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Bestsellerautorin Marion Zimmer Bradley ("Die Nebel von Avalon") hat mit dem opulenten Darkover-Zyklus eine einzigartige Romanreihe geschaffen: Die fesselnde Geschichte einer geheimnisvollen fremden Welt und ihrer Bewohner ist Kult! Mit einer Gruppe mutiger Frauen machen sich die Freien Amazonen Kindra und Rohana auf eine gefahrvolle Reise: Durch die Wüste soll es gehen, um eine entführte Freundin und deren kleine Tochter aus der Gefangenschaft zu befreien. Ihr Ziel ist das Labyrinth der Trockenstädte, in denen Männer regieren – und Frauen in goldene Ketten gelegt werden…
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Seitenzahl: 429
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Marion Zimmer Bradley
Ins Deutsche übertragen von Rosemarie Hundertmarck
Copyright dieser Ausgabe © 2014 by Edel eBooks, einem Verlag der Edel Germany GmbH, Hamburg. Copyright © 1975 by Marion Zimmer Bradley Copyright First german Edition © 2001 by by Droemersche Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf., München. Die Originalausgabe erschien unter dem Titel "The Shattered Chain" Ins Deutsche übertragen von Rosemarie Hundertmarck Trotz intensiver Recherche war es dem Verlag nicht möglich, den Rechteinhaber der Übersetzung zu identifizieren bzw. einen Kontakt herzustellen. Wie bitten den Übersetzer bzw. seinen Nachfolger, sich ggf. beim Verlag zu melden.
Covergestaltung: Agentur bürosüd°, München
Konvertierung: Datagrafix
Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des jeweiligen Rechteinhabers wiedergegeben werden.
ISBN: 978-3-95530-593-2
edel.com
Von diesem Tag an entsage ich dem Recht zu heiraten, außer als Freipartnerin. Kein Mann soll mich di catenas binden, und ich werde in keines Mannes Haushalt als barragana leben.
Ich schwöre, dass ich bereit bin, mich mit Gewalt zu verteidigen, wenn man mich mit Gewalt angreift.
Ich schwöre, dass ich von diesem Tag an nie mehr den Namen eines Mannes fuhren will, sei er Vater, Vormund, Liebhaber oder Gatte, sondern einzig und allein als die Tochter meiner Mutter bekannt sein werde.
Ich schwöre, dass ich mich von diesem Tag an einem Mann nur hingebe, wenn ich den Zeitpunkt bestimmen kann und es mein eigener freier Wille ist.
Ich schwöre, dass ich ein Kind nur dann gebären will, wenn es mein Wunsch ist, das Kind von diesem Mann und zu diesem Zeitpunkt zu empfangen. Weder die Familie noch der Clan des Mannes, weder Fragen der Erbfolge noch sein Stolz oder sein Wunsch nach Nachkommenschaft sollen dabei Einfluss auf mich haben.
Von diesem Tag an enden für mich alle Verpflichtungen, die ich gegenüber Familie, Clan, Haushalt, Regent oder Lehnsherr hatte. Achtung schulde ich wie jeder freie Bürger nur den Gesetzen des Landes, dem Königtum, der Krone und den Göttern.
Ich werde an keinen Mann Rechtsansprüche stellen, dass er mich beschütze, mich ernähre oder mir helfe. Eine Treuepflicht habe ich nur gegenüber meiner Eidesmutter, meinen Schwestern in der Gilde und meinem Arbeitgeber, solange ich bei ihm beschäftigt bin.
Und weiter schwöre ich, dass jedes einzelne Mitglied der Gilde freier Amazonen für mich sein soll wie meine Mutter, meine Schwester oder meine Tochter, geboren aus einem Blut mit mir.
Ich schwöre, dass ich von diesem Augenblick an den Gesetzen der Gilde Freier Amazonen und jedem rechtmäßigen Befehl meiner Eidesmutter, der Gildenmütter und meiner gewählten Anführerin gehorchen werde. Und wenn ich ein Geheimnis der Gilde verrate oder meinen Eid breche, dann werde ich mich der Strafe unterwerfen, die die Gildenmütter über mich verhängen, und wenn ich das nicht tue, dann möge sich die Hand jeder Frau gegen mich erheben, sie sollen mich erschlagen dürfen wie ein Tier und meinen Körper unbeerdigt der Verwesung und meine Seele der Gnade der Göttin überlassen.
Die Nacht senkte sich zögernd über die Trockenstädte, als widerstrebe es der großen roten Sonne zu dieser Jahreszeit, unterzugehen. Liriel und Kyrrdis, blass im verweilenden Tageslicht, standen niedrig über den Mauern von Shainsa.
Innerhalb der Tore, am Rand des großen, windgefegten Marktplatzes, schlug eine kleine Gruppe von Reisenden ihr Lager auf, nahm den Reittieren die Sättel und den Packtieren die Lasten ab.
Es waren nicht mehr als sieben oder acht Personen, und alle trugen sie die Kapuzenmäntel, die schweren Jacken und Reithosen des Berglandes, der weit entfernten Sieben Domänen. Zu dieser Stunde, wenn die Sonne immer noch einige Kraft hatte, war es heiß im Wüstengebiet von Shainsa, aber die Reisenden zogen ihre Kapuzenmäntel nicht aus. Jeder von ihnen war mit Messer und Dolch bewaffnet, doch nicht einer trug ein Schwert.
