Die Vergessenen 01 - Skinwalker - Sabina S. Schneider - E-Book

Die Vergessenen 01 - Skinwalker E-Book

Sabina S. Schneider

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Beschreibung

Was würdest du tun, wenn du das Ende der Menschheit vor Augen hättest und wüsstest, dass es deine unerwiderte Liebe ist, die sie zu Fall bringen wird? Wenn es keine Hoffnung mehr gibt und das Ende bereits feststeht, hättest du die Kraft, weiterzukämpfen? In der Urban Fantasy Trilogie DIE VERGESSENEN verschmelzen Wirklichkeit und Mystik ineinander und eine neue Dimension wird geboren. Hoffnung trifft auf Verzweiflung, Hass auf Liebe, Träume treffen auf Verpflichtungen. Linas Wunsch nach Normalität wird auf die Probe gestellt, als Van sie nach Japan entführt und Wesen, die es nur in Legenden gibt, sich in ihr Leben drängen. Sie wird von tengu – fliegenden Wesen, halb Mensch, halb Vogel, angegriffen, von kappa – grünen Wasserkobolden verfolgt und von tanuki – dachsähnlichen Wesen mit riesigen Hoden belagert. Ein kitsune – Fuchsgeist und selbsternannter Gott will sie fressen und ein Skinwalker – Gestaltwandler zerreißt den Schleier der Normalität und lässt Lina verzweifelt zurück. Was ist Wirklichkeit, was Traum? Was verbirgt sich hinter dem hölzernen Tor, das ihr in einem Schwächeanfall erscheint? Wer dringt immer wieder in Linas Seele ein und will sie zwingen, das Tor zu öffnen? Eine Liebe, die nicht sein kann. Eine Leidenschaft, die nicht sein darf und eine Verbundenheit, die Zeit und Raum überwindet. Kann wahre Liebe ein Ende abwenden, das von unerwiderten Gefühlen herbeigerufen wird?

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Sabina S. Schneider

Die Vergessenen 01 - Skinwalker

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

PROLOG

BEGEGNUNG

ENTFÜHRUNG

TRAUM UND REALITÄT

TŌKYŌ

FREUNDE?

FEINDE!

GLOSSAR

Impressum neobooks

PROLOG

*

Das Tor, gewaltsam geöffnet, zieht Spuren in der Blutlache des Panthers. Die Ebenen vereint, zerreißt Mystik die Realität, wenn Götter mit Dämonen auf Erden wandeln und die Menschheit unter ihren Füßen zu Staub zermahlen.

*

München, August 2010

Er war bereits so oft gestorben. Was machte da ein weiteres Mal? Er wusste, wie es sich anfühlte, wenn sich die Seele vom Körper trennte, jede Faser aufschrie und erfüllt war von Schmerz. Dann würde die Erleichterung kommen, wenn alles aufhörte und die Zeit stillstand. Ein kostbarer Moment der Ruhe. Er kannte das Gefühl, ein Teil von allem zu sein sowie die alles verzehrende Verzweiflung, wenn seine Seele, für ewig gebunden an diesen verfluchten Körper, an den Ketten zurückgezerrt wurde in den leblosen Leib. Die Ruhe würde sich in Kälte verwandeln; die Existenz, die sich zuvor ewig ausgedehnt hatte, würde zu einem Punkt zusammengepresst werden. Ein kleiner, für die Welt unbedeutender Urknall würde dem kalten Körper Energie einhauchen und er würde wieder leben.

Wenn man das Leben nennen konnte.

Er war viele Wege gegangen, um herauszufinden, was er war. Alte Wege, neue Wege. Nicht nur einmal war er dabei gestorben und die Wahrheit war ihm jedes Mal weiter entglitten. Wer war er? Was war er?

Er spürte, wie der Dolch in sein Herz eindrang. Er nahm jeden Millimeter wahr, konnte fühlen, wie es sich verkrampfte und begann, schneller zu schlagen, immer schneller, wie der Flügelschlag eines Kolibris. Er schaute auf den Dolch herunter. Er war schön. Sein pures Silber glänzte mit Edelsteinen besetzt im Licht des Vollmondes. Es gab wohl keine Waffe, durch die er lieber gestorben wäre.

Dann kam Stille. Er spürte nicht, wie sein Körper leblos zu Boden fiel. Die Zeit stand für einen Moment, der sich wie eine Ewigkeit anfühlte, still. Dann kam der Sog. Die Ketten zerrten erbarmungslos an seiner schwindenden Existenz. Sein Ich, das dabei war, sich in allem aufzulösen, wurde wieder in seinen Körper gepresst. Er fühlte das Bersten, die gesamte Energie des Universums auf einem Punkt, wie sie in ihm pulsierte, bis kein Raum mehr da war und sie sich in einer Explosion in seinen Körper ergoss.

Er stöhnte. Es hatte wieder nicht geklappt. Er war immer noch oder schon wieder am Leben, und schlimmer noch, er gehörte jetzt zu ihnen. Auch ihr heiliger Dolch hatte ihn nicht erlösen können. Er wollte die Augen nicht öffnen. Was war er nun?

„Erhebe dich! Diene dem Großmeister, auf dass unser Orden zu alter Stärke findet im Kampf gegen die zer­setzenden Mächte! Für die Weltenwende!“

„Für die Weltenwende!“, schallte es im Chor.

Ach ja, er war jetzt Mitglied des Armenen-Ordens oder Ähnliches. Er würde sich näher damit beschäftigen müssen. Schwerer, als in diese Kreise aufgenommen zu werden, war nur, wieder herauszukommen. Fände er auch hier nichts, das die Macht hatte, seinem schmerzerfüllten Dasein ein Ende zu bereiten, würde er sich überlegen müssen, wie er sie loswerden konnte. Ohne ein Massaker zu veranstalten. Ob ein weiterer Tod ausreichen würde? Die Zeit würde es zeigen. Er könnte ein wenig Ablenkung von der Ewigkeit in Schmerz vertragen. Alles war besser als Resignation.

Hoffnung jedoch war ein zweischneidiges Schwert, das seine vergiftete Klinge umso tiefer in das Fleisch seines Opfers bohrte, je größer sie war. Er kannte den Geschmack der Verzweiflung, wenn die Flamme der Hoffnung erlosch und die Dunkelheit schwärzer und bedrohlicher wiederkehrte. In solchen Momenten war das Tier in ihm stark, drohte ihn zu übermannen und ihn gänzlich zu verschlingen. Es gab Mittel und Wege, es im Zaum zu halten. Er musste ein Grinsen unterdrücken und war froh, dass sie ihm bei dem Aufnahmeritual die Hose gelassen hatten. Der Gedanke an die Jagd, die Augen seiner Beute verschleiert von einer Mischung aus Angst und Verlangen sowie der wilde Sex, wenn sie sich ihm ergaben, erfreuten den Mann und das Tier.

