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Geliebt, verbannt, geächtet
Siena 1368: Auf der Flucht vor ihrem gewalttätigen Mann findet Gemma Schutz bei Lina, einer vermögenden Witwe, die ihr Leben den Waisen von Siena widmet. Beide Frauen kämpfen um ihre gesellschaftliche Anerkennung. Doch die rätselhaften Todesfälle zweier unschuldiger Kinder drohen ihnen zum Verhängnis zu werden …
Als Gemma sich aus den Fängen ihres Mannes befreit, weiß sie, dass ihr ein Leben als ehrbare Frau für immer verwehrt sein wird. Scheidungen sind ein Sakrileg, und so bleibt ihr nur die Flucht. Wie ein Geschenk des Himmels erscheint ihr da die Begegnung mit Lina. Aufopferungsvoll kümmert sich die junge Witwe um die Waisen von Siena und bietet Gemma an, sie zu unterstützen. Doch dann sterben kurz hintereinander auf mysteriöse Weise zwei Kinder, die in Linas Obhut standen. Eine heimliche Obduktion ergibt lediglich, dass die Kinder ohne sichtbare Anwendung von Gewalt zu Tode kamen. Wer ist für die ungeheuerlichen Taten verantwortlich? Einflussreiche Stadtväter, die Lina aus unerfindlichen Gründen zum Schweigen bringen wollen? Gemmas Vater, der Salzhändler mit dunkler Vergangenheit? Ein Wahnsinniger, der nachts auf den Straßen sein Unwesen treibt? Schließlich gerät Gemma selbst in Verdacht, sie wird verhaftet, verhört und als Mörderin angeklagt. Nur ein mutiges Bekenntnis im allerletzten Augenblick könnte sie noch retten …
Detailgenau recherchiert und brillant erzählt: ein opulenter Roman voller Spannung und Dramatik
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Seitenzahl: 650
BRIGITTE RIEBE
Die Sünderin von Siena
Roman
Zur Erinnerung an Andrea,unsere Künstlerin
Salz ist das Geschöpf der lautersten Eltern –der Sonne und des MeeresPythagoras
Cum sale panis latrantem stomachum bene lenietSalz und Brot macht die Wangen rot,schlägt den Hunger totHoraz
ERSTES BUCH
Lecorno
Contrade des Einhorns
Wenn du dieses Haus verlässt, bist du tot!« Niemals zuvor hatte sie ihn so gesehen, die Züge wächsern, die Augen zornige Schlitze. Das ist sein wahres Gesicht, schoss es Gemma durch den Kopf, und nicht die freundliche Maske, mit der er uns alle anfangs getäuscht hat. Unwillkürlich umklammerte sie das Treppengeländer fester. Nur ein Stoß – und sie läge womöglich schon im nächsten Augenblick mit gebrochenem Genick am Fuß der Stufen. Es hatte durchaus Augenblicke gegeben, in denen sie sich nach einem raschen Ende gesehnt hatte, einem Tod, den man nach außen hin als tragischen Unfall hätte ausgeben können, und endlich wären Kummer und Scham, wären alle Albträume für immer vorbei gewesen.
Doch jetzt war Widerstand in ihr erwacht, spät, dafür aber umso heftiger, und ihr war bewusst, dass Lupo das ebenfalls spüren musste. Bevor er sie weiter bedrängen konnte, wich sie rasch nach oben aus und stand jetzt auf dem Treppenabsatz, um einiges sicherer als zuvor, was ihn nur noch wütender zu machen schien.
»Wo solltest du auch hin?« Seine Stimme gellte in ihren Ohren. »Etwa wie eine Bettlerin zurück zu deinem Vater? Was, glaubst du, hielte ein Mann wie Bartolo Santini von solch gebrauchter Ware, die ihm nichts als Schande einbringen würde?«
Zielsicher hatte er ihren wundesten Punkt getroffen, denn diese Frage rumorte schon seit Langem in ihr. Nichts lag Gemma ferner, als den Ruf der Familie zu beflecken, doch diesen Hort der Dunkelheit konnte und wollte sie nicht länger ertragen.
»Ich gehe«, sagte sie. »Und du wirst mich nicht aufhalten.«
Wie ein Raubtier sprang er sie an, riss sie zu Boden, kauerte nun drohend über ihr. »Du bist meine Frau – und damit mein Eigentum. Ich kann also mit dir machen, was ich will. Soll ich es dir gleich an Ort und Stelle beweisen?«
Er ließ sich auf sie fallen, drückte sie hart auf den Boden, mit diesem feisten Körper, den er sich in letzter Zeit angefressen hatte. Seine jungenhafte Schlaksigkeit, die sie einst so anziehend gefunden hatte, gehörte der Vergangenheit an, denn Lupo di Cecco legte sich keinerlei Zurückhaltung mehr auf. Einem nimmersatten Dämon gleich verschlang er alles, was ihm in den Weg kam: Bratenstücke, Weinberge, Silberkisten, Weiber. Zu Gemmas Schrecken begann er nun ihren Hals mit fiebrigen Küssen zu bedecken, und seine Hände zerrten an ihrer Kleidung.
»Ist es das, was du vermisst hast? Bist du deshalb so mürrisch und verbissen? Das können wir ändern!« Seine Zungenspitze schnellte in ihr Ohr, bei dieser Überrumpelung eine geradezu obszöne Liebkosung, die ihr Tränen der Wut in die Augen trieb.
»Lass mich sofort los!« Sie wollte sich wehren, doch ihre Beine steckten zwischen seinen stämmigen Schenkeln wie in einer Zwinge, und ihre Arme hielt er, als sie auf ihn einschlagen wollte, fest. »Du widerst mich an, Lupo !«
»Ach, du willst es härter? Ganz nach deinem Wunsch, tesoro!« Er mühte sich nicht länger mit Bändern und Schleifen ab, sondern packte fest zu. Unter seinem wütenden Griff zerriss ihr Mieder. Gemma spürte plötzliche Kühle auf der Haut, dann schrie sie auf, denn er hatte sie so fest in die Brustspitze gebissen, dass sie blutete.
»Du Teufel! Du tust mir weh. Hör sofort damit auf!«
»Das gefällt dir, nicht wahr?« Er schien wie von Sinnen, das helle Haar zerzaust, die Lippen zu einem wüsten Grinsen verzogen. »Komm, sag es schon, und wenn nicht, dann soll es mir auch egal sein! Ich wusste, du würdest irgendwann so weit sein. Hast dich immer wie ein prüdes Nönnlein aufgeführt, aber das scheint ja zum Glück vorüber. Uns beiden stehen wunderbare Zeiten bevor, jetzt, wo du offenbar endlich kapiert hast, wer hier der Herr im Haus ...«
Ihr Knie traf ihn direkt ins Gemächt.
Er jaulte auf, ließ Gemma los, was ihr genügend Zeit gab, um sich zur Seite zu wälzen. Blitzschnell war sie auf den Füßen, schaute jetzt auf ihn hinunter.
»Fass mich nie wieder an!«, sagte sie. »Sonst kann ich für nichts garantieren.«
»Das wirst du noch bereuen«, gurgelte Lupo, beide Hände auf den schmerzenden Leib gepresst. »Wie eine Laus werde ich dich zerquetschen, bis du ...«
Gemma rannte los, die Treppe hinunter. Vor der Küchentüre hielt sie inne. Drinnen trafen die Mägde Vorbereitungen für das Abendessen. Das Ende der Fastenzeit war noch nicht erreicht, und die dafür gültigen Speisegebote waren ebenso zahlreich wie streng, doch Lupo hatte sich auch hierfür etwas einfallen lassen. Nach seinen Anordnungen wurden große Teigfladen ausgerollt, in denen sich so mancherlei versteckt einwickeln ließ, ganze Enten beispielsweise, die bei günstiger Auslegung der heiligen Regeln notfalls als Wassergetier gelten konnten und wiederum mit Tauben gestopft waren. Dazu sollte es pasta geben, kandiertes Zwiebelgemüse und Konfekt. Übelkeit stieg in Gemma hoch, als sie an diese Völlerei dachte, während jetzt zum Winterende viele Menschen in Siena darben mussten. In der Küche hörte sie die Frauen reden und lachen, und das nur allzu vertraute Gefühl von Einsamkeit schloss sie ein wie eine zweite Haut.
Die Bediensteten um Hilfe bitten? Das konnte und wollte sie nicht. Sie standen ebenfalls unter Lupos Gewalt, wie sie selber es viel zu lange getan hatte. Von oben hörte sie mühsame Schritte.
Ihr Blick glitt Hilfe suchend umher, da sah sie an einem Nagel an der Wand ihren alten braunen Umhang, den sie erst unlängst an eine der Mägde abgetreten hatte. Sie griff nach ihm, warf ihn sich um die Schulter und drückte fest auf die Klinke. Die Haustüre war nicht abgeschlossen wie so oft in letzter Zeit, der Madonna sei Dank!
Wie im Traum stolperte sie hinaus auf die Straße und konnte gerade noch einem hoch beladenen Geflügelkarren ausweichen, indem sie sich rasch an die Mauer drückte. Erst als er vorübergerumpelt war, bemerkte sie, dass die Tür hinter ihr ins Schloss gefallen war.
Sie war draußen – in Freiheit.
