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Donald Trump regiert unbehelligt, die Tech-Industrie aus dem Silicon Valley ebenfalls, und die Welt scheint sich nach dem Marx'schen Diktum zu verhalten, dass alles Ständische und Stehende verdampft: Arbeit wird automatisiert, Geld virtualisiert, die Klassengesellschaft zerstreut sich, die alte Weltordnung löst sich auf. Zerfällt damit auch der Kapitalismus selbst? In seinem neuen Buch analysiert der renommierte Kulturkritiker Slavoj Žižek den Zustand der Welt und fragt, was als Nächstes kommen könnte. Doch weil wir so tief in unserer kapitalistisch-neoliberalen Ideologie stecken, können wir dieses Nächste nicht sehen: Es kommt daher wie ein Dieb bei Tageslicht. Žižek öffnet uns mit seinem Buch die Augen und zeigt: Es ist an der Zeit aufzuwachen.
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Seitenzahl: 420
Slavoj Žižek
Wie ein Dieb bei Tageslicht
Macht im Zeitalter des posthumanen Kapitalismus
Aus dem Englischen von Karen Genschow
FISCHER E-Books
Für Jela, in L___!
Alain Badious Versuch, die Jugend zu verderben[1] beginnt mit der provokanten Behauptung, dass von Sokrates an die Funktion der Philosophie darin besteht, die Jugend zu verderben, sie zu entfremden (oder eher im Brecht’schen Sinne zu verfremden) von der vorherrschenden ideologisch-politischen Ordnung, radikale Zweifel zu säen und sie dazu zu befähigen, eigenständig zu denken. Die Jugend unterläuft den Prozess der Bildung, um in die hegemoniale gesellschaftliche Ordnung integriert zu werden, weshalb ihre Bildung eine Schlüsselrolle in der Reproduktion der herrschenden Ideologie spielt. Es verwundert daher nicht, dass Sokrates, der erste Philosoph, zugleich ihr erstes Opfer war, der vom demokratischen Hof Athens dazu verurteilt wurde, Gift zu trinken. Und ist dieses Aufstacheln nicht ein anderer Name für das Böse – das Böse in dem Sinne, dass es den gewohnten Lebensstil stört? Alle Philosophen haben aufgestachelt: Platon unterzog alte Gewohnheiten und Mythen einer unbarmherzigen rationalen Untersuchung, Descartes untergrub das mittelalterliche harmonische Universum, Spinoza wurde exkommuniziert, Hegel entfesselte die zerstörerische Kraft der Negativität, Nietzsche entmystifizierte die Grundlage selbst unserer Moralität … selbst wenn sie manchmal fast wie Staatsphilosophen erschienen, fühlte sich das Establishment nie wohl mit ihnen. Wir sollten auch ihre Gegenstücke zur Kenntnis nehmen, die »normalisierenden« Philosophen, die versuchten, das verlorene Gleichgewicht wiederzugewinnen und die Philosophie wieder mit der herrschenden Ordnung zu versöhnen: Aristoteles im Verhältnis zu Platon, Thomas von Aquin zum überschäumenden frühen Christentum, die rationale Theologie nach Leibniz zum Cartesianismus, den Neu-Kantianismus zum post-hegelianischen Chaos …
Ist das Paar Jürgen Habermas und Peter Sloterdijk nicht die letzte Verkörperung dieser Spannung zwischen Aufstacheln und Normalisierung, die sich in ihrer Reaktion auf die erschütternden Auswirkungen der modernen Wissenschaften, besonders der Hirnforschung und der Biogenetik, zeigt? Der Fortschritt der heutigen Wissenschaft zerstört die grundlegenden Voraussetzungen unseres Alltagsbegriffs von Realität.
Es gibt vier Haltungen, die man gegenüber diesem Durchbruch einnehmen kann. Die erste besteht darin, schlicht auf einem radikalen Naturalismus zu bestehen, d.h., heroisch der Logik der wissenschaftlichen »Entzauberung der Wirklichkeit« ungeachtet der Kosten zu folgen, selbst wenn die grundlegenden Koordinaten unseres Horizonts von sinnstiftender Erfahrung dadurch vernichtet werden. (In der Hirnforschung vertreten Patricia und Paul Churchland am radikalsten diese Haltung.) Die zweite ist, den verzweifelten Versuch zu unternehmen, eine vermeintlich originellere und authentischere Lesart der Welt, über die wissenschaftliche Annäherung hinaus oder jenseits davon, zu finden (Religion oder andere Arten von Spiritualität sind hier die Hauptkandidaten) – wie letztlich Heidegger es tut. Der dritte und verzweifeltste Ansatz ist der Versuch, eine New-Age-Synthese zwischen wissenschaftlicher Wahrheit und der vormodernen Welt der Bedeutung zu schmieden: Sie basiert auf der Behauptung, dass die neuen wissenschaftlichen Ergebnisse selbst (Quantenphysik beispielsweise) uns dazu drängen, den Materialismus aufzugeben und uns einer neuen (gnostischen oder östlichen) Spiritualität zuzuwenden. Die Standardversion dieser Idee lautet so:
»Das zentrale Ereignis des 20. Jahrhunderts ist der Sturz der Materie. In der Technologie, Wirtschaft und der Politik von Nationen nimmt Wohlstand in Form von physischen Ressourcen beständig an Wert und Bedeutung ab. Die Kräfte des Geistes nehmen überall gegenüber der rohen Gewalt der Dinge zu.«[2]
Diese Denkrichtung vertritt die Ideologie in ihrer schlimmsten Form. Die Wiedereinschreibung von eigentlich wissenschaftlichen Problemen (die Rolle der Wellen und Schwingungen in der Quantenphysik beispielsweise) in das ideologische Feld des »Verstand vs. rohe Dinge« verwischt das eigentliche paradoxe Ergebnis des notorischen »Verschwindens der Materie« in der modernen Physik: wie genau die »immateriellen« Prozesse ihren spirituellen Charakter verlieren und ein legitimes Objekt der Naturwissenschaften wurden.
Keine dieser drei Optionen ist für ein Establishment angemessen, das im Grunde alles für sich selbst behalten will: Es benötigt die Wissenschaft als Fundament wirtschaftlicher Produktivität, aber gleichzeitig will es die ethisch-politischen Grundlagen der Gesellschaft frei von Wissenschaft halten. Auf diese Weise gelangen wir zur vierten Haltung, einer neo-kantianischen Staatsphilosophie, deren beispielhafter Fall heute Habermas ist (es gibt aber auch andere, wie z.B. Luc Ferry in Frankreich). Es ist ein eher trauriges Spektakel, wenn man Habermas dabei zusieht, wie er die explosiven Ergebnisse der Biogenetik zu kontrollieren und ihre philosophischen Folgen zu beschneiden versucht – sein ganzes Unterfangen verrät die Angst, dass etwas geschehen wird, dass eine neue Dimension des »Menschlichen« entstehen wird, dass das alte Bild der menschlichen Würde und Autonomie nicht unbeschadet überleben wird. Die Überreaktion ist hier an der Tagesordnung, wie die lächerlichen Reaktionen auf Sloterdijks Rede in Elmau über Biogenetik und Heidegger zeigen,[3] die das Echo der Nazi-Eugenik aus dem (recht vernünftigen) Vorschlag heraushörten, dass die Biogenetik uns dazu herausfordert, neue ethische Regeln zu formulieren. Techno-wissenschaftlicher Fortschritt wird als Versuchung wahrgenommen, die uns dazu bringen kann, »zu weit zu gehen« – und das verbotene Gebiet biogenetischer Manipulation etc. zu betreten und damit den eigentlichen Kern unserer Menschlichkeit zu gefährden.