Seine nackte Brust hob und senkte sich schneller. Sein Puls raste. Er spürte die Erregung des Tieres und spannte seine Muskeln an, als das Blut schneller durch seine Adern rauschte.

Während sonnengebräunte Haut jeden in der Dunkelheit verirrten Lichtstrahl einfing, saugten schwarze Male, mit giftigen Nadeln tief unter die Haut gestochen, die Dunkelheit auf. Sich von seinem Handgelenk über den Arm hochschlängelnd, fraßen sie sich unmerklich mit jedem Herzschlag ein Stück weiter durch die bronzene Haut.

Er hob den Kopf gen Himmel und schickte ein lautloses Brüllen seiner Seele in die Nacht. Die Pupillen seiner Augen verengten sich zu Schlitzen. Er musste seinen Puls beruhigen, tief ein- und ausatmen!

Den Blick wieder gesenkt, erhob er sich und schritt durch die Reihe von Menschen, die nicht ahnten, wie nahe sie daran waren, von einer wilden Bestie zerfleischt zu werden. Er wich den Blicken der gesichtslosen Männer aus, die sich unter den Kapuzen ihrer Kutten versteckten.

„Konzentriere dich!“ - Wie viele Massaker standen noch zwischen ihm und dem Wahnsinn? Das Blut war schwer wieder aus dem Fell herauszubekommen – und dieser Geruch! Wochenlang hatte er ihm in der Nase gehangen. Hätte einer den Angriff des wilden Panthers überlebt, hätten sie ihn zu einem Dämon oder zu ihrem Gott erklärt, da war er sicher.

Er musste sich beruhigen. Wenn er sich jetzt verwandelte, würde es keine Überlebenden geben, und seine Chance, einen Weg zu finden, seinem erbärmlichen Dasein ein Ende zu bereiten, wäre dahin. Vielleicht für immer. Wenn die Dämonenjäger keine Waffe hatten, die ihm die so erhoffte Ruhe bringen konnte, blieb ihm nur die Ewigkeit im Meer des Wahnsinns.

Er presste die Nägel gegen seine Handflächen. Zu Krallen gestreckt und gekrümmt gruben sich die Spitzen in sein Fleisch und Blut lief über seine Hände. Es war warm. Sein Blut war wieder warm. Es lief über den Ring, ein kaum sichtbares Dreieck mit einem Auge in der Mitte eingraviert.

„Die Bruderschaft der Armenen sucht nach dem, was dem Panther den Tod bringen wird“, hallten Akikos Worte in seinem Kopf. Der kleine Körper gekrümmt und zitternd in seinen Armen, hatte ein Chor aus tausend Stimmen zu ihm gesprochen. Die Götter hatten ihn endlich erhört, und es war ihm egal, welche Götter. Er hatte den weiten Weg von Japan nach Deutschland zurückgelegt und würde dem Orden den Panther geben, wenn sie die Waffe gefunden hatten, die ihn erlösen konnte. Während der Mann berauscht war von dem Gedanken an seinen eigenen Tod, trachtete das Biest in ihm nach dem Leben anderer. Jagen, hetzen, eindringen, zerfleischen ... der Geschmack von Blut ...

BEGEGNUNG

Bonn, Oktober 2010

Wie der neue Job wohl war? Ob die Kollegen nett waren? Diese und viele andere Gedanken flogen Lina durch den Kopf, als ihr Herz schneller klopfte und ihre Handflächen schwitzten. Das war nicht gut. Am ersten Arbeitstag war die erste und einzige Aufgabe des Neulings, jedermann die Hand zu schütteln. Wenn sie da schon negativ auffiel ... Schnell wischte sie, hoffentlich unbemerkt, die Hände an ihrem Rock ab. Er war nicht teuer gewesen, saß aber gut.

Sie schaute den Leuten zu, wie sie durch die Tür gingen, sich grüßend zunickten, müde „Morgen“ zu murmelten und ihr ab und an einen neugierigen Blick zuwarfen. Sie wurde ein wenig unruhig. War der Rock zu kurz? Wieso musste das dumme Ding auch immer höher rutschen?

Dann wurde sie endlich abgeholt. Ein kleiner, gedrungener Mann mit einem Lächeln, das in sein Gesicht getackert schien, kam die Treppe herunter. Er bewegte den Mund und Laute kamen heraus. Was hatte er gesagt?

„Komm with ma!“ Was für eine Sprache war das? Er wusste hoffentlich, dass sie kein Chinesisch sprach. Sie hatte keine Ahnung, warum man sie überhaupt eingestellt hatte. Lina war zu dem Bewerbungsgespräch gegangen, um Erfahrungen zu sammeln. Dass man sie nehmen würde, damit hatte sie nicht gerechnet. Da das Männlein die Treppe hochlief, folgte sie ihm.

Eine chinesische Firma. In Deutschland, aber in chinesischen Händen. Asiaten nahmen es nicht so genau mit geregelten Arbeitszeiten. Überstunden wurden erwartet und waren mit dem Entgelt abgegolten, hieß es irgendwo in dem Vertrag, den sie ein paar Tage zuvor unterschrieben hatte.

Eine ausgestreckte Hand folgte der nächsten, ein Lächeln dem anderen, und sie vergaß einen Namen nach dem anderen, nickte aber freundlich und lächelte. Dann war das Händeschütteln vorbei.

„Die Vorgesetzten und Manager lernst du ein anderes Mal kennen“, wurde ihr in gebrochenem, kaum verständlichem Englisch mitgeteilt. Ein paar trugen Anzüge, wenige Jeans. Jeans waren okay. Schade, sie hatte sich extra für die neue Stelle Büro-Outfits zusammengestellt. Sie betonten die richtigen Stellen, ohne zu sexy zu sein. Lina hatte sich gerade gesetzt und schaute sich unsicher um, als er hereinplatzte, seine blonde Mähne in den Nacken warf und sie angrinste.

„Und wer sind Sie?“ Er sprach deutsch. Gott sei Dank! Ein Stein fiel ihr vom Herzen.

„Lina Mueller, die Neue“, gab sie zurück und streckte die Hand aus.

„Wir hatten Sie heute nicht erwartet. Sie haben noch keinen Vertrag unterschrieben.“

„Ich habe einen Vertrag mit der Zeitarbeitsfirma.“

„Was?“, rief er, „die Firma wollte einen direkten Vertrag mit Ihnen.“

„Das ist nicht meine Schuld. Ich habe lediglich den mir angebotenen Vertrag unterschrieben.“

„Nicht mit der Firma. Somit haben Sie keinen Vertrag. Gehen Sie nach Hause! Wir melden uns bei Ihnen.“ Noch bevor sie nachdenken konnte, hatte Lina ihre Jacke angezogen und das Büro verlassen. So etwas musste sie sich nicht anhören. In dem langen Flur wandte sie sich Richtung Fahrstühle, als ihr plötzlich jemand den Weg versperrte. Nur mit einer Notbremsung konnte sie den Aufprall verhindern.