Ein letzter Blick auf das dreistöckige Haus mit der reich gegliederten Fassade und den Bogenfenstern, nach außen einem Palast ähnlich, innen jedoch beherrscht von Kälte und Hass. Eine kräftige Böe fuhr in die Fahne der Contrade, die vom ersten Stock herabflatterte, und ließ das Emblem des Einhorns tanzen. Damals, als die Hochzeit immer näher rückte, war Nonna Vanozza nicht müde geworden, ihr die alten Geschichten über jenes scheue Fabeltier zu erzählen, und Gemma hatte aufgeregt Wort für Wort in sich aufgesogen. Da allerdings hatte sie noch nicht ahnen können, dass das Horn vergiftet war und wie heftig und anhaltend diese Wunde bluten würde.
Sie begann zu laufen, um diese Gedanken wieder loszuwerden, und die Bewegung tat gut, denn der Wind, der ihr entgegenfauchte, war noch immer kalt, selbst hier, in den engen Gassen, wo sich während der Sommermonate die Hitze wie eine unsichtbare Wand stauen konnte. Anfangs merkte Gemma kaum, wohin sie gelangte, ihre Füße aber schienen den Weg zu kennen, und sie war zu sehr mit sich selber beschäftigt, um auf die neugierigen Blicke zu achten, die sie streiften. Die Kapuze weit ins Gesicht gezogen, ließ sie Lupo di Cecco und alles, was mit ihm verbunden war, Schritt für Schritt hinter sich.
Von einer der schmalen Nebenstraßen aus sah sie kurz den Campo, der ihr leer und ungewohnt öde vorkam, und erst als er schon hinter ihr lag, wusste Gemma plötzlich, weshalb. Die Mauersegler fehlten, jene rußigen Federakrobaten der Lüfte, die bis in den Herbst hinein ihre rasanten Flugmanöver um die Turmspitzen veranstalteten. Sie würde auf ein Wiedersehen noch warten müssen, denn obwohl das Osterfest nicht mehr fern war, hielt der Winter die Stadt so fest in seinem Griff, als sollte es niemals wieder Frühling werden.
Erst als sie atemlos vor dem Domportal stand, begriff Gemma, dass die Kathedrale von Anfang an ihr Ziel gewesen war. Lupo zu Gefallen hatte sie seit ihrer Hochzeit die heilige Messe meist in der Basilika San Francesco besucht, doch nirgendwo sonst in Siena fühlte sie sich Gott näher als zwischen diesen strengen schwarz-weißen Säulen, die alles Alltägliche nach draußen verbannten und zur inneren Sammlung mahnten. Dämmerlicht umfing sie, als sie das riesige Kirchenschiff betrat, langsam und ehrfürchtig, genau so, wie die Mutter es ihr in frühesten Kindertagen beigebracht hatte.
Sie tauchte die Fingerspitzen in ein Weihwasserfass und schlug das Kreuzzeichen. Plötzlich hatte sie weiche Knie. Obwohl der Tod der Mutter eine halbe Ewigkeit zurücklag, vermisste Gemma sie plötzlich, als hätte sie sie gerade erst verloren.
»Ich wollte dir doch keine Schande machen«, flüsterte sie, nachdem sie sich vergewissert hatte, dass niemand da war, der sie hätte belauschen können. »Niemals! Und Vater natürlich ebenso wenig. Aber du warst schon lange nicht mehr da, als Lupo um mich geworben hat. Sonst hättest du mich sicherlich vor ihm gewarnt. Lavinia dagegen konnte es gar nicht schnell genug gehen, mich endlich loszuwerden. Und ich wollte ihn ja selber unbedingt haben, diesen Dämon!«
Es tat so gut, dieses inbrünstige Flüstern, beinahe, als würde die Mutter ihr wirklich zuhören.
»Nach der Hochzeit hab ich mich nur noch geschämt und nächtelang geweint, weil ich glaubte, es liege einzig und allein an mir. Und dennoch hörte ich nicht auf zu hoffen, Lupo würde sich eines Tages ändern. Er aber dachte nicht einmal im Traum daran. Ganz im Gegenteil – meine Duldsamkeit hat ihn zu einem noch wüsteren Teufel werden lassen. Wie ein Kainsmal stand es auf meiner Stirn geschrieben ...«
Sie hielt inne, hörte, wie das Portal geöffnet und wieder geschlossen wurde, dann vernahm sie schnelle Schritte und Kinderstimmen. Ohne lange zu überlegen, schlüpfte sie in eine der Nebenkapellen und sank vor der Madonna del Voto auf die Knie.
Eine Weile war alles um sie herum vergessen. Zuerst tobte es noch wirr hinter ihrer Stirn, dann aber begannen ihre Gedanken sich zu klären, als hätte ein kräftiger Windstoß mit all den dunklen Gewitterwolken aufgeräumt. Doch mit der Klarheit kehrte auch ihre Verzweiflung zurück.
Ihre Flucht aus Lupos Haus machte sie zu einer Gezeichneten. Den ehrenhaften Status einer verheirateten Frau hatte sie damit aufgegeben – und würde doch bis zum Tod das Weib dieses verhassten Mannes bleiben. Niemand konnte die Zeit zurückdrehen und aus ihr wieder Bartolos behütete, wissbegierige und oftmals reichlich vorlaute Älteste machen, für die die ganze Welt ein aufregendes Fest gewesen war. Und sie müsste sich neuerlich der Vormundschaft des Vaters beugen, wollte sie Unterschlupf unter seinem Dach finden. Der Gedanke an die fassungslosen Mienen der jüngeren Schwestern, die sich bei der Hochzeit darum gezankt hatten, ihre Schleppe zu tragen, war kaum weniger unerträglich als der an Lavinias Häme.
Nein, sie konnte nicht zurück, solange sich noch ein Quäntchen Stolz in ihr regte.
Wenn du dieses Haus verlässt, bist du tot. Sollte Lupos grausame Drohung sich tatsächlich bewahrheiten?
Sie hatte zu weinen begonnen, und die Tränen fielen auf ihren Umhang, als sie plötzlich ein zaghaftes Zupfen spürte. Links von ihr standen drei Kinder, ein magerer Junge mit geschorenem Kopf, von dem die Ohren wie zwei übergroße bräunliche Segel abstanden, und zwei kleinere Mädchen, die sie nicht weniger neugierig anstarrten. Die kräftigere von ihnen hatte ein rosiges Vollmondgesicht, und ihr Lächeln erinnerte Gemma an eine Abendbrise.
»Angelina meint, du sollst nicht weinen«, sagte der Junge. »Und Cata will dich unbedingt trösten. Denn du bist hier im Haus der allerheiligsten Jungfrau. Und außerdem bist du doch schon viel zu groß, um so zu flennen!«
Die beiden Mädchen nickten bedächtig zu seinen Worten, obwohl sie Gemma kaum alt genug schienen, um diese auch wirklich zu verstehen. Besonders die mit dem runden Gesichtchen wirkte plötzlich abwesend und begann nervös an ihren Händen zu zupfen, als durchliefen sie innerlich heftige Schauder. Zuerst wollte Gemma sich einfach abwenden, als hätte sie nichts gehört, dann jedoch rührte sie die unerwartete Anteilnahme der fremden Kinder.
»Manchmal muss man aber trotzdem weinen«, sagte sie und erhob sich. »Auch wenn man schon erwachsen ist, denn das Leben kann auch für Große sehr grausam sein. Und ich finde, hier in der Kathedrale ist ein besonders guter Platz dafür.«
»Lelio? Angelina? Cata? Wo steckt ihr drei denn schon wieder?«
Die Frau, die schnellen Schritts näher kam, war hochgewachsen und schlank. Ein dunkler Umhang verhüllte ihr Gewand, und auch das Haar war züchtig mit einem dichten weißen Schleier bedeckt.
»Hier sind wir, Mamma Lina«, rief der Junge. »Hier, bei einer wunderschönen Signora, die aber leider sehr, sehr traurig ist.«
»Verzeiht, wenn meine kleinen Racker Euch gestört haben«, sagte die Fremde. Selten zuvor hatte Gemma eine angenehmere Stimme gehört, voll, ein wenig guttural, der alle Schärfe fehlte. » Sie müssen noch lernen, wie man sich in einem Gotteshaus richtig benimmt.« Sie nahm die Mädchen bei der Hand. »Und du, Lelio, komm jetzt auch!«, sagte sie. »Zuvor aber entschuldigt ihr euch. Und zwar schnell!«
»Lasst nur«, sagte Gemma. »Sie haben mich aus trüben Gedanken gerissen, und das war genau das Richtige.« Lelio lächelte erleichtert.
»Das da sind meine neuen Schwestern«, sagte er. »Die schlaue Angelina und die liebe kleine Cata. Manche glauben, sie sei dumm, aber täusch dich bloß nicht – die versteht nämlich viel mehr, als man denkt!«
Catas Lächeln kehrte zurück, und auch Angelina sah plötzlich viel fröhlicher drein.
»Außerdem sind sie doch noch viel zu jung, um ein schlechtes Gewissen zu haben«, sagte Gemma. »Das kommt irgendwann von ganz allein und fast immer zu früh, glaubt Ihr nicht?«
Die Frau senkte den Kopf, als hätten diese Worte etwas in ihr ausgelöst, das sie lieber für sich behalten wollte, und als sie sie wieder ansah, wirkte sie plötzlich befangen.
»Meine Kinder sollen schon von klein auf alles ganz genau lernen«, sagte sie. »Damit sie später einmal Menschen werden, die jeder achtet und schätzt.«
»Ihr müsst schon jetzt sehr stolz auf sie sein«, sagte Gemma, »Monna ... «
»Mamma«, verbesserte sie die andere. »Mamma Lina. So nennen mich alle hier in Siena.«
»Die Kinder sind noch so jung an Jahren und schon voller Mitgefühl für Fremde, Mamma Lina«, fuhr Gemma fort und ließ sich ihr Erstaunen über die ungewohnte Anrede nicht anmerken. »Nein, Eure drei kleinen Engel haben mich nicht gestört, ganz im Gegenteil, Ihr könnt völlig beruhigt sein.«
Sie sank zurück auf die Knie, nachdem die Frau und die Kinder sich verabschiedet hatten, doch so sehr sie sich auch bemühte, rechte Sammlung wollte sich nicht mehr einstellen. Und die dunklen Gedanken von zuvor überfielen sie nur noch heftiger, rasten nun in ihr wie ein Schwarm wilder Bienen.