Das genügte, eine Reihe müßiger Trockenstädter, die den Fremden beim Lageraufbau zusahen, neugierig auf sie zu machen. Da warf einer, schwitzend unter dem Gewicht der Satteltaschen, die Kapuze zurück und enthüllte einen wohlgeformten kleinen Kopf mit kurz geschnittenem dunklem Haar, wie es kein Mann – und keine Frau – der Domänen oder der Trockenstädte trug. Weitere Gaffer strömten zusammen. Für gewöhnlich passierte so wenig in den Straßen der Trockenstädte, dass die Zuschauer sich benahmen, als sei die Ankunft der Fremden ein für sie veranstaltetes kostenloses Schauspiel, und alle hielten sich für berechtigt, ihre Bemerkungen über die Darbietung zu machen.
»He, komm her, sieh dir das an! Freie Amazonen sind das, aus den Domänen!«
»Schamlose Dirnen, das sind sie, so wie sie herumlaufen und keinem Mann gehören! Ich würde sie aus Shainsa hinausjagen, bevor sie unsere anständigen Frauen und Töchter verderben!«
»Was, Hayat, du kannst deine eigenen Frauen nicht im Zaum halten? Also, meine würden um alles Gold der Domänen nicht weglaufen … Wenn ich sie losschnitte, kämen sie weinend zurück. Sie wissen, wo es ihnen gut geht …«
Die Amazonen hörten diese Reden, aber sie waren gewarnt worden und darauf vorbereitet. So verrichteten sie ruhig ihre Arbeiten, als sähen und hörten sie die Zuschauer nicht. Das machte die Männer der Trockenstadt kühner. Sie rückten näher heran und warfen mit schmutzigen Witzen um sich, von denen jetzt einige direkt an die Frauen gerichtet wurden.
»Nicht wahr, ihr habt alles, Mädchen – Schwerter, Messer, Pferde, alles, bis auf das, worauf es ankommt!«
Eine der Frauen errötete, drehte sich um und öffnete den Mund, als wolle sie antworten. Die Anführerin der Gruppe, eine hoch gewachsene, schlanke Frau mit flinken Bewegungen, sagte mit leiser Stimme in dringendem Tonfall etwas zu ihr. Die Frau senkte den Blick und fuhr fort, Heringe in den groben Sand zu treiben.
Einer der Trockenstädter, der die kleine Szene beobachtet hatte, schob sich an die Anführerin heran und murmelte herausfordernd: »Du hast die Mädchen alle fest im Griff, wie? Warum lässt du sie dann nicht allein und kommst mit mir? Ich könnte dir Sachen beibringen, die du dir nie hast träumen lassen …«
Die so Angesprochene drehte sich um, schob die Kapuze zurück und enthüllte unter ergrauendem, kurz geschnittenem Haar das hagere, sympathische Gesicht einer Frau mittleren Alters. Mit heller, deutlich zu verstehender Stimme erwiderte sie: »Alles, was du mir möglicherweise beibringen könntest, habe ich gelernt, lange bevor du dressiert worden bist, Tier. Und was Träume betrifft, so habe ich Albträume wie jedermann, aber den Göttern sei Dank, bisher bin ich immer noch daraus erwacht.«
Die Umstehenden grölten. »Das hat gesessen, Merach!« Jetzt, da sie sich gegenseitig mit ihren humoristischen Einfällen bedachten, statt die Frauen zu belästigen, widmete sich die kleine Schar Freier Amazonen eifrig ihrer Arbeit: Sie schlugen eine Bude auf, die offensichtlich dem Verkauf von Waren dienen sollte, zwei Schlafzelte und einen Unterstand, dazu bestimmt, ihre in den Bergen aufgewachsenen Pferde vor der heißen, ungewohnten Sonne der Trockenstädte zu schützen.
Einer der Zuschauer trat vor. Die Frauen machten sich auf neue Beleidigungen gefasst, aber er fragte nur ganz höflich: »Darf man sich erkundigen, welche Geschäfte ihr hier machen wollt, vahi domnis?« Er sprach mit starkem Akzent, und die angesprochene Frau blickte verständnislos drein. Doch die Anführerin antwortete für sie: »Wir haben Lederwaren aus den Domänen mitgebracht, Sättel, Geschirre und Kleidung. Morgen früh bei Tagesanbruch öffnen wir unsern Stand.«
Ein Mann aus der Menge rief: »Es gibt nur eins, was ich von Frauen kaufen würde!«
»Nimm es dir, zum Donnerwetter! Lass sie dafür bezahlen!«
»He, Lady, wollt Ihr die Hosen verkaufen, die Ihr anhabt, damit Ihr Euch wie eine Frau kleiden könnt?«
Die Freie Amazone ignorierte die höhnischen Rufe. Der Mann, der sich erkundigt hatte, fragte: »Können wir euch heute Abend zu irgendeiner Unterhaltung in der Stadt führen? Oder …« Er zögerte, sah sie forschend an und setzte hinzu: « … können wir selbst euch unterhalten?«
Sie erwiderte mit schwachem Lächeln: »Nein, vielen Dank«, und wandte sich ab. Eine der jüngeren Frauen bemerkte mit leiser, entrüsteter Stimme: »Ich hatte keine Ahnung, dass es so werden würde! Und du hast ihm gedankt, Kindra! Ich hätte ihm seine dreckigen Zähne in den Hals gerammt!«
Kindra lächelte und klopfte der anderen beschwichtigend den Arm. »Harte Worte brechen keine Knochen, Devra. Er machte ein Angebot mit so viel Höflichkeit, wie ihm zu Gebote steht, und ich antwortete ihm ebenso.«