„Entschuldigung“, murmelte sie und ihr Blick glitt langsam von gepflegten Schuhen über perfekt sitzende Anzughosen zu einem Hemd, die Ärmel leger hochgekrempelt. Die bronzene Haut hob sich spielerisch von dem perlweißen Stoff ab. Linas Blick folgte der pechschwarzen Tätowierung, die sich wie eine giftige Viper von seinem Handgelenk über seinen linken Arm schlängelte, um sich dann unter dem Stoff zu verlieren. Die obersten Knöpfe seines Hemdes waren offen, und Linas Augen blieben kurz in den Rundungen der Schlüsselbeine und der Halskuhle hängen. Sie unterdrückte den Drang, die Hand auszustrecken, um die Wölbung nachzufahren, und zwang ihren Blick weiter hoch zu den markanten Wangenknochen.

Dann trafen sich ihre Augen und Lina vergaß das Atmen. Durften Augen so unnatürlich blau sein? Sicher lag das an dem Kontrast zu den schwarzen Haaren, die ihm neckisch ins Gesicht fielen. Wie alt der Mann war, konnte Lina nicht sagen. Er wirkte zeitlos und strahlte Dunkelheit und Gefahr aus. Ihr Herz schlug schneller und all ihre Sinne schrien: „LAUF!“ Der Drang zur Flucht riss wie ein Wasserfall jeglichen Wunsch nach Nähe mit sich, und doch hielten seine Augen sie gefangen. Wie ein Kaninchen vor der Schlange, kurz bevor sich die Zähne ins Fleisch gruben und sich das lähmende Gift in ihrem Kreislauf ausbreitete. Dem Raubtier ausgeliefert auf Gedeih und Verderb. Lina wurde schwindelig. Das mussten die Nerven sein. Sie hatte gerade nicht gesehen, wie sich seine Pupillen zu Schlitzen verengten!

„Reiß dich zusammen, Lina Müller!“ Sie schüttelte etwas benommen den Kopf, murmelte noch einmal: „Entschuldigung“, und ging unsicheren Schrittes in einen der Fahrstühle. Sie spürte, wie er ihr mit seinem Blick folgte und lehnte sich erleichtert gegen die kühle Fahrstuhltür, als sie sich hinter ihr schloss. Tief durchatmen! Sie hatte keine Zeit für so etwas. Sie musste dringend ein Telefonat mit der Zeitarbeitsfirma führen.

----

Lina lag im Bett. Sie wusste, was jetzt kommen würde. Alles zog sich in ihr zusammen. Sie spürte, wie es versuchte, von ihr Besitz zu ergreifen. Sie konnte sich nicht rühren. Panik stieg in ihr auf. Lina schob sie beiseite und klammerte sich an der Wut fest. Wut bedeutete Kraft. Panik und Angst bedeuteten Schwäche. Durch Schwäche würde sie gegen sich selbst verlieren. Jeder Atemzug tat weh, die Glieder waren schwer wie Blei und rührten sich keinen Millimeter.

Der Lichtschalter! Sie musste ihn erreichen. Das Licht würde die Dunkelheit vertreiben, und alles wäre wieder gut. Sie klammerte sich an diese Hoffnung, verdrängte für einen kurzen Augenblick die Panik, die sich mit der Angst vereinte und sie zu überfluten drohte. Millimeter für Millimeter der Erlösung entgegen. Aufgeben wäre so leicht, flüsterte ihr eine kleine Stimme verführerisch zu. Doch Geist und Körper schrien dagegen an. Stolz zerrte an ihr. Sie hatte sich noch nie ergeben!

Als es „klick“ machte, war es dunkler als zuvor, und sie lag wieder unerreichbar weit vom Lichtschalter. Wieder spürte sie die Präsenz einer fremden Macht in ihrem Geist, die versuchte, ihr die Kontrolle zu entreißen. Sie hasste es, keine Kontrolle zu haben, und aus ihrem Hass schöpfte sie erneut Kraft. Wie oft es sich diesmal wiederholte, wusste sie nicht. Als der Morgen anbrach, lag Lina erschöpft im Bett.

Die Nacht hatte keine Ruhe gebracht, keine Erholung. Angst schnürte ihre Kehle zu und unvergossene Tränen brannten in ihren Augen. Sie würde nicht weinen. Schwerfällig hob sie den Kopf und stützte sich auf. Ein hysterisches Kichern der Erleichterung entschlüpfte ihren ausgedörrten Lippen. Ihr Körper gehorchte ihr.

Bevor sie für eine Weile jeden Spiegel mied, musste sie sich ihm stellen. Sich vergewissern, dass ihr nicht die Augen einer Fremden entgegenblickten. Lina verfluchte ihre Herkunft und wünschte sich, normal aufgewachsen zu sein und nicht mit dem Glauben an Flüche, Dämonen, Geisterheilung und Wahrsagung. Rusalki – russische Meerjungfrauen, domovyje – Hausgeister und leshij – Waldgeister sollten Märchen bleiben, nicht nachts ihre Masken fallen lassen und nach Opfern lechzend aus den Schatten gekrochen kommen.

Lina schleppte ihren müden Körper zum Waschbecken, stützte die Hände auf den Rand und starrte in das Becken. Die Finger waren steif, und hätte sie mehr Kraft gehabt, wäre das Porzellan unter ihrem Druck zerborsten. Die Angst kroch wieder in ihr hoch, krallte sich mit eiskalten Klauen in ihren Unterleib. Sie hob langsam den Blick, ließ ihn unsicher vom Waschbecken über die Ablage gleiten, blieb kurz an der elektrischen Zahnbürste hängen, zögerte und blickte dann in Augen voller unendlichem Schmerz und Traurigkeit, die nicht ihre sein konnten. Linas Herz krampfte sich zusammen. Wer ihr auch gerade aus dem Spiegel entgegenblickte, musste alles Leid der Welt auf seinen Schultern tragen.

„Wie lange noch? Wie lange würde es noch dauern, bis sich der Schmerz in Wut und Hass verwandelte?“ Der Gedanke durchzuckte Linas Körper wie ein Blitz. Für den Bruchteil einer Sekunde wusste sie, wer die Person im Spiegel war, spürte ihr Leid in sich. Mitleid wurde von Angst umspült und mitgerissen. Alles verschwamm vor ihren Augen und wurde schwarz.