Was nur sollte sie tun?
Die geliebte Stadt verlassen, in der sie aufgewachsen war, und irgendwo in der Fremde auf neues Glück bauen? Sich zu entfernten Verwandten flüchten, bis die Kunde von ihrem verzweifelten Schritt auch dort eintraf und sie erneut vertreiben würde? Oder sich lieber gleich irgendwo außerhalb der roten Mauern Sienas in die Felder legen und hoffen, später Nachtfrost würde sie gnädig erfrieren lassen und damit alle Probleme lösen?
Jetzt erschienen ihr sogar die schwarz-weißen Säulen als stumme, unerbittliche Mahnmale. Gemma konnte ihren Anblick auf einmal nicht länger ertragen, machte kehrt und stolperte fast blindlings ins Freie.
»Signora?« Im ersten Augenblick glaubte sie zu träumen. Aber sie standen tatsächlich im Abendlicht vor ihr, Mamma Lina und die Kinder. »Da bist du ja endlich!« Der Junge trat auf sie zu, die Mädchen folgten ihm beherzt.
» Sie haben darauf bestanden, auf Euch zu warten«, sagte Lina entschuldigend. »Vor allem Lelio war durch nichts davon abzubringen. ›Sie braucht uns‹, hat er immer wieder gesagt. ›Sie ist ebenso allein, wie wir es waren. Sie weiß nicht, wohin, das kann ich spüren. Ich bin mir sicher, dass sie uns braucht.‹«
Eine warme Welle erfasste Gemma. Wie lange war es her, dass jemand sich so rührend um sie gesorgt hatte? Sie beugte sich zu Lelio hinunter, legte die Hand auf seinen runden Kopf.
»Du bist ein ganz besonderer Junge, Lelio«, sagte sie. Jetzt erst fiel ihr auf, dass sein rechtes Ohr eine tiefe Kerbe spaltete. Wie ein junger Kater, der sich mit Artgenossen um Futter und Rangfolge balgen muss, dachte sie, plötzlich erneut gerührt. »Und außerdem ein sehr kluger dazu, weißt du das?«
Lelio nickte, sprachlos vor Entzücken.
»Und natürlich hast du recht. Ich hab mein Zuhause verloren und weiß tatsächlich nicht, wohin. Hast du vielleicht eine Idee?«
»Klar.« Sein Grinsen entblößte schief gewachsene, starke Zähne. »Hab ich. Aber erst, wenn du mir gesagt hast, wer du bist.«
Seine unverblümte Art ließ nun auch sie lächeln.
»Ich bin Gemma«, sagte sie, ohne auch nur einen Moment zu zögern. »Gemma Santini.«
Während Gemma noch die eigenen Worte im Ohr klangen, drückte Angelina vertrauensvoll den warmen Kinderbauch gegen ihren Schenkel, und auf der anderen Seite patschte Cata so selbstverständlich nach ihrer Hand, als hätte sie es schon viele Male zuvor getan.
»Warum kommst du nicht mit uns, Gemma?«, sagte Lelio. »Wir bringen dich hinüber, ins Hospital Santa Maria della Scala, das so lange auch unsere Heimat war.«
»Bist du die neue Köchin?«
Gemma hob den Kopf von den brodelnden Töpfen und schaute in ein Paar dunkle Augen. Dann wanderte ihr Blick weiter: Stoppelige Wangen, als sei er gerade erst aus dem Bett gekrochen. Dazu dichtes Silberhaar, wirr allerdings und ausgewachsen, doch das Männergesicht darunter erschien ihr überraschend jung.
»Die Köchin hat der Zahnwurm befallen. Ich bin nur eine Hilfskraft und fürchte, ich werde sie bei Weitem nicht ersetzen können.«
Sie sprang zur Seite, denn kochende Brühe quoll über den Topfrand und hätte ihr beinahe die Hand verbrannt. Seit den frühen Morgenstunden arbeitete sie schon in der Küche, hatte Bohnen geputzt, Lauch gewaschen, Zwiebeln gehackt, Teig geknetet, ausgerollt und schließlich zu breiten Nudeln geschnitten, die nun fast gar waren. Ihr Rücken schmerzte, und die Beine spürte sie kaum noch, doch alles war um Vieles besser als das Stöhnen und Ächzen der Kranken im Großen Saal, den sie gestern fluchtartig verlassen hatte.
»Ich hab dich hier unten noch nie gesehen.«
Jetzt sprachen nur noch seine Augen, was ihr die Röte ins Gesicht trieb. Lupo hatte ihr nach der Hochzeit untersagt, mit fremden Männern zu reden, und um des lieben Friedens willen hatte sie sich auch dieser Anordnung gefügt. Jetzt kam sie sich plötzlich linkisch und plump vor, jeder noch so geläufigen Höflichkeit viel zu lange entwöhnt.
»Ich bin auch erst seit ein paar Tagen da.«
Er machte noch immer keine Anstalten zu gehen, sondern stand einfach da und sah sie unverwandt an. Unwillkürlich schielte Gemma an sich hinunter. Das ungefärbte Gewand der Oblaten, das sie von Celestina als Ersatz für ihr zerfetztes Kleid aus der Kleiderkammer erhalten hatte, hing an ihr wie ein Sack, in der Taille von einem Strick nur notdürftig zusammengebunden. Auf der Brust prangte als Stickerei die gelbe Leiter, unverwechselbares Signum von Santa Maria della Scala, das sich überall hier fand, sogar auf dem Brot, das in der ganzen Stadt als gesuchte Köstlichkeit galt. Mehl, Fett und Eier hatten ihre Spuren auf dem groben Stoff hinterlassen, und Gemma fühlte sich so schmutzig und verschwitzt wie die niedrigste Dienstmagd.
»Warum starrst du mich so an?«, entfuhr es ihr, weil sie sich plötzlich schämte. »Hast du nichts Besseres zu tun?«
»Ich kann gar nicht anders. Denn endlich habe ich gefunden, wonach ich so lange suchen musste.«
Eine glühende Welle durchschoss sie. Und wenn Lupo ihn beauftragt hatte, sie gewaltsam zurückzuholen? Gemma hatte diesen unrasierten Kerl noch nie zuvor gesehen, aber das hieß gar nichts. Lupos Verbindungen reichten weiter, als ihr lieb sein konnte, das hatten bittere Erfahrungen sie in den vergangenen Jahren gelehrt. Vielleicht waren nicht einmal die Mauern des Hospitals stark genug, um ihn aufzuhalten.
»Hat jemand dich geschickt, um mich auszuspionieren? Dann kannst du gleich wieder abziehen. Ich werde nämlich hierbleiben – und damit Schluss!«
Jetzt lachte er, fröhlich und ausgelassen wie ein großer Junge.
»Kann mir nur recht sein«, sagte er. »Denn was sollte sonst aus meinen Plänen werden?«
Im allerletzten Moment riss Gemma einen weiteren Topf vom Feuer. Der würzige Duft von Bohnen, Zwiebeln und Knoblauch erfüllte die ganze Küche. Ein Schmerzensschrei entfuhr ihr, denn sie hatte vergessen, das Tuch zu nehmen, das von ihrem Gürtel baumelte, und sich an den heißen Griffen verbrannt. Sie hob die Hände zum Mund und begann heftig zu pusten.
»Matteo!« Plötzlich stand Celestina vor ihnen. »Da also steckst du! Hab dich schon überall gesucht.«
»Ich wollte nur noch schnell ...«
» Das kannst du mir später erzählen. Der Rektor wartet voller Ungeduld auf dich, oben, in seinem Uffizium. Und mach schnell, das rat ich dir, denn Barnas Laune war schon den ganzen Morgen über rabenschwarz!« Sie wandte sich an Gemma, während Matteo eilig die Küche verließ. »Lass mal sehen, Mädchen! Tut es sehr weh? Soll ich dir Salbe holen?«
»Halb so schlimm.« Gemma versuchte das Pochen in den Fingerkuppen zu ignorieren, so gut es ging, denn sie war plötzlich befangen vor dieser kleinen Frau mit dem Krötengesicht und den klugen Augen, die so viel größer wirkte, als sie eigentlich war. » Ich komm schon einigermaßen zurecht. Wenigstens geb ich mir die allergrößte Mühe, madre.«
Celestina, von zahllosen Warzen gezeichnet, die auf ihrem blassen Gesicht wie eine hässliche Milchstraße wucherten, schien die Seele des Hospitals zu sein, eine aufmerksame, unbestechliche Seele, ohne deren Zustimmung hier offenbar nichts entschieden wurde. Jetzt tauchte sie einen Löffel in den Topf, fischte nach Bohnen und Nudeln und blies, bis sie kühl genug waren, um zu kosten, dann nickte sie anerkennend.
»Salbei fehlt«, sagte sie. »Und natürlich könnte eine ordentliche Portion pancetta nicht schaden, aber Kochen scheint dir zu liegen. Offenbar um vieles mehr als die Krankenpflege.« Ihr Blick gewann an Schärfe. »Ekeln dich Auswurf und Geschwüre? Das Elend der Menschen, ihre sterbliche Armseligkeit – ist es das, was dich schreckt?«
»Nein.« Gemmas Kehle wurde enger. »Es ist nur so, dass ich ...« Sie verstummte.
