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Für Dr. Norden ist kein Mensch nur ein 'Fall', er sieht immer den ganzen Menschen in seinem Patienten. Er gibt nicht auf, wenn er auf schwierige Fälle stößt, bei denen kein sichtbarer Erfolg der Heilung zu erkennen ist. Immer an seiner Seite ist seine Frau Fee, selbst eine großartige Ärztin, die ihn mit feinem, häufig detektivischem Spürsinn unterstützt. Dr. Norden ist die erfolgreichste Arztromanserie Deutschlands, und das schon seit Jahrzehnten. Mehr als 1.000 Romane wurden bereits geschrieben. Die Serie von Patricia Vandenberg befindet sich inzwischen in der zweiten Autoren- und auch Arztgeneration. Es war ein schwüler Tag im Mai, und ein Gewitter lag in der Luft, als Dr. Gabriele Uhl vor ihrem Haus am Rande der Stadt aus dem Wagen stieg. Tief atmete sie die würzige Luft ein, die erfüllt war vom Duft des Flieders, und jetzt wehte auch ein etwas frischerer Wind von Westen her.Gabriele hatte wieder einen anstrengenden Tag hinter sich. Als Rechtsanwältin hatte sie sich nach dem Tod ihres Mannes einen guten Namen gemacht, aber viel Zeit hatte sie für ihre drei Töchter nicht gehabt, die nun den Kinderschuhen entwachsen waren.Wenn die gute Thilde nicht gewesen wäre, die ihr auch nun schon die Tür öffnete, hätte sie die schweren Jahre während der Krankheit ihres Mannes und nach seinem Tod vor fünf Jahren nicht bewältigen können, denn da waren die Kinder noch schulpflichtig gewesen und auch noch zu jung, um richtig zu begreifen, wieviel Kraft ihre Mutter brauchte.»Bin froh, daß Sie zu Hause sind vor dem Gewitter, Frau Doktor«, sagte Thilde. Sie ließ es sich nicht nehmen, ihre Gnädige so anzureden, denn Thilde war noch vom alten Schlag, aber entsprechend diesem auch eine wirkliche Perle. »Die Dirndeln sind aber noch nicht daheim, und Murkel hat sich schon wieder verkrochen, als es vorhin mal gedonnert hat.Murkel, ein drolliger blonder Mischling, hatte sein Frauchen gehört und kam nun schwanzwedelnd angelaufen.»Du Angsthase«, sagte Gabriele und kraulte ihn liebevoll. Murkel war ein gescheiter Hund, eine ganz besondere Rasse, wie oft zu hören war, und er war sehr anhänglich.»Sind sie wieder ausgeflogen, ohne dich mitzunehmen«, sagte Gabriele. »So eine Gesellschaft, da mußt du ja beleidigt sein.»Vanessa wollte ihn mitnehmen, aber er hat sich geweigert, weil sie wieder von diesem jungen Mann abgeholt worden ist«, erklärte Thilde. »Und Nathalie hat doch heute Sportfest. Eigentlich müßte sie aber schon zu Hause sein. Mir will es nicht gefallen, wenn sie ins Gewitter kommt.»Reg dich nicht auf, Thilde, das Gewitter kommt ja noch nicht«, meinte Gabriele beschwichtigend. »Und im übrigen müssen wir uns daran gewöhnen, daß die Kinder erwachsen sind.
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Es war ein schwüler Tag im Mai, und ein Gewitter lag in der Luft, als Dr. Gabriele Uhl vor ihrem Haus am Rande der Stadt aus dem Wagen stieg. Tief atmete sie die würzige Luft ein, die erfüllt war vom Duft des Flieders, und jetzt wehte auch ein etwas frischerer Wind von Westen her.
Gabriele hatte wieder einen anstrengenden Tag hinter sich. Als Rechtsanwältin hatte sie sich nach dem Tod ihres Mannes einen guten Namen gemacht, aber viel Zeit hatte sie für ihre drei Töchter nicht gehabt, die nun den Kinderschuhen entwachsen waren.