Russland, Juli 1988

Eine faltige Hand, rau wie Schmirgelpapier, griff zitternd nach ihrer. Augen die nicht sehen konnten, blickten tief in ihre Seele. Das Zittern wurde immer stärker und drang bis in ihr kleines Herz, das vor Aufregung immer schneller schlug. Sie wollte die Hand wegziehen, der Berührung entkommen, die ihre Seele schändete und tief in sie eindrang. Doch zerklüftete Haut schloss sich fester um glatte, als eine gebrechliche Stimme hysterisch schrie: „Ubjetje jejo, jej njelsja schjit. Ona vess mir ugrobit! Ubjetje jejo! – Tötet sie! Sie darf nicht leben. Sie wird die Welt ins Verderben stürzen! Bringt sie um!“ Das Herz der kleinen Lina setzte aus, und sein leises Hämmern wäre für immer verstummt, wenn starke Hände sie nicht aus der Umklammerung der Pergamentklauen befreit hätten. Aus weiter Ferne hörte sie die Stimme ihrer Mutter.

Bonn, Oktober 2010

Lina kam mit einem Schlag wieder zu Bewusstsein und blickte in weit aufgerissene Augen. Voller Panik und Angst. Sie war sie selbst. Es war lächerlich und traurig, aber hier und jetzt konnte sie ihr Selbst durch genau diese Gefühle definieren. Lina wäre erleichtert gewesen, wenn jene Erinnerung sich nicht an sie geklammert und ihre Krallen in sie gestoßen hätte. Es würde schwer werden, sie wieder abzuschütteln. Russisch, eine schöne Sprache. Ihre Muttersprache, und doch drangen die Laute wie Messerstiche in ihren Leib.

„Ubjetje jejo! Jej njelsja schjit. Ona vess mir ugrobit! Ubjetje jejo! – Tötet sie! Sie darf nicht leben. Sie wird die Welt ins Verderben stürzen! Bringt sie um!“

Worte, die niemand hören wollte. Worte, die man zu niemandem sagen sollte. Vor allem nicht zu einem sechsjährigen Kind. Sie schob den Gedanken beiseite. Es war Zeit, wieder normal zu sein. Sie musste zur Arbeit ... Hoffentlich war sie heute willkommen.

----

„Da sind Sie ja schon wieder.“ Der Deutsche runzelte die Stirn.

„Ich habe einen Vertrag unterschrieben. Man hat mir gesagt, ich soll zur Arbeit kommen und da bin ich.“ Er seufzte und ergab sich.

„Setzen Sie sich zu unserem Trainee. Sie zeigt Ihnen ein bisschen was.“ Die Trainee war nett. Sie war Chinesin, lebte seit drei Jahren in Bonn und sprach sehr gut Deutsch. Sie hob den Vorhang des Unwissens und führte Lina in die Welt der Logistik ein. Sie erklärte ihr die Aufgaben eines Logistik-Spezialisten, denn das war Lina von nun an. Sie konnte kein Chinesisch, hatte keine Ahnung von Logistik und verstand kein Wort ihres Vorgesetzten. Ein toller Berufseinstieg. Aber als Japanologe konnte man nicht allzu wählerisch sein. Vor allem nicht, wenn man dazu Kunstgeschichte studiert hatte. Es war der erste Job, den man ihr angeboten hatte, und sie brauchte Geld.

Der Name des Blonden war Wolfgang. Er war gesellig und liebte es zu reden. Vor allem zu hetzen. Wuff passte zu ihm, denn er tat den lieben langen Tag nichts anderes als bellen. Er beschwerte sich über dies, das und jenes und erzählte viel zu viel über sein Privatleben. Lina wollte das nicht wissen, aber sie lächelte brav und nickte. Er erinnerte sie an einen Straßenwelpen, der bellend und knurrend hin und her lief, um allen zu zeigen, wie groß er schon geworden war.

Die anderen Kollegen waren nett und viele boten ihr sofort das Du an. Bald erfuhr Lina auch den Namen des Mannes, dem sie vor dem Fahrstuhl begegnet war. Van war Amerikaner, konnte zwar Deutsch, zog es aber vor, Englisch zu sprechen. Er war Projektmanager und auch noch nicht lange dabei. Sie liefen sich ein paar Mal in den Fluren über den Weg und Lina war jedes Mal erleichtert, wenn er ihr nur freundlich zunickte und weiterging. Sie wurde das Prickeln in den Zehen nicht los, wenn sie an seine Augen dachte. Doch bevor Lina in ihren ersten wohlverdienten Feierabend gehen konnte, rief er sie in sein Büro.

Mit etwas flauem Magen betrat sie die Räumlichkeiten. Lina streckte den Rücken durch, hob das Kinn ein wenig und lächelte ihn an. Ihr Herz machte einen kleinen Sprung, als er ihr Lächeln erwiderte. Ihre Alarmglocken läuteten schrill. Der Mann war gefährlich, sie musste auf der Hut sein.

„Hast du dich etwas eingelebt?“ Lina bejahte Vans Frage und nach dem Austausch von ein paar weiteren Höflichkeitsfloskeln hatte Lina das Gefühl, glimpflich davon gekommen zu sein. Sie wandte sich Richtung Tür, als er nebenbei fragte: „Dinner?“

„Jetzt?“, erwiderte Lina überrumpelt.

„Wir gehen Freitag nach der Arbeit.“ Das war keine Frage.

Sie schaute ihm überrascht und fasziniert in die Augen, während sie in Gedanken nach einem guten Grund suchte, warum sie am Freitag nicht mit ihm essen gehen konnte. Als sie den Mund aufmachen wollte, um ihm eine fadenscheinige Ausrede zu präsentieren, schloss sie ihn wieder, ohne dass ihm ein Laut entschlüpfte. Sie nickte und ging.

Die Nacht hatte sie wohl mehr geschlaucht als angenommen. Warum sollte sie sich sonst einbilden, dass sich menschliche Pupillen zu Schlitzen verengten? Lina konnte das Gefühl nicht abschütteln, von einer Raubkatze fixiert zu werden, die jeden Moment über ihre Beute herfallen würde. Ihr liefen eisige Schauer über den Rücken. Über sie herfallen? Warum sollte er über sie herfallen, und warum kribbelten ihre Zehen bei diesem Gedanken schon wieder?

*

Und da war sie aus seinem Büro verschwunden.

Was für eine faszinierende Frau. Ihre Körperhaltung und ihr Lächeln drückten Selbstbewusstsein aus, während er in ihren Augen deutlich den Wunsch nach Flucht lesen konnte. Heute hatte sie einen leichten Geruch von Furcht an sich. Van konnte ein leises, erregtes Knurren nicht unterdrücken. Wenn er ihr nahe war, erwachte das Tier aus seinem Schlummer, nahm die Witterung auf und wollte ... wollte was? Das Bedürfnis, seine Krallen oder seine Fangzähne in ihrem Fleisch zu versenken, hatte es nicht. Was den Mann betraf ...