Celestinas fester Blick zwang sie zum Weitersprechen.
»All das dort oben im Krankensaal erinnert mich zu sehr an meine Mutter. Sie ist schon seit vielen Jahren tot, aber für mich ist es, als sei sie erst gestern gestorben.«
»Jeder, der bei uns bleiben will, muss hart arbeiten können«, sagte Celestina. »Und beileibe nicht nach seinen eigenen Vorlieben und Wünschen, sondern genau dort, wo er gerade gebraucht wird. Dieser Regel haben wir uns alle unterordnen müssen.«
»Das macht mir nichts aus«, sagte Gemma schnell. »Und gehorchen kann ich auch. Meistens jedenfalls. Wenn Ihr mich erst einmal aufgenommen habt, werdet Ihr bald sehen, dass ich ...«
»Wir sollten nichts überstürzen.« Celestina klang plötzlich kühl.
Jetzt bereute Gemma, dass sie ihr von Lupo erzählt hatte, auch wenn es nur das Nötigste gewesen war. Aber wie sonst hätte sie sie dazu bringen sollen, ihr ein Bett zuzuweisen und die Kleiderkammer extra für sie aufzusperren?
»Dem Hospital zu dienen«, fuhr Celestina fort, »ist eine Lebensentscheidung. Und wie bei jeder Weggabelung kann man auch hierbei die falsche Wahl treffen.«
Gemma spürte, wie erneut Tränen in ihre Augen drängten. Was war nur plötzlich los mit ihr? All die Zeit unter Lupos Dach hatte sie sich besser beherrschen können. Erst mit ihrer Flucht schienen die Dämme gebrochen. Was, wenn auch hier niemand sie haben wollte? Plötzlich fühlte sie sich genauso verlassen wie zuvor. Zu ihrer Überraschung spürte sie auf einmal Celestinas warme Hand auf ihrem Arm.
»Wir sind nun mal allein«, sagte sie. »Daran solltest du dich beizeiten gewöhnen. Aber Gott, der unsere Geschicke lenkt, ist freundlicher, als du vielleicht denkst.« Ein heftiger Niesanfall erschütterte sie, und als ihre Augen endlich wieder klar waren, klang ihre Stimme sanfter. »Ein Spaziergang wird deine Gedanken klären«, sagte sie. »Wasch dich und zieh ein frisches Kleid an. Aber such dir dieses Mal eines aus, das besser passt!«
»Weshalb?«
»Weil wir weder Bettler noch Vogelscheuchen sind, sondern dem Hospital stets Ehre machen, egal, wo immer wir uns auch befinden. Allerdings solltest du lernen, sorgsamer mit unseren Sachen umzugehen. Bei diesen Temperaturen ist die große Wäsche wahrlich kein Kinderspiel!«
»Ihr schickt mich also fort?«
Jetzt waren die braunen Augen voller Mitgefühl. »Davon kann keine Rede sein. Du wirst vielmehr unsere Speisung zu einem der neuen Kinderhäuser bringen. Und ich wette, dort erwartet man dich bereits ungeduldig!«
Er hatte die enge weiße Haube abgelegt, die er sonst stets unter der steifen Kappe trug, und im Gegenlicht umgab das störrische rotblonde Haar seinen schmalen Schädel wie eine Aureole. Vor ihm auf dem Tisch lag ein Laib Brot, dem er schon kräftig zugesprochen hatte, daneben standen Salznapf, eine Schale mit grünlichem Öl sowie Becher und Weinkrug.
»Ich störe Euch – verzeiht!« Matteo wollte die Türe schon wieder schließen, als das ungeduldige Winken des Rektors ihn innehalten ließ.
»Nur herein mit Euch, Messer Minucci!«, knurrte er zwischen zwei Bissen. »Ich hatte die Hoffnung bereits aufgegeben, Euch heute noch leibhaftig zu Gesicht zu bekommen.«
»Die Hoffnung aufgeben sollten wir niemals«, erwiderte Matteo. »Denn was wären wir schon ohne sie?«
Er kam langsam näher, lächelnd, innerlich jedoch auf der Hut. Nardo Barna, der seit einigen Jahren Santa Maria della Scala vorstand, entstammte einer der reichsten Familien der Stadt, deren Ländereien, Weinberge und Olivenhaine bis hin zur Crete reichten. Noch am Tag seines Amtsantritts waren Wetten abgeschlossen worden, dass einer wie er niemals sein gesamtes Vermögen dem Hospital übereignen würde. Doch zur Überraschung aller hatte Barna getan, was die Regel vorschrieb, und schien seitdem die verordnete Armut regelrecht zu genießen. Es hieß, er verschmähe sogar die Annehmlichkeiten der wohnlichen Räume, die seine Vorgänger stets genossen hatten, und verbringe die meisten Nächte auf dem schmalen Feldbett neben dem Fenster. Allerdings hatte er nichts von seinem früheren Geschäftssinn verloren, sondern verwendete ihn nun ausschließlich zugunsten und im Interesse des Hospitals.
Matteo sah unter einem schönen, im Lauf der Jahre allerdings stark nachgedunkelten Fresko, das das Gleichnis vom verlorenen Sohn darstellte, bei seiner Heimkehr vom Vater tränenreich umarmt, einen von Pergamenten überquellenden Schreibtisch, der wie auch diverse Federkiele und gleich mehrere Tintenfässer vom unermüdlichen Fleiß des Rektors zeugte.
»Seid Ihr hungrig?« Barna deutete auf seine einfache Mahlzeit. »Dann greift zu! Mehr als hier steht, kann ich Euch allerdings nicht anbieten.«
Matteo schüttelte den Kopf.
»So seid Ihr sicherlich gekommen, um mir mitzuteilen, dass Ihr morgen in aller Frühe mit dem Wandgemälde beginnen werdet.« Die hellen Augen des Rektors musterten ihn kühl.
»Bestimmt nicht morgen«, erwiderte Matteo, dem nicht entging, wie sich bei diesen Worten das Gesicht seines Gegenübers verdüsterte. »Doch gewiss sehr bald.«
Nardo Barna erhob sich so heftig, dass er beinahe den Stuhl umgeworfen hätte. Jetzt sah er aus, als habe er etwas Verkehrtes gegessen.
»Das alte Spiel?«, fragte er. »Aber mit mir spielt man nicht. Habt Ihr das noch immer nicht gelernt, Minucci?«
»Nichts läge mir ferner, als zu spielen«, erwiderte Matteo sehr ruhig. »Wie aber könnte ich mit dieser Arbeit beginnen, wenn die entscheidenden Fragen noch immer ungeklärt sind?«
»Wenn Ihr jetzt wieder mit dem leidigen Vorschuss anfangen wollt, so ...«
»Von dem rede ich jetzt nicht. Ihr wisst genau, was ich meine.«
Der Rektor starrte ihn wütend an. »Einem störrischen Feldesel gleich beharrt Ihr so lange auf Eurer Meinung, bis der andere irgendwann zermürbt aufgibt, nicht wahr?«, sagte er. »Keine üble Taktik. Muss ich mir merken! Denn ich kann förmlich spüren, wie sie selbst bei mir zu wirken anfängt.«
»Ihr seid also damit einverstanden, dass ich jene Szenen aus dem Leben der Gottesmutter male, so wie ich sie Euch mehrmals vorgeschlagen habe?«
Barna ließ sich schwer auf seinen Stuhl fallen.
»Ihr werdet ja vorher doch keine Ruhe geben«, sagte er. »Aber ich dulde nichts Anstößiges, nichts Skandalöses, verstanden? Die Botschaft des Engels, wie besprochen, meinethalben auch noch die Begegnung an der Goldenen Pforte ...«
»Meint Ihr nicht auch, dass die kleine Maria geatmet und gespielt hat wie jedes andere Kind?«, unterbrach ihn der Maler. »Dass sie weinte, nach der Mutter rief und sich gern vor ihren Freunden versteckte? Dass sie wuchs im Lauf der Jahre und dabei an Schönheit und Wissen dazugewann? Was also könnte es Sinnvolleres geben, als genau das alles darzustellen – in einem Haus, wo so viele mutterlose Kinder leben?«
»Ihr habt mich ganz genau verstanden«, sagte der Rektor. »Ich dulde nichts, das von der Tradition abweicht und im schlimmsten Fall sogar unziemlich irdisch daherkäme. Was heilig ist, muss auch heilig bleiben – und damit basta! Außerdem ist es seit jeher recht und billig, dass der Auftraggeber auch den Inhalt bestimmt. Und Euer Honorar stammt aus der Kasse von Santa Maria della Scala, vergesst das nicht!«
Er rümpfte seine schmale Nase.
»Vielleicht würde es schon helfen, wenn ein geachteter Vertreter der artes minores wie Ihr etwas mehr auf sich selber schauen würde? Was hieltet Ihr von diesem Vorschlag? Äußerliche Ordnung kann sehr wohl dazu beitragen, auch die innere Gedankenwelt etwas mehr in Ordnung zu bringen.«
Lautes Klopfen, dann traten zwei Männer ein, der erste feingliedrig und mittleren Alters, der andere ein junger, ungeschlachter Hüne, der einen schweren Sack über der Schulter trug.