Wenn die gute Thilde nicht gewesen wäre, die ihr auch nun schon die Tür öffnete, hätte sie die schweren Jahre während der Krankheit ihres Mannes und nach seinem Tod vor fünf Jahren nicht bewältigen können, denn da waren die Kinder noch schulpflichtig gewesen und auch noch zu jung, um richtig zu begreifen, wieviel Kraft ihre Mutter brauchte.
»Bin froh, daß Sie zu Hause sind vor dem Gewitter, Frau Doktor«, sagte Thilde. Sie ließ es sich nicht nehmen, ihre Gnädige so anzureden, denn Thilde war noch vom alten Schlag, aber entsprechend diesem auch eine wirkliche Perle. »Die Dirndeln sind aber noch nicht daheim, und Murkel hat sich schon wieder verkrochen, als es vorhin mal gedonnert hat.«
Murkel, ein drolliger blonder Mischling, hatte sein Frauchen gehört und kam nun schwanzwedelnd angelaufen.
»Du Angsthase«, sagte Gabriele und kraulte ihn liebevoll. Murkel war ein gescheiter Hund, eine ganz besondere Rasse, wie oft zu hören war, und er war sehr anhänglich.
»Sind sie wieder ausgeflogen, ohne dich mitzunehmen«, sagte Gabriele. »So eine Gesellschaft, da mußt du ja beleidigt sein.«
»Vanessa wollte ihn mitnehmen, aber er hat sich geweigert, weil sie wieder von diesem jungen Mann abgeholt worden ist«, erklärte Thilde. »Und Nathalie hat doch heute Sportfest. Eigentlich müßte sie aber schon zu Hause sein. Mir will es nicht gefallen, wenn sie ins Gewitter kommt.«
»Reg dich nicht auf, Thilde, das Gewitter kommt ja noch nicht«, meinte Gabriele beschwichtigend. »Und im übrigen müssen wir uns daran gewöhnen, daß die Kinder erwachsen sind.«
Sie war eine tolerante Mutter, wenngleich ihre Nachsicht auch Grenzen hatte. Aber die Kinder hatten auch auf sie oft warten müssen, und nun waren alle drei schon volljährig, auch Nathalie, die Jüngste, die im nächsten Jahr ihr Abitur machen würde.
»Ich nehme erst mal ein Bad«, sagte Gabriele, doch da läutete es dreimal. Jessica, ihre Älteste mit ihren zweiundzwanzig Jahren, und Jurastudentin, erschien.
»Hallo, Mutsch, schon daheim?« begrüßte sie ihre Mutter. »Macht die Schotten dicht, im Westen hagelt es schon. Ich habe es grad im Autoradio gehört. Brauchst nicht gleich zittern, Murkel. Du Feigling, willst du mich nicht begrüßen?«
Murkel wollte nicht. Er hatte sich schon unter dem Küchentisch verkrochen.
Thilde wurde freundlich auf den Rücken geklopft und gefragt, was es denn zu Essen gäbe.
»Gegessen wird erst, wenn die andern beiden da sind«, erklärte Thilde. »Aber für den großen Hunger gibt es schon einen Happen.«
»Hoffentlich duscht es die Lütte beim Sportfest nicht ein«, sagte Jessica besorgt. »Aber eigentlich müßte es schon zu Ende sein.«
»Die Lütte«, so hatte der Großvater, der aus Norddeutschland stammte, Nathalie genannt. Er hatte sie ganz besonders geliebt, und für sie war es auch ein ganz besonders großer Schmerz gewesen, als er vor zwei Jahren starb. Ein Schmerz, der nachhaltig wirkte.
Jonas Uhl hatte seine Frau früh verloren, und so sehr er auch seine Schwiegertochter Gabriele schätzte und die Kinder liebte, er hatte sich nicht von seiner Heimat trennen wollen, hatte dort als Pfarrer weiter wirken wollen, bis ins hohe Alter.
Er hatte es nicht verwunden, daß sein einziger Sohn so früh sterben mußte und zuvor so lange leiden. Ja, da hatte er sogar mit Gott gehadert und gemeint, daß der Tod ihn doch hätte früher holen sollen. Aber er hatte vor seinem Tod, den er kommen sah und auch herbeiwünschte, Haus und Hof verkauft, damit es Gabriele leichter haben sollte, denn viel Vermögen war nicht da, als Henning Uhl gestorben war.
