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Seit zwei Jahrhunderten operiert die westliche Philosophie im Schatten von Hegel. Es ist ein sehr langer Schatten, und jede neue Philosophengeneration ersinnt seither neue Wege, um aus ihm herauszutreten. Während die einen dies mittels neuer theoretischer Konzepte versuchen, überziehen die anderen sein Denken schlicht mit Hohn und Spott. Slavoj Žižek unternimmt in seinem monumentalen Buch erst gar nicht den Versuch, aus diesem Schatten herauszutreten, macht es sich aber auch keineswegs darin bequem. Seine Devise lautet nicht: Zurück zu Hegel! Sondern: Wir müssen hegelianischer sein als der Meister selbst, um wie er die Brüche und Verwerfungen in der Realität verstehen und kritisieren zu können. In dieser hyperhegelianischen Manier und mit gewohnt pointierten Abschweifungen in (fast) alle Bereiche von Philosophie, Kunst und Leben rettet Žižek Hegels radikal emanzipatorisches Projekt für unsere Zeit.
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Seitenzahl: 2538
Seit zwei Jahrhunderten operiert die westliche Philosophie im Schatten von Hegel. Es ist ein sehr langer Schatten, und jede neue Philosophengeneration ersinnt seither neue Wege, um aus ihm herauszutreten. Während die einen dies mittels neuer theoretischer Konzepte versuchen, überziehen die anderen sein Denken schlicht mit Hohn und Spott. »Absurd« nennt nicht nur Bertrand Russell Hegels absoluten Idealismus und sein »System«.
Slavoj Žižek unternimmt in seinem monumentalen, vor Ideen nur so sprühenden Buch erst gar nicht den Versuch, aus diesem Schatten herauszutreten, macht es sich aber auch keineswegs darin bequem. Seine Devise lautet nicht: Zurück zu Hegel! Sondern: Wir müssen hegelianischer sein als der Meister selbst, um wie er, allerdings unter völlig veränderten historischen Bedingungen, die Brüche und Verwerfungen in der Realität verstehen und kritisieren zu können.
In dieser hyperhegelianischen Manier und mit gewohnt pointierten Abschweifungen in (fast) alle Bereiche von Philosophie, Kunst und Leben liest er nicht nur Hegel selbst, sondern auch dessen Vorgänger (Platon, Christentum, Fichte), Nachfolger (Marx, Badiou, Quantenphysik) und natürlich dessen großen Wiedergänger Jacques Lacan. Das Ziel ist es, Hegels radikal emanzipatorisches Projekt für unsere Zeit zu retten. Denn eines steht für Žižek fest: Die Moderne begann mit Hegel. Und sie wird mit Hegel enden.
Slavoj Žižek
Weniger als nichts
Hegel und der Schattendes dialektischen Materialismus
eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2014
Der vorliegende Text folgt der Erstausgabe, 2014.
Titel der Originalausgabe:
Less Than Nothing. Hegel and the Shadow of Dialectical Materialism
Die Originalausgabe in englischer Sprache, die dieser Übersetzung zugrunde liegt, erschien erstmals 2012 bei Verso.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation
in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet
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© der deutschen Ausgabe Suhrkamp Verlag Berlin 2014
© 2012 by Slavoj Žižek
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Einleitung: Eppur si muove 11
Teil IDer Drink davor 37
Kapitel 1: »Den Schein ins Wanken bringen« 39
Was nicht gesagt werden kann, muss gezeigt werden 39
Die Idee erscheint 52
Von der Fiktion zum Schein 64
Dialektische Gymnastik? Nein danke! 73
Von dem Einen zum den 79