Die Bruderschaft hatte ihn hier eingeschleust, damit er ein Auge auf die Firma werfen konnte. Sie hatten der Beschattung den Projektnamen „Tiger and Dragon“ gegeben. Eine alberne und verbrauchte Symbolik. Westen gegen Osten. Der mächtige Tiger im Kampf gegen den gewaltigen Drachen. Vielleicht konnte er die Pflicht mit etwas Spaß verbinden. Schneller, sinnloser Sex würde ihm Lust bereiten und das Tier besänftigen. Er mochte die Jagd und das Bild einer Frau auf der Flucht brachte sein Blut in Wallung, vor allem, wenn sie so stolz und schön war wie Lina. Bei dem Gedanken, was er mit seinem neu gefundenen Spielzeug alles anstellen würde, packte ihn die Unruhe. Van musste an ihre helle Haut nackt auf dunkler Seide denken. Seine Finger in ihr langes, braunes Haar gekrallt und ihr grünen Augen weit aufgerissen und vernebelt von einer Mischung aus Angst und Verlangen.

Sein Inneres pulsierte, die Knochen bewegten sich langsam in unnatürliche Richtungen. Sein linker Arm brannte und er spürte, wie sich das Schwarz der Tätowierung durch die Haut fraß. Van atmete schwer. Daran war sie schuld. Mit ihrem Geruch, ihrer Vorsicht, die bei jeder noch so kleinen Bewegung in Angst und Flucht umzuschlagen drohte ...

Van atmete tief durch und versuchte, sich zu beruhigen. Er musste die Triebe des Tieres befriedigen, bevor es zu stark wurde und völlig seiner Kontrolle entglitt. Van dachte an die Bewegung ihrer Hand, wenn sie ihr langes Haar nach hinten warf. Es sollte in der Nähe einen Wald geben. Ein wenig rennen, ein Kaninchen und ein Reh würden das Tier beruhigen, wenn auch nicht für lange. Gedankenverloren spielte er mit dem Ring an seinem Daumen, strich über das Auge im Zentrum des Dreiecks.

----

Sie hatte es den ganzen Tag nicht aus dem Kopf bekommen, und jetzt war sie mitten drin. Lina saß auf dem Beifahrersitz und betrachtete Van aus dem Augenwinkel. Er hatte eine dunkle Jeans an, ein schwarzes Hemd und eine Lederjacke. Nichts erinnerte an einen Manager, außer der Tatsache, dass sie in einem Firmenwagen saßen. Das Essen war ruhig und gemütlich verlaufen. Jetzt waren sie auf der Suche nach einem Absacker. Als Van vor dem Hilton Hotel hielt, wurde Lina flau im Magen und sie verkrampfte sich. Hotels und Männer waren keine gute Kombination.

„Ich bin schon so häufig auf Geschäftsreisen gewesen, dass sich Hotels wie zu Hause anfühlen. Da kann ich mich richtig entspannen. Außerdem bekommt man hier den guten Stoff, nicht den billigen Fusel wie in Bars.“ Er hatte ihre Nervosität wohl bemerkt. Deutlich entspannter lächelte sie ihn an. Der Abend war bisher gut verlaufen. Es gab keinen Grund, dass ihre Alarmglocken Sturm läuteten ... Und doch hatte sie dieses penetrante Klingeln im Ohr. Bekam sie etwa Tinnitus? Während seine Bewegungen in ihre Richtung den Wunsch nach Flucht hervorriefen, schrie ihre Haut bei zufälliger Berührung nach mehr. Sie musste sich in den Griff kriegen.

„Was willst du trinken?“, fragte Van, ganz Gentleman.

„Was haben die denn so?“, erwiderte Lina nervös.

„Alles was du willst.“ Sein schelmisches Zwinkern verunsicherte sie.

„Was trinkst du?“, Lina sah sich voller Unbehagen um, fühlte sich fehl am Platz.

„Rotwein.“

„Dann nehme ich auch einen.“ Lina saß steif da und fühlte sich sichtlich unwohl. Die Ruhe in Van war jedoch so präsent, dass sie aus ihm herausdrängte und die Luft um ihn herum erfüllte. Langsam kroch sie bis zu Lina und ergriff von ihr Besitz. Die immer leiser werdenden Alarmglocken, mit Wein umspült, verstummten. Noch bevor sie sich versah, hatte sie sich in den bequemen Sessel gekuschelt. Kurz fragte sie sich, wie viele Sterne ein Hilton eigentlich hatte, musste an „One Night in Paris“ denken und kicherte leise vor sich hin.

Eingelullt von der Wärme, den Geist und die Glieder gelockert vom Wein, den sie nicht vertrug, und Vans tiefer hypnotisierender Stimme, ließ sie sich gehen. Er erzählte ihr von seinem Leben vor der Firma. Van war viel gereist, hatte einiges gesehen und die verschiedensten Menschen und Kulturen kennengelernt.

„Hat dein Tattoo eine Bedeutung?“ Van schaute sie eine längere Zeit einfach nur an. Dann krempelte er seinen Ärmel hoch, rutschte näher an sie heran und streckte ihr seinen Arm entgegen.

„Du kannst es gerne anfassen.“

Vorsichtig strich Lina über das Schwarz in der bronzenen Haut. Ihre kalten Finger hinterließen heiße Spuren. Feuer und Eis. Ein kleiner Stromschlag durchfuhr sie und Lina zog die Hand rasch zurück. Van griff nach ihr und umfasste Linas Handgelenk. Ihr Magen zog sich zusammen und ihr ganzer Körper kribbelte, während sie nur stoßweise atmete. Sein Griff verstärkte sich.

„Du solltest Angst haben.“ Er zog sie näher an sich heran und flüsterte: „Ich tausche ein Geheimnis gegen ein Geheimnis.“ Sanft fuhr er mit dem Daumen der freien Hand über die Innenseite ihres Unterarms und stoppte in der Armkuhle, wo er leicht den Druck verstärkte. Ein leises Stöhnen entschlüpfte Linas Lippen. Während ihr Geist nach einem Fluchtweg suchte, schrie ihr Körper nach mehr.

„In dem Kulturkreis, aus dem ich stamme, nennt man mich Skinwalker. Ein mächtiges dunkles Wesen, das Angst und Schrecken verbreitet.“ Die Hintergrundgeräusche der anderen Gäste vereinten sich zu einem leisen Rauschen, während seine Worte in ihren Ohren tief und gewaltig widerhallten. Sie hielt den Atem an und keuchte leise, als sich der Druck auf ihr Handgelenk verstärkte. Lina befürchtete, aus Sauerstoffmangel das Bewusstsein zu verlieren, als er sie leise lachend freigab.

