeit, die die Perfektion stört – dieses zusätzliche Element kann (auf diesem Gebiet gibt es keine Garantien!) als etwas wirken, das ihre Vollkommenheit stört, und so die Illusion der Perfektion erzeugen, die es zerstört. Sehen wir uns ein anderes (ziemlich geschmackloses) Beispiel an: Hardcore-Pornofilme. Intuitiv würde ich sagen, dass es sehr unangenehm sein muss, den denkbar intimsten Akt vor einer nah positionierten Kamera zu vollführen und dabei den Anweisungen des Regisseurs zu folgen – auf Kommando Lustgeräusche auszustoßen oder die Lage von Körperteilen zu verändern … Stellt dies nicht ein Hindernis dar, das die Beteiligten nur durch langes Training überwinden können, so dass sie emotional in der Lage sind, ihre Umgebung auszublenden, die ihre Hingabe an ekstatische Freuden zu vereiteln scheint? Ist Sex nicht etwas, zu dem die meisten von uns nur außerhalb der Öffentlichkeit imstande sind? Aber könnte es nicht auch sein, dass zumindest für einige Menschen aus einer solchen entstimulierenden Situation eine ganz eigene Art der Lust erwächst? So etwa nach dem Motto: »Es ist noch lustvoller, den intimsten Akt so zu vollziehen, als ob es sich um eine gesteuerte Aktivität handelte, die das Befolgen von Anweisungen von außen verlangt.«
Wenn nun jeder Lustverzicht eine Lust an diesem Verzicht selbst entstehen lässt und es keine »normale«, unmittelbare Lust gibt, wenn also jede im symbolischen Spinnennetz gefangene Lust von dieser perversen Verdrehung geprägt ist, gibt es dann überhaupt einen Ausweg aus diesem Teufelskreis aus Lust und Schmerz? Die Antwort, die Lacan an einigen Stellen andeutet, liegt in der »subjektiven Destitution«, einem mysteriösen Schritt, mit dem ich mich von allem, was den Reichtum meiner »inneren Person« ausmacht, von der ganzen Scheiße, die tief in mir verborgen ist, distanziere, dabei aber ein Subjekt bleibe – ein »reines«, leeres Subjekt, das einem lebenden Toten ähnelt, ein zombieartiges Subjekt. Was bedeutet das – wenn überhaupt – politisch? Am Ende des Buches werde ich einige Hypothesen in dieser Richtung wagen.
Doch bevor das Buch zu diesem Schlusspunkt gelangt, macht es zunächst einen Schritt nach dem anderen. Es beginnt mit dem globalen Kapitalismus als Gesellschaftsform und ultimativem Quell des Wahnsinns unserer Welt und legt den Fokus auf das komplexe Verhältnis der marxistischen Kritik der politischen Ökonomie und Ökologie. Von da aus wagt es sich an das, was man die Kritik der Libidoökonomie nennen könnte: die tief verwurzelten Formen der Psyche, die sozialen Herrschafts- und Ausbeutungsbeziehungen zugrunde liegen. Danach nimmt es ganz direkt die grundlegende Gestörtheit unserer Libidoökonomie in Angriff: die Mehrlust. Das Buch endet mit einem Vorschlag, wie sich diesem Dilemma entgehen ließe: mit der radikalen Geste der subjektiven Destitution.
Die Kapitel sind zugleich auch in gewissem Sinne Leserberichte, denn jedes von ihnen wurde jeweils durch einen herausragenden Text angeregt. Kohei Saito ließ mich die Schlüsselrolle der Ökologie im Marxismus in einem neuen Licht erkennen; Gabriel Tupinambá erschütterte meine lacanianische Selbstzufriedenheit mit einer scharfen Analyse der ideologischen Beschränkungen nicht nur der Lacanianer, sondern auch Lacans selbst; Yanis Varoufakis machte mir bewusst, wie sich die Sackgassen des Begehrens auf den innersten Kern unserer politischen Projekte auswirken; Frank Rudas provokanter Aufruf zur Abschaffung der Freiheit brachte die theologischen Wurzeln emanzipatorischer Projekte ans Licht; und zu guter Letzt bekehrte mich Saroj Giri auf der Stelle zu seiner Idee der subjektiven Destitution als politischer Schlüsselkategorie. Was hat nun Hegel mit all dem zu tun? Wenngleich die genannten Autoren die Schwächen unserer gegenwärtigen Reaktion auf globale Notlagen sichtbar machten, hatte ich doch mit jedem von ihnen geringfügige (aber vielleicht wichtige) Meinungsverschiedenheiten und in jedem Fall stellte ich fest, dass die Lektüre Hegels hier Abhilfe schaffen konnte.
Wie geht dieses Buch nun also mit den zweideutigen Zeichen des neuen Zeitalters um? Es folgt der Formel 2 + a. Die ersten beiden Kapitel behandeln Marx und Freud, die beiden Begründer der modernen »Hermeneutik des Verdachts«, die die sichtbare (soziopolitische und psychische) Ordnung als »Schattentheater« entlarvt, das von verborgenen Mechanismen (der politischen Ökonomie beziehungsweise des Unbewussten) gesteuert wird: Marx analysierte die kapitalistische Moderne, in der die gesamte Tradition auf den Kopf gestellt wird; Freud beleuchtete die Antagonismen und Umkehrungen des Seelenlebens. In beiden Fällen besteht das Ziel meiner Interpretation darin, die »reduktionistische« Lesart von Marx und Freud zu vermeiden, derzufolge beide das Sozialleben als von »objektiven« Mechanismen bestimmt betrachten, und stattdessen die irreduzible subjektive Dimension gesellschaftlicher und psychischer Vorgänge hervorzuheben.
Wie alle philosophischen Werke ist auch dieses Buch eine Ontologie seiner eigenen (in diesem Fall unserer) Gegenwart; die Klassiker werden daher vor dem Hintergrund unserer eigenen historischen Erfahrung gelesen: Wie können Marx und Freud uns helfen, unsere Gegenwart und ihre Sackgassen zu begreifen? Beide haben ihre Wurzeln in einer ganz bestimmten historischen Konstellation: Marx erlebte die beispiellose kapitalistische Expansion und analysierte ihre zerstörerischen Auswirkungen; und Freud erforschte um die Jahrhundertwende die dunklen Abgründe des menschlichen Geistes vor dem Hintergrund des sogenannten »Untergangs des Abendlands« und der traumatischen Erschütterung des Ersten Weltkriegs. In diesem Buch werden Marx und Freud von unserem jetzigen Standpunkt aus gelesen: Marx und die Umweltkrise; Freud und die Soziopolitik der Psychoanalyse. Marx und Freud sind Klassiker der Vergangenheit, die für das Verständnis unserer Gegenwart unverzichtbar sind.