Die letzte ethische »Krise« anlässlich der Biogenetik schafft eigentlich die Notwendigkeit für etwas, das man mit vollem Recht »Staatsphilosophie« nennen kann: eine Philosophie, die einerseits wissenschaftliche Forschung und technischen Fortschritt fördert und andererseits dessen ganze sozio-symbolischen Auswirkungen auffängt, d.h., sie davon abhält, den bestehenden theologisch-ethischen Konstellationen bedrohlich zu werden. Es wundert daher nicht, dass diejenigen, die am besten beide Forderungen vereinen, Neu-Kantianer sind: Kant selbst konzentrierte sich auf das Problem, wie man – bei vollständiger Berücksichtigung Newton’scher Wissenschaft – garantieren kann, dass ethische Verantwortung aus dem Zugriff der Wissenschaft befreit werden kann – wie er es selbst formulierte, womit er die Reichweite des Wissens darauf beschränkte, Raum für Glauben und Moralität zu schaffen. Sind nicht die heutigen Staatsphilosophen mit der gleichen Aufgabe konfrontiert? Sind ihre Bemühungen nicht darauf konzentriert, wie man, durch verschiedene Versionen von transzendentaler Reflexion, die Wissenschaft auf ihren vorgeschriebenen Bedeutungshorizont beschränkt und so ihre Folgen für die ethisch-religiöse Sphäre als »illegitim« anprangert? In diesem Sinne ist Habermas in der Tat der vollendete Philosoph der (Re)Normalisierung, der verzweifelt daran arbeitet, den Kollaps unserer etablierten ethisch-politischen Ordnung zu verhindern:
»Könnte es sein, dass das corpus von Jürgen Habermas eines der ersten sein wird, in dem schlechthin überhaupt nichts Anstößiges mehr gefunden werden kann? Heidegger, Wittgenstein, Adorno, Sartre, Arendt, Derrida, Nancy, Badiou, selbst Gadamer, überall stößt man noch auf Dissonanzen. Die Normalisierung greift. Die Philosophie der Zukunft – die vollendete Integration.«[4]
Der Grund für diese Habermas’sche Aversion gegenüber Sloterdijk wird damit klar: Sloterdijk ist der vollendete »Anstachler«, einer, der keine Angst hat, »gefährlich zu denken« und die Voraussetzungen von menschlicher Freiheit und Würde, von unserem liberalen Wohlfahrtsstaat etc. in Frage zu stellen. Man sollte nicht davor zurückschrecken, diese Orientierung »böse« zu nennen, wenn man »böse« in einem grundlegenden Sinn versteht, wie Heidegger ihn umreißt:
»Die böse und darum schärfste Gefahr ist das Denken selber, insofern es gegen sich selbst zu denken hat, dies aber selten vermag.«[5] Man sollte Heideggers Gedanken hier noch einen Schritt weitertreiben: Nicht nur ist Denken böse, soweit es daran scheitert, sich gegen sich selbst zu richten, gegen den gewohnten Weg zu denken; Denken, soweit sein innerstes Potential darin besteht, frei und »gegen sich selbst« zu denken, ist das, was vom Standpunkt des konventionellen Denkens gar nicht anders als »böse« erscheinen kann. Es ist äußerst wichtig, auf dieser Ambiguität zu bestehen wie auch der Versuchung zu widerstehen, einen einfachen Ausweg daraus zu finden, indem man irgendeine »geeignete Maßnahme« zwischen den beiden Extremen von Normalisierung und dem Abgrund der Freiheit definiert.
Bedeutet dies, dass wir schlicht unsere Seite in diesem Gegensatz wählen sollten – »die Jugend verderben« oder wichtige Stabilität garantieren? Das Problem liegt heute darin, dass dieser einfache Gegensatz kompliziert wird: Unsere global-kapitalistische, von den Wissenschaften durchdrungene Realität ist in sich selbst »aufstachelnd« und fordert unsere ureigensten Grundlagen in einer sehr viel erschreckenderen Weise heraus als die wildesten philosophischen Spekulationen, so dass die Aufgabe eines Philosophen nicht mehr darin besteht, das hierarchische symbolische Gebäude zu unterminieren, das die Grundlage sozialer Stabilität ist, sondern – um auf Badiou zurückzukommen – der Jugend vor Augen zu führen, welche Gefahren in der wachsenden nihilistischen Ordnung liegen, die sich selbst als das Gebiet neuer Freiheiten präsentiert. Wir leben in einer außerordentlichen Zeit, in der wir unsere Identität auf keine Tradition mehr gründen können, kein Rahmen eines bedeutsamen Universums uns mehr befähigen könnte, ein Leben jenseits der hedonistischen Reproduktion zu führen. Der heutige Nihilismus – das Reich des zynischen Opportunismus, begleitet von beständiger Angst – legitimiert sich selbst als die Befreiung von den alten Zwängen: Wir sind frei, unsere sexuelle Identität permanent neu zu erfinden, nicht nur unseren Job oder unseren Berufsweg zu wechseln, sondern selbst unsere ureigensten subjektiven Merkmale wie unsere sexuelle Orientierung. Der Spielraum dieser Freiheiten ist jedoch strikt vorgegeben von den Koordinaten des existierenden Systems sowie von der Weise, wie Konsumfreiheit eigentlich funktioniert: Die Möglichkeit, zu wählen und zu konsumieren, wird unmerklich zu einer Pflicht des Über-Ichs, zu wählen. Die nihilistische Dimension dieses Freiheitsraums kann nur auf eine dauerhaft beschleunigte Weise funktionieren, sobald es langsamer wird, bemerken wir die Bedeutungslosigkeit der ganzen Bewegung. Diese Neue Weltunordnung, dieses graduelle Entstehen einer welt-losen Zivilisation betrifft in beispielhafter Weise die Jungen, die zwischen der Intensität des vollständigen Ausbrennens (sexuelle Lust, Drogen, Alkohol, selbst Gewalt) und dem Bemühen pendeln, erfolgreich zu sein (studieren, Karriere machen, Geld verdienen … innerhalb der bestehenden kapitalistischen Ordnung). Ständige Überschreitung wird damit zur Norm. Betrachten wir den toten Punkt, an dem sich heute Sexualität oder Kunst befinden: Gibt es etwas Langweiligeres, Opportunistischeres oder Sterileres, als der Über-Ich-Aufforderung nachzugeben, unablässig neue künstlerische Transgressionen und Provokationen zu erfinden (der auf der Bühne masturbierende oder sich selbst verletzende Performance-Künstler, der verwesende Tierkadaver oder menschliche Exkremente ausstellende Bildhauer), oder als die parallele Aufforderung, sich in immer »gewagteren« Formen der Sexualität zu versuchen?
Die einzig radikale Alternative zu diesem Wahnsinn scheint der noch schlimmere Wahnsinn des religiösen Fundamentalismus zu sein, ein gewaltsamer Rückzug in eine künstlich wiederauferstandene Tradition. Die höchste Ironie liegt darin, dass die brutale Rückkehr zu einer orthodoxen Tradition (natürlich einer erfundenen) als das vollendete Aufstacheln erscheint – sind die jungen Selbstmordbomber nicht die radikalste Gestalt der verdorbenen Jugend? Die große Aufgabe des Denkens ist es heute, die genauen Umrisse dieses toten Punkts zu erkennen und einen Weg hinaus zu finden.
Ein Zwischenfall jüngeren Datums illustriert dieses paradoxe Zusammenfallen der Gegensätze, das der Abwendung von der Treue zur Tradition hin zum transgressiven Aufstacheln zugrunde liegt. In einem Hotel in Skopje, Mazedonien, wo ich mich kürzlich aufhielt, fragte meine Partnerin, ob das Rauchen in unserem Zimmer erlaubt sei, worauf der Empfangschef eine unbezahlbare Antwort gab: »Natürlich nicht, es ist gesetzlich verboten. Aber es gibt Aschenbecher im Zimmer, es ist also kein Problem.« Der Widerspruch zwischen Verbot und Erlaubnis wurde offen hingenommen und dadurch aufgelöst, als nicht existent behandelt; die Botschaft lautete: »Es ist verboten, und jetzt sage ich Ihnen, wie sie es machen können.« Dieser Zwischenfall liefert vielleicht die beste Metapher für die ideologische Zwickmühle, in der wir uns heute befinden.