Er machte sich über sie lustig! Ärger färbte ihr Wangen rosa und Lina sah ihn vorwurfsvoll an, während sie sich das Handgelenk rieb, das weniger wehtat als kribbelte. Als hätte er mit seiner Hand in ihre Haut tausende kleine Roboter gepflanzt, die jetzt durch ihren Körper schossen.

Lina wollte sich gerade über seine Frechheit empören, als er den Kopf seitlich legte, auf den Ring an seinem Daumen starrte und gedankenverloren mit ihm spielte. Der Ring fing Linas Blick ein und ließ ihn nicht mehr los. Er kam ihr bekannt vor. Ein Ring mit einem kaum sichtbaren Dreieck und einem Auge im Zentrum. Wo hatte sie so einen schon einmal gesehen?

„Dieser Ring ...“, entschlüpften ihr die Worte, bevor sie sich eines Bessern besinnen konnte.

„Willst du wissen, was das ist?“

Lina nickte.

„Er zeichnet mich als Mitglied des Armenen Ordens aus.“

„Armenen Orden?“ Irgendwo hatte sie diesen Namen schon gehört.

„Ritter in strahlender Rüstung, die die Welt vor dem Bösen beschützen.“

„Du machst dich über mich lustig!“

„Selbstverständlich“, erwiderte Van mit einem schiefen Grinsen.

„Was sind deine Geheimnisse?“, fragte er mit einem Augenzwinkern.

„Mir wurde prophezeit, dass ich die Welt vernichten werde.“ Lina schaute ihn ernst an, und er erwiderte ihren Blick. Ihr Glas war wieder voll. Wie viel Rotwein hatte sie schon getrunken?

„Dann sollten der weiße Ritter und die böse Hexe tanzen gehen, solange die Erde noch existiert“, er zwinkerte ihr wieder zu und fragte nach der Rechnung.

„Na, jemand, der behauptet, Skinwalker genannt zu werden, hat wohl kein weißes Hemd oder gar eine weiße Rüstung“, erwiderte Lina kokett und erhob sich. Ein bisschen Bewegung nach dem Wein würde sicher guttun. Sie war schon lange nicht mehr ausgegangen.

„Zu welcher Musik gehst du normalerweise tanzen?“, fragte Van, als er ihr die Autotür aufhielt.

„Aber nicht lachen! RnB, HipHop oder Black.“

„Gibt es hier gute Clubs?“

„Ich war noch in keinem. Im ‚Schwarzlicht‘ soll gute Musik laufen.“

„Na, dann lass es uns ausprobieren.“

----

Wie hatte sie sich wieder in diese Bredouille gebracht? Lina stand mit dem Rücken zum Bartresen. Links und rechts von ihr waren seine Hände aufgestützt und versperrten jeden Fluchtweg. Lina hatte sich schon so weit zurückgelehnt, dass sich ihr Oberkörper hinter der Theke befand statt davor. Sein Körper war dicht an ihren gepresst. Er roch so gut. War er immer schon so groß gewesen? Sein Rücken erschien ihr breiter und seine Oberarme muskulöser. Sein Atem ging schnell und stoßweise und sein Gesicht war ihrem sehr nahe. Vor ihr stand ein Traum von einem Mann. Lina musste sich nur ein bisschen vorbeugen, dann würden seine Lippen ihre berühren. Wäre er nur kein Kollege ... Wenn irgendetwas schiefgehen würde, könnte man sich schlecht aus dem Weg gehen. Wie hatte sie sich nur in so eine Situation manövrieren lassen?

Anfangs war der Club fast leer, also waren sie an die Bar gegangen. Lina bestellte sich einen Vodka-Redbull. Viel reden konnte man bei der Lautstärke nicht. Stattdessen beobachteten sie die Leute. Eine junge Frau, die anscheinend allein da war, tanzte mit dem Rücken zur Wand. Sie tanzte gut, hielt den Rhythmus, war einfach cool und wunderschön. Lina konnte die Augen nicht von ihr wenden, beobachtete sie lange und bewunderte ihren Mut. Lina war noch nie allein in einen Club gegangen, ja, nicht einmal in ein Restaurant.

Später wurde es voller. Als der DJ ein Beyoncé-Lied nach dem anderen spielte, zog Lina Van auf die Tanzfläche und ließ los. Vergaß, dass sie mit einem Kollegen hier war. Vergaß, dass sie einen Mann vor sich hatte und keinen schüchternen Jungen und tanzte. Sie schloss die Augen und ließ sich von der Musik tragen.

*

Van schaute Lina fasziniert beim Tanzen zu. Als er sich losreißen konnte, fielen ihm die Blicke der anderen Männer auf. Lina war schön und so, wie sie sich bewegte, sah es einfach richtig aus. Das Tier in ihm knurrte laut „MEINS“ und blutige Bilder von Eingeweiden jedes Mannes im Raum, der es wagte, sie anzuschauen, schossen durch seinen Kopf. Er musste zugeben, dass diese Lösung das Problem beseitigen würde, jedoch leider nicht wirklich eine Option war. Aber es gab einen anderen Weg, Männer von seinem Jagdrevier fernzuhalten. Er musste es nur deutlich genug markieren.

Van bewegte sich ebenfalls rhythmisch zur Musik, ging ganz nahe an sie heran. Lina öffnete die Augen und lächelte.

„So ist´s fein. Immer schön auf mich achten“, dachte sich Van. Langsam, um sie nicht zu verschrecken, manövrierte er sie so, dass sie mit dem Rücken zur Box stand. Vorsichtig, ohne dass sie es merkte, kam er, ganz Raubtier, Millimeter für Millimeter näher, bis sich ihre Körper leicht berührten. Lina öffnete die Augen und erstarrte. Er war zu nahe gekommen. Sie hatte ihre Abwehr wieder hochgefahren. Gefrustet zog er sich ein wenig zurück, bis sie sich wieder entspannte und ihn anlächelte.

So würde das nichts werden. Van nahm sie an der Hand und führte sie zur Bar. Er bestellte ihr noch einen Vodka-Red und sich ein Wasser. Er musste einen klaren Kopf behalten, wenn er ein Blutbad verhindern wollte. Lina stellte sich an den Tresen und sog gierig an dem Strohhalm. Das Tanzen hatte sie wohl durstig gemacht.

*

Lina wollte sich gerade zu Van umdrehen und sich für den Drink bedanken, als sie merkte, dass er dicht hinter ihr stand. Seine Arme hatte er wie Baumstämme links und rechts neben ihr in den Tresen gepflanzt und versperrte ihr jeden Fluchtweg. Lina konnte sich nicht einmal seitlich drehen. Sie starrte direkt auf seine muskulöse Brust und seine Schultern.