»Kindra, werden wir wirklich mit diesen gre’zuin Handel treiben?«
Ein leichtes Stirnrunzeln Kindras rügte die Obszönität. »Natürlich! Wir müssen irgendeinen Grund haben, uns hier aufzuhalten, und Jalak kommt vielleicht noch tagelang nicht zurück. Wenn wir keinen offensichtlichen Geschäften nachgehen, fordern wir den Verdacht geradezu heraus.«
Sie ging weiter zu einer Frau, die innerhalb des Unterstands Satteltaschen aufstapelte, und fragte mit gedämpfter Stimme: »Noch kein Zeichen von Nira?«
»Bisher nicht.« Die Frau warf nervöse Blicke umher, als furchte sie, belauscht zu werden. Sie sprach reines casta,die Sprache der Aristokraten aus Thendara und den Ebenen von Valeron. »Sicher stößt sie nach Dunkelwerden zu uns. Sie wird wenig Lust haben, zwischen diesem Volk Spießruten zu laufen, und wenn jemand, der als Mann gekleidet ist, unser Lager betritt, ohne auch nur angerufen zu werden …«
»Genau.« Kindra sah zu den Neugierigen hinüber. »Und sie kennt die Trockenstädte. Trotzdem bin ich ein bisschen ängstlich. Es geht mir gegen den Strich, eine meiner Frauen in Männerkleidung auszuschicken, aber hier war das ihre einzige Chance.«
»In Männerkleidung …« Die Frau wiederholte die Worte, als meine sie, Kindra missverstanden zu haben. »Tragt ihr denn nicht alle Männerkleidung, Kindra?«
»Hier verratet Ihr nur Eure Unkenntnis unserer Sitten, Lady Rohana«, erklärte Kindra. »Ich bitte Euch sehr, leise zu sprechen, wenn man uns hören könnte. Glaubt Ihr wirklich, ich trüge Männerkleidung?« Sie schien gekränkt zu sein, und Lady Rohana sagte schnell: »Ich wollte Euch nicht beleidigen, glaubt mir, Kindra. Aber Euer Anzug ist gewiss nicht der einer Frau – wenigstens nicht der einer Frau aus den Domänen.«
Ehrerbietung und Verärgerung mischten sich in der Stimme der Freien Amazone. »Ich habe jetzt keine Zeit, Euch alle Sitten und Vorschriften unserer Gilde zu erklären, Lady Rohana. Im Augenblick genügt es …« Sie brach ab, weil die Zuschauer von neuem in wieherndes Gelächter ausbrachen; Devra und eine zweite Freie Amazone führten ihre Sattelpferde zu dem öffentlichen Brunnen inmitten des Marktplatzes. Eine von ihnen bezahlte das Wassergeld mit den Kupferringen, die überall östlich von Carthon als Währung galten, während die andere die Tiere zum Trog brachte. Als sie zurückkehrte, um Devra beim Tränken zu helfen, fasste sie einer der Tagediebe um die Taille und zog sie grob an sich.
»He, Hübsche, willst du diese Schlampen nicht im Stich lassen und mit mir kommen? Ich kann dir vieles zeigen, und ich wette – aua!« Seine Bemerkung ging in einem Wut- und Schmerzgeheul unter. Die Frau hatte einen Dolch aus der Scheide gerissen und von unten nach oben seine schmutzige, zerlumpte Kleidung aufgeschlitzt. Auf seinem ungesunden Fleisch kroch eine rote Linie vom Unterbauch bis zum Schlüsselbein.
Der Mann, der mehr vor Schreck als vor Schmerz stöhnte, wurde von seinen Freunden weggezerrt. Kindra trat auf die Frau zu, die ihr Messer abwischte.
»Verdammt, Gwennis! Jetzt hast du uns alle verdächtig gemacht! Dein Stolz auf deine Fertigkeit im Messerkampf kann unsere Mission vereiteln! Als ich nach Freiwilligen für diese Reise fragte, dachte ich an Frauen, nicht an verzogene Kinder!«
Gwennis’ Augen füllten sich mit Tränen. Sie war noch ein Mädchen, fünfzehn oder sechzehn. Mit zitternder Stimme antwortete sie: »Es tut mir Leid, Kindra. Was konnte ich machen?«
»Glaubst du wirklich, du seist in Gefahr gewesen, am hellen Tag und vor so vielen Augen? Du hättest dich ohne Blutvergießen befreien und ihn lächerlich machen können, ohne das Messer auch nur zu ziehen.« Kindra nahm das Messer vom Boden auf und wischte das restliche Blut von der Klinge. »Wenn ich es dir wieder gebe, kannst du es dann da lassen, wo es hingehört, bis es gebraucht wird?«
Gwennis senkte den Kopf und murmelte: »Ich schwöre es.«
Kindra gab ihr das Messer und meinte freundlich: »Es wird bald genug gebraucht werden, breda.«
Sie überließ es den Frauen, die Pferde fertig zu tränken, und stellte mit grimmigem Lächeln fest, dass die Menge aus Müßiggängern sich wie durch Zauberei verflüchtigt hatte.
Die Sonne versank hinter den niedrigen Hügeln, und die kleinen Monde erstiegen das Himmelsgewölbe. Der Marktplatz lag eine Weile verlassen da. Dann tauchten einige der Trockenstädterinnen auf, eingehüllt in ihre unbequemen Röcke und Schleier, um an dem öffentlichen Brunnen Wasser zu kaufen. Jede von ihnen bewegte sich unter leisem Kettengeklirr. Nach der Sitte der Trockenstädte trugen sie um die Handgelenke metallene Reifen. Sie waren mit einer langen Kette verbunden, die durch einen Ring im Gürtel lief. Wenn nun eine Frau eine Hand ausstreckte, wurde die andere eng gegen den Ring an ihrer Taille gezogen.