Wie sind wir an diesen Punkt gekommen? Einer der größten Beiträge der amerikanischen Kultur zum dialektischen Denken ist die Serie von eher vulgären Doktor-Witzen von der Art: »erst die gute Nachricht, dann die schlechte«, wie dieser: »Die schlechte Nachricht ist, dass Sie unheilbaren Krebs haben und in einem Monat sterben werden. Die gute Nachricht ist, dass wir auch festgestellt haben, dass Sie schwer an Alzheimer erkrankt sind, so dass Sie die schlechte Nachricht schon wieder vergessen haben werden, wenn Sie zu Hause sind.« Vielleicht sollten wir eine ähnliche Haltung zu radikaler Politik finden. Nach so vielen »schlechten Nachrichten« – in denen wir so viele Hoffnungen brutal haben zerbrechen sehen im Raum des radikalen Handelns, verstreut zwischen den beiden Extremen von Maduro in Venezuela und Tsipras in Griechenland – ist es leicht, dem Glauben zu erliegen, dass solches Handeln niemals eine Chance gehabt hat, dass es von Anfang an zum Scheitern verdammt war, dass die Hoffnung auf einen wirklichen und wirksamen Wandel zum Besseren eine reine Illusion war. Wir sollten also nicht nach alternativen »guten Nachrichten« suchen, sondern die guten Nachrichten in den schlechten wahrnehmen, indem wir unseren Standpunkt ändern und das Ganze auf neue Weise betrachten. Nehmen wie die Aussicht auf Automatisierung der Produktion, die – so fürchten viele – den Bedarf an Arbeitern radikal senken und so die Arbeitslosigkeit in die Höhe schnellen lassen wird. Aber warum sollten wir diese Aussicht fürchten? Eröffnet sie nicht die Möglichkeit einer neuen Gesellschaft, in der alle viel weniger werden arbeiten müssen? In welcher Art von Gesellschaft leben wir, in der die guten Nachrichten automatisch in schlechte verwandelt werden? Oder nehmen wir ein weiteres Beispiel von guten/schlechten Nachrichten: Ist die grundlegende Lehre der jüngsten öffentlichen Enthüllung der sogenannten Paradise-Papers nicht die schlichte Tatsache, dass die Ultrareichen in ihren gesonderten Zonen leben, in denen sie nicht an allgemeines Recht gebunden sind?
Neue Zonen emanzipatorischer Handlungen entstehen, wie die Städte, deren Bürgermeister oder Stadtparlamente progressive Agenden durchsetzen, die größeren länder- oder bundesweiten Regulierungen zuwiderlaufen. Beispiele gibt es zuhauf, von einzelnen Städten (Barcelona, Newark, selbst New York) bis zu Verbünden von Städten – kürzlich entschieden etliche lokale Regierungen in den USA, weiterhin das Engagement gegen Umweltbedrohungen auszuzeichnen, was von der Trump-Regierung abgeschafft worden war. Die entscheidende Tatsache ist hier, dass lokale Regierungen sich als sensibler gegenüber globalen Problemen erweisen als die höheren staatlichen Regierungen. Darum sollten wir das neue Phänomen nicht auf den Kampf lokaler Gemeinden gegen staatliche Regulierungen reduzieren: Lokale Regierungsbehörden sind betroffen von Problemen, die zugleich lokal und global sind, und üben aus zwei Richtungen Druck auf den Staat aus. Beispielsweise besteht die Bürgermeisterin von Barcelona darauf, die Stadt für Geflüchtete zu öffnen, während sie sich dem exzessiven Einfall durch Touristen entgegenstemmt.
Ein weiterer emanzipatorischer Schritt besteht darin, dass Frauen massenhaft mit Aussagen über männliche sexuelle Gewalt an die Öffentlichkeit gehen. Die Medienberichterstattung über diese Entwicklung sollte uns nicht von dem ablenken, was tatsächlich vor sich geht: nichts weniger als ein Epochenwandel, ein großes Erwachen, ein neues Kapitel in der Geschichte der Gleichheit. Für Tausende von Jahren war das Verhältnis zwischen den Geschlechtern geregelt und arrangiert; all dies wird nun in Frage gestellt und unterlaufen. Und die Protestierenden sind diesmal keine LGBT+-Minderheit, sondern eine Mehrheit: Frauen. Was hier entsteht, ist etwas, dessen wir uns die ganze Zeit bewusst waren, aber nicht in der Lage (oder willens oder bereit), es offen anzusprechen: die Hunderte von Weisen, in denen Frauen sexuell ausgebeutet werden. Frauen lenken nun die Aufmerksamkeit auf die dunkle Kehrseite unserer offiziellen Behauptungen von Gleichheit und gegenseitigem Respekt, und wir entdecken unter anderem, wie scheinheilig und einseitig unsere modische Kritik an der Unterdrückung der Frauen in muslimischen Ländern ist: Wir müssen uns mit unseren eigenen Formen der Unterdrückung und Ausbeutung auseinandersetzen.
Wie in allen revolutionären Umwälzungen wird es zahlreiche »Ungerechtigkeiten«, Ironien und so weiter geben. (Ich bezweifle zum Beispiel, dass die Auftritte des amerikanischen Komödianten Louis CK, so bedauerlich und anzüglich sie sein mögen, auf dieselbe Ebene mit direkter sexueller Gewalt gestellt werden können.) Aber noch einmal: Nichts davon sollte uns ablenken; wir sollten uns eher auf die Probleme konzentrieren, die vor uns liegen. Obwohl einige Länder bereits eine neue postpatriarchalische Geschlechterkultur erleben (nehmen wir Island, wo zwei Drittel der Kinder außerehelich geboren werden und Frauen mehr Posten in öffentlichen Institutionen innehaben als Männer), ist eine der dringendsten Aufgaben herauszufinden, was wir in der Umwälzung traditioneller Prozeduren des Liebeswerbens zu gewinnen und was zu verlieren haben. Es werden neue Regeln aufzustellen sein, um eine sterile Kultur der Angst und Unsicherheit zu vermeiden – außerdem müssen wir natürlich sichergehen, dass dieses Erwachen nicht zu einem weiteren Fall wird, in dem politische Legitimation auf dem Opferstatus der Subjekte gründet.
Ist das grundlegende Merkmal heutiger Subjektivität nicht die merkwürdige Kombination des freien Subjekts, das sich selbst als letztlich verantwortlich für sein Schicksal wahrnimmt, und des Subjekts, das die Autorität seiner Rede auf seinem Status als Opfer von Umständen gründet, die jenseits seiner Kontrolle liegen? Jeder Kontakt mit einem anderen Menschen wird als potentielle Bedrohung erfahren – wenn der andere raucht oder wenn er einen begehrlichen Blick auf mich wirft, verletzt er mich bereits. Diese Logik der Viktimisierung ist heute universalisiert und reicht weit über die üblichen Fälle sexueller und rassistischer Belästigung hinaus – denken wir beispielsweise an die wachsende Finanzindustrie des Schadensersatzes, vom Handel der Tabakunternehmen und den finanziellen Forderungen der Holocaust-Opfer und Zwangsarbeiter in Nazi-Deutschland bis zur Idee, die USA sollten Afroamerikanern Hunderte von Milliarden Dollar zahlen für all das, was sie unter der Sklaverei erlitten haben. Dieser Begriff des Subjekts als Opfer ohne jede Verantwortung ist geleitet von einer extrem narzisstischen Perspektive, aus der jede Begegnung mit dem Anderen als potentielle Bedrohung für die prekäre imaginäre Balance des Subjekts erscheint; als solches ist es nicht das Gegenteil, sondern vielmehr das inhärente Supplement des liberalen freien Subjekts. In der heutzutage vorherrschenden Form der Individualität wird die selbstzentrierte Behauptung des psychologischen Subjekts paradoxerweise von der Wahrnehmung seiner selbst als Opfer der Umstände überlagert.
Um auf den Aschenbecher zurückzukommen: Die Gefahr liegt darin, dass in der anhaltenden Bewusstwerdung die Ideologie persönlicher Freiheit sich entsprechend stillschweigend mit der Logik des Opferseins verschmelzen könnte, und Freiheit auf die Freiheit, seinen eignen Opferstatus zu artikulieren, reduziert wird. Eine radikale emanzipatorische Politisierung dieser Bewusstwerdung wird dann überflüssig und der Kampf der Frauen wird lediglich einer in einer Reihe von Protesten werden – gegen globalen Kapitalismus, ökologische Bedrohungen, Rassismus, für eine andere Demokratie und so weiter.
Wie wird der radikale soziale Wandel also vonstattengehen? Sicher nicht als triumphaler Sieg oder selbst nicht als eine Art Katastrophe, wie in den Medien breit debattiert und vorausgesagt wird, sondern als »Dieb in der Nacht«: »denn ihr selbst wißt genau, daß der Tag des Herrn kommen wird wie ein Dieb in der Nacht. Wenn sie sagen werden: Es ist Friede, es hat keine Gefahr –, dann wird sie das Verderben schnell überfallen wie die Wehen eine schwangere Frau, und sie werden nicht entfliehen.« (Paulus I, Thessalonicher 5:2-3) Geschieht dies nicht bereits in unserer Gesellschaft, die so sehr von »Frieden und Sicherheit« besessen ist? Bei näherem Hinsehen fällt jedoch auf, dass der Wandel bereits geschieht, und zwar im hellen Tageslicht: Der Kapitalismus löst sich offen auf und wird zu etwas anderem. Wir bemerken diese aktuelle Transformation nicht, weil wir tief in der Ideologie verhaftet sind.