Doch was ist mit unserer Gegenwart selbst? Es gibt keinen klassischen Denker, dessen Theorie uns unsere Epoche in ihrer begrifflichen Struktur unmittelbar erfassen ließe – wir sind vollkommen im Chaos unserer Zeit gefangen, uns fehlt eine kognitive Landkarte, und das letzte Kapitel taucht direkt in dieses Chaos ein. Lacans Begriff objet a beziehungsweise Mehrlust (nach dem Vorbild des Marx’schen Mehrwerts) wurde hier als zentraler Bezugspunkt gewählt, weil er exakt als die wirkende Kraft der Verkehrtheit fungiert; Fügt man einem bestimmten Phänomenfeld die Mehrlust hinzu, ist dessen Gleichgewicht unwiederbringlich zerstört und alles verkehrt sich – aus Schmerz wird Lust, aus Mangel wird Überschuss, aus Hass wird Liebe … Das Schlusskapitel ist der Dreh- und Angelpunkt des Buches und um diesen richtig zu verstehen, sollte der Leser aufmerksam dem Weg folgen, auf dem sich der Text schrittweise seiner zentralen These nähert. Ausgehend von zwei gegensätzlichen Figuren des »großen Anderen« (der virtuellen symbolischen Ordnung, der Es-Maschine) verknüpft er zunächst die strukturelle Inkonsistenz der symbolischen Ordnung mit der Dualität zwischen dem symbolischen Gesetz und dem Über-Ich, um dann zu zeigen, wie der Befehl des Über-Ich, zu genießen, die Libidoökonomie unserer »permissiven« Gesellschaften reguliert. Das unvermeidliche Resultat dieser Permissivität ist die Depression, die man als Ersticken des Begehrens, obwohl dessen Objekt frei zugänglich ist, definieren kann. Was fehlt, ist die Mehrlust als Objektursache des Begehrens. Das »Finale« überschriebene letzte Kapitel versucht dann die existenzielle Haltung in Worte zu fassen, die es uns ermöglichen würde, aus der Sackgasse der Permissivität auszubrechen, ohne in alte Formen des Fundamentalismus zurückzufallen. Auf der Grundlage der Arbeiten von Saroj Giri schlage ich eine politische Lesart des Lacan’schen Begriffs der subjektiven Destitution vor.
Verfällt ein Buch, das in der Gegenwart verwurzelt ist, nicht leicht einem historischen Relativismus? Der erste Schritt, den es hier zu unternehmen gilt, besteht darin, den Historismus selbst zu radikalisieren. Bruno Latour schrieb einmal, dass es sinnlos gewesen wäre, im Mittelalter über Tuberkulose zu sprechen. Diese sei eine moderne, wissenschaftliche Kategorie, die im mittelalterlichen Denken keinen Platz gehabt habe – würden wir jemandem aus jener Zeit begegnen und ihm sagen: »Ihr Bruder starb an Tuberkulose«, hätte das für ihn keinerlei Bedeutung. Der nächste Schritt ist, dass die Moderne (die es für Latour nicht gibt) nicht nur einen neuen Verstehenshorizont mit sich bringt, sondern das gesamte Feld verändert und auch neu definiert, was für uns als »Mittelalter« erscheint – unsere Vorstellung vom Mittelalter wurzelt in unserer Epoche, sie ist immer schon durch unsere Gegenwartserfahrungen »vermittelt«, wir können niemals einen neutralen Standpunkt einnehmen, der von der Geschichte ausgenommen wäre, und von dort aus verschiedene Epochen vergleichen.
Aber heißt das nun, dass wir der Falle des Historismus nicht entgehen können? Den Weg aus der historistischen Sackgasse weist der berühmte Absatz aus den Grundrissen der Kritik der politischen Ökonomie, in dem Marx anhand des Begriffs der Arbeit darlegt, dass allgemeine Ideen, obwohl sie universell (»ewig«, transhistorisch, für alle Epochen gültig) sind, nur in einer besonderen Epoche als solche erscheinen (Wirklichkeit und Teil unserer Erfahrung werden). Wir gelangen nicht zur Allgemeinheit, indem wir von konkreten Merkmalen aus bestimmten Epochen abstrahieren, sondern indem wir den Fokus auf eine bestimmte Epoche legen, in der die betreffende Allgemeinheit als solche erscheint – das ist für Hegel der Punkt der konkreten Allgemeinheit. Die Hypothese dieses Buches lautet, dass dasselbe auch für die auf den Kopf gestellte menschliche Geschichte gilt: Sie ist zwar universell, wird jedoch erst in unserer Epoche zu einem Teil der Alltagserfahrung, der Epoche nach dem »Ende der Geschichte« im Jahr 1990, als neue, »posthistorische« Antagonismen hervorbrachen.
Heute herrscht die Idee vor, Hegel müsse durch eine nachhegelianische Theorie gelesen werden, um noch von Nutzen sein zu können. Liberale Hegel-Leser (wie Robert Brandom), die den Fokus auf die wechselseitige Anerkennung legen, unterziehen ihn einer pragmatisch-linguistischen Lektüre. Für Ökomarxisten (wie Saito) sollte man Hegels Idee der Selbstbewegung des Begriffs neu interpretieren als kollektiven produktiven Prozess der in der Natur verwurzelten Menschheit. Psychoanalytiker, die sich auf Hegel beziehen (wie Lacan), sehen in Hegels Dialektik einen verzerrten Ausdruck der Prozesse des Unbewussten und dessen Reintegration durch das Ich. Das andauernde ideologisch-politische Chaos (populistische Gewalt, die bereits bürgerkriegsähnliche Ausmaße annimmt) lässt sich nicht einfach mit wirtschaftlichen Interessen und ideologischen Manipulationen erklären – man muss auch das (rassistische, sexistische) Genießen miteinbeziehen, wie es in den karnevalesken öffentlichen Veranstaltungen der Alt-Right deutlich zu erkennen ist.
In jedem dieser Fälle folgt das Buch der Linie, dass in Hegel mehr steckt als in seinen zeitgenössischen kritischen Lektüren: Hegels Naturbegriff ist offener für Zufälligkeiten als die marxistische Einengung auf den produktiven Prozess; statt Hegel durch Freud zu lesen, sollte man Freud (ebenso wie Lacan) auf eine hegelianische Weise lesen, um seine verhängnisvollen Beschränkungen zu erkennen; und schließlich war Hegel auch weit davon entfernt, die Religion einfach als endliche Möglichkeit der Darstellung begrifflicher Wahrheit abzutun, sondern sah sehr deutlich die Rolle der Mehrlust in religiösen Gemeinschaftsritualen und welche Befriedigung sie schaffen. Meine Kritik richtet sich also, um es noch einmal zu wiederholen, gegen die bereits erwähnte vorherrschende Haltung, nach der wir das Lebendige in Hegel (wie auch in Marx und Freud) nur aufspüren können, wenn wir ihn durch eine spätere richtungsweisende Gestalt lesen: Freud durch Lacan, Marx durch die aktuellen Umweltprobleme und Hegel selbst durch die liberale Theorie der wechselseitigen Anerkennung. Aber was wäre, wenn auch der umgekehrte Schritt notwendig ist? Wenn wir Hegel durch spätere Ereignisse und Gedanken lesen und dann zu ihm zurückkehren müssen, um zu begreifen, worum es bei diesen neuen Ereignissen und Gedanken eigentlich geht? Was, wenn diejenigen, die Hegels Freiheitsbegriff durch die Linse des allmählichen Fortschreitens zur freien wechselseitigen Anerkennung lesen, die radikale Negativität als Kern eines dialektischen Prozesses übersehen?[1] Was, wenn wir die Sackgassen des Marxismus und der Ökologie erst richtig begreifen können, wenn wir Marx durch Hegel lesen? Was, wenn wir den radikalen Bruch bei Freud und Lacan nur erfassen, wenn wir sie durch Hegel lesen?