Das Lager der Freien Amazonen füllte sich mit den Düften des Essens, das an ihren kleinen Feuern kochte. Einige der Trockenstädterinnen kamen näher und betrachteten die fremden Frauen mit Neugier und Verachtung: ihr kurz geschnittenes Haar, ihre schmucklose männliche Tracht, ihre ungebundenen Hände, die Hosen und die flachen Sandalen! Die Amazonen starrten, sich dieser Blicke bewusst, mit ebensolcher Neugier, die nicht ohne Mitleid war, zurück. Schließlich ertrug es die Rohana genannte Frau nicht länger. Sie stellte ihren fast unberührten Teller hin, stand auf und ging in das Zelt, das sie mit Kindra teilte. Kurz darauf folgte die Anführerin der Amazonen ihr und sagte erstaunt: »Ihr habt ja gar nichts gegessen, meine Dame. Darf ich Euch etwas bringen?«
»Ich habe keinen Hunger«, stieß Rohana hervor. Sie warf ihre Kapuze zurück. In dem dämmerigen Licht zeigte sich Haar von der feuerroten Farbe, die sie als Mitglied der telepathischen Kaste der Comyn auswies, der Kaste, die die Sieben Domänen seit undenklichen Zeiten regierte. Zwar war es geschnitten worden, aber nichts konnte seine Farbe verbergen. Kindra runzelte die Stirn, als die Comyn-Frau fortfuhr:
»Der Anblick dieser Trockenstädterinnen hat mir den Appetit verdorben. Wie ertragt Ihr es, das anzusehen, Kindra, die Ihr so für die Freiheit der Frauen eintretet?«
Kindra zuckte leicht die Schultern. »Ich empfinde keine große Sympathie für sie. Jede Einzelne von ihnen könnte sich befreien, wenn sie nur wollte. Wenn sie lieber Ketten tragen, als das Interesse ihrer Männer zu verlieren oder sich von ihren Müttern und Schwestern zu unterscheiden, werde ich mein Mitleid nicht an sie verschwenden und mir erst recht nicht Schlaf oder Appetit vergehen lassen. Sie nehmen ihre Gefangenschaft hin wie ihr von den Domänen die eure, und um die Wahrheit zu sagen, ich sehe da keinen großen Unterschied. Vielleicht sind die Trockenstädterinnen sogar ehrlicher, denn sie bekennen sich zu ihren Ketten und tun nicht, als seien sie frei. Eure Ketten dagegen sind unsichtbar – und lasten doch mit dem gleichen Gewicht auf euch.«
Rohanas blasses Gesicht wurde rot vor Zorn. »Dann frage ich mich, warum Ihr dieser Mission überhaupt zugestimmt habt! Geht es Euch nur darum. Eure Bezahlung zu verdienen?«
»Darum natürlich auch«, erwiderte Kindra ungerührt. »Aber es geht mir hier noch um mehr«, setzte sie in sanfterem Ton hinzu. »Lady Melora, Eure Verwandte, wurde gegen ihren Willen gefangen genommen und hat ihre Form der Dienstbarkeit nicht selbst gewählt. Wie Ihr mir berichtet habt, überfiel Jalak von Shainsa – möge seine Mannheit verdorren! – ihre Eskorte, erschlug ihre Leibgarde und entführte sie mit Gewalt, weil er aus Rache oder aus purer Lust an der Grausamkeit eine Leronis der Comyn als seine Frau – oder seine Konkubine, da bin ich mir nicht sicher – versklaven wollte.«
»In den Trockenstädten scheint es so gut wie dasselbe zu sein«, bemerkte Lady Rohana bitter, und Kindra nickte.