Dasselbe gilt für psychoanalytische Behandlungen, wo die Auflösung ebenfalls als »Dieb am hellen Tag« kommt, als ein unerwartetes Nebenprodukt, nie als das Erreichen eines postulierten Ziels. Deshalb ist die psychoanalytische Praxis nur aufgrund ihrer eigenen Unmöglichkeit möglich – eine Feststellung, die viele sofort zu einem typischen Stück postmodernen Jargons erklären würden. Wies aber nicht Freud selbst in diese Richtung, als er schrieb, die idealen Bedingungen für die Psychoanalyse seien die, in denen die Psychoanalyse nicht mehr gebraucht wird? Aus diesem Grund führte Freud die psychoanalytische Praxis in seiner Liste unmöglicher Berufe auf. Wenn die psychoanalytische Behandlung begonnen hat, widersetzt sich der Patient ihr (unter anderem), indem er Übertragungen vornimmt, und die Behandlung schreitet fort durch die Analyse der Übertragung und andere Formen von Widerstand. Es kann keine direkte, »sanfte« Behandlung geben: In einer Behandlung stolpern wir unvermittelt über Hindernisse, indem wir diese Hindernisse durcharbeiten.
Und übertragen auf die Politik: Gilt nicht dasselbe auch für jede Revolution und jeden Prozess radikaler Emanzipation? Revolutionen sind nur möglich vor dem Hintergrund ihrer eigenen Unmöglichkeit: Die bestehende kapitalistische Ordnung kann sofort alle Versuche kontern, sie zu unterlaufen, und der antikapitalistische Kampf kann nur wirksam sein, wenn er mit diesen Gegenmaßnahmen umgeht, wenn er genau die Instrumente seiner Niederlage in seine Waffen verwandelt. Es nützt nichts, auf den richtigen Augenblick zu warten, in dem ein sanfter Wandel möglich sein wird; dieser Moment wird nie eintreten, die Geschichte wird uns nie eine solche Gelegenheit eröffnen. Man muss das Risiko eingehen und eingreifen, selbst wenn das Ziel unmöglich erscheint (und in gewisser Weise auch ist) – nur dadurch kann man die Situation verändern, so dass das Unmögliche möglich wird, in einer Art und Weise, die man niemals hätte voraussagen können.
Obwohl es so scheint, als wären wir der Manipulation der Medien hoffnungslos ausgeliefert,[6] können Wunder geschehen, und das falsche Universum der Manipulation kann plötzlich zerbröckeln und sich auflösen. Im Wahlkampf, der den Parlamentswahlen von 2017 in Großbritannien vorausging, war Jeremy Corbyn die Zielscheibe eines wohldurchdachten Rufmords durch die konservativen Medien, die ihn als entscheidungsschwach, inkompetent, nicht wählbar usw. darstellten. Wie schnitt er schließlich so gut in den Wahlen ab? Es reicht nicht zu sagen, dass er erfolgreich den Verleumdungen widerstand, indem er seine einfache Ehrlichkeit, seinen Anstand und seine Betroffenheit von den Sorgen einfacher Leute zur Schau stellte. Er schnitt gut ab genau wegen des versuchten Rufmords: Ohne ihn wäre er vermutlich weiterhin ein leicht langweiliger und uncharismatischer Führer, dem eine klare Vision fehlt, lediglich ein Repräsentant der alten Labour-Partei. Es war als Reaktion auf die erbarmungslose Kampagne, in der seine Einfachheit als positive Qualität erschien, als etwas, das die Wähler anzog, die von den vulgären Angriffen auf ihn abgestoßen waren, und diese Wendung war unvorhersehbar: Es war unmöglich vorher zu bestimmen, wie diese negative Kampagne funktionieren würde. Die Unentscheidbarkeit (um ein altes Modewort zu verwenden) ist ein Merkmal einer symbolischen Bestimmung, die nicht in Begriffen eines linearen Determinismus beschrieben werden kann: Es geht nicht um unzureichende Daten, um einige Argumente, die stärker sind als andere, sondern darum, dass dieselben Argumente dafür oder dagegen arbeiten können. Ein Charakterzug – Corbyns betont normale Anständigkeit – kann ein Argument für ihn (für die Wähler, die des medialen Blitzkriegs müde waren) oder ein Argument gegen ihn sein (für diejenigen, die meinen, dass ein Führer stark und charismatisch sein sollte). Das beigefügte je ne sais quoi, das darüber entscheidet, wie Ereignisse sich entwickeln werden, entzieht sich der wohlvorbereiteten Propaganda.
Diejenigen, die obskuren spirituell-kosmologischen Spekulationen folgen, werden mit dieser verbreiteten Idee vertraut sein: Wenn drei Himmelskörper (meist die Erde, ihr Mond und die Sonne) sich auf derselben Achse treffen, wird es zu einem verheerenden Ereignis kommen; die gesamte Ordnung des Universums wird für einen Moment aus der Bahn geworfen und muss ihr Gleichgewicht wiedererlangen (wie es 2012 geschehen sollte). Galt so etwas Ähnliches nicht für das Jahr 2017, das ein dreifaches Jubiläum war: 2017 feierten wir nicht nur den 100. Jahrestag der Oktoberrevolution, sondern auch den 150. der Erstausgabe von Marx’ Kapital (1867) und den 50. Jahrestag der sogenannten Schanghaier Kommune, bei der während der Kulturrevolution die Bewohner Schanghais beschlossen, Maos Ruf in wörtlichem Sinn zu folgen, und direkt die Macht übernahmen; sie stürzten die Herrschaft der Kommunistischen Partei (weshalb Mao schnell entschied, die Ordnung wiederherzustellen, indem er die Armee zur Vernichtung der Kommune schickte). Kennzeichnen diese drei Ereignisse nicht die drei Stadien der kommunistischen Bewegung: Marx’ Kapital umriss die theoretischen Grundlagen der kommunistischen Revolution, die Oktoberrevolution war der erste erfolgreiche Versuch, einen bürgerlichen Staat zu stürzen und eine neue soziale und ökonomische Ordnung zu errichten, während die Schanghaier Kommune für den radikalsten Versuch steht, den gewagtesten Aspekt der kommunistischen Vision umzusetzen: die Abschaffung der Staatsmacht und die direkte Einsetzung der Volksmacht, organisiert als Netzwerk lokaler Gemeinden.
Die Lehre besteht hier darin, dass, wenn wir an den 100. Jahrestag der Oktoberrevolution denken – den ersten Fall eines »befreiten Territoriums« außerhalb des Kapitalismus, einer Machtübernahme und des Zerreißens der Kette kapitalistischer Staaten –, wir ihn immer als den mittleren (vermittelnden) Zustand zwischen zwei Extremen ansehen sollten: den antinomischen Strukturen der kapitalistischen Gesellschaft (wie im Kapital analysiert), aus denen die kommunistische Bewegung erwachsen ist, und die nicht weniger antinomischen Peripetien der kommunistischen Staatsmacht, die in der Sackgasse der Chinesischen Revolution gipfelten. Nach der Machtübernahme steht die neue Macht der gewaltigen Aufgabe gegenüber, die neue Gesellschaft zu organisieren. Denken wir an den Dialog zwischen Lenin und Trotzki am Vorabend der Oktoberrevolution. Lenin fragte: »Was wird geschehen, wenn wir scheitern?«, und Trotzki antwortete: »Was wird geschehen, wenn wir siegen?«
Wir sind heute in dieser Frage festgefahren. Dieses Buch handelt von drei tragischen Akten, plus einem vierten, einer Art komischem Supplement. Die Prämisse des Buchs ist, dass wir uns heute mehr denn je an die grundlegenden marxistischen Einsichten halten sollten: Der Kommunismus ist keine ideale normative Ordnung, eine Art ethisch-politisches »Axiom«, sondern etwas, das auftaucht als Reaktion auf die sich vollziehenden historischen Prozesse und ihre toten Punkte. 1985 veröffentlichten Félix Guattari und Antonio Negri ein Buch auf Französisch mit dem Titel Les nouveaux espaces de liberté, der für die englische Übersetzung abgeändert wurde in Communists Like Us (Los Angeles: Semiotexte 1990)[7] – in unbeabsichtigter Weise verweist dieser Titel auf die aufkommende Aneignung der kommunistischen Idee durch die obere Mittelschicht und ermöglichte ihm so eine bescheidene Wiederkehr als Slogan für einige betuchte Akademiker, die keinerlei Verbindung zu tatsächlich Armen und Ausgebeuteten haben. Die neuen Kommunisten sind »wie wir«, normale akademische Kultur-Linke; eine radikale subjektive Transformation ist dabei nicht involviert. »Kommunismus« wird zu einer Insel, aus der man sich selbst »abzieht« – ein hübscher Fall von etwas, das man »Opportunismus mit Prinzipien« nennen kann, d.h. das zuversichtliche Festhalten an abstrakten »radikalen« Begriffen als Weg, »rein« zu bleiben und »Kompromisse« zu vermeiden, denn man vermeidet zugleich jegliches Engagement in tatsächlicher Politik.