»Nichts existiert« 89
Gorgias, nicht Platon, war der Erzstalinist! 100
Kapitel 2: »Wo nichts steht, sollten Sie lesen, dass ich Sie liebe« 113
Eine christliche Tragödie? 114
Der große Andere 123
Der Tod Gottes 136
Die atheistische Wette 159
»Gib in deinem Begehren nicht nach« 171
Lacan gegen den Buddhismus 180
Kapitel 3: Fichtes Entscheidung 192
Von Fichtes Ich zu Hegels Subjekt 196
Die Fichtesche Wette 203
Anstoß und Tathandlung 211
Teilung und Begrenzung 218
Das endliche Absolute 223
Die gesetzte Voraussetzung 234
Die Fichtesche Gräte im Hals 238
Die erste moderne Theologie 249
Teil IIDie Sache selbst: Hegel 265
Kapitel 4: Ist es heute noch möglich, Hegelianer zu sein? 267
Hegel versus Nietzsche 269
Kampf und Versöhnung 275
Eine zu erzählende Geschichte 286
Das Schicksal ändern 295
Die Eule der Minerva 303
Potenzialität versus Virtualität 313
Hegels »Kreis von Kreisen« 320
Zwischenspiel 1: Marx als Leser Hegels, Hegel als Leser von Marx 333
Kapitel 5: Parataxe: Figuren des dialektischen Prozesses 366
Lob des Verstands 372
Phaenomena, Noumena und die Grenze 387
Der Widerstreit 395
Negation der Negation 402
Form und Inhalt 419
Negation ohne Erfüllung 427
Zwischenspiel 2: Das Cogito in der Geschichte des Wahnsinns 449
Kapitel 6: »Nicht als Substanz, sondern ebensosehr als Subjekt« 493
Konkrete Allgemeinheit 493
Hegel, Spinoza … und Hitchcock 505
Das Hegelsche Subjekt 522
Absolutes Wissen 532
Die Verstopfung der Idee? 542
Das Tier, das ich bin 561
Zwischenspiel 3: König, Pöbel, Krieg … und Sex 573
Kapitel 7: Die Grenzen Hegels 623
Eine Liste 623
Notwendigkeit als an sich selbst aufgehobene Kontingenz 634
Spielarten der sich auf sich beziehenden Negation 648
Der Formaspekt 659
Aufhebung und Wiederholung 673
Von der Wiederholung zum Trieb 680
Teil IIIDie Sache selbst: Lacan 693
Kapitel 8: Lacan als Leser Hegels 695
Die List der Vernunft 697
Die Lacansche Prosopopöie 704
Lacan, Marx, Heidegger 713
Die »Zauberkraft« der Umkehrung 726
Reflexion und Supposition 736
Jenseits der Intersubjektivität 742
Trieb versus Willen 748
Das Unbewusste des Selbstbewusstseins 756
Zwischenspiel 4: Von der Zukunft borgen, die Vergangenheit verändern 763
Kapitel 9: Die Naht und die reine Differenz 792
Von der Differenzialität zum phallischen Signifikanten 793
Vom phallischen Signifikanten zum objet a 815
Sibelius' Schweigen 823
Die reine Differenz 829
Zwischenspiel 5: Das Unbehagen im Korrelationismus 850
Kapitel 10: Objekte, Objekte, wohin man auch blickt 882
Subtraktion, Protraktion, Obstruktion … Destruktion 882
Das objet a zwischen Form und Inhalt 898
Stimme und Blick 907
Die Stimme der Großmutter 915
Der Herr und sein Gespenst 924
Die zwei Seiten des Phantasmas 932
Bild und Blick 940
Präsenz 946
»Das Bild ist in meinem Auge. Aber ich, ich bin im Tableau« 955
Lasst die Leinwand leer! 964
Zwischenspiel 6: Der Kognitivismus und die Schleife der Selbstsetzung 972
Kapitel 11: Das Nicht-Alles oder die Ontologie der Geschlechterdifferenz 1004
Die Geschlechterdifferenz in der entzauberten Welt 1004
Das Reale der Geschlechterdifferenz 1012
Formeln der Sexuierung: das Alles mit einer Ausnahme 1027
Formeln der Sexuierung: das Nicht-Alles 1039
Die Antinomien der Geschlechterdifferenz 1049
Warum Lacan kein Nominalist ist 1060
Negation der Negation: Lacan versus Hegel? 1070
»Es gibt eine Nicht-Beziehung« 1081
Teil IVDie Zigarette danach 1093