*

Van konnte fühlen, wie ihr Herz schneller schlug. Wie ein kleiner Vogel, der aufgeregt im Käfig hin und her flatterte. Er konnte ihren Duft, durch den Schweiß verstärkt, fast salzig auf seiner Zunge schmecken. Van blickte zu ihr hinunter. War sie schon immer so klein gewesen? Ihre Blicke trafen sich und nervös wich sie seinen Augen aus. Er konnte ihr Verlangen körperlich spüren, doch sie versteifte sich und schob ihn mit gesenktem Blick von sich. Warum ließ sie sich nicht einfach gehen? Er knurrte leise und tauchte mit seinem Geist in ihren.

„Entspanne dich. Ich werde dir nichts tun.“ Seine Worte vibrierten wie das Schnurren einer Katze. Er spürte ihren Widerstand. Das war ihm noch nie passiert. Van verstärkte seinen geistigen Druck, nahm sie bei der Hand und führte sie zur Garderobe. Ungeschickt fingerte Lina nach ihrer Marke. Van hatte seinen Mantel schon längst und wartete an der Tür. Nachdem er seine und ihre Getränkekarte bezahlt hatte, führte er sie schweigend zum Auto.

Lina setzte einen Fuß vor den anderen, langsam und unsicher. Dann waren sie an seinem Wagen. Sie lehnte sich Halt suchend an das Auto. Van stellte sich vor sie und drückte sie mit seinem vor Hitze glühenden Körper an das kühle Blech. Er beugte sich zu ihr herunter und strich ihr sanft über die Wange, fuhr mit seinen Fingern zu ihrem Hals. Sie machte ein leises Geräusch. Van beugte sich mit einem Ohr zu ihrem Mund.

„Nei...“, sie versuchte es noch einmal und ihre Stimme wurde stärker, als sie sicherer mit zusammengekniffenen Augen Nein sagte. Er schaute erstaunt auf sie herab. Lina erwiderte seinen Blick fest.

„Ich möchte keine Affäre, und vor allem nicht mit jemandem aus der Firma. Man könnte fast meinen, du wärst ein Inkubus.“ Sie lachte unsicher. Er ließ sie gehen.

Lina öffnete die Autotür und setzte sich doch tatsächlich nach allem, was gerade passiert war, in seinen Wagen. Van strich sich mit zitternden Händen die Haare aus dem Gesicht. Er musste sich jetzt beherrschen, sie nach Hause bringen, und dann würde er einen kurzen Abstecher in den Wald machen. Wenn das Glück ihm hold war, würde er auf ein Reh treffen. Van fuhr aggressiv und ruckartig, doch Lina bekam nichts davon mit. Sie wachte erst auf, als er ihr sanft das Haar aus dem Gesicht strich.

„Wir sind da.“ Mit einem Seufzer öffnete sie die Augen und sah ihn schläfrig an.

„Danke fürs Heimbringen.“ Van umklammerte mit beiden Händen fest das Lenkrad.

„Du bist sicher, dass ich nicht mit raufkommen soll?“ Sie schüttelte den Kopf: „War ein netter Abend. Gute Nacht!“ Und weg war sie. Van saß knurrend da, beide Hände fest ums Lenkrad gekrallt.

„Nett ...“, presste er zwischen Zähnen hervor, die zu scharf waren, um menschlich zu sein.

„Nett ...“, hallte es in seinem Kopf wider, als sich nicht Finger, sondern Klauen um das Lenkrad spannten. Van trat aufs Gas und fuhr Richtung Wald. Er schaffte es gerade noch, sich eines Großteils seiner Kleidung zu entledigen, als kurze schwarze Haare jeden Teil seines Körpers bedeckten. Er fiel auf alle Viere. Hände und Füße verformten sich zu Tatzen und Krallen. Dort, wo zuvor noch ein Mann gekniet hatte, stand nun ein majestätischer schwarzer Panther, der in die Nacht hinaus brüllte und wie ein Blitz in der Dunkelheit des Waldes verschwand. Nur zwei tanzende, rot glühende Punkte, die durch das Laub huschten, waren zu sehen.

„Nett ...“, hallte es durch den Geist des Wesens, das weder Mensch noch Tier war, als sein Gebrüll den Nachthimmel erfüllte.

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Köln, Oktober 2010

„Hat er ihr wirklich den Ring gezeigt?“ Der Mann ihm gegenüber nickte.

„Er hat ihr auch den Namen unseres Ordens genannt. Außerdem ...“

„Was außerdem?“

„Es könnte eine Masche sein, um sie ins Bett zu bekommen.“

„Bruder, berichte, was du gesehen und gehört hast. Ohne Interpretationen! Die kannst du dem Großmeister überlassen!“

„Er hat sich selbst als Skinwalker bezeichnet.“ Stille folgte.

„Ein Skinwalker in Deutschland, der es auch noch gewagt hat, den Armenen Orden zu infiltrieren?“ Das würde dem Großmeister nicht gefallen. Ganz und gar nicht. Er musste vorsichtig sein. Wenn herauskam, dass er ihn persönlich zu der Bruderschaft geführt hatte, würde auch sein Kopf rollen.

„Beobachte ihn und vor allem die Frau. Frauen reden gerne. Skinwalker anscheinend auch. Wir müssen erst herausfinden, wie man ihn töten oder zumindest bannen kann, bevor wir weitere Schritte einleiten.“ Heinz mochte es nicht, um Rat zu fragen, vor allem nicht Kollegen im Außendienst. Die Armenen in Deutschland waren immer deutsch gewesen, aber auch sie konnten sich der Internationalisierung nicht entziehen.

Mit der Globalisierung war es notwendig geworden, sich auch über das Übernatürliche anderer Länder und Völker zu informieren. Es war ihre Pflicht, allen deutlich zu machen, dass diese Wesen in Deutschland nie Fuß fassen würden. Nichts und niemand würde sie daran hindern, die zersetzenden Mächte zu vernichten und die Weltenwende herbeizuführen. Die Errichtung der Außenposten war ärgerlich, aber notwendig. Die Aufnahme von Nicht-Deutschen in die Bruderschaft ging vielen zu weit, aber Heinz hieß jeden willkommen, der an ihrer Seite kämpfen wollte. Sie waren gerade genug, um Deutschland sauber zu halten. Wenn man die ganze Welt betrachtete, brauchten sie mehr, sehr viel mehr Brüder, die für ihre Sache einstanden: den Schutz der Menschen vor den Unmenschlichen.

Sie waren gut in ihrem Job. In Deutschland blieben Mythen, Sagen und Legenden genau das. Doch die Zuwanderungen, vor allem aus den slawischen Gebieten, hatten sie vor eine schwere Aufgabe gestellt. Das Land brauchte Arbeiter, aber diese Arbeiter brachten ihre Monster mit. Es hatte lange gedauert, bis sie herausgefunden hatten, wie sie einen domovoj – Hausgeist vernichten konnten. Der größte Teil der Arbeit waren die Recherchen. Wenn man einmal wusste, wie man diese Dinger beseitigte, war der Rest schnell Routine.