Jessica hing sehr an der Lütten. Mit Vanessa jedoch stand sie manchmal auf Kriegsfuß, weil es ihr nicht gefallen wollte, daß sich diese darauf versteift hatte, Schauspielerin zu werden. Daß sie die Hübscheste der drei Schwestern war, neidete ihr Jessica nicht, und Nathalie hatte sowieso nichts für Äußerlichkeiten übrig. Sie wäre lieber ein Junge geworden.
Jessica hatte gerade genüßlich ein Stück Apfelstrudel verzehrt, den Thilde meisterlich zu backen verstand, und droben war Gabriele gerade aus dem Bad gestiegen, als ein gewaltiger Donnerschlag das Haus erzittern ließ.
Thilde fiel ein Brett aus der Hand. »Heilige Mutter Gottes«, stöhnte sie.
Jessica war aufgesprungen und rief nach Gabriele, die in den Bademantel gehüllt an der Treppe erschien.
»Der Strom ist weg«, rief sie herunter.
»Das auch noch, mein Auflauf«, jammerte Thilde.
Murkel kam zitternd unter dem Tisch hervorgekrochen und schob sich zwischen Jessicas Beine.
»War wirklich gewaltig«, sagte sie. »Aber wir sind ja bei dir, Murkel.« Doch da kam schon der nächste Schlag.
»Und die Lütte ist immer noch nicht da«, sagte Thilde klagend. Sie war eine Urbayerin, aber Lütte, das gefiel ihr auch.
Gabriele hatte sich in fliegender Hast angekleidet und kam nun die Treppe heruntergeeilt.
»Ich fahre jetzt mal zum Sportplatz«, sagte sie hastig.
»Aber Mutsch, das ist doch sinnlos! Sie sind bestimmt schon weg, und wahrscheinlich warten sie irgendwo im Trockenen das Gewitter ab«, sagte Jessica. »Ist doch auch besser. Und Vanessa wird es ebenso machen. Sie sind doch keine Babies mehr.«
»Und wenn es hier wieder auch solchen Hagelschlag gibt wie im vorigen Jahr?« meinte Gabriele besorgt.
»Da laufen sie bestimmt nicht herum«, meinte Jessica. »Es wird nicht lange dauern. Schau, der Strom ist auch wieder da. Nun beruhige dich und du auch, Murkel.« Aber Murkel zitterte immer noch.
Es goß in Strömen, gute zwanzig Minuten lang. Thilde trauerte ihrem Auflauf nach, der zusammengefallen war, aber Jessica meinte, daß sie doch alle gern das Glitschige mochten, und sie half Thilde beim Herrichten der Salate.
Zwischendurch blickte sie zum Fenster hinaus, und sie sah auch, wie ein Auto hielt, aber die Büsche waren schon so dicht, daß sie es nicht erkennen konnte. Und dann läutete es wieder dreimal, ihr vereinbartes Zeichen.
Gabriele lief schon zur Tür. Nathalie stand davor, und mit einem Schreckensruf wich Gabriele zurück.
»Mein Gott, Lütte, wie siehst du aus?« stieß sie bestürzt hervor.
»Nur keine Aufregung, Mutschilein«, sagte Nathalie. »Ich bin durchs Ziel gestürzt, aber ich habe gewonnen, und bei Dr. Norden war ich auch schon. Er hat mich auch heimgebracht. Mußte nur schnell weiter, weil es an der Brücke wieder mal einen Unfall gegeben hat.«
Jessica war auch aus der Küche gekommen, und Thilde blieb dort in der Tür stehen. »Kindchen«, murmelte sie.
»Dich muß es aber schön geschmissen haben«, stellte Jessica fest.
»Bin ja auch eine Bombenzeit gelaufen«, sagte Nathalie.
»Mir wäre es lieber, du wärest nicht so zerschunden«, sagte Gabriele. Aber sie hatte sich schon wieder beruhigt, weil Nathalie gleich zu Dr. Norden gegangen war.
