Unordnung im Himmel - Slavoj Žižek - E-Book

Unordnung im Himmel E-Book

Slavoj Zizek

0,0
19,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Bewältigen oder scheitern? Slavoj Žižek und sein philosophischer Blick auf unsere Zeit Pandemie, Klimawandel, verzweifelte Flüchtlinge, ein Krieg in Europa: In der Welt regiert das Chaos. Gesellschaftliche Probleme, soziale Ungleichheit und internationale Konflikte wirken erdrückend, Fortschritt scheint kaum mehr möglich. Können kritisches Denken und die moderne Philosophie Antworten finden? Die »Unordnung unter dem Himmel« erkannte Mao Zedong als eine Chance für Neuanfänge. Aber vielleicht hat die Unordnung mittlerweile den Himmel selbst erreicht? Slavoj Žižek, Philosoph, Psychoanalytiker und Kommunist, geht den aktuellen Krisen auf den Grund und lotet in seinen Lageberichten ihr Potenzial für Veränderungen aus. - Eine gesellschaftskritische Analyse der Krisen des 21. Jahrhunderts - Slavoj Žižek ist einer der bekanntesten Kulturkritiker und politischen Philosophen der Gegenwart - Von Julian Assange über die Alt-Right-Bewegung, die Krise der westlichen Demokratie und den Brexit zu Putins Krieg  Was tun gegen das Chaos in der Welt? Kritisches Denken hilft! Slavoj Žižek analysiert Texte von Orwell und Rammstein, Lenin und der Bibel und sucht universelle Wahrheiten auf lokalen politischen Schauplätzen. Er blickt auf die Zersplitterung der Linken, die leeren Versprechen der liberalen Demokratie und die lauen Kompromisse der Mächtigen. Nicht ohne Grund bezeichnete ihn DER SPIEGEL als »Popstar unter den Philosophen«! »Die Lage ist mitnichten ausgezeichnet, und darum muss gehandelt werden.« (Slavoj Žižek)

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 377

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Die englische Originalausgabe ist 2021 bei OR Books, New York/London unter dem Titel Heaven in Disorder erschienen. Die deutsche Ausgabe wurde hinsichtlich der Auswahl der Texte aktualisiert.

Copyright © Slavoj Žižek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

www.dnb.de abrufbar.

Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt.

Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig.

Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme.

wbg Theiss ist ein Imprint der wbg.

© der deutschen Übersetzung 2022 by wbg (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt

Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der wbg ermöglicht.

Lektorat: Dietlind Grüne, Heidelberg

Layout und Satz: Arnold & Domnick, Leipzig

Umschlagabbildung: Illustration von Slavoj Žižek. © Tom Elswijk

Umschlaggestaltung: Andreas Heilmann, Hamburg nach einer Vorlage von Antara Ghosh

Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier

Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de

ISBN 978-3-8062-4487-8

Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich:

eBook (PDF): ISBN 978-3-8062-4527-1

eBook (epub): ISBN 978-3-8062-4528-8

Menü

Buch lesen

Innentitel

Inhaltsverzeichnis

Informationen zum Buch

Impressum

Inhalt

Einführung

Ist die Lage immer noch ausgezeichnet?

1 Warum es so gefährlich ist, mit Julian Assange einen Kaffee zu trinken

2 Hat Amerika seinen Anspruch auf moralische Führung verloren?

3 Radikale Veränderungen, nicht Mitgefühl

4 Trump und Rammstein – eine Gegenüberstellung

5 Die Grenzen der Demokratie

6 Der Mut der Covid-19-Hoffnungslosigkeit

7 Wie man Trump in seinem Begriff tötet

8Democracy reborn? Nicht mit Joe Biden!

9The Great Reset? Ja, gerne – aber bitte richtig!

10 Christus in Zeiten der Pandemie

11 Erst als Farce, dann als Tragödie?

12 Was ist Trumps größter Verrat?

13 Auf dich, Julian Assange!

14 Biden über Putins (Mangel an) Seele

15 Klassenkampf wider den Klassismus

16 „Wir müssen leben, bis wir sterben“: Was uns Rammstein über das Leben in der Pandemie zu sagen hat

17 Ein europäisches Manifest

18 Licht am Ende des Tunnels?

19 Drei ethische Haltungen

20 Der Pariser Kommune zum 150

21 Mitgefühl reicht nicht aus

22 Ist der Kommunismus ein autoritärer Kapitalismus?

23Les Non-Dupes errent

24 Letzter Ausstieg: Kommunismus

25 Die Taliban und das unvollendete Projekt der Moderne

26 Assange gegen den digitalen Neofeudalismus und die liberale Selbstgefälligkeit

27 Ist es mit dem friedlichen Bosnien bald vorbei?

28 Abschied von Lenin im Donbass

29 Die Pandemie zwischen Apathie und Solidarität

30 Wird China zu einem Nationalstaat?

31 Omikron – erst die schlechte Nachricht, dann die gute (die sogar noch schlechter sein kann)

32 Was wird aus einer Handvoll Sonnenblumenkerne wachsen?

33 Die Ukraine und die Dritte Welt

34 Von Rasputin zu Dwaputin oder: Willkommen im heißen Frieden

35 Warum ich immer noch Kommunist bin

Einführung

Ist die Lage immer noch ausgezeichnet?

Einer der bekanntesten Aussprüche von Mao Tse-tung lautet: „Es herrscht große Unordnung unter dem Himmel; die Lage ist ausgezeichnet.“ Man versteht leicht, was Mao damit meinte: Wenn die bestehende Gesellschaftsordnung zerfällt, bietet das Chaos, das daraus entsteht, den revolutionären Kräften eine große Chance, die politische Macht durch entschlossenes Handeln zu übernehmen. Heute herrscht große Unordnung unter dem Himmel – daran kann kein Zweifel bestehen. Die Covid-19-Pandemie, die globale Erwärmung, weltweit ausbrechende Volksaufstände und sich verschärfende soziale Gegensätze sind dabei nur einige der Krisen, die uns bedrängen.

Doch dann kam die russische Invasion der Ukraine, die unsere gesamte Situation veränderte. Wird der Ukraine-Krieg Teil des „heißen Friedens“ bleiben, ein Frieden, der durch ständige lokale bewaffnete Auseinandersetzungen aufrechterhalten wird und der den Kalten Krieg abgelöst hat, oder wird er zu einem neuen Weltkrieg ausufern? Klar ist, dass der laufende Krieg nicht nur um ein Stück Land in der Ostukraine geführt wird: Es ist der Krieg für eine neue globale Ordnung, in der Russland wieder ein Imperium sein wird, und sein Hauptziel ist Europa, die Zerstörung der europäischen Einheit.

Ist die Lage angesichts dieses Chaos immer noch ausgezeichnet, oder ist die Gefahr der Selbstzerstörung dafür zu groß? Der Unterschied zwischen der Lage, an die Mao dachte, und der, in der wir uns befinden, lässt sich am besten durch eine kleine begriffliche Unterscheidung erfassen. Mao spricht von der Unordnung unter dem Himmel, wobei der „Himmel“ oder der große Andere in jeglicher Form – die unerbittliche Logik des Geschichtsverlaufs, die Gesetze der gesellschaftlichen Entwicklung – immer noch existiert und das gesellschaftliche Chaos diskret steuert. Heute müsste man hingegen davon sprechen, dass der Himmel selbst sich in Unordnung befindet. Was will ich damit sagen?