Schließen wir also mit einem hegelianischen Willkommensgruß an unsere virale Zeit: Alle großen Schlachten sind heute, am Beginn des 21. Jahrhunderts, Schlachten von Viren. Der Geist ist ein Virus, der sich parasitär im Tier Mensch eingenistet hat, und mit der Aussicht auf ein verdrahtetes Gehirn, in dem unsere mentalen Prozesse vom großen Anderen eines globalen digitalen Netzwerks direkt kontrolliert werden können, ist dieser Parasitismus noch gefährlicher geworden. Biochemische Viren bedrohen unser Überleben: Auf COVID-19 folgen mit Sicherheit andere und wahrscheinlich noch schlimmere Epidemien. Und, last but not least, das globale Kapital ist selbst ein riesiges Virus, das uns gnadenlos als Mittel seiner ausgedehnten Selbstreproduktion benutzt. Ja, dieses Jahrhundert wird hegelianisch sein.
Laut einer Legende (die wohl wirklich nicht mehr ist als das) waren die ersten Worte, die Neil Armstrong sagte, als er am 20. Juli 1968 den Mond betrat, nicht wie offiziell berichtet: »Das ist ein kleiner Schritt für den Menschen, ein riesiger Sprung für die Menschheit«, sondern der enigmatische Satz: »Viel Glück, Mr. Gorsky.« Bei der NASA hielten viele dies für eine beiläufige Bemerkung über einen konkurrierenden sowjetischen Kosmonauten. Es dauerte bis zum 5. Juli 1995, ehe das Rätsel bei einer Fragerunde im Anschluss an eine Rede gelöst wurde: »Im Jahr 1938 spielte er als Kind in einer Kleinstadt im Mittleren Westen im Garten hinter dem Haus Baseball mit einem Freund. Der Freund schlug den Ball, der im Garten der Nachbarn vor dem Schlafzimmerfenster landete. Die Nachbarn waren Mr. und Mrs. Gorsky. Als er sich bückte, um den Ball aufzuheben, hörte der junge Armstrong, wie Mrs. Gorky ihren Mann anschrie: »Sex! Du willst Sex? Du kriegst Sex, wenn das Kind von nebenan auf dem Mond spaziert!«[1] Und genau das geschah 31 Jahre später wirklich … Als ich die Anekdote hörte, überlegte ich mir eine eigene Version. Es könnte doch sein, dass im Jahr 1800, als Hegel noch unbekannt war, irgendein alter (und mittlerweile vergessener) Professor dabei belauscht wurde, wie er den jungen Hegel anschrie: »Ruhm! Du willst ein berühmter philosophischer Klassiker werden? Du kriegst Ruhm, wenn ein Typ aus einem kleinen, unbekannten slawischen Land wie Slowenien ein dickes, fettes Buch über dich schreibt, das in viele Sprachen übersetzt wird.« Genau das geschah, als mein 1400 Seiten dickes Buch Weniger als nichts erschien, auch wenn irgendein feindlich gesinnter Kollege zweifellos anmerken würde: »Dieses Buch mag ein riesiger Sprung für Žižek sein, aber es ist ein kleiner Schritt für die Philosophie.«
Zu diesen Feinden gehörte ganz sicher Roger Scruton, der vor einigen Jahren schrieb: »Es gibt wahrscheinlich keinen anderen Grund, den Zusammenbruch des Kommunismus in Osteuropa zu bedauern, als dass dadurch Žižek auf die Welt der westlichen Wissenschaft losgelassen wurde.«[2] Man sollte einen Augenblick innehalten, um sich die Verrücktheit dieser Behauptung vor Augen zu führen (selbst wenn man das Moment der rhetorischen Übertreibung berücksichtigt). Ich bin demnach gefährlicher und zerstörerischer als alle Schrecken des kommunistischen Totalitarismus … (Ähnliche Behauptungen gab es übrigens auch in den 1990er Jahren zuhauf. Als westliche Konservative daran erinnert wurden, dass der Kommunismus viel stärker von der Popkultur und der sexuellen Revolution untergraben worden war als von traditionellen Werten, erwiderten einige von ihnen unwirsch, dieser Umstand allein lasse einen den Zusammenbruch der kommunistischen Regime bedauern.) Man kann sich vorstellen, wie eine solche Anschuldigung meine größenwahnsinnigen Phantasien nährt: Hegel schrieb, das geistige Resultat des Peloponnesischen Kriegs sei das Buch, das Thukydides darüber schrieb – Tausende mussten sterben, damit ein Buch geschrieben werden konnte. In ähnlicher Weise wäre das geistige Resultat des Kommunismus und seines atemberaubenden Terrors mein Losgelassenwerden auf die Welt der westlichen Wissenschaft – ganz Osteuropa musste gefährliche Unruhen durchmachen, damit ich in der akademischen Welt des Westens bekannt werden konnte … Wenn wir aus diesem Größenwahn heraustreten, können wir einen Hinweis darauf entdecken, was die Rolle eines Intellektuellen heute ist. Wenn ein System, das es verdient zu verschwinden (wie der Sowjetkommunismus), tatsächlich zusammenbricht und (nahezu) jeder dessen Sturz bejubelt, liegt die Aufgabe des Denkens – unsere Aufgabe heute – darin, sich die gefährlichen Potenziale der aufkommenden neuen Ordnung auszumalen. Auch hier sollte man eine Kritik der Kritik üben und um jeden Preis die selbstgefällige Genugtuung vermeiden, einem System, das bereits tot vor uns liegt, auch noch den Schädel einzutreten. Aus diesem Grund sind heute, im Wirrwarr aus rechtsradikalen Obszönitäten und pseudolinkem, politisch korrektem, starrem Moralismus, die Konservativen oft die einzig vernünftigen Partner der (Überreste der) radikalen Linken. In einem Telefongespräch, das ich kürzlich mit einem Redakteur der gemäßigt konservativen deutschen Tageszeitung Die Welt führte, äußerte ich mein Erstaunen darüber, dass sie mich, einen selbsterklärten gemäßigt konservativen Kommunisten, veröffentlichen wollten. Die wunderbare Antwort, die ich bekam, war, dass ich gar nicht so überrascht sein sollte, denn sie seien eine gemäßigt kommunistische, konservative Zeitung …
Ein Merkmal dieses Buches wird allerdings viele Leser ärgern, auch diejenigen, die meinen Ideen ansonsten wohlwollend gegenüberstehen: Der Stil wird immer verrückter, so dass das Buch selbst als ein allmähliches Abdriften in den Wahnsinn erscheinen kann. Das erste Kapitel könnte vielleicht noch als akademische Abhandlung durchgehen, aber danach liest sich der Text mehr und mehr wie ein wirres Springen von einem Beispiel, Zitat oder Bild zum anderen … (Derselbe Vorwurf wurde übrigens in den ersten Reaktionen auf die Phänomenologie des Geistes gegen Hegel erhoben.) Meine Antwort darauf lautet, dass ich mich zwar schuldig bekenne, darin aber eine positive Eigenschaft sehe – eine Strategie, die zur Entwirrung der Antagonismen eines Textes ebenso wie einer historischen Epoche unerlässlich ist. Aus diesem Grund hat das Bemühen, die intendierte Bedeutung eines Autors, den wir zitieren, getreu wiederzugeben, zwangsläufig seine Grenzen; denn was ist, wenn