Die Slaven öffneten mit ihrem Aberglauben, ihren babuschki – Kräuterhexen, ihren Geistheilern und Kartenlegern Tore zu Welten, die geschlossen bleiben sollten. Heinz hatte beinahe einen Herzinfarkt bekommen, als er seine erst rusalka – russische Meerjungfrau aus dem Rhein gefischt hatte. Die Globalisierung mochte ihre Vorzüge haben, aber auch viele Schattenseiten. Schatten, aus denen soeben ein elender Skinwalker gekrochen war.

Heinz schaute sich das Foto und die Akte genauer an. Irgendwie kam die Frau ihm bekannt vor. Er vergaß nie ein Gesicht, das einmal auffällig geworden war. Darum machte er diesen Job. Er wusste, er würde sich früher oder später erinnern.

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Bonn, Oktober 2010

Wolfgang kam wie immer zu spät. Trotzdem stolzierte er herein, als gehörte ihm der Laden und das würde er bald, wenn alles nach Plan lief. Über der Neuen hing schon wieder eine dunkle Wolke. Das war jetzt schon der dritte Tag hintereinander. Etwas musste am Wochenende passiert sein. Wolfgang wusste, sie war die Woche davor mit Van essen gewesen. Vielleicht ... Er verzog das Gesicht. Sie war seine Logistik-Spezialistin. Wenn Van es wagen würde ... Mit einem lauten Plumps setzte er sich auf seinen Platz, rechts neben sie.

„Guten Morgen!“, bellte er. Sie fuhr zusammen, warf ihm einen kurzen Seitenblick zu und murmelte: „Guten Morgen.“ Oh, heute bekam er nicht einmal ein Lächeln? Das ging gar nicht!

„Alles klar bei dir?“ Sie grummelte nur leise vor sich hin.

„Alles klar bei dir?“, fragte er erneut. Sie schaute überrascht und verwirrt hoch. Ein halbes Lächeln spielte um ihren Mund. Sie kniff die Augen zusammen und sagte: „Entschuldige. Ja, alles klar, und bei dir?“ Das war ja noch schlimmer als kein Lächeln. Ohne auf seine Antwort zu warten, wandte sie sich wieder dem Bildschirm ihres Laptops zu. Das gefiel Wolfgang überhaupt nicht. Mit einem lauten Knall platzierte er schwungvoll seine Laptoptasche auf den Tisch. Lina zuckte erschrocken zusammen, sagte aber nichts und starrte wieder auf den Bildschirm, die Finger über der Tastatur, ohne zu tippen.

Besorgt sah er sie an. Also, so ging das nicht. Doch bevor er handelte, musste er sichergehen.

„Hey Lina, wusstest du, dass Van seit Längerem ´ne Freundin hat?“ Ihr Kopf schoss herum und sie schaute ihn mit großen, vor Überraschung geweiteten Augen an. Also hatte er richtig vermutet. Van und nicht der Pole, der seit einiger Zeit um Lina herumschlich und mit ihr auf Russisch plapperte. Mann, ging der ihm auf den Sack. Die sollten doch alle seine Logistik-Spezialistin in Ruhe lassen! Ein Drama und sie wäre weg. Dann würden sie ihm wieder einen Chinesen vorsetzen, der kein Englisch konnte.

„Wusste ich nicht“, sagte Lina und sah schnell wieder auf ihren Computer.

Wolfgang sprang auf und stürmte aus der Tür. Überrascht schauten ihm alle aus dem Logistik-Team nach.

*

Lina kauerte sich zusammen und versuchte, konzentriert auszusehen.

„... wusstest du, dass Van seit Längerem ´ne Freundin hat?“, hallte es ihr durch den Kopf. Dieser Hund! Wie konnte sie nur so blöd sein? Don´t fuck the company! Beruhige dich, ganz ruhig. Sie hatte nicht mit ihm geschlafen und das würde sie mit Sicherheit auch nicht tun. Sie mochte ihn ja nicht einmal, und wenn, dann nur als Kumpel. Etwas in ihr sagte, dass das nicht ganz richtig sei. Sie hatte sich sehr zusammenreißen müssen, um standhaft zu bleiben. Ihr Bett war ihr sehr einsam und leer vorgekommen, und obwohl schon Tage vergangen waren, musste sie immerzu an seine Finger auf ihrem Hals denken. Seine Hände auf ihrem Körper, wie sie ...

Sie war so blöd. Blöd, blöd! Natürlich hatte er eine Freundin. Wenn er das nächste Mal ... Bevor sie den Gedanken vollenden konnte, kam Van zur Tür hereinspaziert.

Lina blieb das Herz fast stehen. Er hatte eine lockere Jeans an und einen engen schwarzen Rolli. Mal im Ernst, waren seine Oberarme schon immer so durchtrainiert gewesen? Sie sah schnell weg und konzentrierte sich auf den Bildschirm, während sie versuchte, ihren Herzschlag zu beruhigen. Wie ein Mantra sagte sie sich immer wieder: „Er hat eine Freundin, er hat eine Freundin, er hat eine Freundin ... und hat mich trotzdem mehr als nur angebaggert!“ Die Aufregung wandelte sich in Wut. Das war gut; an ihr konnte sie sich festhalten. Er ging zu ihrem Schreibtisch.

„Lina.“

„Was?“, sagte sie kalt, ohne vom Bildschirm aufzusehen.

„Kommst du mal bitte mit?“

„Ich hab zu ...“, sie verschluckte den Rest der bissigen Antwort, als sie zu ihm hochblickte. Seine Körperhaltung war zwar entspannt, aber in seinen Augen glühte Wut. Lina fühlte, wie sie schrumpfte und aller Ärger in ihr verflog. Hatte sie etwas falsch gemacht?

„Kommst du bitte mit?“, wiederholte er ruhig. Wortlos stand Lina auf und folgte ihm mit steifem Rücken. Sie konnte die neugierigen Blicke ihrer Kollegen hinter sich spüren. Van führte sie in die Küche und schloss die Tür hinter sich. Sie war gefangen. Es gab kein Entkommen und alle ihre Sinne schlugen Alarm.

„Wolfgang hat mich gerade gefragt, was ich mit seinem Mädchen gemacht habe.“ Darauf achtend, dass genug Platz zwischen ihnen war, bewegte Lina sich langsam nach hinten. Nur keine falsche Bewegung, sonst würde er beißen.

„Ich habe ihm nichts erzählt.“ Sie streckte verteidigend ihr Kinn heraus und drückte den Rücken durch.