In Der geteilte Himmel (1963), Christa Wolfs klassischer Erzählung über die subjektiven Auswirkungen der deutschen Teilung, sagt Manfred (der sich für den Westen entschieden hat) beim letzten Treffen zu seiner Geliebten Rita: „Den Himmel wenigstens können sie nicht zerteilen.“ Rita (die sich entschieden hat, im Osten zu bleiben) erwidert ihm bitter: „Doch. Der Himmel teilt sich zuallererst.“1 So apologetisch (zugunsten des Ostens) die Erzählung auch ist, so vermittelt sie dennoch eine richtige Einsicht: Unsere „irdischen“ Teilungen und Kämpfe beruhen letztlich immer auf einem „geteilten Himmel“, das heißt auf einer viel radikaleren und ausschließlicheren Teilung des (symbolischen) Universums, in dem wir leben. Stütze und Instrument dieser „Himmelsteilung“ ist die Sprache als das Medium, das die Art und Weise trägt, wie wir die Realität erfahren – die Sprache, nicht etwa primitive egoistische Interessen, ist der erste und größte Spalter. Der Sprache verdankt es sich, dass wir „in anderen Welten leben“ (können) als unsere Nachbarn (und umgekehrt), selbst wenn sie in der gleichen Straße wohnen.

Heute ist der Himmel nicht mehr in zwei (Einfluss-)Sphären geteilt wie zu Zeiten des Kalten Krieges, als sich zwei globale Weltanschauungen gegenüberstanden. Die Himmelsteilungen scheinen heute zunehmend innerhalb der einzelnen Länder zu verlaufen. In den Vereinigten Staaten etwa herrscht ein ideologischer und politischer Bürgerkrieg zwischen der Alt-Right-Bewegung und dem liberal-demokratischen Establishment, während in Großbritannien ähnlich tiefe Gräben bestehen, wie sich kürzlich am erbitterten Kampf zwischen Befürwortern und Gegnern des Brexits zeigte. Die Räume, in denen man zu einer gemeinsamen Position zusammenfinden könnte, werden immer kleiner, und darin spiegelt sich die fortschreitende Einhegung des physischen öffentlichen Raums wider. Das alles passiert nun in einer Zeit, in der es angesichts diverser sich überschneidender Krisen mehr denn je auf weltweite Solidarität und internationale Zusammenarbeit ankommt.

In den letzten Monaten ist immer offensichtlicher geworden, dass die Krise der Covid-19-Pandemie auf verschiedene und oft alarmierende Weise mit den aktuellen gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen wie auch den ökologischen Krisen verwoben ist. Die Pandemie muss im Zusammenhang mit der globalen Erwärmung, den aufbrechenden Klassengegensätzen, mit Patriarchat und Frauenfeindlichkeit und den vielen anderen anhaltenden Krisen betrachtet werden, die in einem komplexen Zusammenspiel mit ihr und untereinander in Resonanz stehen. Dieses Zusammenspiel lässt sich nicht kontrollieren, und es steckt voller Gefahren. Auf den Himmel können wir dabei nicht bauen: Er enthält nichts, was uns die Lösung näherbringen könnte. Eine derart prekäre Lage macht diesen unseren Augenblick zu einem überaus politischen Moment: Die Lage ist mitnichten ausgezeichnet, und darum muss gehandelt werden.

Was ist also zu tun? Lenins Forderung nach einer „konkreten Analyse der konkreten Situation“ ist heute aktueller denn je. Kein allgemeines Rezept, keine einfache Formel kann uns die Antwort liefern – es gibt Momente, in denen es notwendig ist, bescheidene progressive Maßnahmen pragmatisch zu unterstützen; es gibt Momente, in denen es nicht ohne radikale Konfrontation geht; und es gibt Momente, in denen ein ernüchterndes Schweigen (und ein putziges Paar Fäustlinge) mehr sagen als tausend Worte.

1 Christa Wolf, Der geteilte Himmel: Erzählung, Suhrkamp, Frankfurt am Main 2008, S. 238.

1

Warum es so gefährlich ist, mit Julian Assange einen Kaffee zu trinken

Am Donnerstag, dem 21. November 2019, besuchte ich Julian Assange im Londoner Gefängnis Belmarsh. Dabei gab es ein kleines, an sich unbedeutendes Detail, das mir wie ein Sinnbild dafür erschien, wie Gefängnisse funktionieren, in denen man respektvoll auf unser Wohl (als Besucher und als Gefangene) und unsere Menschenrechte bedacht ist. Alle Wachleute waren sehr freundlich und betonten immer wieder, dass alles, was sie täten, nur zu unserem eigenen Wohl sei. So ist Assange, obwohl er seine Haftstrafe mittlerweile verbüßt hat und sich rein zu Schutzzwecken weiter im Gefängnis befindet, 23 Stunden am Tag einzeln untergebracht; er muss sämtliche Mahlzeiten allein in seiner Zelle einnehmen, trifft keine anderen Gefangenen, wenn er für eine Stunde nach draußen darf, und auch die Kommunikation mit dem Wachmann, der ihn auf seinen Ausgängen begleitet, ist auf ein Minimum beschränkt. Warum wird er so streng behandelt? Die Antwort auf meine entsprechende Nachfrage war vorhersehbar: Es sei zu seinem eigenen Besten (weil er vielen als Verräter gilt und entsprechend gehasst wird, könnte er angegriffen werden, wenn er sich unter andere mischt usw.).

Das verrückteste Beispiel dieser Sorge um „unser Wohl“ war der Moment, als mir sein Assistent, der mich begleitete, eine Tasse Kaffee brachte, die auf einen Tisch gestellt wurde, an dem Julian und ich saßen. Ich nahm den Plastikdeckel ab, trank einen Schluck und stellte die Tasse zurück auf den Tisch, ohne den Deckel wieder aufzusetzen; sofort (innerhalb von zwei, drei Sekunden) gab mir einer der Wachleute per Handzeichen zu verstehen, dass ich den Deckel wieder auf die Tasse setzen sollte. (Er tat das sehr freundlich, denn es ist ein humanistisches Gefängnis – wenn es je eines gab.) Ich gehorchte, war aber doch etwas überrascht von der Forderung und fragte beim Verlassen des Gefängnisses ein paar der Angestellten nach dem Grund für diese Anweisung. Selbstverständlich erhielt ich wieder eine warme, menschliche Erklärung. Sie lautete in etwa: „Es ist zu Ihrem eigenen Wohl, Sir, um Sie zu schützen. Sie saßen mit einem gefährlichen Gefangenen an einem Tisch. Der Mann neigt vermutlich zu Gewaltausbrüchen. Und dann steht da zwischen ihnen beiden eine Tasse mit heißem Kaffee, ganz unbedeckt …“ Mir wurde richtig warm ums Herz bei der Vorstellung, wie gut ich beschützt wurde – man stelle sich nur vor, welchen Bedrohungen ich ausgesetzt wäre, würde ich Assange in einem russischen oder chinesischen Gefängnis besuchen; die Wachleute würden auf die noble Maßnahme zu meiner Sicherheit zweifellos verzichten und mich damit einer schrecklichen Gefahr aussetzen!

Einige Tage vor meinem Besuch hatte Schweden die Forderung, Assange auszuliefern, fallen gelassen und ganz klar eingeräumt, dass aufgrund weiterer Zeugenaussagen kein Grund für eine Strafverfolgung bestehe. Diese Entscheidung hatte allerdings einen gewissen, durchaus bedenklichen Hintergrund. Liegen nämlich zwei verschiedene Forderungen nach der Auslieferung einer Person vor, muss ein Richter darüber entscheiden, welche davon Vorrang erhält. Wäre zugunsten der schwedischen Forderung entschieden worden, hätte das die Auslieferung an die USA gefährden können (sie hätte sich vielleicht verzögert; die öffentliche Meinung hätte sich gegen sie wenden können usw.). Jetzt, da nur noch die Vereinigten Staaten die Auslieferung verlangen, ist die Situation viel klarer.