der interpretierte bzw. zitierte Autor selbst widersprüchlich und in historischen Antagonismen und Spannungen gefangen ist, so dass ihm mit einer Lesart, die diese Widersprüche verschleiert, wirklich Gewalt angetan würde? In diesem Sinne plädiere ich für eine gewaltsame Lektüre (und praktiziere sie auch), eine Lesart, die (scheinbare) organische Einheiten auseinander und die Stellen, die sie zitiert, aus dem Zusammenhang reißt, um so unerwartete Verbindungen zwischen Fragmenten entstehen zu lassen. Diese Verbindungen funktionieren nicht auf der Ebene des kontinuierlichen linearen historischen Fortschritts; sie tauchen vielmehr an Punkten der »Dialektik im Stillstand« (Benjamin) auf, an denen ein Gegenwartsmoment in einer Art transhistorischem Kurzschluss direkt homologe Momente in der Vergangenheit widerhallen lässt. Kurzum, ich versuche das anzuwenden, was Eduardo Cadava und Sara Nadal-Melsió in ihrem Buch Politically Red als materialistische Praxis des engagierten Lesens entwickelt haben: eine Art des Lesens, die schon von ihrer sprachlichen Form her politisch ist.[3]
Eine solche Lektüre verlässt den Rahmen des Standardgegensatzes zwischen immanenter Lektüre, die versucht, dem interpretierten Text treu zu bleiben, und der Praxis des Zitierens, die nur Fragmente eines Textes verwendet, um aktuelle ideologische und politische Maßnahmen zu rechtfertigen. Das Paradebeispiel dieser Praxis findet sich im Stalinismus: Den Schlüssel zum Leninismus als (stalinistische) Ideologie liefert Michail Suslow, der von Stalins Spätzeit bis zu Gorbatschow der Chefideologe im Politbüro war. Weder Chruschtschow noch Breschnew gaben Dokumente frei, bevor Suslow sie geprüft hatte. Warum? Suslow besaß eine riesige Bibliothek mit Lenin-Zitaten in seinem Büro im Kreml; sie waren auf Bibliothekskarten geschrieben, nach Themen geordnet und wurden in hölzernen Aktenschränken aufbewahrt. Jedes Mal, wenn eine neue politische Kampagne, wirtschaftliche Maßnahme oder politische Strategie eingeführt wurde, fand Suslow ein passendes Lenin-Zitat, um sie zu untermauern. Lenins Zitate in Suslows Sammlung waren ihrem ursprünglichen Zusammenhang entrissen worden. Weil Lenin ein äußerst produktiver Schreiber war, der sich zu allen möglichen historischen Situationen und politischen Entwicklungen äußerte, fand Suslow passende Zitate, mit denen sich fast jedes Argument oder Vorhaben als »leninistisch« legitimieren ließ, manchmal sogar dann, wenn sie einander widersprachen: »›genau dieselben Zitate der Begründer des Marxismus-Leninismus, die Suslow erfolgreich unter Stalin benutzt hatte und für die dieser ihn so sehr schätzte, verwendete Suslow später, um Stalin zu kritisieren‹.«[4] Das war die Wahrheit des sowjetischen Leninismus: Lenin diente als ultimativer Bezugspunkt; ein Zitat von ihm legitimierte jede politische, wirtschaftliche oder kulturelle Maßnahme, aber auf eine vollkommen pragmatische und willkürliche Art und Weise – genauso übrigens, wie sich die katholische Kirche auf die Bibel bezieht. Die Ironie liegt folglich darin, dass die beiden großen Richtungen des Marxismus, die stalinistische und die authentische, sich durch die jeweils verschiedene Art des Zitierens perfekt erfassen lassen.
Was Walter Benjamin begrifflich fasste und anwendete (gemeinsam mit Hegel, Marx, Lenin, Brecht, Jameson und zahlreichen anderen), war eine radikal andere Zitierpraxis, die das Zitieren als eine Art Kampf sowohl mit dem zitierten Text als auch mit dem Dilemma des Schreibers selbst begriff. Das materialistische Zitat ist dem zitierten Original gerade durch seine Äußerlichkeit innerlich; denn seine gewaltsame Entstellung des Originals wird diesem in einem gewissen Sinn gerechter als das Original selbst, da es gesellschaftliche Kämpfe widerspiegelt, die beide durchziehen.[5] Deshalb springe ich von Hegel zu Hollywood-Komödien, von Kant zu Vampiren und den lebenden Toten in der Popkultur, von LGBTQ+ zu slowenischen Vulgärausdrücken, von der revolutionären Subjektivität zu Joker und so weiter und so fort – in der Hoffnung, dass mir mit diesen verrückten Kombinationen – zumindest manchmal – gelingt, was Benjamin beabsichtigte.
Das Buch ist also definitiv ein Leitfaden für die Nicht-Verwirrten: Es versucht nicht, die Dinge für die Verwirrten zu klären, sondern die Nicht-Verwirrten zu verwirren, die bequem mit dem Strom der Alltagsideologie schwimmen, ja, nicht nur sie zu verwirren, sondern zu zeigen, dass ihre neugewonnene Verwirrtheit bereits in der Sache selbst liegt. Ebenso bietet dieses Buch definitiv keinen geschützten Raum (»Safe Space«) für Menschen, die Rassismus und/oder Sexismus ausgesetzt sind. Bei einem Vorfall, der sich vor kurzem an der Universität von Alberta ereignete, drohte der Anthropologieprofessorin Kathleen Lowrey der Verlust ihrer Stelle, weil sie behauptet hatte, das Geschlecht sei nicht nur ein kulturelles Konstrukt, sondern in erster Linie eine biologische Tatsache. Genau genommen wurde sie von ihrer Position als außerordentliche Professorin im Fachbereich Anthropologie gefeuert, weil sie eine »unsichere« Umgebung für die Studierenden geschaffen habe – wie das? Kurz gesagt, sie glaubt nicht, dass das Geschlecht ein »soziales Konstrukt« ist.[6] Zur Klarstellung sollte man hinzufügen, dass das Gegensatzpaar aus biologischer Tatsache und symbolischem Konstrukt nicht erschöpfend ist. Es gibt eine dritte Option, nämlich die Geschlechterdifferenz selbst als das Unmöglich-Reale; dieses ist keine biologische Tatsache, sondern ein traumatischer Einschnitt bzw. Antagonismus, der nicht vollständig symbolisiert werden kann. Was uns aber hellhörig machen sollte, ist das Wort »unsicher«. Damit ist nämlich letztlich gemeint, dass die (selbsterklärten) Ansichten und das Selbstbild des Opfers bedroht sind. Betrachten wir den Fall eines Mannes, der zur Frau wird: Wenn die Geschlechtsidentität (auch) biologisch bestimmt wird, schränkt das seine/ihre Freiheit, die Geschlechtsidentität zu wechseln, in keiner Weise ein. Was vielmehr in Gefahr gerät, ist seine/ihre Vorstellung, die Identität sei ein rein kulturelles Konstrukt, das letztlich von seiner/ihrer freien Entscheidung abhängt, die Idee also, dass ich mich ungehindert rekonstruieren und mit multiplen Identitäten spielen kann und dass alle Hindernisse für diese Plastizität in der kulturellen Unterdrückung zu suchen sind.