»Savo!« Der Rektor schien erleichtert über die Unterbrechung. »Messer Savo Marconi, welch unerwartete Freude!«
»Hier kommen endlich die versprochenen Medikamente«, sagte der Apotheker mit feinem Lächeln. Seine Züge waren scharf, aber gut geschnitten, als hätte ein kundiger Bildhauer mit sicherer Hand den Meißel gesetzt, und abgesehen von ein paar Linien um Augen und Mund kaum gezeichnet von den Spuren des Alters. Er war in Wolle und Damast gekleidet, trug seidene Beinlinge und glänzend gewienerte Schnabelschuhe. Sein ausgefallener Geschmack war stadtbekannt; Savo Marconi galt als wohlhabend, gebildet und äußerst kultiviert. Nach dem frühen Tod seiner Frau hatten zahlreiche Damen der Gesellschaft gehofft, die Gunst der Stunde nutzen zu können und so bald wie möglich deren Stelle einzunehmen. Er jedoch, scheinbar unbeeindruckt von all ihren Anstrengungen, war bis zum heutigen Tag Witwer geblieben und schien sich dabei äußerst wohl zu fühlen. »Und da das Osterfest nicht mehr fern ist, erscheint es mir als eine angebrachte Geste der Demut, sie in diesem Fall dem Hospital kostenlos zu überlassen.« Ein Wink zu seinem Begleiter. »Abladen, Leo!«
Mit gleichmütiger Miene setzte der junge Mann seine Last ab und begann Tiegel und Töpfchen herauszukramen. Nardo hob erschrocken die Hände. »Aber doch nicht hier in meinem Uffizium – beim letzten Mal bin ich schier erfroren, weil ich nach Eurem Besuch tagelang lüften musste, um die üblen Miasmen wieder loszuwerden. Er soll alles gleich nach drüben in den Krankensaal bringen. Dort wird Celestina sich um die Medikamente kümmern.«
»Du hast gehört, was der Rektor gesagt hat, Leo?« Tiegel und Töpfchen wanderten kommentarlos zurück in den Sack.
»Ich gehe gleich?«, fragte Leo. Seine Stimme war überraschend hoch und kaum weniger ausdruckslos als seine Mimik.
»Natürlich tust du das«, sagte der Apotheker. »Oder hast du plötzlich etwas mit den Ohren?«
Für einen kurzen Augenblick sah Matteo einen Schatten über die Züge Leos huschen, dann kehrte der gleichmütige Ausdruck wieder zurück. Fasziniert starrte er den Gehilfen an. Niemals zuvor war ihm ein derart leeres Gesicht begegnet. Ob er ihn bitten konnte, ihm gelegentlich Modell zu sitzen? Es müsste eine Herausforderung sein, ihn zu zeichnen.
»Wo habt Ihr ihn eigentlich her?«, wollte der Rektor wissen, als Leo wortlos zur Tür gegangen war.
»Aus einem Kaff im Süden, wo es offenbar mehr Esel als Einwohner gibt. Sein früherer Herr wollte ihn dringend loswerden, da hab ich ihn eben aufgenommen. Inzwischen dient er mir schon einige Jahre.«
Sie redeten über den Jungen, als sei er nichts anderes als ein Stück Vieh! Matteo spürte, wie Hitze in ihm aufstieg, so erging es ihm immer, wenn er Zeuge von Ungerechtigkeiten wurde, und er begann unruhig von einem Bein auf das andere zu treten.
Jetzt erst schien den beiden Männern bewusst zu werden, dass der Künstler noch immer anwesend war.
Nardo Barna räusperte sich. »Spätestens am kommenden Montag finde ich Euch also in der Kapelle vor, Messer Minucci, mit Euren gesamten Malutensilien. Sonst werdet Ihr ...«
Eine angedeutete Verneigung, die in ihrer Knappheit fast aufsässig wirkte. »Ich werde da sein, Rektor.«
Die beiden Männer warteten, bis die Tür hinter dem Maler ins Schloss gefallen war.
»Warum bist du wirklich hier, Savo?«
»Das werd ich dir gleich verraten, alter Freund.« Auf der hohen Stirn des Apothekers glitzerten Schweißperlen. »Es gibt Neuigkeiten. Gute Neuigkeiten, stell dir vor! Unsere Sache scheint endlich wieder in Schwung zu kommen. Es ist mir gelungen, wichtige Verbündete zu gewinnen.«
Während Marconi weiterredete, hoben sich die buschigen Brauen des Rektors vor Erstaunen. »Und du bist dir ganz sicher?«, sagte er schließlich. »Sie werden nicht gleich wieder abfallen? Man kann ihnen also tatsächlich trauen?«
Der Apotheker nickte.
»Genügt der Name Salimbeni nicht, um dich vollständig zu überzeugen? Unsere Ziele sind auch die ihrigen. Und dennoch ist es nicht viel mehr als ein Anfang. Vor uns liegt noch jede Menge Arbeit, wenn wir jemals erreichen wollen, was wir uns erträumt haben.«
»Das weiß ich. Aber wissen die anderen auch schon davon?«
» Du bist der Erste, zu dem ich mit der Neuigkeit komme. Bice wartet ebenfalls auf ihre Medizin. Dabei ergibt sich sicherlich Gelegenheit, im Hause di Nero ein paar Worte mit Enea zu wechseln.«
»Es geht ihr doch inzwischen hoffentlich wieder etwas besser?«
Eine vage Geste. »Wir dürfen die Hoffnung niemals aufgeben.«
»Und Domenico?«, fragte der Rektor. »Wann wirst du es ihm sagen?«
»Weißt du denn nicht Bescheid?« Die Stimme des Apothekers klang plötzlich matt. »Domenico wird bis auf Weiteres als Vertreter der Domherren unabkömmlich sein. Der Prozess hat gestern begonnen. Noch vor Ostern soll das Urteil gefällt werden.«
»Die stumme Sünde?«
»So zumindest lautet die Anklage.«
»Sollte sie sich als wahr herausstellen, werden die Delinquenten erhalten, was sie verdienen.« Der Rektor nahm einen tiefen Schluck. »Siena kann sich keine Florentiner Verhältnisse leisten. Erst recht nicht, was die Moral seiner Bürger betrifft. Der Teufel versucht die Menschen durch die Lenden der Männer – eine ebenso alte wie leidige Geschichte.«
Savo Marconi bekreuzigte sich rasch.
»Gott sei ihrer Seele gnädig«, sagte er. »Denn vor dem Angesicht des Herren sind wir alle arme Sünder.«
Den Weg hinunter nach Fontebranda war Gemma schon sehr lange nicht mehr gegangen, und als sie das holprige, wie stets von Lauge und Farben leicht schmierige Pflaster unter ihren Sohlen spürte, wurde ihr erst richtig bewusst, dass sie die letzten Jahre nichts anderes als eine Gefangene gewesen war – auch wenn der Käfig nach außen hin golden ausgesehen hatte. Sie sog begierig die Luft ein, geoss die unterschiedlichen Gerüche, ihr seit Kindheitstagen vertraut. Das stattliche Haus ihres Vaters lag nur ein paar Straßen weiter; von klein auf hatte sie zusammen mit ihm die Färber besucht und dabei fasziniert beobachtet, was Krapp, Waid, Schwarzdorn, Berberitze, der kostbare Saft der Kermesläuse und vieles andere mehr aus ungebleichter Wolle machen konnten. Hier waren die Häuser schmaler als gewöhnlich in der Stadt und viele der Fenster gegen die Kälte noch mit Schweinsblasen verschlossen, weil das neumodische Glas unerschwinglich teuer war. Man sah es auch an der Kleidung, dass hier einfachere Leute wohnten, und die meisten der Kinder, die auf der Straße spielten, trugen die billigen Holzschuhe.
Keinen Steinwurf entfernt stand das Haus der kinderreichen Färberfamilie Benincasa, deren Letztgeborene namens Caterina viele in Siena bereits als Heilige verehrten, obwohl sie kaum zwanzig war und weder lesen noch schreiben konnte. Es hieß, sie habe sich in eine winzige Zelle zurückgezogen, lebe nur noch von Wasser und Hostien und lehne jeglichen Kontakt mit der Welt ab. Dennoch wuchs die Zahl ihrer Anhängerinnen auf wundersame Weise. Sie nannten sich wie auch Caterina Mantellatinnen, gehörten zum Dritten Orden des heiligen Dominikus und waren tätig in der Armenfürsorge und Krankenpflege. Jede einzelne von ihnen strebte offenbar danach, Caterina an Vollkommenheit gleichzukommen. Manchmal hatte es den Anschein, als wolle jedes zweite junge Mädchen in Siena nun auch Heilige werden.
Gemma hatte sich stets in diesem Viertel besonders wohlgefühlt, unter anderem auch, weil an den meisten Häusern das rot-weiß-grüne Banner der Gans flatterte, das sie liebte. Bartolo Santini war es gelungen, seine Tochter beizeiten davon zu überzeugen, dass die Färber und ihr altes Handwerk Achtung verdienten.
»Als Stoffhändler haben wir ihnen viel zu verdanken«, pflegte er zu sagen. »Alles sogar, wenn du so willst. Sie und wir gehören untrennbar zusammen; einer wäre ohne den anderen gar nicht denkbar. Dabei haben sie ohne Murren den schwierigeren Part übernommen. Denn würden sie sich nicht Tag für Tag im Gestank der Laugen schinden, unser Tisch könnte niemals so reich gedeckt sein. Daran solltest du immer denken!«
Für einen Augenblick setzte Gemma den schweren Korb ab und richtete sich stöhnend auf. Dabei drückte die hölzerne Kraxe auf ihrem Rücken unerbittlich auf die Nieren; sie konnte es kaum erwarten, die Last endlich loszuwerden. Eigentlich wollte sie jetzt keinesfalls an den Vater denken – und musste es wider Willen dennoch tun.