Wenn wir also über die andauernde Relevanz (oder eigentlich Irrelevanz) der Idee des Kommunismus sprechen, sollten wir nicht an eine regulative Idee im Kant’schen Sinne denken, sondern in einem strikt Hegel’schen Sinn: Für Hegel ist »Idee« ein Begriff, der nicht im reinen »Sollen« besteht, sondern auch die Macht zu ihrer Umsetzung enthält. Die Frage nach der Aktualität der Idee des Kommunismus ist deshalb diejenige nach dem Erkennen von Tendenzen in unserer Gegenwart, die auf sie deuten, andernfalls ist es eine Idee, mit der man seine Zeit nicht vertun sollte.
Um Dinge wirklich zu verändern, muss man zunächst akzeptieren, dass es innerhalb des bestehenden Systems keine echte Veränderung geben kann. Jean-Luc Godard gab das Motto aus: »Ne change rien pour que tout soit différent« (»Ändere nichts, damit alles anders wird«), die Umkehrung von: »Manche Dinge müssen sich verändern, damit alles gleich bleibt«. In unserer spätkapitalistischen Konsumdynamik werden wir unablässig mit neuen Produkten bombardiert, aber diese beständige Veränderung wird zunehmend monotoner. Wenn nur die konstante Selbstrevolutionierung ein System am Leben halten kann, sind diejenigen, die es ablehnen, irgendetwas zu ändern, die Agenten von wahrem Wandel: ein Wandel genau des Prinzips der Veränderung.
Oder, um es anders auszudrücken, wahrer Wandel besteht nicht nur im Umsturz der alten Weltordnung, sondern vor allem in der Etablierung einer neuen Ordnung. Louis Althusser hat einmal eine Typologie revolutionärer Anführer improvisiert, die es mit Kierkegaards Klassifikation von Menschen in Offiziere, Hausmädchen und Schornsteinfeger durchaus aufnehmen kann: diejenigen, die Sprichwörter benutzen, solche, die keine verwenden, und solche, die neue Sprichwörter erfinden. Die ersten sind Schufte (Althusser dachte dabei an Stalin), die zweiten sind große Revolutionäre, die zum Scheitern verurteilt sind (Robespierre); die dritten sind die Einzigen, die die wahre Natur einer Revolution verstehen und erfolgreich sind (Lenin, Mao). Diese Triade verzeichnet drei verschiedene Weisen, in denen man sich zum großen Anderen ins Verhältnis setzen kann, verkörpert in der symbolischen Substanz, dem Bereich der ungeschriebenen Gebräuche und Weisheiten, die am besten in der Dummheit von Sprichwörtern zum Ausdruck kommen. Schufte schreiben die Revolution schlicht in die ideologische Tradition ihrer Nation ein (für Stalin war die Sowjetunion das letzte Stadium der fortschreitenden Entwicklung Russlands). Radikale Revolutionäre wie Robespierre scheitern, weil sie lediglich einen Bruch mit der Vergangenheit herbeiführen und in ihrem Bemühen, einen neuen Satz von Gebräuchen durchzusetzen, nicht erfolgreich sind (denken wir an Robespierres größtes Scheitern in seiner Idee, Religion durch einen neuen Kult des Höchsten Wesens zu ersetzen). Führer wie Lenin und Mao waren erfolgreich (zumindest eine Zeitlang), weil sie neue Sprichwörter erfanden, was heißt, dass sie neue Gewohnheiten durchsetzten, die das tägliche Leben regelten. Einer der besten Goldwynismen handelt davon, wie Sam Goldwyn, nachdem er erfahren hatte, dass Kritiker eine Vielzahl von alten Klischees in seinen Filmen bemängelt hatten, ein Memo an seine Drehbuchabteilung schrieb: »Wir brauchen mehr neue Klischees!« Er hatte recht, und die schwierigste Aufgabe einer Revolution besteht genau darin: neue Klischees für das normale Alltagsleben zu schaffen.
Man sollte hier noch einen Schritt weitergehen. Die Aufgabe der Linken besteht nicht nur darin, einfach eine neue Ordnung vorzuschlagen, sondern auch die Perspektive auf das, was möglich erscheint, zu verändern. Das Paradox unserer Notlage liegt deshalb auch darin, dass zum einen der Widerstand gegen den globalen Kapitalismus offensichtlich immer wieder dabei scheitert, dessen Fortschreiten aufzuhalten, es ihm zum anderen jedoch nicht gelingt, die vielen Signale der fortschreitenden Selbstauflösung des Kapitalismus zu erkennen. Es ist, als bewegten sich beide Tendenzen (Widerstand und Selbstauflösung) auf verschiedenen Ebenen und könnten nicht zusammenfinden, so dass sich flüchtige Proteste und innerer Verfall gleichzeitig ereignen, es aber keine Möglichkeit gibt, beides zusammenzubringen in einem koordinierten Versuch, die Welt vom Kapitalismus zu befreien. Wie ist es so weit gekommen? Während ein Großteil der Linken verzweifelt versucht, die Rechte der Arbeiter gegen den Ansturm des globalen Kapitalismus zu schützen, sind es fast ausschließlich die »progressivsten« Kapitalisten selbst (von Elon Musk bis Mark Zuckerberg), die vom Postkapitalismus sprechen – als würde genau der Begriff des Übergangs vom Kapitalismus, wie wir ihn kennen, und einer neuen postkapitalistischen Ordnung vom Kapitalismus selbst angeeignet.
In einem Interview mit The Atlantic im November 2017 äußerte Bill Gates, dass der Kapitalismus nicht funktioniere und unsere einzige Hoffnung, den Planeten zu retten, der Sozialismus sei. Seine Überlegungen gründen sich auf eine einfache ökologische Rechnung: Die Nutzung fossiler Brennstoffe muss radikal reduziert werden, wenn wir eine globale Katastrophe verhindern wollen, und da der private Sektor zu eigennützig ist, um saubere und wirtschaftliche Alternativen zu produzieren, muss die Menschheit jenseits der Marktkräfte handeln. Gates selbst kündigte sein Vorhaben an, zwei Milliarden Dollar aus eigener Tasche in grüne Energie zu investieren, obwohl damit nichts zu verdienen sei, und er rief seine Milliardärs-Kollegen dazu auf, aus ebenso philanthropischem Antrieb dabei zu helfen, die USA bis 2050 von fossiler Energie frei zu machen.[8] Von einer orthodoxen linken Position aus ist es leicht, sich über die Naivität von Gates’ Vorschlag lustig zu machen. Solche Vorwürfe mögen richtig sein, aber sie werfen die folgende Frage auf: Wo ist der linke realistische Vorschlag in Bezug auf das, was zu tun ist? Worte sind entscheidend in öffentlichen Debatten: Selbst wenn Gates über etwas spricht, das kein »wahrer Sozialismus« ist, spricht er doch über die verhängnisvolle Beschränktheit des Kapitalismus – und, noch einmal, haben heutige selbsterklärte Sozialisten eine ernsthafte Vision davon, wie Sozialismus heutzutage aussehen sollte?
Der übliche radikallinke Vorwurf an die Bilanz der Linken an der Macht besteht darin, sie seien, anstatt die Produktion effektiv zu sozialisieren und tatsächliche Demokratie einzusetzen, in den Zwängen konventioneller linker Politik verhaftet geblieben (die Produktionsmittel zu nationalisieren oder den Kapitalismus in sozialdemokratischer Manier zu tolerieren, eine autoritäre Diktatur durchzusetzen oder das Spiel der parlamentarischen Demokratie zu spielen). Vielleicht ist die Zeit gekommen, die brutale Frage zu stellen: Was genau hätten sie tun sollen oder überhaupt tun können? Wie hätte ein authentisches Modell sozialistischer Demokratie in der Praxis aussehen können? Ist der heilige Gral – eine revolutionäre Macht, die alle Fallen (Stalinismus, Sozialdemokratie) umgeht und eine wahrhafte Volksdemokratie auf gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Ebene entwickelt – nicht eine rein imaginäre Entität, die per Definition nicht mit tatsächlichem Inhalt gefüllt werden kann?