Man kommt nicht umhin festzustellen, dass, wenn es um sexuelle Identitäten geht, der Übergang von der einen zur anderen Identität – wie beim Crossdressing – als progressiv gepriesen wird, als Unterminierung der binären Logik, während Übergänge im Fall ethnischer Identitäten – besonders bei Weißen, die sich als Schwarze verkleiden – als kulturelle Aneignung, als eine Form von Rassismus zurückgewiesen werden. Hier ein aktueller Fall: Bright Sheng ist ein Komponist von Weltrang, der seit 1995 an der Universität von Michigan lehrt. Am 10. September 2021 kündigte der Dekan der Fakultät für Musik, Theater und Tanz der Universität Michigan, David Gier, an, dass Sheng seine Kompositionsklasse für Bachelor-Studierende nicht weiterführen werde; die Entscheidung erfolgte einen Monat nachdem Sheng seiner Klasse die Shakespeare-Verfilmung von Othello aus dem Jahr 1965 gezeigt hatte, in der Laurence Olivier die Titelfigur mit schwarzem Make-up spielt. Laut der Studierendenzeitung Michigan Daily wurde Sheng von der Studienanfängerin Olivia Cook »verpfiffen«, der aufgefallen war, dass Olivier den Othello mit schwarzer Schminke spielte. Sie schrieb: »In einer solchen Schule, die Diversität predigt und versichert, dass sie sich der Geschichte der PoC (People of Color) in Amerika bewusst ist, war ich schockiert, dass [Sheng] so etwas an einem Ort zeigte, der doch ein Safe Space sein sollte.« In einer Erklärung an die Michigan Daily schrieb der Professor für Komposition, Evan Chambers – der Sheng in dem Kurs ersetzt: »Den Film jetzt zu zeigen, und dazu noch ohne umfangreiches Framing, Inhaltswarnung und eine besondere Konzentration auf seinen inhärenten Rassismus, ist selbst ein rassistischer Akt, unabhängig von den Absichten des Professors.«[7]
So ging man 1970 in der Sowjetunion vor, als die BBC-Produktion The Forsyte Saga (1967) im Fernsehen ausgestrahlt wurde: Um jegliche ideologische Kontaminierung zu vermeiden, wurde jeder Folge ein fünf- bis zehnminütiger Kommentar eines sowjetischen Literaturwissenschaftlers vorangestellt, der ein »umfangreiches Framing und eine Inhaltswarnung« lieferte. So wurden die Zuschauer gewarnt, dass die Serie trotz ihres universellen Humanismus und ihrer vereinzelt kritischen Haltung die bürgerliche Lebensweise verherrliche … Und in katholischen Ländern, um noch weiter in die Vergangenheit zurückzugehen, war es Kindern (und teilweise auch Erwachsenen) bis vor etwa hundert Jahren verboten, die Bibel einfach ohne eine geeignete Erklärung zu lesen, die ein »umfangreiches Framing und eine Inhaltswarnung« liefern sollte, da viele Stellen ohne einen solchen Kommentar unreine oder grausame Gedanken entfachen könnten (man denke nur an die Geschichte von David und Batseba). Es ist traurig mitanzusehen, wie diese Tradition heute im Namen der politischen Korrektheit wiederbelebt wird. Im Fall von Othello ist die Verordnung solcher Bedingungen für die Vorführung des Films – »umfangreiches Framing, Inhaltswarnung und eine besondere Konzentration auf seinen inhärenten Rassismus« – im Grunde selbst ein rassistischer Akt, unabhängig von Chambers’ Absichten; denn er behandelt die Zuschauer extrem herablassend, als naive Geschöpfe, die vor der direkten Wirkung des Texts geschützt werden müssen.
Bei näherer Betrachtung kann man leicht erkennen, dass es sich um einen doppelten Schutz handelt. Durch das Betrachten eines Films wie Othello werden Weiße in ihrem Rassismus bestärkt; Schwarze werden nicht zum Rassismus verführt, der sie erniedrigt, als vielmehr gekränkt und wütend darüber, dass der Rassismus in der Kultur (und in ihrem Alltag) weiterbesteht. Doch hier fangen die Probleme an. Othello bietet einen geschützten Raum für weiße Rassisten, indem er ihnen die Sicherheit gibt, dass ihre Privilegien selbst in einer offiziell nicht rassistischen Kultur nicht gefährdet sind; er verletzt den Campus als geschützten Raum für Schwarze, die selbst dort vom Rassismus in der Hochkultur geplagt werden. Aber kann die vorgeschlagene Strategie – »umfangreiches Framing, Inhaltswarnung und eine besondere Konzentration auf seinen inhärenten Rassismus« – wirklich funktionieren? Nein, denn echten Beleidigungen, die das Opfer treffen, sind mit Verneinungen nicht beizukommen: Egal, wie viele Modifikationen man vornimmt – eine Beleidigung bleibt eine Beleidigung. Aus diesem Grund ist unter anderem das N-Wort verboten und kann nicht verwendet werden, egal wie viele Modifikationen wir vornehmen. Aber ein direktes Verbot sämtlicher Werke, die von irgendjemandem als Beleidigung empfunden werden könnten, ist ebenfalls kontraproduktiv. Es würde zwangsläufig zu einem riesigen Zensurapparat führen, der am Ende nicht nur die vermeintlichen Opfer selbst ärmer machen würde, sondern auch einer zynischen Ironie Tür und Tor öffnen würde, wodurch die Opfer noch mehr beleidigt würden. Das Problem steckt schon in der Idee einer akademischen Welt als »Safe Space«. Wir sollten dafür kämpfen, die Welt außerhalb der Universitäten sicher für alle zu machen, und wenn die akademische Welt sich an diesem Kampf beteiligen will, dann sollte sie gerade der Raum sein, wo wir uns offen mit sämtlichen rassistischen und sexistischen Gräueln auseinandersetzen. Dieses Buch tut dies ganz gewiss.