Darum ist es nun an der Zeit, eine grundlegende Frage zu stellen: Hat Schweden wirklich acht Jahre dafür gebraucht, ein paar Zeugen zu befragen und so Assanges Unschuld zu beweisen (und in dieser langen Zeit sein Leben zu ruinieren sowie zur Zerstörung seines Ansehens beizutragen)? Jetzt, da klar ist, dass die Vergewaltigungsvorwürfe eine Lüge waren, bringen weder die schwedischen Staatsorgane noch die britische Presse, die den Rufmord an Assange maßgeblich mitbetrieb, den Anstand auf, sich ohne Wenn und Aber zu entschuldigen. Wo sind jetzt all die Journalisten, die schrieben, Assange solle an Schweden und nicht an die USA ausgeliefert werden? Und wo sind darüber hinaus all diejenigen, die davon schwafelten, dass Assange paranoid sei, dass er keine Auslieferung zu erwarten habe, dass er, wenn er die ecuadorianische Botschaft verlasse, nach ein paar Wochen im Gefängnis wieder frei sei, dass alles, wovor er Angst haben müsste, die Angst selbst sei? Diese letzte Behauptung stellt für mich eine Art Negativbeweis dafür dar, dass es keinen Gott gibt: Denn wenn es einen gerechten Gott gäbe, dann würde den Autor dieser obszönen Paraphrase von Franklin D. Roosevelts berühmtem Ausspruch aus der Zeit der Großen Depression der Blitz treffen.

An dieser Stelle möchte ich kurz auf China zu sprechen kommen und daran erinnern, was der Auslöser der seit Monaten andauernden großen Proteste in Hongkong war: China forderte, Hongkong solle ein Gesetz akzeptieren, welches die Hongkonger Behörden dazu zwingen würde, ihre Bürger an China auszuliefern, wenn Peking das verlangt. Ich habe den Eindruck, Großbritannien verhält sich den USA gegenüber jetzt unterwürfiger als Hongkong gegenüber China: Die britische Regierung sieht offensichtlich kein Problem darin, eine Person, der man ein politisches Verbrechen zur Last legt, an die USA auszuliefern. Pekings Forderung hat sogar eine größere Berechtigung, da Hongkong letztlich ein Teil Chinas ist – die Formel dafür lautet: „ein Land, zwei Systeme“. Das Verhältnis zwischen Großbritannien und den USA definiert sich offensichtlich über die Formel „zwei Länder, ein System“ (das amerikanische natürlich). Glaubt man den Befürwortern des Brexits, so zielt dieser auf die Herstellung der britischen Souveränität ab. Am Fall Assange aber lässt sich jetzt schon erkennen, worauf diese Souveränität hinauslaufen wird – auf die Unterwerfung unter die Forderungen der USA.

Jetzt, zu diesem Zeitpunkt, sollten sich alle ehrlichen Befürworter des Brexits entschieden gegen die Auslieferung von Assange wenden. Wir reden hier von keiner rechtlichen oder politischen Bagatelle mehr, sondern von einer Angelegenheit, die unsere Freiheit und unsere Menschenrechte in ihrer grundlegenden Bedeutung betrifft. Wann wird die breite Öffentlichkeit begreifen, dass die Geschichte von Assange ihre eigene Geschichte ist und dass es ihr eigenes Schicksal ganz maßgeblich beeinflussen wird, ob man ihn ausliefert oder nicht? Julian verdient unsere Unterstützung weniger aus humanitärer Sorge und Anteilnahme am Los eines unglücklichen Opfers, sondern vielmehr aus Sorge um unsere eigene Zukunft.

2

Hat Amerika seinen Anspruch auf moralische Führung verloren?

Als Harrison Ford im Februar 2020 seinen neuen Film in Mexiko City vorstellte, konstatierte er: „Amerika hat seinen Anspruch auf moralische Führung und damit auch seine Glaubwürdigkeit verloren.“1 Stimmt das? Wann haben die USA die Welt denn moralisch angeführt – etwa unter Reagan oder unter Bush? Was sie verloren haben, das hatten sie tatsächlich nie. Der eigentliche Verlust besteht vielmehr im Verlust der Illusion – also der „Glaubwürdigkeit“ des Anspruchs –, man sei die moralische Führungsmacht der freien Welt. Die Ära Trump brachte lediglich zum Vorschein, was immer schon war. Kaum wurde diese Wahrheit mit so brutaler Offenheit ausgesprochen wie von George F. Kennan, einem der Konstrukteure der US-Außenpolitik nach dem Zweiten Weltkrieg. Kennan schrieb 1948, zu Beginn des Kalten Krieges:

Wir [die USA] besitzen etwa 50 Prozent des Reichtums der Welt, stellen aber nur 6,3 Prozent ihrer Bevölkerung. […] In dieser Situation besteht unsere eigentliche Aufgabe darin, […] dieses Ungleichgewicht aufrechtzuerhalten. Dafür aber werden wir auf alle Sentimentalitäten und Tagträumereien verzichten müssen […]. Wir sollten aufhören, uns über Menschenrechte, über die Verbesserung des Lebensstandards und über Demokratisierung Gedanken zu machen.2

Auch wenn er es selbst nicht so deutlich und unumwunden ausgesprochen hat – nichts anderes meinte Trump mit seiner Parole „America first!“. Daher sollte es uns auch nicht schockieren, in der New York Times zu lesen, dass „die Regierung Trump, die mit dem Versprechen angetreten ist, den ,endlosen Kriegen‘ ein Ende zu setzen, nun Waffen akzeptiert und für den künftigen Einsatz vorbereitet, die in 160 Ländern verboten sind. Streumunition und Antipersonenminen – tödliche Sprengstoffe, die Zivilisten noch lange nach Beendigung einer kriegerischen Auseinandersetzung verstümmeln und umbringen können – sind zu einem festen Bestandteil der zukünftigen Kriegspläne des Pentagons geworden.“3

Doch diejenigen, die den Verlust von Amerikas Führungsanspruch beklagen, interessieren sich nicht für solche Fakten. Sie sind in erster Linie mit Trumps Stil beschäftigt. Trump verkörpert wie kaum ein anderer die neue Figur eines offen unanständigen politischen Anführers, der die elementarsten Regeln von Anstand und demokratischer Transparenz verachtet. Pete Wehner, der unter Präsident George W. Bush einen hohen Posten im Weißen Haus bekleidete, stellte kürzlich fest: „Wir hatten schon Präsidenten, die moralischer oder weniger moralisch waren. Noch nie aber hatten wir einen Präsidenten, dem es offensichtlich Freude bereitet, wenn er moralische Normen mit Füßen treten oder die Moral als Idee in Verruf bringen kann.“4 Welche Logik Trumps Handeln dabei zugrunde liegt, wurde von Alan Dershowitz (einem bekennenden Befürworter der Legalisierung von Folter) umstandslos benannt. Im Januar 2020 erklärte er im Senat, ein Politiker, der davon überzeugt ist, dass seine Wiederwahl im nationalen Interesse liege, könne unmöglich eines Amtsvergehens angeklagt werden, wenn er etwas unternähme, das ihn diesem Ziel näherbringt. „Und wenn ein Präsident etwas getan hat, von dem er glaubt, dass es ihm hilft, im Interesse der Allgemeinheit wiedergewählt zu werden, dann kann ihm das nicht als etwas ausgelegt werden, das ein Impeachment-Verfahren nach sich ziehen sollte.“5 Hier wird ganz ohne Frage das Wesen einer Macht offengelegt, die sich jeder ernst zu nehmenden demokratischen Kontrolle entzieht.