Ob Lupo ihn schon über ihre Flucht in Kenntnis gesetzt hatte? Wie würde Bartolo reagieren? Sie verdammen? Oder jemanden aussenden, um sie so schnell wie möglich zurückzuholen?
Oder hatte Lupo beschlossen, sie allein aufzuspüren? Falls ihm das gelang, musste sie mit seiner Rache rechnen.
Unwillkürlich drehte sie sich um und spähte die steile Straße hinauf und hinunter, aber zu ihrer Erleichterung war weit und breit kein Verfolger zu sehen. Und dennoch hatte es sie regelrecht Überwindung gekostet, das Hospital zu verlassen. Wäre da nicht Celestinas wacher Blick gewesen, dem nichts zu entgehen schien, sie hätte sich bestimmt im letzten Moment eine Ausrede zurechtgezimmert.
Sie nahm den Korb wieder auf und setzte sich erneut in Bewegung.
»Das schmale Haus mit den blauen Läden«, hatte Celestina gesagt. »Du kannst es gar nicht verfehlen ...«
»Gemma? Gemma Santini!« Es war Lelio, der ihr entgegenrannte, das Gesicht erhitzt, die Augen blank vor Freude. »Du bringst uns heute die Vorräte!« Wie ein aufgeregter Welpe sprang er um sie herum, so ungestüm, dass sie aus dem Gleichgewicht geriet und beinahe über ihren Rocksaum gestolpert wäre.
»Wenn du so weitermachst, werden wir beide auf der Nase landen«, sagte sie lachend.
Jetzt riss er ungeduldig an ihrem Korb.
»Hast du vielleicht Angst, ich würde es mir noch einmal anders überlegen?«, sagte Gemma. »Brauchst du nicht. Ihr sollt ja alles haben. Lass los, Lelio, wir sind doch ohnehin gleich da!«
»Mamma Lina!« Sein Enthusiasmus blieb unbesiegbar. »Gemma ist gekommen. Gemma Santini!«
Die angelehnte Tür öffnete sich ganz, und eine Schar von Kindern umringte Gemma.
»Werft sie nicht gleich um!«, rief Mamma Lina. »So lasst sie doch erst einmal ihre Lasten loswerden!«
Nur allzu gern befreite sich Gemma von dem ungewohnten Gewicht, und die Kinder stürzten sich neugierig auf den Inhalt von Korb und Kraxe.
»Sie hat Brot mitgebracht, Öl und Grieß«, sagte das größte Mädchen, und ein scheues Lächeln verschönte ihr blasses Gesicht. »Dazu noch Zwiebeln, Lauch und Salz. Und da ist ja auch noch ein ganzer Sack Kirchererbsenmehl! Wir können wieder farinate backen, Mamma Lina, so viel, bis wir platzen!«
»Das ist Mia«, sagte Mamma Lina. »Lelio und sie sind meine beiden Großen.«
Angelina und Cata wühlten eifrig weiter in dem Korb.
»Mandelkekse«, sagte Angelina genießerisch und linste im Kauern zu Gemma hinauf. »Die mag ich am allerliebsten.«
»Aber erst zum Osterfest!« Mamma Lina nahm ihr das Säckchen freundlich, aber energisch aus der Hand. »Jetzt ist nämlich noch Fastenzeit.«
Die Kleine legte ihre Stirn in so drollige Falten, dass Gemma unwillkürlich lachen musste. Jedes Mal, wenn sie dieses Kind ansah, hatte sie das Gefühl, es schon zu kennen. Lag es an der runden Stirn, der kurzen, aufgeworfenen Nase, dem kleinen dunklen Fleck neben dem linken Auge? Oder war es die Art, wie Angelina sie ansah? Irgendwann würde sie sicherlich noch darauf kommen, an wen das Mädchen sie erinnerte.
»Das ist Mauro.« Mamma Lina gab einem kleinen Jungen einen sanften Stoß. »Und das hier unser Raffi.« Der war größer, aber ebenso mager, schien nur aus Locken, riesigen Augen und Knochen zu bestehen.
»Habt Ihr noch mehr davon?«, fragte Gemma, als die Kinder mit ihren Schätzen in die Küche gelaufen waren.
»Sechs – und das sind mehr als genug.« Lina klang für einen Augenblick erschöpft. »Denn sie halten mich von früh bis spät auf Trab. Manchmal bin ich so müde, dass ich im Sitzen einschlafe. Doch am nächsten Morgen ist meine Kraft wieder da. Mit ihnen hier zu leben ist, wovon ich stets geträumt habe.« Sie lächelte. »Wenn alles sich erst einmal richtig eingespielt hat, werde ich vielleicht eine Magd anstellen, und dann können es meinethalben noch mehr werden.«
Sie schob sich eine vorwitzige Strähne hinters Ohr. Wenn sie keinen Umhang und Schleier trug, sah man erst, wie jung sie noch war – und wie anziehend. Ein ovales Gesicht mit großen Augen, heller, makelloser Haut, zarten Lippen. Nur das braune Haar wollte nicht so recht dazu passen, wirkte stumpf und glanzlos.
»Das alles sind angenommene Kinder?«, entfuhr es Gemma. »Oder ist eines davon Euer eigenes?«
»Nein. Und Ihr? Habt Ihr Kinder?«
»Nein«, sagte Gemma und spürte, wie sie errötete.
»Wollt Ihr nicht hereinkommen?«, schlug Lina vor, die über die Antwort irgendwie erleichtert schien. » Ihr habt so schwer geschleppt. Ich würde Euch gern einen kühlenden Schluck anbieten.«
»Danke.« Es war mehr Neugierde als Durst, was Gemma dazu brachte, die Einladung anzunehmen.
»Dann lasst uns nach nebenan gehen! In der Küche ist jetzt erst einmal bis auf Weiteres die Hölle los.«
Sie führte Gemma in einen schmalen Raum, den ein großer Tisch mit vielen Stühlen beinahe ausfüllte, und ging wieder hinaus. Nebenan hörte Gemma sie mit erhobener Stimme ein paar Sätze sagen, danach wurde es hinter der Wand deutlich ruhiger, und es dauerte nicht lange, bis Lina mit einem Krug und zwei Bechern zurückkehrte.
»Manchmal kommen sie mir vor wie ein Sack Flöhe«, sagte sie. »Aber die Kinder geben sich so viel Mühe und lernen schnell. Und ich strenge mich an, es ihnen gleichzutun.«
Sie schenkte stark verdünnten Wein in die Becher. Beide tranken.
»Dann lebt Ihr hier also allein mit ihnen? Oder gibt es irgendwo noch einen Ehemann dazu?«
»Ich bin verwitwet«, sagte Lina, und es klang abschließend.
»Und offenbar noch nicht sehr lange in Siena«, sagte Gemma. »Woher kommt Ihr?«
Die geraden dunklen Brauen zogen sich über der Nasenwurzel zusammen. »Eigentlich hatte ich vor, mich in Venedig niederzulassen, dann aber gab es Gründe, es doch lieber nicht zu tun.« Ein prüfender Blick zu Gemma. »Ihr kennt Venedig?«
»Leider nein. Aber mein Vater hatte dort oft zu tun.« Es entging ihr nicht, wie geschickt die andere ausgewichen war.
»Eine schöne, aber sehr kalte Stadt. Stets geht es dort um Geld und Profit, als sei das das Allerwichtigste auf der Welt. Deshalb hab ich mich schließlich doch lieber für Siena entschieden. Außerdem gibt es weit und breit keine andere Einrichtung wie Santa Maria della Scala, die so viele verschiedene Möglichkeiten eröffnet. Ich wollte ein Haus führen, in dem Waisen aufwachsen können – und hier ist mir dies möglich, dank des Hospitals.«
»In Venedig sind sehr viele Händler zu Hause«, sagte Gemma. »Sie müssen an Profit denken, sonst gehen sie früher oder später unter. Das bringt dieser Beruf mit sich.«
»Das klingt ja beinahe, als hättet Ihr besonders viel Verständnis für diese Leute.«
Gemma lächelte. »Vielleicht, weil ich die Tochter eines tüchtigen Händlers bin«, sagte sie. »Und von klein auf daran gewöhnt, wie er zu denken.«
»Was hat Euch dann nach Santa Maria della Scala geführt?«
Plötzlich schienen die Rollen vertauscht. Ich war doch die, die die Fragen stellen wollte, dachte Gemma erstaunt, und jetzt ist sie es, die mich gezielt in die Ecke treibt.
»Eheangelegenheiten«, sagte sie schließlich knapp. »Und keine sonderlich angenehmen, wie Ihr Euch vielleicht vorstellen könnt. Ich hoffe, ich werde fürs Erste im Hospital bleiben können. Und falls nicht, dann ...« Sie verstummte.
Für ein paar Augenblicke war es still im Raum, und auch das Kindergeschrei nebenan schien vollends verstummt.
»Ihr habt vorhin meine Große gesehen?«, sagte Lina plötzlich.
»Das scheue Mädchen mit den schwarzen Locken?«
Lina nickte. »Man hat sie halb tot aus einem Hurenhaus an der Küste gerettet«, sagte sie. »Dort war sie über mehrere Monate eingesperrt gewesen. Mia war nur noch Haut und Knochen, als ich sie bekommen habe. Jede Nacht hat sie vor Angst ins Bett gemacht. Erst seit ein paar Tagen bleibt das Laken trocken.«
»Aber sie ist doch noch ein Kind!«, rief Gemma erschrocken.