»Einen sehr großen Unterschied erkenne ich nirgends, vai domna, aber ich erwarte nicht, dass Ihr mir beipflichtet. Wie dem auch sei, Lady Melora wurde in eine Sklaverei geführt, die sie nicht gewählt hatte, und ihre überlebenden Verwandten konnten oder wollten sie nicht rächen.«
»Einige haben es versucht.« Rohanas Stimme bebte. »Sie verschwanden spurlos, der Erste, der Zweite und der Dritte. Dieser war meines Vaters jüngster Sohn, mein Halbbruder, und er war Meloras Pflegebruder und als ihr Spielgefährte aufgewachsen.«
»Die Geschichte habe ich gehört. Jalak schickte den Ring zurück, der noch am Finger saß, und brüstete sich, ebenso oder schlimmer mit jedem anderen zu verfahren, der käme, sie zu rächen. Aber das ist zehn Jahre her, Lady, und wenn ich in Lady Meloras Schuhen stände, würde ich nicht am Leben bleiben, um weitere Verwandte in Gefahr zu bringen. Inzwischen hat sie zwölf Jahre lang in Jalaks Haushalt gelebt, und da kann ihre Sehnsucht nach Rettung heute nicht mehr groß sein. Man könnte sich vorstellen, dass sie sich mit ihrem Schicksal abgefunden hat.«
Rohana errötete. »Das haben wir tatsächlich geglaubt. Cassilda erbarme sich meiner, auch ich machte ihr in Gedanken Vorwürfe und wünschte ihr eher den Tod als ein Leben zu unser aller Schande in Jalaks Haus.«
»Und doch seid Ihr jetzt hier«, stellte Kindra fest, und obwohl es keine Frage war, antwortete Lady Rohana. »Ihr wisst, was ich bin: eine Leronis, eine im Turm ausgebildete Telepathin. Melora und ich waren als junge Mädchen zusammen im Dalereuth-Turm. Keine von uns wollte fürs ganze Leben dort bleiben, aber bevor ich den Turm verließ, um zu heiraten, lernten wir, gegenseitig unsere Gedanken zu lesen. Dann kam ihre Tragödie. In den darauf folgenden Jahren hatte ich die Sache so gut wie vergessen; für mich war Melora tot oder doch wenigstens völlig außerhalb der Reichweite meiner Gedanken. Dann – es ist nicht länger als vierzig Tage her – kam Melora über die große Entfernung zu mir, kam zu mir im Geist, wie wir es zu tun lernten, als wir junge Mädchen im Turm von Dalereuth waren …«
Ihre Stimme klang wie von weit weg; Kindra merkte, dass die rothaarige Frau nicht mehr zu ihr, sondern zu einer Erinnerung sprach. »Ich hätte sie fast nicht wieder erkannt«, berichtete Rohana, »sie hatte sich so sehr verändert. Nein, sie hatte sich nicht damit abgefunden, Jalaks Frau und Gefangene zu sein. Es war einfach so, dass sie …« – Rohanas Stimme schwankte – »… nicht die Ursache von noch mehr Tod und Qual sein wollte. Nun erfuhr ich, dass mein Bruder, ihr Pflegebruder, vor ihren Augen zu Tode gefoltert worden war, als Warnung für sie, damit sie keinen Retter mehr herbeirufe …«
Kindra verzog das Gesicht vor Entsetzen und Abscheu. Rohana brachte ihre Stimme mit großer Anstrengung wieder unter Kontrolle und fuhr fort: »Melora sagte mir, dass sie endlich, nach so vielen Jahren, mit Jalaks Sohn schwanger sei und dass sie lieber sterben als ihm einen Erben aus Comyn-Blut schenken wolle. Sie bat nicht für sich selbst um Befreiung. Ich glaube – ich glaube, sie möchte sterben. Doch sie will ihr anderes Kind nicht in Jalaks Händen lassen.«
»Ein anderes Kind?«
»Eine Tochter«, erklärte Rohana leise, »die sie gleich nach ihrer Gefangennahme empfangen hat. Zwölf Jahre alt. Alt genug …« – sie schluckte – « … alt genug, um Ketten angelegt zu bekommen.« Sie schluchzte und wandte das Gesicht ab. »Für sich selbst bat sie um nichts. Sie flehte mich nur an, ihre Tochter wegzuholen, von Jalak weg. Nur dann … nur dann könne sie in Frieden sterben.«
Kindras Gesicht war grimmig. Bevor ich eine Tochter gebären würde, damit sie als Gefangene, in Ketten in den Trockenstädten lebt, dachte sie, würde ich Hand an mich selbst und an das Leben in mir legen oder das Kind erwürgen, wenn es meinen Leib verließ! Die Frauen aus den Domänen sind weich, Feiglinge sind sie alle! Nichts davon klang in ihrer Stimme mit, als sie die Hand auf Rohanas Schulter legte und ruhig sagte: »Ich danke Euch, dass Ihr mir das erzählt habt, Lady. Ich hatte es nicht verstanden. Also geht es bei unserer Mission weniger darum, Eure Verwandte zu retten …«
»Als ihre Tochter zu befreien; das ist es, um was sie bat. Obwohl – wenn Melora befreit werden kann …«
»Nun, meine Gruppe und ich haben gelobt, alles zu tun, was wir können«, sagte Kindra. »Ihr werdet bald Eure ganze Kraft brauchen, Lady, und es ist weder Mut noch Klugheit in einem leeren Bauch. Es schickt sich nicht, dass ich einer Comynara Befehle erteile, aber wollt Ihr Euch jetzt nicht meinen Frauen anschließen und Eure Mahlzeit beenden?«
Rohana verließ das Zelt, und Kindra, die im Eingang stehen blieb, beobachtete, wie sie sich ans Feuer setzte und einen Teller mit dem Eintopf aus Fleisch und Bohnen entgegennahm.
Kindra folgte ihr nicht gleich; sie dachte darüber nach, was vor ihnen lag. Wenn es an Jalaks Ohren gelangte, dass Leute aus den Domänen in seiner Stadt waren, mochte er bereits auf der Hut sein. Oder verachtete er die Freien Amazonen so, dass es ihm nicht der Mühe wert schien, sich gegen ihren Angriff zu rüsten? Sie hätte darauf bestehen sollen, dass sich Lady Rohana das Haar färbte. Sollte einem Spion Jalaks eine rothaarige Comyn-Frau auffallen … Ich hätte nie gedacht, dass sie bereit wäre, es abzuschneiden.
Mit einer unbewussten Geste berührte Kindra ihr kurzes, ergrauendes Haar. Sie war nicht in die Gilde der Freien Amazonen hineingeboren worden; sie war ihr beigetreten, und die Erinnerung an das, was sie dazu veranlasst hatte, schmerzte immer noch so sehr, dass ihre Lippen schmal wurden und ihre Augen sich grimmig in weite Fernen richteten. Sie sah zu Rohana hin, die im Kreis der Amazonen am Feuer saß, ihre Suppe löffelte und dem Gespräch der Frauen lauschte. Ich war früher einmal ganz wie sie: gefügig mich einordnend in das einzige Leben, das ich kannte. Ich fasste den Entschluss, mich selbst zu befreien. Rohana hat eine andere Wahl getroffen. Auch mit ihr habe ich kein Mitleid.