Aber was ist mit dem klassischen Argument zugunsten des äußeren Anscheins? Dieses besagt, dass der Anschein eine eigene Realität schafft – selbst wenn wir heucheln und nur so tun, als seien wir moralisch: Er zwingt uns, auf eine bestimmte Weise zu handeln, was immer noch besser ist als die unmittelbar gelebte schamlose Unanständigkeit. Das Vortäuschen moralischen Verhaltens kann uns dazu verführen, tatsächlich ein bisschen moralischer zu sein oder, wie es bei den Anonymen Alkoholikern heißt: „Fake it till you make it“. Die Lücke zwischen Schein und Wirklichkeit gibt einem zudem die Möglichkeit, eine kritische Haltung gegenüber der Realität einzunehmen. Insoweit die marxistische Kritik „formaler Freiheit“ auf der Einsicht beruht, dass eine „bürgerliche“ Gesellschaft ihren eigenen Grundsätzen von Freiheit und Gleichheit nicht treu ist, nimmt sie die vorherrschende Ideologie ernster, als diese sich selbst nimmt. Das Problem ist, dass eine solche immanente kritische Strategie nicht mehr greift, sobald wir den Bereich der reinen zynischen Unanständigkeit betreten; die Rückkehr zum alten Anstand, so heuchlerisch er auch war, ist nicht mehr möglich; das Spiel ist aus.

Die anhaltenden Debatten um Trumps Impeachment machten deutlich, dass die gemeinsame ethische Substanz, die einen argumentativen Austausch erst ermöglicht, sich immer weiter auflöst. Die USA gleiten in einen ideologischen Bürgerkrieg ab, in dem es keine gemeinsame Basis mehr gibt, auf die sich beide Konfliktparteien einigen könnten – je weiter jede Seite den von ihr eingeschlagenen Weg verfolgt, desto klarer wird, dass kein Dialog möglich ist, nicht einmal mehr ein polemischer. Dabei sollten wir uns nicht zu sehr von der Theatralik des Impeachments beeindrucken lassen (wenn etwa Trump der demokratischen Sprecherin des Repräsentantenhauses, Nancy Pelosi, den Handschlag verweigerte oder diese eine Kopie seiner Rede zur Lage der Nation zerriss). Der wahre Konflikt besteht nämlich nicht zwischen den beiden Parteien, sondern innerhalb der Parteien selbst.

Die USA wandeln sich gerade von einem Zwei-Parteien-Staat in einen Vier-Parteien-Staat. Der politische Raum wird jetzt tatsächlich von vier Parteien besetzt: den alteingesessenen Republikanern, den alteingesessenen Demokraten, den Alt-Right-Populisten und den demokratischen Sozialisten. Es gibt auch bereits Koalitionsangebote über die Parteilinien hinweg: So deutete Joe Biden Ende 2019 an, dass er unter Umständen einen gemäßigten Republikaner als Vizepräsidenten nominieren würde, während Steve Bannon eine von ihm favorisierte Koalition zwischen Trump und Sanders ins Spiel brachte. Doch im großen Unterschied zum rechtskonservativen Lager, in dem der Trump’sche Populismus problemlos seine Vormachtstellung gegenüber dem republikanischen Establishment behaupten konnte, zieht sich ein immer tieferer Riss durch die Demokratische Partei – was nicht verwundert, da der einzige wahre politische Kampf zwischen dem demokratischen Establishment und dem Sanders-Flügel ausgetragen wird.

Demnach haben wir es hier mit zwei antagonistischen Gegensätzen zu tun: dem zwischen Trump und dem liberalen Establishment (dieser Konflikt wurde mit dem Impeachment ausgetragen) sowie dem zwischen dem Sanders-Flügel der Demokraten und allen anderen. Das Verfahren über eine Amtsenthebung von Donald Trump war der verzweifelte Versuch, den USA einen Anschein von moralischer Führungsstärke und Glaubwürdigkeit zurückzugeben, und damit nicht mehr als eine ziemlich komische Heuchelei. Wir sollten uns von der moralischen Inbrunst, mit der sich das demokratische Establishment ins Zeug legte, also nicht täuschen lassen. Trump mit seiner offen zur Schau gestellten Unanständigkeit brachte nur an den Tag, was ohnehin schon da war. Für das Sanders-Lager ist vollkommen klar: Es gibt keinen Weg zurück – was das politische Leben anbetrifft, müssen sich die USA grundlegend neu erfinden.

Ich möchte mich hier auf einen Beitrag des Politologen Julian Zelizer beziehen. Nachdem er sämtliche arbeitnehmerfeindlichen und antisolidarischen Maßnahmen, die auf das Konto des US-amerikanischen Präsidenten gehen, auflistet, macht Zelizer darauf aufmerksam, wie Trump die ungeschriebenen Grundsätze politischer Machtausübung systematisch verletzt: „Alle Präsidenten hielten sich an eine Reihe ungeschriebener Anstandsregeln. Der Präsident hat das alles über den Haufen geworfen. Er hat eine Form der präsidialen Rede zur Normalität gemacht, die ein starkes Gift verbreitet, welches unsere zivilisierte Kultur im Ganzen zersetzt“.6 Zelizer kommt zu dem richtigen Schluss, dass die meisten Demokraten sich zwar unablässig mit der Gefahr befassen würden, die von der Benennung eines zu radikalen Kandidaten ausgehe, dabei aber einen entscheidenden Punkt übersehen. „Wenn es um die öffentliche Politik und den Einsatz politischer Macht geht, würde kein Kandidat, nicht einmal Senator Sanders, auch nur annähernd so radikal erscheinen wie der amtierende Präsident.“ Alle Versuche, Trump zu „mäßigen“, haben dazu geführt, dass er sich immer noch radikaler gebärdete. Das macht ihn jedoch noch lange nicht zum Feind des bestehenden Systems – im Gegenteil: So extrem er sich auch verhalten mag, er ist doch bestrebt, das System zu schützen. Er ändert ein paar Dinge, damit im Wesentlichen alles beim Alten bleiben kann, wie man so schön sagt. Es ist zu spät, zur alten, „normalen“ Höflichkeit zurückzukehren; die einzige Möglichkeit, Trump tatsächlich zu schlagen, besteht darin, dass wir das genaue Gegenteil von dem tun, was er tut, indem wir Höflichkeit und Anstand wahren, während wir unser Handeln inhaltlich radikal neu ausrichten. Es ist an der Zeit, der Stimme der echten moralischen Mehrheit Gehör zu verschaffen.

Aber ist Sanders eine echte Alternative? Oder ist er nur ein (eher gemäßigter) Sozialdemokrat, der das System retten will, wie einige „radikale Linke“ behaupten? Das ist zu einfach gefragt. Die demokratischen Sozialisten in den USA haben eine Massenbewegung in Gang gesetzt, die einen radikalen Neuanfang markiert. Was aus solchen Bewegungen wird, lässt sich nicht vorhersagen. Sicher ist nur eines: Die denkbar schlechteste Haltung ist die einiger westlicher „radikaler Linker“, die dazu neigen, die Arbeiterklasse in den Industriestaaten als „Arbeiteraristokratie“ abzuschreiben, welche von der Ausbeutung der Dritten Welt lebe und in einer rassistisch-chauvinistischen Ideologie gefangen sei. Aus dieser Sicht kann radikaler Wandel allein von „nomadischen Proletariern“ (Migranten und den Armen der Dritten Welt) kommen – vielleicht noch in Verbindung mit einigen verarmten Mittelschichtsintellektuellen in den Industriestaaten. Aber trifft diese Diagnose auch zu? Sicher, man muss die Dinge im globalen Zusammenhang betrachten, aber nicht auf eine grob vereinfachende maoistische Weise, die bürgerliche Nationen und proletarische Nationen einander gegenüberstellt. Migranten sind Subproletarier; ihre Lage ist eine ganz spezielle. Sie werden nicht im marxistischen Sinne ausgebeutet, und daher sind sie nicht dazu bestimmt, einen radikalen Wandel herbeizuführen. Daher scheint mir dieser „radikale“ Ansatz für die Linke selbstmörderisch zu sein. Stattdessen bleibe ich dabei, dass wir Sanders bedingungslos unterstützen müssen.