»Keine zwölf«, sagte Lina ruhig. »Habt Ihr gesehen, dass sie beim Gehen hinkt? Ihr linkes Bein ist nach einem Fieber lahm geblieben. Das übt auf manche Männer einen ganz besonderen Reiz aus.«
»Wer sind nur diese Tiere!«
»Tiere? Jedenfalls gibt es mehr davon, als Ihr vielleicht glaubt. Überall.« Linas Hand fuhr energisch über die Tischplatte, als gäbe es dort etwas Unsichtbares wegzuwischen. »Lebt Euer Vater noch, dieser tüchtige Händler, der so oft in Venedig war?«, fragte sie plötzlich.
Gemma nickte.
»Hier? In Siena? Und er ist gesund und wohlauf?« Gemma nickte abermals.
»Warum geht Ihr dann nicht zu ihm, wenn Ihr in Schwierigkeiten steckt?«
»Ganz und gar unmöglich!«
»Weshalb?«
»Weil ich ... Weil er ...«
»Weil Ihr zu stolz dazu seid?« Linas Stimme war eindringlich geworden. »Ist das nicht blanker Hochmut, Monna Santini – und damit eine schwere Sünde?«
Was bildete sich diese Fremde ein, die doch nichts über sie wusste! In wortloser Empörung starrte Gemma sie an, Mamma Lina jedoch schien noch nicht am Ende angelangt.
»Diese Waisen nebenan, die sich nach Essen und Liebe, nach Schutz und einem Zuhause sehnen, sind so viel schlimmer dran als Ihr. Nichts und niemanden haben sie mehr auf der Welt. Ihr aber besitzt eine Familie, einen Vater, der Euch gewiss von ganzem Herzen liebt. Geht zu ihm, bittet ihn um Hilfe, und er wird Euch sicherlich nicht von der Schwelle weisen. Das müsst Ihr tun – versprecht es mir!«
Die beiden Frauen musterten sich stumm. Ein stummes Messen der Kräfte, das wussten beide, doch keine war bereit, als Erste aufzugeben.
»Immerhin haben die Kinder Euch«, sagte Gemma nach einer Weile und wollte nicht zeigen, wie aufgewühlt sie innerlich war. »Ihr seid doch jetzt ihre neue Familie, Mamma Lina!«
Sein Haus stank wie ein Schweinestall, und plötzlich hatte Matteo genug davon. Er ging zum Fenster, öffnete den Riegel und lehnte kurz seine erhitzte Stirn gegen das gewölbte Glas, froh darüber, dass ihm der große Auftrag im Baptisterium von San Domenico vergangenes Jahr diese kostspielige Anschaffung ermöglicht hatte.
Ein Schwall kühler Luft strömte herein, empfindlich kühler Luft sogar – und doch konnte er zum ersten Mal den Frühling riechen. Kinderlachen drang gegenüber aus dem schmalen Haus mit den blauen Läden, das so lange leer gestanden und nun offenbar neue, lebhafte Bewohner gefunden hatte. Kinderlachen, das ihn kurz lächeln ließ, dann aber wieder traurig machte.
Er durfte nicht schon wieder in dumpfen Trübsinn verfallen!
Mit einem Male von seiner Schlampigkeit angeekelt, schaute Matteo sich um. Die Küche – ein Dreckloch, angefüllt mit schmutzigem Geschirr, auf dem Speisereste vor sich hin schimmelten. Halbherzig schichtete er ein paar Teller und Näpfe aufeinander, dann ließ er es wieder bleiben. Hier zu beginnen erschien ihm uferlos.
Er stieß einen Seufzer aus. Das bedeutete, vor Ornela Panizzi einen tiefen Katzbuckel machen und sie untertänigst bitten zu müssen, sich seiner wieder anzunehmen. Wenigstens konnte er bei dieser Gelegenheit Eier bei ihr kaufen, die er als Vorbereitung für das Fresko brauchte. Vor dem blinden, halb abgeschlagenen Spiegel im Flur setzte er schon mal probeweise eine leutselige Miene auf.
Es würde gehen. Es musste gehen.
Ornela freilich ließ ihn zappeln, als er an ihre Tür klopfte.
»Sieh an, der große Meister höchstpersönlich!«, sagte sie spöttisch. »Was ist denn geschehen, dass er sich so plötzlich wieder auf uns niederes Volk besinnt?«
»Es wird Frühling, und ich sitze bis zum Hals im eigenen Dreck«, sagte Matteo ohne Umschweife. »Wie sollte ich da ohne Hilfe jemals wieder rauskommen?«
»Deine Angelegenheit.« Um ein Haar hätte sie ihm die Türe vor der Nase zugeschlagen.
»Auch, wenn ich dir dafür drei Lira anbiete?«
Der Spalt wurde eindeutig größer.
»Und deinem Nevio Arbeit als Gehilfe in Aussicht stelle?«, setzte er hinzu.
»Wo ist das Geld?«, sagte Ornela missmutig. »Ich will es sehen. Und keine Mätzchen, sonst wirst du mich kennenlernen!«
Er zählte ihr die Münzen in die raue Hand. Jetzt waren nur mehr noch drei solche in seiner kleinen Holzkiste, die bis zur hoffentlich baldigen Aushändigung des Vorschusses reichen mussten.
Ornela verschwand nach drinnen und kam dann mit Eimer, Lumpen und einem bis oben gefüllten Pottasche- trog zurück.
»Einen Besen hast du? Oder ist der inzwischen auch schon als kümmerliche Einlage im Suppentopf gelandet?«
»Einen Besen gibt es. Und Nevio soll dich auch gleich begleiten«, sagte er. »Mindestens zwei Dutzend Eier brauch ich noch dazu von dir. Die kann er mir gleich bringen. So verlieren wir keine Zeit.«
Zurück im Haus verschwand Ornela kopfschüttelnd in der Küche, während Matteo sich mit ihrem Sohn über die anderen Räume hermachte. Das größte Zimmer glich einem aufgelösten Feldlager; in den letzten Monaten hatte Matteo hier geschlafen, gegessen, gesoffen und gegrübelt. Er hievte die spärlichen Möbel nach draußen und hieß den Jungen den Steinboden gründlich mit einer Bürste schrubben. Nebenan hörte er Ornela schimpfen und stöhnen, aber er wusste, er konnte sich auf sie verlassen. Irgendwann schaute sogar die schwarze Nachbarkatze mit den weißen Pfoten herein, die bislang stets unverrichteter Dinge wieder abgezogen war. Heute jedoch bekam sie in einem Schüsselchen einen Eidotter kredenzt, den sie bis zum letzten Tropfen aufschleckte.
Es kostete ihn Überwindung, seine Schlafkammer zu betreten, aber schließlich gelang es ihm doch. Dieser Raum war zur Rumpelkammer verkommen; Malutensilien standen und lagen in wüstem Durcheinander herum, nur eine Ecke wirkte halbwegs aufgeräumt. Vor einer beschlagenen Eichentruhe lag auf zwei auseinandergerückten Stühlen, wonach er gesucht hatte. Matteo hob den Zeichenkarton behutsam hoch und trug ihn nach nebenan. Dort wäre der Boden zwar inzwischen wieder trocken gewesen, aber er schleppte zunächst mit Nevio alle Möbel wieder herein, bis er den Karton schließlich vorsichtig auf dem abgeräumten Tisch ausbreitete.
»Das alles werden wir also malen?«, fragte der Junge mit großen Augen und betrachtete die exakt eingetragenen Quadrate mit den Entwürfen. »Wie aufregend!« Sein schmutzig blondes Haar hing ihm tief in die Stirn; Hände und Füße, stets in Bewegung, schienen viel zu groß für den knochigen Körper.
»Ich«, korrigierte Matteo, »falls du gütigerweise erlaubst. Denn vorerst bin hier noch immer einzig und allein ich der Maler.«
Nevios fleischige Unterlippe sackte herab.
»Was nicht heißt, dass ich in absehbarer Zeit nicht einen Lehrling gebrauchen könnte«, fuhr Matteo fort. »Vorausgesetzt natürlich, dieser Kandidat ist tüchtig und fleißig und erweist sich meiner Kunst und allem, was dazugehört, tatsächlich auch als würdig.«
»Ich mache alles, was Ihr verlangt«, stieß Nevio hervor. »Tag und Nacht werde ich für Euch schuften, Meister ...«
»Fürs Erste genügt, wenn du mich weiterhin Matteo nennst und meine Pinsel gründlich auswäschst. Damit wäre ich bereits hochzufrieden.«
Er nahm Rötelkreide zur Hand und begann ein paar Striche auf ein altes Stück Pergament zu werfen. Zuerst sah es aus, als solle es ein Jungenkopf werden, doch je länger Matteo zeichnete, desto weicher wurden die Züge. Die Augen hatte er noch genau im Gedächtnis, bei den Brauen aber stockte er. Waren sie nicht höher gewesen? Dichter? Zur Mitte hin stärker gewölbt? Bei nächster Gelegenheit musste er sich von allem ganz genau vergewissern.
»Wird das deine neue Madonna?« Er hatte gar nicht bemerkt, dass Nevio hinter ihn getreten war und ihm neugierig über die Schulter schaute. » Die heilige Maria, wenn sie noch ein kleines Mädchen ist?«
»Sag das doch noch einmal!«
»Ich hab nur gefragt, ob das deine neue Madonna ...« Matteo sprang auf, begann im Raum herumzutanzen, während der Junge ihm fassungslos zusah.