Melora hatte jedoch keine Wahl. Ihre Tochter ebenso wenig. Sachlich dachte sie, dass es für Melora wahrscheinlich zu spät sei. Nach zehn Jahren in den Trockenstädten konnte nicht mehr viel von ihr übrig sein. Aber offenbar war noch genug von dem übrig, was sie gewesen war, um sie zu einer ungeheuerlichen Anstrengung zur Rettung ihrer Tochter anzuspornen.
Lady Rohana hat gut daran getan, zu mir zu kommen. Nach so vielen Jahren haben ihre Comyn-Verwandten zweifellos gewünscht, Melora sei tot, und den Gedanken an ihre Versklavung, die für sie ein Vorwurf war, verdrängt. Das ist letzten Endes der Grund, warum es die Freien Amazonen gibt. Jede Frau weiß zumindest, dass es eine Alternative für sie gibt … Wenn sie die den Frauen auf Darkover auferlegten Einschränkungen akzeptieren, tun sie es aus eigener Wahl und nicht, weil sie sich nichts anderes vorzustellen vermögen.
Kindra wollte gerade das Zelt verlassen, ans Feuer zurückkehren und selbst auch essen, als sie einen leisen, seltsamen Laut vernahm: das Pfeifen eines Regenvogels, der sich hier in den Trockenstädten niemals hören ließ. Alarmiert fuhr sie herum und sah die kleine, schmächtige Gestalt, die sich unter der rückwärtigen Zeltklappe durchwand. Es war sehr dunkel, aber sie wusste, wer das war. »Nira?«, flüsterte sie.
»Falls du nicht glaubst, ein Regenvogel sei verrückt geworden und hierher geflogen, um zu sterben.« Nira stellte sich auf die Füße.
Kindra sagte: »Schnell, zieh diese Sachen aus. Eine Frau mehr am Feuer wird niemand bemerken, während du in Männerkleidung eine zweite Menschenmenge anlocken würdest. Davon hatten wir schon genug, als wir abluden.«
»Hab ich gehört«, meinte Nira trocken und schlüpfte aus ihren Stiefeln. Sie faltete ihre Verkleidung zusammen und zog die anderen Sachen an.
»Hast du Probleme gehabt?«, erkundigte Kindra sich flüsternd. »Gibt es Neuigkeiten, Kind?«
»Keine Probleme; man hat in mir nichts anderes gesehen als den Lehrling irgendeines Händlers aus den Bergen, einen noch bartlosen Jungen vor dem Stimmbruch. An Neuigkeiten habe ich nur den Klatsch auf dem Marktplatz und etwas von dem, was die Diener vor Jalaks Tür geredet haben. Die ›Stimme‹ Jalaks, ein Mann, der das Große Haus beaufsichtigt, wenn der Lord verreist ist, hat die Nachricht erhalten, Jalak, seine Frauen und Konkubinen und sein ganzer Haushalt kämen vor morgen Mittag zurück. Eine der Sklavinnen erzählte mir, sie kämen nur deshalb nicht schon heute Abend, weil seine Lady hochschwanger sei. Irgendeine alte Hebamme behauptet, aus der Art, wie Lady Melora ihr Kind trage, tief und breit, erkenne sie, dass es ein Junge ist, und solange Jalak darauf hofft, wird er nichts tun, was sie in Gefahr bringen könnte …«
Kindras Gesicht verzog sich vor Abscheu. »Also lagert Jalak in der Wüste? Wie weit von hier entfernt?«
Nira zuckte die Schultern. »Nicht mehr als ein paar Meilen, wie ich gehört habe. Vielleicht hätten wir einen Angriff auf seine Zelte durchführen sollen …«
Kindra schüttelte den Kopf. »Wahnsinn. Hast du es vergessen? Die Trockenstädter sind paranoid; ihr Leben besteht aus Fehden und Kämpfen. Glaub mir, unterwegs wird Jalak so bewacht sein, dass drei Abteilungen der Garde von Thendara nicht an ihn herankommen könnten. In seinem eigenen Haus mag er ein bisschen sorgloser sein. In keinem Fall dürfen wir einen offenen Angriff wagen. Wir müssen schnell zuschlagen, einen oder zwei Wachposten töten und höllisch schnell davonreiten. Sonst haben wir keine Chance.«
»Das stimmt.« Nira trug wieder ihre eigenen Sachen, und sie wollten schon das Zelt verlassen, als Nira die Hand auf Kindras Arm legte und sie zurückhielt. »Warum müssen wir Lady Rohana mitnehmen? Sie reitet erbärmlich, sie wird uns in einem Kampf überhaupt nichts nützen.«
»Lady Melora muss benachrichtigt werden«, erwiderte Kindra, »dass sie sich bereithält, jeden Augenblick mit uns die Stadt zu verlassen. Die geringste Verzögerung könnte uns alle verderben. Lady Rohana ist im Stande, ihre Gedanken zu erreichen, ohne Jalak zu warnen oder seinen Argwohn zu erwecken, wie es auch die allervorsichtigste Botschaft täte.« In der Dunkelheit des Zelts grinste Kindra schief. »Außerdem, wer unter euch möchte die Aufgabe übernehmen, auf der Rückreise für eine schwangere Frau zu sorgen? Daran fände keine von uns viel Geschmack – und hätte auch kein Geschick, sollte die Dame Pflege brauchen. Oder möchtest du es versuchen?«
Nira lachte verlegen. »Avarra und Evanda mögen es verhüten! Ich nehme alles zurück!« Damit ging sie zu den anderen Frauen ans Feuer.