»Hat sich wenigstens jemand gleich um dich gekümmert?« fragte Jessica.
»Na klar, Mäxchen hat mich gleich zu Dr. Norden gefahren.«
Sie sagte es so hin, aber eine feine Röte war in ihre Wangen gestiegen. Es fiel nicht so auf, weil sie schon sonnengebräunt war.
Daß der Studienassessor Maximilian von Bethge respektlos Mäxchen genannt wurde, war bereits allseits bekannt, aber er war ein so überaus beliebter Lehrer, daß das Direktorium ihm ganz besonders auf die Finger schaute. Er war jung, sah gut aus, hatte einen bekannten und hochgeachteten Namen, und manch einer hatte sich schon gefragt, warum er ausgerechnet Lehrer geworden war, dazu noch für Physik, Mathematik und Sport.
Er hätte die Erklärung geben können, daß er später einmal das Internat in Lausanne, das seine Tante leitete, übernehmen sollte, und auch wollte, aber er gab sie nicht.
Ihm war es so ziemlich gleichgültig, was der Direktor und die Kollegen über ihn dachten und auch redeten, und es ließ ihn auch ungerührt, wenn er von den Schülerinnen angehimmelt wurde. Daß es eine darunter gab, für die er mehr übrig hatte, ahnte niemand, auch nicht Nathalie Uhl, um die es sich dabei handelte.
Das wußte Gabriele Uhl glücklicherweise auch nicht, denn so ganz ohne Probleme gestaltete sich das Familienleben mit den Töchtern nicht. Auch Jessica hatte ihre Mucken.
Auf Vanessa wollten sie nun mit dem Essen nicht mehr warten, da auch Nathalie Hunger hatte. Trotz der Schmerzen in den Beinen und Armen, die sie nun erst so richtig zu spüren begann, fehlte es ihr nicht an Appetit. Insofern konnte Thilde beruhigt sein, aber nach dem Essen wollte sich Nathalie doch gleich hinlegen.
Vanessa war noch immer nicht zurück. Jessica hatte sich in ihr Zimmer zurückgezogen, um noch zu arbeiten. Sie nahm das Studium sehr ernst, sie ließ sich auch nicht beirren, wenn sie als Streberin bezeichnet wurde, wie es Jörg Eickhoff am Nachmittag getan hatte, als sie es ablehnte, mit ihm eine Party zu besuchen. Er hatte ohnehin wieder einmal Ansichten geäußert, die sie nicht billigen konnte, und da war schon eine Mißstimmung aufgetreten. Aber jetzt dachte sie auch daran nicht mehr, sondern konzentrierte sich ganz auf ihre Arbeit.
Vanessa rief gegen neun Uhr an. Gabriele atmete erleichtert auf, als sie das Telefon abgenommen hatte.
»Entschuldige, Mutsch, aber ich bin nicht früher dazu gekommen, dich anzurufen. Ich bin noch im Studio, habe eine kleine Rolle bekommen, die aber Spaß macht. Es wird ziemlich spät werden.«
Gabriele schluckte es. Sie mußte sich tatsächlich daran gewöhnen, daß auch Vanessa erwachsen war, denn mit zwanzig Jahren nahmen sich die Mädchen schon ganz andere Freiheiten als ihre Töchter. Sie wußte das vor allem von Berufs wegen.
»Nimm dir aber bitte ein Taxi, Vanessa«, sagte sie.
»Keine Sorge. Percy bringt mich sicher nach Hause. Aber es sind auch noch andere Kavaliere da.«
Ich muß diesen Percy doch mal begutachten, dachte Gabriele, denn vor Thildes Augen hatte er keine Gnade gefunden. Aber Thilde wollte ja am liebsten ganz seriöse, schon ältere und zuverlässige Partner für alle drei Mädchen haben.