Die Nominierungskämpfe werden furchtbar sein. Sanders, so sagen es seine Kritiker immer wieder, könne Trump unmöglich schlagen, da er dafür zu weit links stehe. Das Allerwichtigste aber sei es, Trump loszuwerden. Hinter diesem Argument verbirgt sich freilich eine andere Botschaft. Sie lautet: Wenn Trump und Sanders zur Wahl stehen, dann entscheiden wir uns doch eher für Trump. Selbst wenn Sanders wie durch ein Wunder nominiert werden würde und wenn er (was einem noch größeren Wunder gleichkäme) als Sieger aus der Präsidentenwahl hervorginge, so hätte das eine furchtbare Gegenoffensive zur Folge. Der ehemalige Vorstandschef von Goldman Sachs, Lloyd Blankfein, verbreitete die Ansicht, Sanders würde die „amerikanische Wirtschaft ruinieren“.7 Damit aber gab er sicher keine neutrale Einschätzung der Lage ab. Vielmehr verbirgt sich auch in diesem Statement eine unterschwellige Botschaft: „Mir ist es lieber, unsere Wirtschaft geht den Bach runter, als dass Sanders triumphiert.“ Aber es nützt nichts: Wir haben hier keine Wahl – wir müssen den Kampf annehmen, wohl wissend, dass wir damit in unruhiges Fahrwasser geraten werden.

1 Ed Mazza, „Harrison Ford: America Has Lost Its Moral Leadership and Credibility“, HuffPost, 06.04.2020, www.huffpost.com/entry/harrison-ford-us-leadership_n_5e3bbfa0c5b6bb0ffc0b28a7, zuletzt abgerufen am 12.04.2022.

2 Zitiert nach: John Pilger, The New Rulers Of the World, Verso Books, London 2002, S. 98, deutsche Übersetzung zitiert nach: de.wikipedia.org/wiki/George_F._Kennan, zuletzt abgerufen am 12.04.2022.

3 John Ismay und Thomas Gibbons-Neff, „160 Nations Ban These Weapons. The US Now Embraces Them“, New York Times, 06.02.2020, www.nytimes.com/2020/02/07/us/trump-land-mines-cluster-munitions.xhtml, zuletzt abgerufen am 12.04.2022.

4 John Harwood, „Trump’s Historical Place Defined By His Amorality“, CNN, 12.02.2020, edition.cnn.com/2020/02/12/politics/amorality-presidency-donald-trump/index.xhtml,zuletzt abgerufen am 12.04.2022.

5 Stephen Collinson, „Republican Theory for Trump Acquittal Could Unleash Unrestrained Presidential Power“, CNN, 30.01.2020, edition.cnn.com/2020/01/30/politics/impeachment-analysis-republican-reaction/index.xhtml, zuletzt abgerufen am 12.04.2022.

6 Julian Zelizer, „The Most Radical 2020 Candidate“, CNN, 16.02.2020, edition.cnn.com/2020/02/15/opinions/most-radical-2020-candidate-trump-zelizer/index.xhtml, zuletzt abgerufen am 28.04.2022.

7 Dominic Rushe, „,This Is What Panic Looks Like‘: Sanders Team Hits Back After Wall Street Criticism“, The Guardian, 13.02.2020, www.theguardian.com/us-news/2020/feb/13/sanders-campaign-criticizes-panic-from-wall-street-elite-after-new-hampshire-win,zuletzt abgerufen am 28.04.2022.

3

Radikale Veränderungen, nicht Mitgefühl

Pia Klemp, die Kapitänin des Seenotrettungsschiffs Iuventa, schloss ihre Erklärung, warum sie die Médaille Grand Vermeil, die höchste Auszeichnung der Stadt Paris, nicht annahm, mit der Parole: „Papiere und Unterkünfte, Freizügigkeit und Bleiberecht für alle!“1 Um es kurz zu machen: Wenn damit gemeint ist, dass jeder Mensch das Recht haben soll, in ein Land seiner Wahl zu gehen, und dass dieses Land dann die Pflicht hat, ihm das Bleiben zu ermöglichen, dann haben wir es mit einer abstrakten Vorstellung im strengen Hegel’schen Sinne zu tun, welche den gesellschaftlichen Gesamtzusammenhang in seiner Komplexität ignoriert. Auf dieser Ebene lässt sich das Problem unmöglich lösen. Die einzig wahre Lösung besteht darin, das weltweite Wirtschaftssystem zu ändern, welches Menschen erst in die Flucht treibt. Es gilt also, von der unmittelbaren Kritik einen Schritt zurückzugehen und sich der Analyse der antagonistischen Widersprüche zuzuwenden, von denen die Welt geprägt ist. Im Mittelpunkt muss dabei die Frage stehen, inwiefern unsere kritische Position selbst Teil des Phänomens ist, das sie kritisiert.

Wenn Konservative im Sinne von Margaret Thatcher die Ansicht vertreten, dass man es mit der Nächstenliebe auch übertreiben kann, und entsprechend verlangen, sie auf vernünftige Weise einzuschränken, dann tasten sie das Gebot der Nächstenliebe nicht einfach nur ein bisschen an – nein, sie verändern seinen Status vielmehr radikal. Die „unmögliche“ Forderung, seinen Nächsten zu lieben, die im Sinne von Kants „Du kannst, denn du sollst“ unbedingt zu gelten hat, verkehrt sich in die Aussage: „Du sollst nur das tun, was du tun kannst, ohne dass dadurch dein hart erarbeiteter Lebensstandard ernsthaft beeinträchtigt wird.“ Auf diese Weise wird aus dem Gebot der Nächstenliebe eine „realistische“ strategische Überlegung. Ich für meinen Teil trete hier keineswegs für eine solche pragmatische „Mäßigung“ ein, sondern im Gegenteil für eine grundlegendere Verschärfung des Gebots. Um den Not leidenden Nächsten wirkliche Liebe entgegenzubringen, reicht es nicht, ihnen großzügig zu überlassen, was vom eigenen reich gedeckten Tisch herunterfällt. Man muss vielmehr die Bedingungen beseitigen, die ihrer Not zugrunde liegen.

Bei einer öffentlichen Veranstaltung vor ein paar Jahren hat Gregor Gysi einen bemerkenswerten Satz gesagt. Ein Teilnehmer der Diskussion pochte darauf, dass er für das Elend und die Armut in der Dritten Welt nicht verantwortlich sei. Statt anderen Ländern zu helfen, sollte sich der Staat besser um das Wohlergehen seiner eigenen Bürger kümmern. Darauf erwiderte Gysi: Wenn wir keine Verantwortung für die Armen in der Dritten Welt übernehmen (und entsprechend handeln), dann werden diese Armen zu uns kommen (und genau dagegen wehren sich die Einwanderungsgegner vehement). Das mag für manche Ohren zynisch und unmoralisch klingen, dennoch ist diese Ansicht der Situation viel angemessener als der abstrakte Humanitarismus. Dieser appelliert an unsere Großzügigkeit und unser Gewissen („Wir sollten den Migranten unser Herz öffnen, zumal doch die eigentliche Ursache für ihr Leiden europäischer Rassismus und Kolonialisierung sind“). Dieser Appell wiederum verbindet sich oft mit einer seltsamen ökonomischen Argumentation („Europa ist auf Einwanderung angewiesen, damit es wirtschaftlich weiter expandieren kann“) und einer Bevölkerungsrhetorik, die man eher von der Rechten erwarten würde („Bei uns werden immer weniger Kinder geboren, und dadurch büßen wir zunehmend unsere Vitalität ein“). Worum es dabei aber eigentlich geht, ist offensichtlich: Öffnen wir uns für die Migranten – aber nur in dem verzweifelten Versuch, den radikalen Wandel, an dem in Wahrheit kein Weg vorbeiführt, doch irgendwie zu vermeiden und unsere liberal-kapitalistische Ordnung aufrechtzuerhalten. Gysi argumentierte bei der besagten Veranstaltung genau entgegengesetzt: Wenn wir unsere Identität, unsere Art zu leben, wirklich schützen wollen, dann brauchen wir einen grundlegenden sozioökonomischen Wandel.