Kurz darauf folgte Kindra ihr, nahm den Teller, den man ihr aufgehoben hatte. (Das Essen war kalt geworden, aber sie aß es, ohne es zu merken.) Die Frauen unterhielten sich leise, während sie das Geschirr einsammelten und eine Wache aufstellten. Im Geist ging Kindra ihre Liste durch.
Diese Gruppe hatte sie selbst aus Freiwilligen ausgewählt, und mit allen außer dem jungen Mädchen Gwennis hatte sie früher schon gearbeitet. Nira, die sich als Mann ausgeben konnte, wenn es sein musste, und die sogar gelernt hatte – die Gesegnete Cassilda allein wusste, wie –, ein Schwert zu benutzen. Gegen Trockenstädter mögen wir es brauchen. Nach der Charta der Gilde Freier Amazonen war es einer Amazone nicht erlaubt, ein Schwert zu führen. Die Männer der Domänen fühlen sich zu sehr bedroht, wenn Frauen mit ihren kostbaren Spielzeugen umgehen! Aber dies Gesetz wurde nicht immer beachtet. Kindra hatte keine Gewissensbisse, dass sie Nira gestattet hatte, den anderen Unterricht im Schwertkampf zu geben.
Dann war da Leeanne, die mit vierzehn zum Neutrum gemacht worden war und wie ein schlanker Junge aussah: ohne Brüste, mit einem harten, schmächtigen Körper. Eine andere, an der diese Operation vorgenommen worden war – sie war illegal, tauchte aber immer wieder als fait accompli auf –, war Camilla, die einer guten Familie in den Kilghardbergen entstammte. Ihren Familiennamen Lindir benutzte sie nicht mehr, denn sie war schon vor langer Zeit enterbt und verstoßen worden. Camilla näherte sich dem mittleren Alter, und wie Kindra hatte sie den größten Teil ihres Lebens als Söldnerin verbracht; sie trug zahlreiche Narben von Messerstichen. Lori war in den Hellers geboren und kämpfte nach der Sitte der Bergvölker mit zwei Messern, und dann war da Rafaella, Kindras eigene Verwandte. Natürlich waren nicht alle Freien Amazonen Kämpferinnen, aber für diese Mission hatte Kindra hauptsächlich Frauen ausgesucht, die sich im Kampf auszeichneten. Devra gehörte nicht dazu, doch Kindra hatte nie jemanden kennen gelernt, der sich in den weg- und steglosen Bergen und Wüsten besser zurechtfand. Deshalb hatte Kindra auch sie mitgenommen und ihr gesagt, sie solle sich aus Nahkämpfen heraushalten. Die Dicke Rima war in ihrer äußeren Erscheinung und ihrem Benehmen ganz und gar weiblich und so schwer, dass nur die größten Pferde sie tragen konnten. Kindra wusste jedoch, dass sie geschickt darin war, es den anderen im Lager gemütlich zu machen, und so war sie auf einer Reise wie dieser eine wertvolle Gefährtin. Selbstverständlich konnte auch Rima sich wie alle Amazonen verteidigen. Und sie hat noch andere Fähigkeiten, die wir vielleicht brauchen werden, bevor wir Thendara erreichen! überlegte Kindra. Zu der Gruppe gehörten außerdem noch das Mädchen Gwennis und Lady Rohana.
Jeder, der die Freien Amazonen kannte, dachte Kindra, würde sofort merken, dass die Lady keine von ihnen war: ihr Gang, ihre Sprache, ihr Reiten. Aber es war niemand hier, die Göttin sei gelobt, der so viel über sie wusste!
Die Frauen waren fertig damit, das Geschirr wegzuräumen. Kindra gab ihnen ihren leeren Teller, den die Dicke Rima mit Sand scheuerte. Rafaella holte ihre kleine rryl, legte sie sich über die Knie und schlug ein paar einleitende Akkorde an. »Kindra, willst du für uns singen?«
»Nicht heute Abend, Rafi.« Sie lächelte, um ihrer Ablehnung die Schärfe zu nehmen. »Ich muss Pläne machen; ich werde euch Übrigen zuhören.«
Devra begann ein Lied, und Kindra saß mit dem Kopf in den Händen da, in Gedanken nicht bei der Musik. Sie wusste, dass sie jeder dieser Frauen ihr Leben anvertrauen konnte. Lady Rohana war eine Unbekannte, aber sie hatte mehr Gründe als die anderen, sich nach Kindras Befehlen zu richten. Die Freiwilligen hatten sich zumindest teilweise aus dem Grund gemeldet, dass sie wie jede Freie Amazone von Dalereuth bis zu den Hellers den Trockenstädtern einen tödlichen Hass entgegenbrachten. Die Domänen selbst hatten mit den Trockenstädtern einen Friedensvertrag geschlossen und hielten ihn. Aber es gab keine Liebe zwischen Domänen und Trockenstädten, nur die bittere Erinnerung an die langen Kriege, die keiner von beiden Seiten einen endgültigen Sieg gebracht hatten. Aus politischer Klugheit mochten die Domänen den augenblicklichen Waffenstillstand akzeptieren und ihre Frauen mit ihnen. Die Domänen leben unter den Gesetzen von Männern. Sie nehmen die Versklavung der Trockenstädterinnen hin, weil ihnen der Gedanke gut tut, wie gütig sie im Vergleich dazu zu ihren eigenen Frauen sind. Sie sagen, alle Menschen müssen ihren eigenen Lebensstil wählen.