Es war wieder einmal eine Stunde, in der Gabriele zurückdachte an jene Zeit, als sie Henning kennenlernte. Sie war ein Mädchen aus bestem Haus, ohne höhere Tochter, wie Thilde schon damals festgestellt hatte, denn sie war auch bereits in Gabrieles Elternhaus angestellt gewesen. Sie war auch ein lebenslustiges Mädchen gewesen und Henning keineswegs ein Kostverächter. Sie hatten den Eltern auch manches Schnippchen geschlagen. Nur war es eben so gewesen, daß ihre Gefühle füreinander ernst und beständig waren. Es hatte für Gabriele nie einen anderen Mann gegeben, und sie zehrte heute noch von der glücklichen Zeit, die ihnen vergönnt gewesen war. Leider eine zu kurze Zeit.
Ihr Blick ruhte auf der silbergerahmten Fotografie, die Henning noch als gesunden Mann darstellte. Und nur so sollte er in ihrer Erinnerung weiterleben, denn die schlimme Zeit hatte auch ihn und sein Wesen verändert gehabt. Das war für Gabriele am schlimmsten gewesen.
Jetzt konnte sie sich nicht mehr konzentrieren, obgleich sie noch dringend Prozeßakten hätte durchsehen müssen. Sie dachte an Vanessa, dieses bildschöne Geschöpf, das eine so große Ähnlichkeit mit der Urgroßmutter Henrietta hatte, die ihren Mann mit zwei Kindern sitzenließ, um mit einem polnischen Offizier durchzubrennen. Eine blonde Schönheit wie Vanessa, und das schwarze Schaf der Familie. Glücklich war sie mit dem feurigen Gregor nicht geworden, und schon sechsunddreißigjährig war sie an Lungentuberkulose gestorben. Es stand in der Familienchronik, in der nicht nur die guten und positiven Schicksale erwähnt wurden. Es war die Geschichte einer, man konnte sagen abenteuerlichen Familie, in der sich die unterschiedlichen Temperamente mehrerer Nationen gepaart hatten.
Ja, Gabriele machte sich um Vanessa die meisten Sorgen. Sie war in der Schule nicht so gut gewesen wie ihre Schwestern, sie hatte auch die Reifeprüfung nur mit Ach und Krach bestanden, was für Gabriele aber nicht so wichtig war.
Die Mädchen sollten auch den Berufsweg einschlagen, zu dem sie Neigung zeigten. Allerdings fürchtete Gabriele in Bezug auf Vanessa, daß sie, gerade sie, einen Weg einschlagen wollte, in dem sie größeren Gefahren ausgesetzt sein würde, und in dem gerade ihr Liebreiz zum Verhängnis werden konnte. In gewisser Hinsicht war Vanessa naiv, zu gutgläubig und arglos.
Was mochte dieser Percy für ein Mensch sein, überlegte Gabriele wieder, aber sie hatte ihn nur einmal ganz flüchtig gesehen und konnte sich keine Meinung über ihn bilden. Sie war nicht geneigt, einen jungen Mann wegen seiner Frisur oder seiner Kleidung zu beurteilen.
*
An Percy Brock war alles ein bißchen ungewöhnlich, aber er hatte einen besonderen Charme, den englischen Humor und die Lässigkeit eines Playboys. Die Mädchen flogen auf ihn, und wenn man das von Vanessa nicht so direkt sagen konnte, so war es doch so, daß sie sich doch beeindrucken ließ von der Zähigkeit, mit der er sich um sie bemühte.
Seine Samtaugen und seine einschmeichelnde Stimme trugen einiges dazu bei. Aber immerhin war Vanessa doch zu sehr die Tochter ihrer Mutter, als daß sie sich blindlings verliebt hätte. Man konnte sogar sagen, daß sie in gewisser Weise berechnend war, denn eine feste Bindung sollte für sie nur in Frage kommen, wenn alles stimmte.
Als sie ihre Mutter angerufen hatte, waren im Studio schon die Lampen gelöscht, und ihre winzigkleine Rolle hatte sie ohne große Schwierigkeiten bewältigt. Sie war fotogen, sie sah bezaubernd aus, aber das Zeug zu einer guten Schauspielerin hatte sie nicht, das wußte Percy Brock freilich auch, aber er sagte es ihr nicht, denn sie war für ihn in mancherlei Hinsicht wichtig geworden.