Als vor Jahrzehnten die Ökologie als ein entscheidendes theoretisches und praktisches Problem auftauchte, bemerkten viele Marxisten (und auch Kritiker des Marxismus), dass die Natur – genauer gesagt, der exakte ontologische Status der Natur – das einzige Thema ist, bei dem selbst der krudeste dialektische Materialismus einen Vorteil gegenüber dem westlichen Marxismus hat: Der dialektische Materialismus erlaubt es uns, die Menschheit als Teil der Natur zu betrachten, während der westliche Marxismus die soziohistorische Dialektik als äußersten Bezugshorizont ansieht und die Natur letztlich auf einen Hintergrund des historischen Prozesses reduziert – Natur ist eine gesellschaftliche Kategorie, wie Georg Lukács es ausdrückte. Kohei Saitos Buch Karl Marx’s Ecosocialism ist der jüngste und konsequenteste Versuch, das Gleichgewicht wiederherzustellen und das Eingebettetsein des Menschen in die Natur zu denken, ohne in die dialektisch-materialistische allgemeine Ontologie zurückzufallen.[1]
Da der Hauptbezugspunkt des westlichen Marxismus Hegel ist, verwundert es nicht, dass Saito das Hegel’sche Erbe vehement zurückweist. Im Gegensatz zu Saito und anderen Ökosozialisten lautet unsere Prämisse, dass die Probleme, vor denen wir aktuell stehen (Pandemie, globale Erwärmung), uns nicht dazu zwingen, Hegel aufzugeben, sondern von Marx zu Hegel zurückzukehren – unter einer Bedingung: Wir sollten zu Hegel zurückkehren, nachdem wir durch Marx und seine Kritik der politischen Ökonomie hindurchgegangen sind. Wenn Robert Brandom darauf hinweist, dass Hegel im Grunde immer wieder dieselbe Geschichte erzähle, nämlich die des Aufstiegs der Moderne, des Übergangs von der traditionellen, »organischen« zur modernen, »entfremdeten« Gesellschaft, so konzentriert er sich dabei auf zwei Aspekte dieses Übergangs, der wohl nach dem Aufkommen des Neolithikums der radikalste in der gesamten Menschheitsgeschichte war: den Bruch in Religion und Philosophie (Protestantismus und cartesianische Subjektivität) und die Französische Revolution – was fehlt hier? Obwohl Hegel Adam Smith und andere frühe politische Ökonomen gelesen hat, lässt er die Schlüsselrolle des Kapitalismus und der industriellen Revolution unberücksichtigt. Duane Rousselle hat die grundlegende Ambiguität der verzweifelten Suche nach Alternativen zum Kapitalismus treffend beschrieben:
Wenn die radikalen Philosophen, einschließlich Marx und Bakunin, schnell mit der Frage nach Alternativen bei der Hand waren, dann deshalb, weil sie manchmal übersahen, dass der Kapitalismus die Rolle der »Alternative« eingenommen hat. Der Kapitalismus ist die Alternative (zum Autoritarismus, zum Dogmatismus, zum Sozialismus usw.).[2]
Es ist nicht nur so, dass der Kapitalismus nur durch seine permanente Selbstrevolutionierung gedeihen kann, wie Marx gezeigt hat; es ist auch so, dass er immer wieder als die einzige Alternative auftaucht, als einzige Möglichkeit, voranzukommen, und als dynamische Kraft, die eingreift, wenn das gesellschaftliche Leben in einer festen Form erstarrt. Der Kapitalismus ist heute viel revolutionärer als die traditionelle Linke, die besessen davon ist, die alten Errungenschaften des Wohlfahrtsstaats zu sichern – man denke nur daran, wie sehr der Kapitalismus in den letzten Jahrzehnten die gesamte Textur unserer Gesellschaften verändert hat. Viele Linke im Westen sind so obsessiv mit der Kritik des neoliberalen Kapitalismus beschäftigt, dass sie die große Veränderung vernachlässigen, den Übergang vom neoliberalen Kapitalismus zu einem befremdlichen Postkapitalismus, den einige Beobachter als »Neofeudalismus der Konzerne« bezeichnen. Wie ist es dazu gekommen?
Wenn aufgrund der entscheidenden Rolle des »General Intellect« (gesellschaftliches Wissen und Kooperation) für die Erzeugung von Reichtum dieser zunehmend jedes Maß sprengt und in keinem Verhältnis mehr zu der unmittelbaren Arbeitszeit steht, die für seine Produktion aufgewendet wird, dann ist die Folge davon nicht die von Marx erwartete Selbstauflösung des Kapitalismus, sondern die schrittweise Transformation des durch die Ausbeutung der Arbeit erzielten Profits in eine Rente, die durch die Privatisierung des »General Intellect« und anderer Gemeingüter bereitgestellt wird. Sehen wir uns das Beispiel Bill Gates an. Wie ist er zu einem der reichsten Männer der Welt geworden? Der Grund ist, dass Microsoft sich als fast universeller Standard etabliert und das Feld (nahezu) monopolisiert hat; das Unternehmen stellt somit eine Art direkte Verkörperung des »General Intellect« dar. Ganz ähnlich liegen die Dinge bei Jeff Bezos und Amazon, bei Apple, Facebook und so weiter und so fort. In all diesen Fällen wurden die Gemeingüter selbst – die Plattformen (Räume des gesellschaftlichen Austauschs und der Interaktion) – privatisiert, was uns, die Benutzer, in die Rolle von Leibeigenen zwingt, die dem Eigentümer eines Gemeinguts eine Rente zahlen wie einem Feudalherrn. Neulich konnten wir erfahren: »Zwei Prozent von Elon Musks Vermögen könnten den Hunger auf der Welt beenden, sagt der Direktor des UN-Welternährungsprogramms« – ein eindeutiges Indiz für den Neofeudalismus der Konzerne.[1] Und bei Facebook hat »Mark Zuckerberg aufgrund seiner unanfechtbaren Position an der Spitze des Konzerns ›die einseitige Kontrolle über drei Milliarden Menschen‹, sagte die Whistleblowerin Frances Haugen den britischen Abgeordneten und forderte dringend eine externe Regulierung, um das Management des Technologieunternehmens zu zügeln und den Schaden für die Gesellschaft zu verringern.«[2] Die große Errungenschaft der Moderne, der öffentliche Raum, ist offenbar im Verschwinden begriffen.
Zu dieser neuen Phase der Weltwirtschaft gehört auch eine andere Funktionsweise der Finanzsphäre. Yanis Varoufakis bemerkte eine merkwürdige Tatsache, die im Frühling 2020 offenbar wurde:[3] Am selben Tag, an dem die staatlichen Statistikämter in den USA und in Großbritannien ein atemberaubendes Absinken des Bruttoinlandsprodukts feststellten, das mit dem Absturz zur Zeit der Weltfinanzkrise vergleichbar war, registrierten die Börsen einen gigantischen Aufschwung. Kurz, obwohl die »reale« Wirtschaft stagniert oder sogar schrumpft, gehen die Börsenkurse nach oben – ein Anzeichen dafür, dass das fiktive Finanzkapital in seinem eigenen Kreislauf gefangen und von der »realen« Wirtschaft entkoppelt ist. An dieser Stelle kommen die Finanzmaßnahmen ins Spiel, die durch die Pandemie gerechtfertigt wurden. Sie drehen in gewisser Weise die traditionelle keynesianische Prozedur um, das heißt, ihr Ziel war nicht, der Realwirtschaft zu helfen, sondern riesige Geldmengen in den Finanzbereich zu investieren (um einen finanziellen Zusammenbruch wie 2008 zu verhindern) und dabei sicherzustellen, dass der Großteil dieses Geldes nicht in die »reale« Wirtschaft fließt (weil dies zu einer Hyperinflation führen könnte).