Kapitel 12: Der Vierer aus Schrecken, Angst, Mut … und Enthusiasmus 1095
Sein/Welt/Ereignis 1095
Wahrheit, Inkonsistenz und der symptomale Punkt 1108
Es gibt kein menschliches Tier 1114
Badiou gegen Levinas 1125
Vom Schrecken zum Enthusiasmus 1132
Badiou und die Antiphilosophie 1145
Kapitel 13: Der Vierer aus Kampf, Geschichtlichkeit, Willen … und Gelassenheit 1168
Warum Lacan kein Heideggerianer ist 1168
Hegel versus Heidegger 1176
Das Folterhaus der Sprache 1182
Ein alternativer Heidegger 1194
Vom Willen zum Trieb 1200
Der nichtgeschichtliche Kern der Geschichtlichkeit 1210
Von der Gelassenheit zum Klassenkampf 1219
Kapitel 14: Die Ontologie der Quantenphysik 1229
Das ontologische Problem 1230
Das Wissen im Realen 1248
Agentieller Realismus 1266
Die zwei Vakuen 1282
Y'a de den 1292
SchlussDie politische Suspension des Ethischen 1307
Register 1375
Es gibt zwei entgegengesetzte Arten von Dummheit. Die erste liegt vor, wenn ein (gelegentlich) hyperintelligentes Subjekt »es einfach nicht kapiert«, wenn es also eine Situation zwar logisch begreift, aber deren versteckte kontextuelle Regeln nicht erfasst. Als ich beispielsweise zum ersten Mal in New York war, fragte mich der Kellner in einem Café: »Wie war Ihr Tag?« Ich antwortete wahrheitsgemäß (»Ich bin todmüde, habe ein Jetlag, bin völlig gestresst …«), und er schaute mich an, als wäre ich ein Vollidiot … und er hatte Recht: Diese Art von Dummheit ist exakt die eines Idioten. Alan Turing war dafür ein Musterbeispiel: ein Mann von außergewöhnlicher Intelligenz, aber gleichzeitig ein Protopsychotiker, der nicht in der Lage war, implizite kontextuelle Regeln zu verarbeiten. Im Bereich der Literatur fällt einem hier unweigerlich Jaroslav Hašeks braver Soldat Schwejk ein, der, als er sieht, wie Soldaten aus dem Schützengraben ihre Feinde beschießen, zwischen die Fronten läuft und losschreit: »Hört auf zu schießen, da sind Menschen auf der anderen Seite!« Der Prototyp dieser Art von Dummheit ist freilich das naive Kind aus Andersens Märchen, das öffentlich ausruft, dass der Kaiser nackt ist – und dabei offensichtlich nicht begriffen hat, dass, wie Alphonse Allais es formuliert hat, wir unter unserer Kleidung alle nackt sind.
Die zweite, entgegengesetzte Art von Dummheit wollen wir hier als Debilität bezeichnen. Debil ist demnach jemand, der sich vollkommen mit dem »gesunden Menschenverstand« identifiziert und ganz für den »großen Anderen« des äußeren Scheins steht. Aus der langen Reihe von Beispielen, beginnend mit dem Chor der griechischen Tragödie – der wie Lachen (oder Weinen) aus der Konserve funktioniert, allzeit bereit, die Handlung mit allgemeinen Weisheiten zu kommentieren –, seien wenigstens die »debilen«, dem gesunden Menschenverstand folgenden Begleiter der großen Detektive erwähnt: Sherlock Holmes' Watson, Hercule Poirots Hastings … Diese Begleiter dienen nicht bloß als Kontrastfiguren, die die Größe des Detektivs umso deutlicher hervortreten lassen – sie sind auch unverzichtbar für dessen Arbeit. In einem Roman erklärt Poirot Hastings dessen Rolle: Da er nur seinem Alltagsverstand folge, reagiere Hastings auf einen Tatort genau so, wie der Mörder, der darauf aus sei, die Spuren seiner Tat zu verwischen, es von der Öffentlichkeit erwarte, und nur auf diese Weise, indem er die erwartete Reaktion des gewöhnlichen »großen Anderen« in seine Analyse miteinschließe, könne der Detektiv das Verbrechen aufklären.