Das symptomatische Merkmal der „globalen Linken“, wie sie sich derzeit darstellt, ist eine Art Doppelstandard: Einerseits lehnt sie es ab, überhaupt von „unserer Art zu leben“ oder von kulturellen Unterschieden zu sprechen, und sieht darin eine reaktionäre Haltung à la Huntington, welche die grundlegende Gleichheit (oder besser gesagt Gleichmachung) aller Menschen im globalen Kapitalismus verschleiert. Im selben Zug aber fordert sie, dass wir die jeweilige kulturelle Identität der Einwanderer respektieren und ihnen nicht unsere eigenen kulturellen Normen aufzwingen sollen. Dahinter steht offensichtlich der Vorwurf, dass „unsere Art“ und „ihre Art“ zu leben nicht gleichberechtigt nebeneinanderstehen, da unsere Lebensweise auf Vorherrschaft ausgelegt ist. Das ist zwar an sich richtig, geht jedoch am Kern des Problems vorbei: dem Status der Allgemeinheit beim Kampf um die Emanzipation. Es stimmt, dass der geflüchtete Mensch in vielerlei Hinsicht der „Nächste“ schlechthin ist, der Nächste im streng biblischen Sinne: der Andere in seiner bloßen, nackten Präsenz. Damit, dass sie nichts besitzen, kein Zuhause haben und keinen festen Platz in der Gesellschaft, stehen Geflüchtete für das Allgemeinmenschliche. Und darum sagt die Haltung, die wir ihnen gegenüber einnehmen, auch sehr viel darüber aus, wie wir es mit dem Menschlichen an sich halten. Menschen, die aus ihrer Heimat fliehen, unterscheiden sich von uns nicht nur so, wie sich alle Menschengruppen voneinander unterscheiden; sie sind in gewisser Hinsicht der Unterschied an sich. Hegelianisch betrachtet aber fallen hier Allgemeinheit und Besonderheit zusammen. Geflüchtete kommen als nur materiell Nackte und Mittellose, und darum scheint es uns, als klammerten sie sich umso mehr an ihre jeweilige kulturelle Identität. Sie werden als eine Allgemeinheit wahrgenommen: als Wurzellose, gleichzeitig aber auch als Menschen, die in ihrer besonderen Identität verhaftet sind.

Nomadische Einwanderer sind keine Proletarier – trotz der gegenteiligen Behauptungen von Alain Badiou und anderen, die im „nomadischen Proletarier“ die exemplarische Gestalt des heutigen Proletariats sehen wollen. Was Proletarier zu Proletariern macht, ist die Tatsache, dass sie ausgebeutet werden; sie bilden das zentrale Moment der Kapitalverwertung; ihre Arbeit schafft Mehrwert. Ganz anders verhält es sich bei den nomadischen Flüchtlingen, die nicht nur als wertlos betrachtet werden, sondern die als wertloser Rest des globalen Kapitals buchstäblich „ohne Wert“ sind: Die Mehrheit von ihnen ist nicht in den Prozess der Kapitalverwertung einbezogen. Linke wie Kapitalisten träumen davon, die mit der neuen Einwanderungswelle kommenden Migranten in die kapitalistische Maschinerie einzugliedern, wie es in den 1960er-Jahren in Deutschland und dann in Frankreich gemacht wurde. Europa, so sagen sie, „braucht Einwanderung“. Das Problem ist nur, dass es diesmal nicht funktioniert; die Einwanderer werden gesellschaftlich weitgehend nicht integriert und der Großteil von ihnen bleibt „außen vor“. Dies macht die Situation der einwandernden Flüchtlinge noch viel tragischer – sie sind in einer Art sozialem Schwebezustand gefangen, einer Sackgasse, aus welcher der Fundamentalismus einen falschen Ausweg bietet. In Bezug auf die globale Kapitalzirkulation befinden sich die Flüchtlinge in einer Position der menschlichen Überflüssigkeit, der spiegelbildlichen Verkehrung des Mehrwerts, und keine humanitäre Hilfe und Offenheit kann diese Spannung auflösen; das lässt sich nur durch eine Umstrukturierung des gesamten internationalen Gefüges erreichen.

Dass es in erster Linie darauf ankommt, die Ursachen zu bekämpfen, aufgrund derer Menschen ihre Heimat verlassen, wird von linksliberaler Seite häufig als vorgeschobenes Argument zurückgewiesen. Sie sieht darin bloß eine (nicht sonderlich) subtile Ausrede, um Flüchtlinge davon abzuhalten, zu uns zu kommen. Dieser Vorwurf lässt sich aber mit mindestens der gleichen Berechtigung entsprechend zurückgeben: Den vor Krieg und Armut fliehenden Menschen „unser Herz zu öffnen“ stellt eine (nicht sonderlich) subtile Möglichkeit dar, eben nichts zu unternehmen, um die globalen Bedingungen zu ändern, die zuallererst zu den Fluchtbewegungen führen.

Der Humanitarismus begeht den gleichen Irrtum, dem auch die sogenannte deep ecology unterliegt – deren „tiefenökologisch“ motivierte Ablehnung des Anthropozentrismus ist nicht weniger heuchlerisch. Das ganze Gerede, dass wir, die Menschheit, eine Bedrohung für sämtliches Leben auf der Erde darstellen, ist letztlich nur Ausdruck der Sorge um unser eigenes Schicksal. Die Erde an sich tangiert das nicht. Selbst wenn wir alles Leben auf ihr vernichten, wird dies nur eine Katastrophe sein, die ihr widerfährt – und nicht einmal die größte. Wenn wir uns um die Umwelt sorgen, so geht es uns dabei um unsere eigene Umwelt. Wir wollen die Qualität und Sicherheit unseres eigenen Lebens sichern. Die Verfechter der Tiefenökologie, die für sich beanspruchen, alle Lebewesen zu vertreten, nehmen eine genauso falsche Position ein wie die weißen antieurozentrischen Liberalen, die für sich selbst die Position der Allgemeinheit reklamieren, während sie ihre eigene kulturelle Identität rigoros ablehnen und „anderen“ zureden, ihre zu behaupten.

Die allgemeine Lehre daraus ist, dass man es um jeden Preis vermeiden sollte, die Unterdrückten und Geknechteten (oder diejenigen, die als solche wahrgenommen werden) auf billige humanitäre Weise zu sentimentalisieren. Allein schon aus diesem Grund ist der Film Parasite (Südkorea 2019, Bong Joon-ho) sehenswert. Er vermeidet eine moralisierende Idealisierung der Benachteiligten, wie wir das etwa von Frank Capra kennen. Inhalt und Form gilt es dabei auseinanderzuhalten: Auf der Inhaltsebene ist die Familie Park, die der südkoreanischen Oberschicht angehört, moralisch zweifellos überlegen; ihre Angehörigen sind alle rücksichtsvoll, mitfühlend und hilfsbereit, wohingegen sich die Benachteiligten tatsächlich wie Parasiten verhalten: Sie drängen sich auf, manipulieren und nutzen andere aus. Auf der formalen Ebene allerdings sind die Parks Privilegierte, die sich Fürsorglichkeit und Hilfsbereitschaft leisten können, während sich die Benachteiligten durch ihre materiellen Lebensumstände zu einem Verhalten gedrängt sehen, das weniger reizend ist. Gleiches gilt für die häufig vorgebrachte antifeministische Beschwerde von Männern: „Ich behandle Frauen freundlich und nicht von oben herab, sie aber sind mir gegenüber aggressiv“ – natürlich sind sie das, denn für sie ist das oft die einzige Möglichkeit, gegen ihre formale Unterwerfung aufzubegehren. Freundlichkeit und Mitgefühl können sich in der Regel nur diejenigen leisten, die oben stehen.