Hugo Chávez, Präsident Venezuelas von 1999 bis 2013, war nicht einfach ein Populist, der mit Öl-Geld um sich warf. Von den internationalen Medien wurden die komplexen und häufig inkonsistenten Bemühungen großflächig ignoriert, die kapitalistische Wirtschaft zu überwinden, indem mit neuen Formen experimentiert wurde, die Produktion zu organisieren, mit dem Ziel, über die Alternativen von privatem oder staatseigenem Besitz hinauszugelangen: Bauern- und Arbeiterkooperativen, Partizipation der Arbeiter, Kontrolle und Organisation der Produktion, verschiedene hybride Formen zwischen privatem Eigentum und gesellschaftlicher Kontrolle und Organisation usw. Fabriken, die von ihren Besitzern nicht genutzt werden, konnten beispielsweise in die Hände von Arbeitern gegeben werden. Es gibt viele Erfolge und Fehlschläge auf diesem Weg – beispielsweise wurde nach einigen Versuchen der Plan aufgegeben, verstaatlichte Fabriken an Arbeiter zu übergeben, indem man Aktien unter ihnen verteilte. Obwohl es sich dabei um echte Bemühungen handelte, Graswurzelinitiativen in staatliche Vorgaben zu integrieren, muss man doch die vielen wirtschaftlichen Fehlschläge und Ineffizienzen zur Kenntnis nehmen sowie die weitverbreitete Korruption. Die gängige Geschichte lautet, dass nach einem halben Jahr voller enthusiastischer Arbeit die Dinge den Bach hinuntergehen. In den ersten Jahren des Chavismo wurden wir eindeutig Zeugen einer breiten Mobilisierung des Volkes. Es bleibt dennoch die Frage: Wie kann oder sollte dieses Vertrauen auf die Selbstorganisation des Volkes sich auf das Führen einer Regierung auswirken? Können wir uns heute eine wirkliche kommunistische Macht auch nur vorstellen? Wir bekommen entweder Katastrophen (Venezuela), Kapitulation (Griechenland) oder eine vollständige Rückkehr zum Kapitalismus (China, Vietnam).
Offizielle Versuche, in China die marxistische Gesellschaftstheorie zu bemühen, zeichnen ein Bild der heutigen Welt, das, um es einfach auszudrücken, im Wesentlichen dasselbe ist wie zu Zeiten des Kalten Krieges: Der weltweite Kampf zwischen Kapitalismus und Sozialismus setzt sich unvermindert fort, das Fiasko von 1990 war nur ein momentaner Rückschlag, so dass die heutigen großen Gegenspieler nicht mehr USA und UDSSR, sondern die USA und China sind, das weiterhin ein sozialistisches Land ist. Die Explosion des Kapitalismus in China wird als imposanter Fall dessen angesehen, was in der frühen Sowjetunion Neue Ökonomische Politik genannt wurde, so dass wir in China einen neuen »Sozialismus mit chinesischen Merkmalen« haben, aber doch immer noch Sozialismus: Die Kommunistische Partei ist weiter an der Macht, kontrolliert engmaschig und lenkt die Marktkräfte. Von diesem Blickwinkel aus wird der wirtschaftliche Erfolg Chinas in den letzten Jahrzehnten als Beweis nicht für das produktive Potential des Kapitalismus, sondern für die Überlegenheit des Sozialismus gegenüber dem Kapitalismus interpretiert. Um diesen Standpunkt aufrechtzuerhalten, der auch für Vietnam, Venezuela, Kuba und selbst Russland als sozialistisches Land gilt, muss man dem neuen Sozialismus eine starke gesellschaftlich konservative Wendung verleihen. Dies ist nicht der einzige Grund, aus dem die Rehabilitierung des Sozialismus unverfroren nichtmarxistisch ist und den wesentlichen marxistischen Grundsatz ignoriert, dem zufolge der Kapitalismus durch kapitalistische Produktionsverhältnisse definiert wird und nicht durch den Typus der Staatsmacht.[9]
Alle diejenigen, die irgendwelche Illusionen in Bezug auf Putin hegen, sollten die Tatsache zur Kenntnis nehmen, dass er Iwan Iljin in den Status seines offiziellen Philosophen erhoben hat, einen russischen politischen Theologen, der nach seiner Ausweisung aus der Sowjetunion in den frühen 1920er Jahren auf dem berühmten »Philosophenschiff« für seine eigene Version eines russischen Faschismus, sowohl gegen den Bolschewismus als auch gegen westlichen Liberalismus, eintrat: der Staat als organische Gemeinschaft, geführt von einem väterlichen Monarchen. Man muss dennoch eine partielle Wahrheit in dieser chinesischen Position zugestehen: Selbst im wildesten Kapitalismus ist es entscheidend, wer die Staatsapparate kontrolliert. Klassischer Marxismus und die Ideologie des Neoliberalismus tendieren beide dazu, den Staat auf einen sekundären Mechanismus zu reduzieren, der den Bedürfnissen der Kapitalreproduktion gehorcht; beide unterschätzen dabei die aktive Rolle, die Staatsapparate in ökonomischen Prozessen spielen. Man sollte heute nicht den Kapitalismus als den großen bösen Wolf fetischisieren, der Staaten kontrolliert; Staatsapparate sind im Kern ökonomischer Prozesse selbst aktiv und tun viel mehr, als nur die rechtlichen und anderen (bildungspolitischen, ökologischen) Bedingungen der Reproduktion des Kapitals abzusichern. In vielen verschiedenen Formen ist der Staat als direkter wirtschaftlicher Agent tätig (er hilft gescheiterten Banken, unterstützt ausgewählte Industrien, er bestellt Verteidigungs- und anderes Material) – in den USA werden heute etwa 50 Prozent der Produktion durch den Staat vermittelt (während vor einem Jahrhundert dieser Anteil noch zwischen fünf bis zehn Prozent lag). Marxisten sollten diese Lektion vom Staatssozialismus gelernt haben, wo der Staat ein direkter wirtschaftlicher Agent und Regulator war, so dass er, was auch immer er gewesen ist, ein Staat ohne Kapitalistenklasse war – einige marxistische Analysten verwenden den verdächtigen Begriff »Staatskapitalismus« dafür. Aber wenn wir einen kapitalistischen Staat ohne Kapitalisten als Klasse haben können, bis zu welchem Grad können wir uns einen nichtkapitalistischen Staat vorstellen, in dem Kapitalisten die starke Rolle in der Wirtschaft spielen? Während das chinesische Modell sicher unadäquat ist – es kombiniert explodierende soziale Ungleichheit mit einem starken autoritären Staat –, sollte man nichtsdestoweniger die Möglichkeit eines starken nichtkapitalistischen Staats, der auf Elemente des Kapitalismus in einigen gesellschaftlichen Bereichen zurückgreift, nicht a priori ausschließen. Es ist möglich, eine begrenzte Anzahl von Elementen des Kapitalismus zu tolerieren, ohne zuzulassen, dass die Logik des Kapitals das überdeterminierende Prinzip des gesellschaftlichen Ganzen wird.
Wie Julia Buxton es ausdrückt, hat die Bolivarianische Revolution »die sozialen Verhältnisse in Venezuela verändert und hatte einen großen Einfluss auf dem Kontinent im Ganzen. Aber die Tragödie ist, dass sie nie sorgfältig institutionalisiert wurde und sich damit als unhaltbar erwies.«[10] Das mag sein, aber wie institutionalisiert man sie in einer authentischen Weise? Es ist zu einfach zu sagen, dass wahre emanzipatorische Politik sich vom Staat fernhalten sollte; das grundlegende Problem liegt darin, was mit dem Staat geschehen soll. Können wir uns überhaupt eine Gesellschaft außerhalb des Staats vorstellen? Wir müssen mit diesem Problem umgehen, hier und jetzt: Es ist keine Zeit, auf zukünftige Lösungen zu warten und uns währenddessen auf sicherer Distanz vom Staat zu halten. In anderen Worten: Warum gab es keine venezolanische Linke, die eine wirkliche Alternative zu Chávez und Maduro liefern konnte? Warum wurde die Initiative, gegen Chávez zu opponieren, der extremen Rechten überlassen, die triumphal den Kampf der Opposition an sich riss und behauptete, die Stimme der normalen Menschen zu sein, die unter den Folgen von Chávez’ wirtschaftlichem Missmanagement litt?