»Schlauer Kerl!«, rief der Maler dabei. »Pfiffig und einfallsreich – hätte ich dir gar nicht zugetraut. Glaube fast, aus uns beiden könnte tatsächlich etwas werden.«
»Dein Saustall ist jetzt beseitigt«, sagte Ornela irgendwann und wirkte erschöpft, aber zufrieden. »Falls du allerdings vorhast, in absehbarer Zeit wieder einen solchen anzurichten, kannst du dir jemand anderen suchen, der diese Drecksarbeit übernimmt!«
»Das wird nicht nötig sein«, sagte Matteo schnell. »Denn ab jetzt machst du ja jede Woche einmal gründlich bei mir sauber, einverstanden, Ornela?«
Anerkennendes Knurren. Sogar Nevio sah auf einmal beinahe glücklich aus.
Dennoch war Matteo froh, als er wieder allein war. Der Junge sollte am nächsten Morgen wiederkommen, um ihm bei der Aufbereitung von Kalk und Mörtel zu helfen, bevor er mit dem Mischen der Farben beginnen konnte. Matteo hatte sich angewöhnt, zahlreiche Probedurchgänge zu machen, um so die optimale Zusammensetzung zu finden. Manche seiner Kollegen verachteten diese einfachen Tätigkeiten, die in ihren Augen zu viel mit gewöhnlicher Maurerarbeit gemein hatten, er aber liebte es, die rauen Materialien aufzutragen, als Basis für das spätere Strahlen der Farben.
Er wusch sich gründlich, schabte sich den Bart, zog sogar ein frisches Hemd an. Danach goss er sich einen Becher Wein ein und briet sich ein paar der Eier auf dem Herd, die er so kräftig salzte, wie er es am liebsten hatte. Nachdem er den Teller mit Brot sauber gewischt hatte, spürte er, wie die altbekannte Unruhe erneut in ihm aufstieg.
Eine Weile kämpfte er dagegen an, schließlich gab er sich geschlagen. Er ging zu der Truhe in der Schlafkammer, um die er den ganzen Tag über einen großen Bogen gemacht hatte. Inzwischen begann es zu dämmern; und er brauchte einen Leuchter, um besser sehen zu können. Sein Herz begann schneller zu schlagen, nachdem er den schweren Deckel geöffnet hatte. Gefaltete Leinwand, alte Kleider, das war die erste Tarnungsschicht. Darunter noch mehr Stoff.
Schließlich ertastete er, wonach er gesucht hatte. Seine Hände zitterten, während er die erste der Rollen herauszog und sie langsam öffnete. Nach all den Jahren hatten die Worte, die er im Kerzenlicht las, noch immer die gleiche Wirkung auf ihn wie damals.
Der Salamander lebt im Feuer und nährt sich von den Flammen. Seine Kraft ist so stark, dass in seiner Gegenwart manchmal sogar Wasser brennen kann. Verliert er einen Körperteil, so wächst dieser wie durch ein Wunder wieder nach...
Die Buchstaben verschwammen vor seinen Augen. Er rollte das Pergament weiter auf, erblickte jetzt die Zeichnungen, die so frisch und lebendig wie eh und je waren.
Manche sagen auch, im Feuer verwandle er sich bisweilen in eine schöne rothaarige Frau, die alle um den Verstand bringen kann, indem sie ...
Ein Windstoß ließ den Fensterladen klappern.
Wie ertappt zuckte Matteo zusammen und rollte das Pergament schnell wieder ein. Diese Schriften stammten aus dem Nachlass seines verstorbenen Meisters, für den er sie damals eigenhändig kopiert hatte, und galten als ebenso begehrt wie gefährlich. Niemand in Siena durfte wissen, dass sie in seinem Besitz waren. In Florenz genügte, wie er erfahren hatte, schon sehr viel weniger an Beweisstücken, um am Galgen zu landen.
Er schloss die Augen und hörte auf einmal Fionas Stimme, spürte ihren Atem an seinem Hals. Ihr Lachen, die Beugung ihres Nackens, der Ansatz ihrer vollen Brüste, der betörende Duft, der aus dieser Kuhle aufgestiegen war – ihr Seufzen, wenn er sich leidenschaftlich in ihr bewegt hatte. Niemals hatte sie die Lider geschlossen, während sie sich liebten, sondern ihn stets aufmerksam dabei angesehen, manchmal fast fragend – so jedenfalls hatte er es stets empfunden, als ob ein allerletztes Geheimnis noch zwischen ihnen bestehe –, mit ihren sprechenden grauen Augen, die sich nun niemals mehr für ihn öffnen würden.
Es war, als stehe sie direkt neben ihm. Er glaubte, sie zu riechen, bildete sich ein, plötzlich ihre lang entbehrte Wärme wieder zu spüren.
»Matteo«, hörte er sie sagen, mit dieser brüchigen, stets ein wenig heiseren Stimme, für ihn jedoch die allerschönste der Welt. »Matteo – mein Liebster!«
All das war mehr, als er ertragen konnte. Der vertraute Schmerz war zurück, schneidend und brennend wie einst.
»Warum hast du mich verlassen?«, flüsterte Matteo und grub tiefer in der Truhe, obwohl er doch genau wusste, dass er dies besser lassen sollte. » Ich konnte nichts dagegen tun, war ebenso verzweifelt wie du. Niemals hättest auch du noch mich verlassen dürfen!«
Dann hielt er plötzlich in der Hand, was am Boden der Truhe versteckt gewesen war: die Rötelzeichnung, die ein Kind zeigte, nur eines von vielen weiteren Blättern, die erst recht niemals eine lebende Seele zu Gesicht bekommen durfte. Auf den ersten Blick hätte man fast glauben können, das Kind schlafe nur, wären da nicht der schmerzliche Zug um den Mund gewesen und das Leichentuch, das den kleinen Körper halb bedeckte.
Matteo ließ die Zeichnung sinken, kauerte sich auf den harten Fußboden, schlang die Arme um sich. Die Frische und der Schwung des heutigen Tages waren mit einem Nu verschwunden. Jetzt umgab ihn dunkle, sternenlose Nacht.
Was hatte er getan?
Er hatte sie gerufen, und die grausamen Geister der Vergangenheit waren zu neuem Leben erwacht.
Vor Bartolo Santinis Laden angekommen, zögerte Gemma und strich den alten Umhang wieder und wieder glatt, obwohl schon längst kein einziges Fältchen mehr zu sehen war. Sie atmete tief aus. Und wenn der Vater seine Gewohnheiten geändert hatte und sie außer dem alten Luca, der ihm schon seit vielen Jahren diente, hier niemanden vorfinden würde?
Sie musste das Risiko auf sich nehmen, das erste nur von vielen anderen, die unweigerlich folgen würden. Einfach die Straße zu überqueren, ins Wohnhaus zu stolzieren und sich dort den neugierigen Blicken der ganzen Familie auszusetzen war mehr, als sie jetzt aushalten konnte.
Er war allein, schien Luca zu einer Besorgung fortgeschickt zu haben und stand mit dem Rücken zu ihr vor dem großen Kasten mit Schlössern und Beschlägen. In ihm wurden die wertvollsten Stoffe aufbewahrt, nur ausgesuchten Kunden vorbehalten, während die einfachere Ware ringsum in offenen Regalen gestapelt wurde. Die restliche Einrichtung bestand aus gezimmerten Wandbänken aus Zedernholz, das als besonders mottenunfreundlich galt, dazu kamen ein Schreibpult mit ein paar einfachen Hockern und zwei kleinere Tische zum Präsentieren der Tuche.
Ihre Blicke glitten über die Leitern, mit denen sich auch noch die höchsten Fächer erreichen ließen, die Waage, die Scheren und den Abakus, Bartolos alte Rechenmaschine, mit dem sich so viel schneller addieren oder subtrahieren ließ – ihr alles bis in jede Faser vertraut und doch auf einmal so fremd. Plötzlich musste sie an das Kellergeschoss denken, in dem sie als Kind so gerne gespielt hatte, wo Wein- und Ölfässer ruhten und die trockensten Plätze nicht nur der Aufbewahrung von teuren Gewürzen, sondern auch der von Salz dienten, das der Vater in eigenen Salzgärten an der Küste gewann. Bis hinüber zum Wohnhaus auf der anderen Straßenseite führten diese alten, von Holzbalken mehrfach gestützten unterirdischen Gänge, und Gemma hätte nichts dagegen gehabt, sich wie früher in ihnen zu verstecken.
»Vater?« Ihre Stimme war auf einmal nur noch ein Wispern, so befangen fühlte sie sich. Was war ihr nur eingefallen? Niemals im Leben hätte sie auf die trügerischen Einflüsterungen jener Fremden hören sollen!
Bartolo Santini ließ sich Zeit, bis er sich zu ihr umdrehte, und als er es tat, erschrak Gemma. Sein Gesicht erschien ihr fahl und auffallend gedunsen, mit schweren Säcken unter den Augen, die ihn müde aussehen ließen.
»Da bist du also«, sagte er. Nichts als diese vier kümmerlichen Worte!
Gemma spürte, wie ihre Kehle eng wurde. Sie nestelte an ihrem Umhang, weil ihr plötzlich glühend heiß war, beinahe wie in Kindertagen, wenn sie ihm einen ihrer zahlreichen Streiche hatte beichten müssen. Doch dieses Mal war es anders. Sie hatte nichts Unrechtes getan. Lupo war der Schuldige, nicht sie, das musste sie Bartolo nur noch klarmachen.
»Vater, ich ...« Sie hielt inne.
Unzählige Male hatte sie sich die richtigen Sätze zurechtgelegt, aber plötzlich war alles verschwunden. Da war nur noch ein schwarzes Loch, das sich mit rasender Geschwindigkeit weiter in ihr ausbreitete.
»Ich habe Lupos Haus verlassen«, fuhr sie fort. »Ich musste es tun. Ich konnte dort nicht weiter mit ihm leben. Du kannst dir gar nicht vorstellen, was er ... «
Warum lief es so schief?