Die Lösung kann folglich nicht darin bestehen, dass man sich in humanitären Gesten ergeht. Vielmehr gilt es, die Bedingungen zu verändern, die den Humanitarismus überhaupt nötig machen. Gleich zu Beginn von Oscar Wildes Abhandlung „Der Sozialismus und die Seele des Menschen“ heißt es, die meisten Menschen sehen sich „von scheußlicher Armut, scheußlicher Hässlichkeit, scheußlichem Hungerleben umgeben“.

Es ist unvermeidlich, dass ihr Gefühl durch all das stark erregt wird. […] Daher machen sie sich mit bewundernswertem, obschon falschgerichtetem Eifer sehr ernsthaft und sehr gefühlvoll an die Arbeit, die Übel, die sie sehen, zu kurieren. Aber ihre Mittel heilen diese Krankheit nicht: sie verlängern sie nur. Ihre Heilmittel sind geradezu ein Stück der Krankheit. Sie suchen etwa das Problem der Armut dadurch zu lösen, dass sie den Armen am Leben halten; oder – das Bestreben einer sehr vorgeschrittenen Richtung – dadurch, dass sie für seine Unterhaltung sorgen. Aber das ist keine Lösung: das Übel wird schlimmer dadurch. Das eigentliche Ziel ist der Versuch und Aufbau der Gesellschaft auf einer Grundlage, die die Armut unmöglich macht. Und die altruistischen Tugenden haben tatsächlich die Erreichung dieses Ziels verhindert.2

1 „Pia Klemp Refuses the Grand Vermeil Medal Awarded to Her By the City of Paris“, Redazione Italia, 21.08.2019, www.pressenza.com/2019/08/pia-klemp-refuses-the-grandvermeil-medal-awarded-to-her-by-the-city-of-paris, zuletzt abgerufen am 28.04.2022.

2 Oscar Wilde, Drei Essays, Diogenes, Zürich 1970, S. 7 f.

4

Trump und Rammstein eine Gegenüberstellung

In der akademischen Welt der USA ereignete sich kürzlich etwas sehr Merkwürdiges:

In einem an den Präsidenten der Princeton University gerichteten Schreiben vom Mittwoch [, dem 16. September 2020,] gab das Bildungsministerium bekannt, dass es aufgrund universitärer Versäumnisse bei der Verhinderung von Diskriminierung eine Prüfung einleiten wird […]. Die Untersuchung erfolgt, nachdem sich Präsident Christopher L. Eisgruber am 2. September mit einem Brief an die Universitätsangehörigen gewandt hatte, in dem er sich über die laufenden Bemühungen zur Bekämpfung des systemischen Rassismus äußert. „Es gibt in Princeton ebenso wie in unserer Gesellschaft auch weiterhin noch Rassismus, und er schadet People of Colour“, schrieb Eisgruber. „Manchmal ist er Ausdruck einer bewussten Haltung, viel häufiger aber resultiert er aus ungeprüften Annahmen und Stereotypen, aus Nichtwissen oder mangelnder Sensibilität, oder es handelt sich um systemische Altlasten früherer Entscheidungen und politischer Praktiken.“ In dem Schreiben des Bildungsministeriums wird dieser Satz als Beleg dafür angeführt, dass Princeton „Rassismus einräumt“. Man sei besorgt, heißt es weiter, dass die Versicherungen der Universität, in ihrem Rahmen gebe es keine Diskriminierung, „möglicherweise falsch waren“ und dass die Einrichtung den Rechtsanspruch VI des Civil Rights Act von 1964 verletzt habe.1

Das Schreiben des Bildungsministeriums ist natürlich nicht ganz eindeutig. Oberflächlich betrachtet, handelt es sich dabei bloß um eine weitere Über-Ich-Forderung, noch gründlicher nach Spuren von Rassismus zu suchen, und man kann den Verfassern lediglich vorwerfen, dass sie es mit ihrer Pedanterie eindeutig übertrieben haben. Der Wortlaut von Eisgrubers Brief – „Es gibt in Princeton ebenso wie in unserer Gesellschaft auch weiterhin noch Rassismus. Manchmal ist er Ausdruck einer bewussten Haltung, viel häufiger aber resultiert er aus ungeprüften Annahmen und Stereotypen, aus Nichtwissen oder mangelnder Sensibilität“ – entspricht dem eingeübten Repertoire liberaler Rhetorik: „Der Kampf ist nie vorbei; unterschwelligen Rassismus wird es in dieser oder jener Form immer geben.“ Danach ist schon die Behauptung, es gebe in unseren Institutionen keinen Rassismus, automatisch verdächtig und gilt selbst als Zeichen von Rassismus. Das Bildungsministerium nimmt dieses rein rhetorische Bekenntnis in seinem Schreiben wörtlich und fordert weitere Maßnahmen. Das ist so, als würde die Autorin eines großen Bestsellers einräumen, dass ihr Buch beileibe nicht perfekt ist, und ein Journalist sie daraufhin fragen: „Wenn Sie doch wissen, dass es nicht den allerhöchsten Ansprüchen genügt, warum haben Sie es dann so veröffentlicht? Warum haben Sie nicht weiter daran gearbeitet?“ Aber ist diese wörtliche Lesart einer rhetorischen Figur nicht an sich ein Zeichen für etwas anderes? Ist es nicht klar, dass der wahre Vorwurf an Princeton nicht darin besteht, dass es im universitären Leben Rassismus gibt, sondern vielmehr darin, dass Eisgruber dies allzu offen zugegeben hat? Die Botschaft an Princeton lautet demnach: Tut euch keinen Zwang an, aber seid diskret, wenn ihr Rassismus praktiziert, und gebt es vor allen Dingen nicht öffentlich zu (die Empfehlung ist, kurz gesagt, die gleiche, die auch ein Trumpist einem politisch korrekten Linksliberalen diskret geben würde).

Ein anderes aktuelles Beispiel für politisch korrekte Vorschriften ist ein Gesetz, das Hassverbrechen in Schottland ahnden soll und seine bevormundende Tendenz deutlich erkennen lässt. Dem Gesetzentwurf zufolge sollen auch Gespräche im Privaten, die zu Hass aufstacheln, einschließlich Unterhaltungen am Esstisch, strafrechtlich verfolgt werden. Wie The Times berichtet, erklärte Justizminister Humza Yousaf, dass „auch Journalisten und Theaterregisseure gerichtlich belangt werden sollten, wenn sich herausstellt, dass sie mit ihrer Arbeit bewusst Vorurteile schüren“.2 Bemerkenswert an diesem Entwurf ist nicht nur die Tatsache, dass die soziale Kontrolle sogar Gespräche umfassen soll, die am häuslichen Tisch geführt werden, sondern auch die Wendung „wenn sich herausstellt“ – ausschlaggebend ist offensichtlich nicht die Absicht des Sprechers, sondern die Einschätzung eines politisch korrekten Beobachters.