Im Frühmärz 2018 ging eine kleine Nachricht fast unbeachtet zwischen lauter »großen« Ereignissen unter: In Südafrika beschloss die Regierungspartei (der African National Congress), den weißen Bauern ohne Entschädigung ihr Land zu enteignen. Diese Entscheidung – wenn sie denn umgesetzt wird – wird die Linke wieder vor ein großes Dilemma stellen. Natürlich muss etwas unternommen werden, da die weiße Minderheit als Ergebnis der Apartheid immer noch das meiste Ackerland besitzt. Wie sollte jedoch eine solche Maßnahme umgesetzt werden, ohne eine weitere Wirtschaftskatastrophe wie in Zimbabwe zu verursachen, was wiederum der liberalen Meinung in die Hände spielt, dass Schwarze keine Wirtschaft führen können, und außerdem radikale linke Maßnahmen im Allgemeinen diskreditiert?
Kurz, was, wenn die Suche nach einem wahren Dritten Weg – jenseits der Sozialdemokratie, die nicht weit genug geht, und dem »Totalitarismus«, der zu weit geht – reine Zeitverschwendung wäre? Die radikallinke Strategie ist der Versuch, mit großem theoretischem Feinsinn zu zeigen, wie »totalitäre« Radikalisierung ihr Gegenteil maskiert: Der Stalinismus war tatsächlich eine Form des Staatskapitalismus und so weiter. Im Fall von Venezuela machen radikale Linke für das Fiasko des Chavismus die Tatsache verantwortlich, dass er Kompromisse mit dem Kapitalismus einging, indem er nicht nur in Korruption versank, sondern auch mit internationalen Unternehmen verhandelte, um Venezuelas Bodenschätze auszubeuten. Noch einmal: Selbst wenn dies im Prinzip stimmt, was hätte die Regierung tun sollen? In Bolivien umging die Morales-Linera-Regierung diese Fallen, aber taten sie etwas anderes, als in den Grenzen einer bescheideneren, »demokratischen« Form von Politik zu verbleiben?
Vielleicht wäre der erste Schritt aus diesem toten Punkt, unsere Besessenheit vom Fortschritt hinter uns zu lassen und uns stattdessen auf diejenigen zu konzentrieren, die abgehängt wurden – von den Göttern und vom Markt. In der populären Fiktion, vom niedrigsten fundamentalistischen Trash (Tim LaHaye und Konsorten) bis zu den TV-Serien (Leftovers), ist in den letzten Jahrzehnten ein überraschendes Thema aufgekommen: das Problem der »Abgehängten«. Armageddon nähert sich, und Gott hat die Privilegierten zu sich geholt, um sie vor den kommenden Schrecken zu retten. Aber könnte man nicht eine vulgäre ökonomische Lesart der populären Anziehungskraft dieser Idee vornehmen? Denn wie so häufig hat Gott selbst anscheinend die Stimme des Kapitals erhört, so dass die Frage der Abgehängten mit unserer wirtschaftlichen Zwangslage im globalen Kapitalismus zusammenhängt. Sind nicht in der Tat nicht nur diejenigen, die nicht in der Lage waren, sich dem Fluss der Geflüchteten anzuschließen, und in den Wirren ihrer Heimatländern geblieben sind, die Abgehängten?
Die meisten Geflüchteten wollen nicht in Europa leben, sie wollen ein würdiges Leben bei sich zu Hause. Anstatt daran zu arbeiten, dies zu erreichen, behandeln die westlichen Mächte das Problem als »humanitäre Krise«, deren beide Extreme die Gastfreundschaft und die Angst vor dem Verlust unseres Lebensstils sind. Sie schaffen dadurch einen pseudo-»kulturellen« Antagonismus zwischen Geflüchteten und lokaler Unterschicht und ziehen sie in einen Konflikt hinein, der einen politisch-ökonomischen Kampf in einen »Kampf der Kulturen« verwandelt.
Man sollte jegliche simplizistische Romantisierung von Geflüchteten vermeiden. Manche europäischen Linken behaupten, dass die Geflüchteten ein nomadisches Proletariat seien, das als Herzstück einer neuen revolutionären Bewegung agieren könne – eine Behauptung, die höchst problematisch ist. Das Proletariat besteht für Marx aus ausgebeuteten Arbeitern, die durch Arbeit diszipliniert werden und Wohlstand schaffen, und während das heutige Prekariat als neue Form des Proletariats gelten kann, liegt das Paradox der Geflüchteten darin, dass sie meist danach streben, überhaupt erst zum Proletariat zu werden. Sie sind »nichts«, haben keinen Ort in der sozialen Hierarchie des Landes, in das sie flüchten; aber von hier aus ist es ein großer Schritt, zum Proletariat im Sinne von Marx zu werden. Wäre es also nicht angebrachter, anstatt die Geflüchteten als nomadisches Proletariat zu feiern, zu behaupten, dass sie der dynamischste und ehrgeizigste Teil der Bevölkerung sind, diejenigen mit dem Willen, etwas zu erreichen, und dass die wahren Proletarier eher diejenigen sind, die als Fremde in ihrem eigenen Land zurückgelassen wurden (mit allen religiösen Konnotationen: Übriggelassene, nicht in Verzückung zu Gott Heimgeholte)?
Die Tendenz des globalen Kapitalismus besteht darin, aus 80 Prozent von uns »Übriggebliebene« zu machen. Vor hundert Jahren war Vilfredo Pareto der Erste, der diese sogenannte 80-zu-20-Regel entdeckte: 80 Prozent des Landes wird von 20 Prozent der Menschen besessen, 80 Prozent der Gewinne werden von 20 Prozent der Angestellten produziert, 80 Prozent der Entscheidungen werden während 20 Prozent der Dauer einer Sitzung getroffen, 80 Prozent der Links verweisen auf weniger als 20 Prozent der Webseiten, 80 Prozent der Erbsen werden von 20 Prozent der Erbsenschoten produziert. Wie manche Börsianer und Ökonomen nahegelegt haben, konfrontiert uns die heutige Explosion wirtschaftlicher Produktivität mit dem äußersten Fall dieses Gesetzes: Die aufkommende globale Wirtschaftsordnung tendiert zu einem Zustand, in dem nur 20 Prozent der Arbeitskraft alle notwendigen Tätigkeiten erledigen kann, so dass 80 Prozent der Menschen im Wesentlichen unbedeutend und nutzlos werden, potentiell arbeitslos. Wenn diese Logik ihren Höhepunkt erreicht, wäre es dann nicht vernünftig, sie auf ihre Selbstverneinung zu reduzieren: Ist ein System, das 80 Prozent der Menschen irrelevant und nutzlos macht, nicht selbst irrelevant und nutzlos? Das Problem liegt also nicht primär darin, dass ein neues globales Proletariat entsteht, sondern in etwas viel Radikalerem: Milliarden von Menschen werden schlicht nicht gebraucht, kein Sweatshop kann sie aufnehmen. Dieser Aspekt wird von der linken Politik vernachlässigt, die sich darauf beschränkt, für den Erhalt der schnell schwindenden Überreste des Wohlfahrtsstaats zu kämpfen; aber angesichts der sich ereignenden zerstörerischen Wirtschaftspolitik ist dies ein verlorener Kampf. Nicht einfach deshalb verloren, weil die Finanzelite von dem Verlust profitiert, sondern weil dieselbe Finanzelite sich auf das wachsende Heer derjenigen verlassen kann, die noch nicht einmal den Zugang zu irgendeiner dieser »Leistungen« hatten und diese Leistungen stattdessen als Privilegien denunziert (junge, prekarisierte Arbeiter).[11]