Ein Mädchen wie sie hatte er noch nicht gehabt, und dafür strengte er sich auch an. Er hatte sich in den letzten Wochen, in denen er mit Vanessa befreundet war, auch von seiner Clique ferngehalten, die mit Anzüglichkeiten und dummen Bemerkungen abschreckend auf Vanessa hätte wirken können.
Es handelte sich dabei nicht um Rocker oder Punker, sondern um Söhne reicher Väter, die das Leben auf ihre Weise genossen, und sich mit reichlicher Überheblichkeit eigene Privilegien anmaßten.
Percy hatte zwar auch einen reichen Vater, aber der hatte ihn vor die Tür gesetzt, als er erklärt hatte, daß er Filmregisseur werden wolle. Und so war Percy dann recht froh gewesen, durch einen Freund, dessen Vater Produzent war, die Stelle als Regieassistent zu bekommen. Dieser Freund gehörte zu der Clique und war einer von denen, der sich über alle Gesetze hinwegsetzte. Gerald Gaspari schuf sich seine eigenen Gesetze. Er nannte sich Anlageberater, er war Teilhaber eines Privatsenders und machte alles, was erfolgversprechend war. Aber immer klappte es mit dem Erfolg nicht.
Er war kein so charmanter Bursche wie Percy. Er hatte nur bei bestimmten Frauen Erfolg, die die Männer nach ihrer Brieftasche beurteilten, und gerade Percy hatte schon manches über ihn gehört, was nicht gerade fein war, aber ihn persönlich störte es nicht. Aber es konnte Vanessa abschrecken.
Durch das Gewitter war es an diesem Abend unvermeidlich geworden, daß auch Vanessa mit dieser Clique zusammentraf, denn sie waren in Percys Stammlokal geflüchtet, als der Wolkenbruch die Straße überflutet hatte und die Autos steckenblieben.
Es waren nicht alle da, aber Gerald Gaspari, Eddy Rasp, Fred Wolter und Heino Hammer.
Mit großem Hallo wurde Percy empfangen, mit abschätzenden Blicken wurde Vanessa gemustert. Sie war das einzige Mädchen in dieser Runde, und zu Percys Erleichterung verhielten sich diese Rabauken einigermaßen anständig. Anscheinend hatten sie gerade ein ernstes Thema gehabt, denn Percy merkte sofort, daß sie nicht so locker waren wie sonst.
Dann wurde aber ziemlich viel getrunken, und Percy hielt kräftig mit, was Vanessa gar nicht behagte, da er ja noch mit dem Auto fahren mußte. Mittlerweile war es schon zehn Uhr geworden.
»Ich muß nach Hause, Percy«, sagte sie leise.
»Ach was, du kannst doch mal bei mir schlafen.«
Vanessa war so entsetzt, daß ihr die Antwort in der Kehle steckenblieb. Er tat vor seinen Freunden gerade so, als wären sie schon intim miteinander.
Sie überlegte krampfhaft, wie sie da herauskommen könnte, aber als sie schon bei der nächsten Flasche Wein waren, stand sie auf und sagte, sie müsse nur mal verschwinden.
Dann, als sie vor der Tür stand, hoffte sie nur, daß sie bald einen Taxistand finden würde, denn es regnete immer noch ziemlich stark, und sie hatte nur eine leichte Leinenjacke über dem dünnen Kleid an.
Während sie dicht an den Häusern entlanglief, hoffte sie auch, daß niemand ihr folgen würde.
Endlich kam sie an eine Kreuzung, an der tatsächlich ein Taxi stand.
Schwer atmend sank sie auf den Rücksitz und nannte die Adresse.
»War jemand hinter Ihnen her?« erkundigte sich der ältere Fahrer besorgt. »Es passiert so viel. Junge Mädchen sollten eigentlich nicht mehr um diese Zeit allein herumlaufen.«
»Ich bin nur so spät wegen des Gewitters«, sagte Vanessa immer noch atemlos.
»Hat wieder allerhand angerichtet, vor allem droben im Westen.«
»Hoffentlich nicht auch bei uns«, sagte Vanessa leise.