Was die Lage jedoch wirklich gefährlich macht, ist, dass privatisierte Gemeingüter mit einer neuen Welle starker nationalstaatlicher Konkurrenz koexistieren, die der dringenden Notwendigkeit, einen neuen Umgang mit unserer Umwelt zu entwickeln – einen radikalen politisch-ökonomischen Wandel, den Peter Sloterdijk als »Zähmung des wilden Tiers Kultur« bezeichnet –, diametral zuwiderläuft. Bis jetzt hat jede Kultur ihre Mitglieder durch staatliche Macht diszipliniert oder erzogen und so den inneren Frieden gesichert; das Verhältnis der verschiedenen Kulturen und Staaten war dabei jedoch stets von der Möglichkeit eines Krieges überschattet und Friedenszeiten waren nie mehr als nur vorübergehende Waffenstillstände. Die gesamte Ethik des Staates kulminiert im höchsten Akt des Heroismus, der Bereitschaft, sein Leben für den eigenen Nationalstaat zu opfern. Die wilden, barbarischen Beziehungen zwischen den Staaten dienen folglich als Grundlage für das ethische Leben innerhalb des Staates.[4]
Heute ist es sogar noch schlimmer geworden. Statt (die Beziehungen zwischen) Kulturen zu zivilisieren, untergräbt die fortgesetzte Privatisierung von Gemeingütern die ethische Substanz in jeder Kultur und treibt uns zurück in die Barbarei. Sobald wir uns jedoch vollständig damit abgefunden haben, dass wir auf einem Raumschiff Erde leben, drängt sich sofort die Aufgabe der Durchsetzung einer universellen Solidarität und Zusammenarbeit aller menschlichen Gemeinschaften auf. Es gibt keine höhere historische Notwendigkeit, die uns in diese Richtung drängt – die Geschichte ist nicht auf unserer Seite, sie führt uns tendenziell in den kollektiven Selbstmord. Unsere Aufgabe besteht heute, wie Benjamin es formuliert hat, nicht darin, den Zug des historischen Fortschritts vorwärts zu schieben, sondern die Notbremse zu ziehen, bevor wir alle in der postkapitalistischen Barbarei enden. In den letzten Monaten wurde immer deutlicher, auf welch alarmierende Weise die Krise der COVID-19-Pandemie mit aktuellen gesellschaftlichen, politischen, klimatischen und wirtschaftlichen Krisen verwoben ist. Die Pandemie muss mit der globalen Erwärmung, den ausbrechenden Klassengegensätzen, dem Patriarchat, der Misogynie und den vielen anderen anhaltenden Krisen, die darin in einem komplexen Wechselspiel mitschwingen, zusammen behandelt werden. Dieses Wechselspiel ist unkontrollierbar und voller Gefahren, und wir können nicht damit rechnen, dass uns der Himmel die Lösung weist. Diese hochriskante Situation macht unsere Zeit zu einem eminent politischen Augenblick.
Nur vor diesem Hintergrund können wir verstehen, was sich derzeit in China abspielt. Man kann die jüngste chinesische Kampagne gegen Großkonzerne und die Eröffnung einer neuen Börse in Peking, die sich der Förderung kleiner Firmen widmet, auch als Schritte gegen den neofeudalen Korporatismus betrachten, mithin als Versuche, den »normalen« Kapitalismus zurückzubringen. Die Ironie dieser Situation liegt auf der Hand: Man braucht ein starkes kommunistisches Regime, um den Kapitalismus vor der Bedrohung durch den neofeudalen Postkapitalismus der Konzerne zu schützen und am Leben zu halten. Aus diesem Grund sollte man mit großem Interesse die Verlautbarungen von Wang Huning verfolgen, einem aktuellen Mitglied des Ständigen Ausschusses des Politbüros der Partei und Direktor der Zentralen Beratungskommission für den Aufbau einer spirituellen Zivilisation. Wang betont zu Recht die Schlüsselrolle der Kultur als der Domäne der symbolischen Fiktionen. Die wahre materialistische Erwiderung zum Thema »Fiktion der Realität« (subjektivistische Zweifel à la »Ist das, was wir als Realität wahrnehmen, nicht nur eine weitere Fiktion?«) besteht nicht darin, streng zwischen Fiktion und Realität zu unterscheiden, sondern den Fokus auf die Realität der Fiktionen zu legen. Fiktionen existieren nicht außerhalb der Realität, sie werden in unseren sozialen Interaktionen, unseren Institutionen und unseren Gewohnheiten Wirklichkeit – wie wir im derzeitigen Chaos beobachten können, beginnt die soziale Wirklichkeit selbst zu zerfallen, sobald wir die Fiktionen zerstören, auf denen unsere sozialen Interaktionen beruhen.
Wang hat sich selbst als neokonservativ bezeichnet – was bedeutet das? Wenn man unseren großen Medien Glauben schenkt, ist Wang der Hauptgegner der jüngsten Neuausrichtung der chinesischen Politik. Wenn ich lese, dass eine der Maßnahmen, die die chinesische Regierung vor kurzem eingeführt hat, das Verbot der Zahl »996« ist, muss ich gestehen, dass meine erste Assoziation eine sexuelle war: Bei uns bedeutet »69« die Stellung, in der der Mann die Frau oral befriedigt und umgekehrt, und ich dachte »996« müsse sich auf irgendeine perversere Sexualpraxis beziehen, die sich in China verbreitet hat und bei der zwei Männer und eine Frau beteiligt sind (weil es dort einen relativen Frauenmangel gibt). Dann erfuhr ich, dass »996« einen brutalen Arbeitsrhythmus bezeichnet, den viele chinesische Firmen verordnen (ein Arbeitstag von neun Uhr morgens bis neun Uhr abends, sechs Tage die Woche). Aber in gewissem Sinne lag ich nicht völlig falsch, denn die noch andauernde Kampagne in China verfolgt ein doppeltes Ziel: mehr wirtschaftliche Gleichheit, einschließlich besserer Arbeitsbedingungen, und die Abschaffung der verwestlichten, auf Sex, Konsumdenken und Starkult ausgerichteten Popkultur.