Ich nenne noch ein drittes, ganz ähnliches Beispiel: Im September 2020 entschieden vier große Kunstmuseen in Großbritannien und den USA, „Philip Guston Now“, eine seit Langem geplante Retrospektive zu einem der bedeutendsten amerikanischen Künstler der Nachkriegszeit um vier Jahre nach hinten zu verschieben. In einem „feigen Akt der Zensur“ traten die National Gallery of Art in Washington, das Museum of Fine Arts in Boston, das Museum of Fine Arts in Houston sowie die Londoner Tate Modern mit der Behauptung an die Öffentlichkeit, „dass Gustons offensichtlich ablehnende und düster-satirische Bilder von Ku-Klux-Klan-Anhängern und anderen Gestalten so lange nicht ausgestellt werden könnten, ,bis wir zu der Überzeugung gelangen, dass die kraftvolle Botschaft der sozialen Gerechtigkeit und des Antirassismus, die im Zentrum von Philip Gustons Werk steht, klarer interpretiert werden kann‘.“3

Dieser zensierende Eingriff ist doppelt problematisch. Zum einen stützt er sich auf die Annahme, dass es eine einzige, eindeutige Interpretation eines Kunstwerks gibt, zum anderen aber offenbart er eine äußerst bevormundende Haltung gegenüber den normalen Menschen, und darin liegt ein noch viel größeres Problem. Dabei bezweifelt man keineswegs, dass Gustons Werk antirassistisch ist und einen Beitrag zur sozialen Gerechtigkeit leistet. Dennoch soll es nicht möglich sein, dass seine „offensichtlich ablehnenden und düster-satirischen Bilder von Ku-Klux-Klan-Anhängern“ heute ausgestellt werden. Warum eigentlich nicht? Wo ist das Problem, wenn sie doch „offensichtlich“ antirassistisch sind? Ich denke, die Antwort umfasst mehrere Aspekte. Man kann Guston nicht vorwerfen, dass er sich die schwarze Kultur aneignet – nein, er „zitiert“ die weiße Kultur, und zwar so, dass sie in ihren schlimmsten Auswüchsen sichtbar wird. Auf politisch korrekter Seite befürchtet man, selbst wenn die Wahrheit (Gustons Antirassismus) offensichtlich ist, könne es einige naive Leute geben, die sich von der durch ihn ins Werk gesetzten Bildersprache faszinieren lassen, sich mit ihr identifizieren und die Satire wie die kritische Ironie übersehen können. Diese Vorgehensweise ist keineswegs neu. In Europa wurde sie schon vor etlichen Jahren praktiziert, als Bands wie Rammstein oder Laibach mit ihrer Musik und mit den Videos, die sie dazu produzierten (unter Verwendung „faschistisch“-militärischer Bild- und Klangkulissen), den Höhepunkt ihrer Popularität erreicht hatten. Linksliberale äußerten die Befürchtung, dass unbedarfte Zuhörer, die sich der Ironie und der kritischen Distanz nicht bewusst wären, die Auftritte dieser Bands als direkte Unterstützung des Faschismus (miss-)verstehen könnten. (Dabei spielte es keine Rolle, dass das Publikum fast ausschließlich aus Linken bestand, wie in Studien erwiesen wurde, oder dass sich Rammstein in Deutschland zur Partei „Die Linke“ bekannte – die „Angst“ hielt das liberale Lager fest im Griff.)

Es gibt jedoch noch etwas anderes, das bei der Verhinderung der Guston-Ausstellung mit hineinspielt: ein grundsätzliches Misstrauen gegenüber Bildern. Die Kritiker verhalten sich hier wie das Freud’sche Unbewusste, das bekanntlich keine Negation kennt. Es kommt in Wahrheit nicht darauf an, wie man zu Gustons Bildern steht; allein die Tatsache, dass sie gezeigt werden, löscht den offensichtlichen Charakter der Karikatur oder der kritischen Distanz auf einer tieferen Ebene aus. Dabei kann kein Zweifel daran bestehen, dass es eine solche Ebene gibt, auf die das zutrifft (wie in der Pornografie und erst recht bei Snuff-Filmen deutlich wird). Dennoch ist es notwendig, diese Dinge zu zeigen, wenn wir sie in ihrer triebhaften Wirkung von innen heraus effektiv untergraben wollen. Zeigt man sie nicht, verbaut man sich diese Möglichkeit und bleibt auf der Ebene lebloser abstrakter Aussagen. Der beschriebene Mechanismus macht die Stärke der Aufführungen von Rammstein aus: Die Band inszeniert faschistische Rituale auf derart überzogene, karikaturistische Weise, dass sie deren ganze Lächerlichkeit offenbaren. Guston ging ähnlich vor, aber auf einer anderen Ebene: Er verortete die KKK-Ideologie im täglichen Elend ihrer Anhänger.

Kaywin Feldman, die Direktorin der National Gallery of Art in Washington, bestritt, dass die in Gustons Werk angelegte kritische Distanz wirksam genug zum Ausdruck kommt. Um die Entscheidung, die Ausstellung bis auf Weiteres nicht stattfinden zu lassen, zu rechtfertigen, behauptete sie beharrlich, dass wir „die Reaktionen der Betrachter gebührend berücksichtigen und dabei anerkennen müssen, dass es sich hier um Bilder handelt, die etwas triggern. Egal, was der Künstler mit dem Motiv des Klansman bezweckt hat – es ist ein Symbol für den rassistischen Terrorismus, der seit der Gründung unserer Nation an Körper und Geist farbiger Menschen verübt wird. Das Argument, man müsse den Leuten nur sagen, was sie sich beim Anblick der Bilder denken sollen, funktioniert nicht, wenn es um den Ku-Klux-Klan und dessen Symbolik geht.“4

Auch hier geht es also wieder darum, dass Gustons KKK-Bilder etwas „triggern“, wobei das Wort dasselbe meint wie die sogenannte Trigger-Warnung, eine „vorgeschaltete Warnung, dass der Inhalt eines Textes, eines Videos usw. manche Menschen verunsichern oder verletzen kann, vor allem jene, die zuvor ein damit zusammenhängendes Trauma erlebt haben“.5

Warum, fragt man sich hier unwillkürlich, verfährt man bei dieser Ausstellung nicht ganz genauso und bringt im Eingangsbereich eine entsprechende Warnung an? Feldman würde darauf wohl erwidern, damit würde man der Öffentlichkeit sagen, was sie denken soll, und das „funktioniert nicht, wenn es um den Ku-Klux-Klan und dessen Symbolik geht“. In diesem Fall aber stimmt das einfach nicht. Guston siedelt die Symbole des KKK im abstoßenden Elend des täglichen Lebens jener Leute an, die dort Mitglied sind; seine Bilder vermitteln ihren Gegenstand aus der Perspektive des Kammerdieners, wie Hegel gesagt hätte (man könnte sich gut vorstellen, dass ein Mitglied des KKK gegen diese Art der Darstellung protestieren würde, weil er sich in seinem edlen Kampf herabgewürdigt sieht). Gustons Bilder figurieren als linkspolitisches Äquivalent zu einem denkbaren Gemälde, das etwa Martin Luther King karikaturistisch darstellt, wie er in einem Motelzimmer mit einer Geliebten leidenschaftlich zugange ist, während auf einem nahen Tisch, inmitten einer Pfütze von verschüttetem Alkohol, ein Stapel Notizen für seine nächste Rede liegt (wie wir heute wissen, hatte King diverse Affären). Diejenigen, die sich durch ein solches Bild „getriggert“ fühlten, wären Kings Anhänger, nicht seine weißen Widersacher. Die Betrachter werden in beiden Fällen nicht zum Nachdenken aufgefordert – der Abscheu, mit dem sie reagieren, wird unmittelbar durch das Gemälde selbst ausgelöst. Damit ist der entscheidende Punkt benannt, den linke Rammstein-Kritiker wie Thomas Blaser nicht sehen. Blaser schreibt:

Die deutsche Metalband Rammstein will das Video zu ihrem Song „Ausländer“ als eine Kritik an Kolonialismus und Sextourismus verstanden wissen. Gleichzeitig erlaubt es aber auch rechten Neonazis, sich an der faschistischen Ikonografie zu erfreuen […], auch wenn die Symbole ironisch verwendet werden. In einer Demokratie des Massenkonsums legt sich das Publikum seine eigenen Interpretationen zurecht. Berichten zufolge fühlen sich Rechtsextreme und Neonazis von der martialischen, neofaschistischen Inszenierung genauso angezogen wie diejenigen, die „einfach nur“ die Show genießen. Tatsächliche Faschisten können sich über die ironischen Feinheiten und Untertöne hinweg dem Spektakel hingeben, in dem die faschistische Ästhetik zelebriert wird, einschließlich der Vorstellung, schwarze Menschen seien glückliche, naive Wilde. In dieser Rolle als Zuschauer der Verhöhnung Schwarzer kommt das Mainstream-Publikum mit Neonazis und rechten Extremisten zusammen.6