Doch haben wir mit diesem Gegensatzpaar schon das ganze Feld abgedeckt? Wo ordnen wir beispielsweise Franz Kafka ein, dessen Größe (unter anderem) in seiner einzigartigen Fähigkeit liegt, Dummheit als etwas vollkommen Normales und Gewöhnliches erscheinen zu lassen? (Denken wir an das überzogen »idiotische« Räsonieren in der langen Diskussion zwischen dem Geistlichen und Josef K. im Anschluss an die Parabel »Vor dem Gesetz«). Um diese dritte Form der Dummheit zu erklären, reicht ein Blick in die (englischsprachige) Wikipedia. Unter dem Eintrag »Imbecile« heißt es dort: »Imbezill war ein medizinischer Fachausdruck, mit dem Personen mit mittlerer bis schwerer geistiger Behinderung sowie ein bestimmter Verbrechertypus beschrieben wurden. Er leitet sich von dem lateinischen Wort imbecillus ab, was schwach oder schwachsinnig bedeutet. Früher wurde der Begriff ›imbezill‹ auf Menschen mit einem IQ von 26 bis 50 angewandt, zwischen ›debil‹ (IQ von 51 bis 70) und ›idiotisch‹ (IQ von 0 bis 25).«[1] Es könnte also schlimmer sein: hinter einem Debilen zurück, aber einem Idioten voraus – die Lage ist hoffnungslos, aber nicht ernst, wie ein österreichischer Imbeziller (wer sonst?) gesagt hätte. Die Probleme beginnen bei der Frage: Woher kommt eigentlich das durch die Vorsilbe »im-« negierte Stammwort »becillus«? Die Ursprünge sind zwar nicht ganz klar, aber wahrscheinlich stammt es vom Lateinischen baculum (Stock, Stab, Wanderstab); »imbezill« wäre also jemand, der ohne Stock auskommt. Wir können etwas Klarheit und Logik in die Sache bringen, wenn wir an den Stock denken, auf den wir uns als sprechende Wesen alle stützen müssen: die Sprache, die symbolische Ordnung, das, was Lacan den »großen Anderen« nennt. In diesem Fall ergibt die Dreiteilung idiotisch – imbezill – debil einen Sinn: Der Idiot ist einfach allein und steht außerhalb des großen Anderen, der Debile steht innerhalb (er wohnt in der Sprache, aber auf einfältige Weise), während der Imbezille sich genau dazwischen befindet – er weiß um die Notwendigkeit des großen Anderen, verlässt sich aber nicht auf ihn. Ein wenig erinnert dies an die Art, wie die slowenische Punkband Laibach ihr Verhältnis zu Gott definierte (wobei sie sich auf die Aufschrift »In God We Trust« auf dem amerikanischen Dollarschein bezog): »Wie die Amerikaner glauben wir an Gott, aber anders als sie vertrauen wir ihm nicht.« Lacanianisch gesprochen ist sich der Imbezille darüber im Klaren, dass es den großen Anderen nicht gibt, dass er inkonsistent, »ausgestrichen« ist. Zwar erscheint der Debile auf der IQ-Skala intelligenter als der Imbezille, aber er ist intelligenter, als gut für ihn wäre (wie reaktionäre Idioten, nicht jedoch Imbezille, gerne über Intellektuelle sagen). Ein Imbeziller par excellence unter den Philosophen ist der späte Ludwig Wittgenstein, der sich obsessiv mit verschiedenen Variationen der Frage des großen Anderen auseinandersetzte: Gibt es eine Instanz, welche die Konsistenz unserer Sprache garantiert? Können wir Gewissheit über die Regeln unserer Sprache erlangen?
Zielt nicht auch Lacan auf die gleiche Position des »(Im-)Bezillen« ab, wenn er seinen Text »Vers un signifiant nouveau« mit den Worten enden lässt: »Ich bin nur relativ dumm – will sagen, ich bin so dumm wie alle Menschen –, vielleicht, weil ich ein wenig aufgeklärt wurde«?[2] Wir sollten diese Relativierung der Dummheit – »nicht vollkommen dumm« – im strengen Sinne des Nicht-Alles verstehen: Dass Lacan nicht vollkommen dumm ist, liegt nicht daran, dass er etwa über irgendwelche besonderen Einsichten verfügte. Nein, es steckt nichts in ihm, das nicht dumm wäre, keine Ausnahme von der Dummheit; dass er nicht vollkommen dumm ist, liegt allein an der Inkonsistenz seiner Dummheit. Der Name dieser Dummheit, an der alle Menschen teilhaben, lautet natürlich »großer Anderer«. Mao Zedong charakterisierte sich in einem Gespräch mit Edgar Snow Anfang der 1970er Jahre selbst als haarlosen Mönch mit einem Schirm. Der aufgespannte Schirm deutet auf die Trennung vom Himmel hin, und das chinesische Zeichen für »Haar« hat einen ähnlichen Klang wie das für »Gesetz«; was Mao also sagt, ist – lacanianisch gesprochen –, dass er der Dimension des großen Anderen, der himmlischen wie der gesetzlichen Ordnung, die den normalen Lauf der Dinge regelt, enthoben ist. Paradox wird diese Selbstbeschreibung dadurch, dass Mao sich dennoch als Mönch charakterisiert (ein Mönch wird ja normalerweise als jemand gesehen, der sein Leben dem Himmel widmet) – wie also kann man ein vom Himmel subtrahierter Mönch sein? Diese »Imbezillität« ist der Kern der Subjektposition eines radikalen Revolutionärs (wie auch des Analytikers).
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