Der Kampf, um die alten Leistungen des Wohlfahrtsstaats aufrechtzuerhalten, ist folglich der Kampf der etablierten Arbeiterklasse gegen die neuen überausgebeuteten Randgruppen (prekäre Arbeiter, neue Sklaven etc.), die diese Leistungen nie genossen haben. Der italienische Marxist Antonio Negri hat einmal ein Interview gegeben, während er eine Vorstadt-Straße in Venedig-Mestre entlangspazierte; die Kamera des Journalisten hielt ihn dabei fest, wie er an einer Reihe Arbeiter vorbeiging, die ihre Textilfabrik bestreikten, die geschlossen werden sollte. Er zeigte auf die Arbeiter und bemerkte verächtlich: »Schaut sie an, sie wissen noch nicht, dass sie schon tot sind!« Für Negri stehen diese Arbeiter für alles, was falsch läuft im traditionellen gewerkschaftlichen Sozialismus, der sich auf unternehmerische Jobsicherheit konzentriert, ein Sozialismus, der unbarmherzig obsolet gemacht geworden ist durch die Dynamiken des »postmodernen« Kapitalismus mit seiner Hegemonie der intellektuellen Arbeit. Anstatt auf diesen neuen »Geist des Kapitalismus« in der Art traditioneller Sozialdemokratie zu reagieren und ihn als Bedrohung zu sehen, fordert Negri, dass wir ihn uns vollständig zu eigen machen sollten, um in ihm – in der Dynamik intellektueller Arbeit und seiner nichthierarchischen und nichtzentralisierten sozialen Interaktion – die Samen des Kommunismus zu erkennen. Wenn wir dieser Logik bis zum Ende folgen, können wir nur zustimmen mit dem zynischen Bonmot, dass die Hauptaufgabe der Gewerkschaften heute sein sollte, ihre Mitglieder weiterzubilden, damit sie sich an die neue digitale Wirtschaft anpassen können. Das Problem an Negris Vision liegt in seinem Gebrauch des spinozistischen Begriffs der Masse: Anstatt seine und Michael Hardts enthusiastischen Beispiele zu akzeptieren, sollten wir eher an die letzte Szene (in der Originalversion von 1872) von Mussorgskis Boris Godunow denken, in der in einem Wald nahe Kromy eine Menschenmenge den Fall des Zaren feiert. Hier die Beschreibung (schamlos aus der englischen Wikipedia abgeschrieben):
»Aufgewühlte Musik begleitet den Einzug einer Menge Vagabunden, die den Bojaren Chruschtschow gefangen genommen hat. Die Menge verspottet ihn, verbeugt sich in einer höhnischen Ehrung vor ihm (›Nicht ein Falke fliegt am Himmel!‹). Der Jurodiwy tritt ein, verfolgt von den Straßenkindern. Er singt ein schwachsinniges Lied (›Der Mond fliegt, das Kätzchen weint‹). Die Kinder grüßen ihn und klopfen auf seinen metallenen Hut. Der Jurodiwy hat eine Kopeke, die die Kinder ihm stehlen; er jammert pathetisch. Warlaam und Missail sind in der Ferne zu vernehmen, wie sie von den Verbrechen Boris’ und seiner Handlanger singen (›Die Sonne und der Mond haben sich verdunkelt‹). Sie treten ein. Die Menge gerät in Rage (›Unsere forsche Kühnheit hat sich befreit und ist zum Angriff bereit‹) und klagt Boris an. Zwei Jesuiten singen in der Ferne auf Lateinisch (›Domine, Domine, salvum fac‹) und beten, dass Gott Dmitri retten wird. Angestiftet durch Warlaam und Missail wollen die Vagabunden die Jesuiten hängen, die die Heilige Jungfrau um Hilfe ersuchen. Prozessionsmusik kündigt die Ankunft von Dmitri und seinen Streitkräften an. Warlaam und Missail rühmen ihn (›Ruhm für ihn, den Zaren!‹) gemeinsam mit der Menge. Der Usurpator ruft alle von Boris Godunow Verfolgten. Er befreit Chruschtschow und ruft alle auf, nach Moskau zu marschieren. Beistand. Die Menge bricht in Jubel aus, nur der Jurodiwy singt ein Klagelied (›Fließt, fließt, bittere Tränen!‹) über die Ankunft der Feinde und das Leid für Russland.«
In dieser chaotischen Mischung von Stimmen (orthodoxe Gläubige, katholische Emissäre, der Usurpator Dimitri und seine Propagandisten, ein verängstigter Bojare, sadistisch spielende Kinder) wird Mitleid mit Opportunismus verbunden, Unschuld mit Korruption, Leidenschaft für die Freiheit mit geschickter Manipulation. Wir sind so weit wie nur vorstellbar von jeglicher Behauptung eines emanzipatorischen Willens des Volkes entfernt – was im Hintergrund lauert, ist eine undurchdringliche Dunkelheit. Aber wie sieht es mit der entgegengesetzten Vision aus? Wie wäre es, da die Dynamik des neuen Kapitalismus eine stetig steigende Zahl von Arbeitern überflüssig macht, mit dem Projekt, all die »lebenden Toten« des globalen Kapitalismus, all die Abgehängten durch den neokapitalistischen Fortschritt, all die überflüssig und obsolet Gewordenen, all diejenigen, die unfähig sind, sich an diese neuen Bedingungen anzupassen, zu einen? Die Wette ist selbstverständlich, dass ein direkter Kurzschluss zwischen diesen Abgehängten der Geschichte und den progressivsten Aspekten der Geschichte hergestellt werden kann.[12]
Liberale, die die Probleme der Ausgeschlossenen aus dem gesellschaftlich-politischen Prozess eingestehen, sehen die Inklusion derer, deren Stimmen nicht gehört werden, als ihr Ziel an: Alle Standpunkte sollten gehört werden, alle Interessen berücksichtigt werden, die Menschenrechte aller garantiert werden, alle Lebensformen, Kulturen und Praktiken respektiert werden. Die Besessenheit dieser Form der Demokratie zielt auf den Schutz aller Sorten von Minderheiten: kulturelle, religiöse, sexuelle etc. Die Formel der Demokratie ist hier die geduldige Verhandlung und der Kompromiss. Was dabei verlorengeht, ist die proletarische Position, die der Universalität, die von den Ausgeschlossenen verkörpert wird. Aus diesem Grund zeigt ein genauerer Blick, dass die liberale Inklusion nicht Chávez’ Ziel war: Er schloss nicht die Zurückgelassenen in den zuvor existenten liberal-demokratischen Rahmen ein; im Gegenteil, er nahm sie, die ausgeschlossenen Bewohner der Favelas, als seine Basis und organisierte die Politik neu um sie herum. So pedantisch und abstrakt er erscheinen mag, ist dieser Unterschied – derjenige zwischen »bourgeoiser Demokratie« und »Diktatur des Proletariats« – ein wesentlicher.
Die wirkliche Wahl ist deshalb diese: Sollen wir weiterhin das humanitäre Spiel der Sorge für die Zurückgelassenen spielen, oder sollten wir die viel schwierigere Aufgabe in Angriff nehmen, das globale System zu verändern, das sie hervorbringt? Ohne eine solche Veränderung wird unsere Situation zunehmend irrational werden. Um uns in diesem Problem zu orientieren, sollten wir uns der schicksalhaften Begrenztheit von Interessenpolitik bewusst sein. Parteien wie Die Linke in Deutschland repräsentieren die Interessen ihrer Anhängerschaft der Arbeiterklasse – bessere Gesundheitsversorgung und Renten, höhere Löhne usw.; dies zwängt sie automatisch in die Grenzen des existierenden Systems, und ihr Ziel ist folglich keine wirkliche Emanzipation. Interessen sollten nicht einfach verfolgt werden, sie müssen neu definiert werden, um den Ideen Raum zu geben, die nicht auf Interessen reduziert werden können.[13] Aus diesem Grund erleben wir immer wieder das Paradox der rechten Populisten, wenn sie die Macht erlangen und dann Maßnahmen durchsetzen, die im Interesse der Arbeiter sind – wie in Polen beispielsweise, wo
»PiS [Recht und Gerechtigkeit, die herrschende, rechtspopulistische Partei] sich selbst von einer ideologischen Nichtigkeit in eine Partei verwandelt hat, der es gelungen ist, erschütternde Veränderungen in Rekordgeschwindigkeit und Effizienz einzuführen […]; sie hat die größten sozialen Transfers in der zeitgenössischen polnischen Geschichte umgesetzt. Eltern erhalten 500 Zloty (120 Dollar) monatlich für jedes Kind ab dem zweiten oder für alle Kinder in ärmeren Familien (das monatliche Durchschnittseinkommen beträgt etwa 2900 Zloty, obwohl mehr als zwei Drittel der Polen darunter liegen). Als Ergebnis ist die Armutsrate um 20 bis 40 Prozent gesunken und um 70 bis 90 Prozent unter den Kindern. Die Liste geht weiter: 2016 führte die Regierung freie Arzneimittel für Personen über 75 Jahre ein. Der Mindestlohn übersteigt nun den Wert, den Gewerkschaften angestrebt hatten. Das Rentenalter wurde von 67 auf 60 für Frauen und auf 65 für Männer gesenkt. Die Regierung plant außerdem Steuererleichterungen für Menschen mit geringem Einkommen.«[14]