Was heißt es denn, unter den gegenwärtigen Umständen ein Neokonservativer zu sein? Mitte Oktober 2019 starteten die chinesischen Medien eine Offensive mit der Behauptung, die Demonstrationen in Europa und Südamerika seien ein direktes Resultat der Toleranz des Westens gegenüber den Unruhen in Hongkong. In einem in der Beijing News veröffentlichten Kommentar schrieb der frühere chinesische Diplomat Wang Zhen: »Die verheerende Wirkung eines ›chaotischen Hongkong‹ hat begonnen, die westliche Welt zu beeinflussen.« Er meinte damit, dass die Demonstranten in Chile und Spanien ihre Weisungen aus Hongkong erhielten. In dieselbe Richtung ging ein Leitartikel in der Global Times, in dem die Demonstranten aus Hongkong beschuldigt wurden, »die Revolution in die Welt zu exportieren«:
Der Westen zahlt den Preis für die Unterstützung der Unruhen in Hongkong, die schnell Gewalt in anderen Teilen der Welt entfacht hat und ein Vorbote für die politischen Risiken ist, die der Westen nicht in den Griff bekommt. […] Es gibt im Westen viele Probleme und viel unterschwellige Unzufriedenheit. Vieles davon wird sich am Ende genauso manifestieren, wie es die Proteste in Hongkong getan haben.[5]
Die ominöse Schlussfolgerung lautete: »Katalonien ist wahrscheinlich erst der Anfang.«[6]
Die Vorstellung, dass die Demonstrationen in Barcelona und Chile sich Hongkong zum Vorbild nahmen, ist allerdings weit hergeholt. Diese Ausbrüche entluden sich aus einer allgemeinen Unzufriedenheit, die offensichtlich bereits bestand und nur auf einen zufälligen Auslöser wartete, um zu explodieren, so dass die Proteste auch dann noch anhielten, als die betreffenden Maßnahmen schon wieder aufgehoben worden war. Das kommunistische China spielt diskret mit der Solidarität der Machthaber auf der ganzen Welt gegen das aufständische Volk und warnt den Westen, die Unzufriedenheit im jeweils eigenen Land nicht zu unterschätzen – so, als teilten sie jenseits aller ideologischen und geopolitischen Spannungen das gemeinsame Grundinteresse am Machterhalt … Aber wird diese Verteidigung funktionieren?
Wang sieht seine Aufgabe darin, eine neue allgemeine ethische Substanz durchzusetzen, und wir sollten dies nicht als Ausrede abtun, um die vollständige Kontrolle der Kommunistischen Partei über das gesellschaftliche Leben ausüben zu können. Wang spricht ein echtes Problem an. Vor dreißig Jahren schrieb er das Buch America against America, in dem er scharfsinnig auf die Antagonismen des American Way of Life hinwies, einschließlich dessen dunklen Seiten: sozialer Zerfall, das Fehlen von Solidarität und gemeinsamen Werten, nihilistischer Konsumismus und Individualismus …[7] Trumps Populismus war ein falscher Ausweg. Er war der Höhepunkt des sozialen Zerfalls, weil er die Obszönität in die öffentliche Rede einführte und dieser dadurch ihre Würde nahm – etwas, das in China nicht nur verboten, sondern auch vollkommen unvorstellbar ist. Wir werden niemals einen hochrangigen chinesischen Politiker erleben, der öffentlich tut, was Trump getan hat: über die Größe seines Penis reden, weibliche Orgasmusgeräusche imitieren … Wang befürchtete, dass dieselbe Krankheit sich in China ausbreiten könnte – was nun auf der Ebene der Massenkultur geschieht, und die ständigen Reformen sind verzweifelte Versuche, diesen Trend zu stoppen. Auch hier stellt sich wieder die Frage: Wird das funktionieren? In der andauernden Kampagne lässt sich unschwer eine Spannung zwischen Inhalt und Form erkennen. Der Inhalt – die Etablierung stabiler Werte, die eine Gesellschaft zusammenhalten – wird in Form einer Mobilisierung durchgesetzt, die als eine Art vom Staatsapparat verhängter Ausnahmezustand empfunden wird. Auch wenn das Ziel dem der Kulturrevolution entgegensteht, gibt es doch Ähnlichkeiten in der Art, wie die Kampagne durchgeführt wird. Die Gefahr liegt darin, dass solche Spannungen in der Bevölkerung zynischen Unglauben hervorrufen können. Ganz allgemein scheint die laufende Kampagne in China den üblichen konservativen Versuchen allzu nahe zu kommen, die Vorzüge der kapitalistischen Dynamik zu genießen und gleichzeitig dessen destruktive Aspekte durch einen starken Nationalstaat zu kontrollieren, der patriotische Werte propagiert.
Darin lauert die Gefahr. Carlo Ginzburg hatte die Idee, dass die Scham für ein Land, nicht die Liebe zu ihm, das wahre Zeichen der Zugehörigkeit zu ihm sein könne.[8] Ein Paradebeispiel für eine solche Scham ist ein Fall aus dem Jahr 2014, als Hunderte Überlebende und Nachkommen von Opfern des Holocaust eine Anzeige in der Samstagsausgabe der New York Times schalteten, in der sie verurteilten, was sie als »das Massaker an den Palästinensern in Gaza und die anhaltende Besetzung und Kolonisierung des historischen Palästina« bezeichneten: »Wir sind beunruhigt über die extreme, rassistische Entmenschlichung von Palästinensern in der israelischen Gesellschaft, die einen Höhepunkt erreicht hat«, lautete die Erklärung. Vielleicht bringen heute ein paar Israelis den Mut auf, sich für das, was ihre Landsleute im Westjordanland und in Israel selbst tun, zu schämen – natürlich nicht in dem Sinne, dass sie sich ihres Jüdischseins schämen sollten, sondern ganz im Gegenteil, dass sie Scham dafür empfinden, was die israelische Politik im Westjordanland dem kostbarsten Erbe des Judentums selbst antut. »Recht oder Unrecht – mein Vaterland« ist einer der widerlichsten Wahlsprüche, die es gibt, und er macht perfekt deutlich, was am bedingungslosen Patriotismus falsch ist. Dasselbe gilt für das heutige China. Der Raum, in dem wir ein solches kritisches Denken entwickeln können, ist der Raum des öffentlichen Vernunftgebrauchs. Kant unterscheidet in seinem Aufsatz »Was ist Aufklärung« bekanntlich den »öffentlichen« vom »privaten« Vernunftgebrauch. »Privat« meint nicht das Individuelle im Unterschied zu den gemeinschaftlichen Bindungen, die man unterhält, sondern gerade die gemeinschaftlich-institutionelle Ordnung meiner besonderen Identifikation, während »öffentlich« die transnationale Universalität meines Vernunftgebrauchs ist.
[D]er öffentliche Gebrauch seiner Vernunft muß jederzeit frei sein, und der allein kann Aufklärung unter Menschen zu Stande bringen; der Privatgebrauch derselben aber darf öfters sehr enge eingeschränkt sein, ohne doch darum den Fortschritt der Aufklärung sonderlich zu hindern. Ich verstehe aber unter dem öffentlichen Gebrauche seiner eigenen Vernunft denjenigen, den jemand als Gelehrter von ihr vor dem ganzen Publikum der Leserwelt macht. Den Privatgebrauch nenne ich denjenigen, den er in einem gewissen ihm anvertrauten bürgerlichen Posten, oder Amte, von seiner Vernunft machen darf.[9]
Kants Formel der Aufklärung lautet daher weder »Gehorche nicht, denke frei!« noch »Gehorche nicht, denke und rebelliere!«, sondern »Denke frei, äußere deine Gedanken öffentlich und gehorche