Keine Frau, die ihr Haar geschnitten und den Eid der Freien Amazonen abgelegt hatte, würde diesem Kompromiss jemals zustimmen!
Kindra hatte sich frühzeitig von einem Leben losgerissen, das ihr jetzt als Sklaverei vorkam. Die unsichtbaren Fesseln wogen ebenso schwer wie die Armbänder und Ketten, die die Trockenstädterinnen als Besitztum eines Mannes kennzeichneten. Jede Frau konnte sie abschütteln, dachte Kindra, wenn sie bereit war, den Preis dafür zu zahlen.
Ob ich ihnen meine Pläne jetzt mitteile? Sie hob die Hand und lauschte. Lady Rohana, die eine süße, kleine, unausgebildete Stimme hatte, und Gwennis mit ihrem hellen Sopran sangen ein Rätsellied aus den Domänen. Kindra entschloss sich, sie nicht zu stören. Sollen sie diese Nacht noch ruhig schlafen. »Stellt Wachen um das Lager auf«, sagte sie. »Einige dieser Trockenstädter könnten merkwürdige Vorstellungen darüber haben, wie Freie Amazonen gern ihre Nächte verbringen, und ich bezweifle, dass uns ihre Gedanken interessieren würden.«
Mittags brannte die Sonne erbarmungslos auf den Marktplatz von Shainsa nieder, und die ausgebleichten Häuser wandten dem Licht blinde Gesichter zu.
Trotz der Beleidigungen und Hohnreden, die sich die Freien Amazonen von den Eckenstehern hatten gefallen lassen müssen, hatten sie den ganzen Vormittag an ihrer Bude, einem leichten Korbgeflecht, das auf Pferderücken transportiert werden konnte, glänzende Geschäfte gemacht. Das in den Bergen gegerbte Leder erzielte in den Trockenstädten gute Preise, denn dort ließen sich nur wenige Haustiere halten, und Leder und Tuch waren knapp. Bewegung entstand auf dem Marktplatz, ein beinahe sichtbares Gemurmel klang auf, und Müßiggänger, Passanten und Kinder strömten auf die großen Tore zu. Jalak, dachte Kindra. Es muss Jalak sein, der zurückkommt. Nichts anderes könnte so viel Unruhe erregen.
Sie übergab die Bude der Obhut Devras und der Dicken Rima und ließ sich zusammen mit Rohana innerhalb der Menschenmenge auf die Tore zutreiben. So leise, dass man sie in sechs Zoll Entfernung nicht mehr hören konnte, flüsterte sie: »Jetzt oder nie ist der Augenblick, wo Ihr eine Botschaft an Eure Verwandte durchbekommen müsst. Sagt ihr, sie soll sich bereithalten, jede Sekunde mit uns aufzubrechen. Es mögen uns für den Überfall nur ein paar Minuten zur Verfügung stehen, und wir müssen handeln, wann immer sich uns die Gelegenheit dazu bietet. Vor dem Dunkelwerden geht es nicht; danach kann es jederzeit sein. Findet auch genau heraus, wo sie schläft, ob sie bewacht wird und von wie vielen, auch wo ihre Tochter schläft, ob allein oder mit anderen königlichen Töchtern zusammen.«
Rohana stützte sich auf den Arm der Freien Amazone; die ungeheure Verantwortung machte sie krank und schwach. Nun lag plötzlich alles auf ihren Schultern.
Hörner erklangen in einem seltsamen, heiseren Tusch. Zuerst kam ein Dutzend seiner Leibgardisten in einem so fremdartigen Aufputz, dass Rohana nur den allgemeinen Eindruck von barbarischer Pracht empfing: Schärpen und Wehrgehenke, kunstvoll vergoldete Tuniken, hohe Aufbauten als Kopfschmuck. Dann cralmacs, bepelzte und geschwänzte Humanoide mit großen, goldfarbenen Augen, die nur ihr eigenes Fell und juwelenbesetzte Schärpen trugen. Sie ritten auf den großen, schwankenden oudhraki der fernen Wüsten, und sie schienen eine ganze Legion zu sein. Weitere Gardisten, diesmal weniger prunkvoll und zeremoniell gekleidet, aber mit den langen, geraden Schwertern und Dolchen der Trockenstädter bewaffnet. Rohana dachte: Nur gut, dass Kindras Gruppe nicht versucht hat, ihn des Nachts in seinem Lager zu überfallen. Und dann kam Jalak selbst.
Rohana musste sich abwenden, bevor sie mehr als einen flüchtigen Blick auf sein mageres, falkenkühnes Gesicht, sonnengebleicht unter dichtem hellem Haar, geziert mit einem sich grimmig sträubenden Schnurrbart, erhascht hatte. Sie fürchtete, ein Hass von so ungeheuerlicher Gewalt müsse sich seinem Objekt mitteilen, und er könne gar nicht umhin, ihre Gedanken wahrzunehmen. Für Rohana, seit ihrer Kindheit Telepathin, war die Gedankenübertragung eine Realität. Aber Jalak ritt ungerührt mit starrem Gesicht inmitten seiner Leibgarde und sah weder rechts noch links.
Neben ihm ritten zwei seiner Favoriten, so vermutete Rohana, Sklavinnen oder Konkubinen, ein schlankes Mädchen mit weißem, wattigem Haar. Ihre Kette war mit Juwelen besetzt. Sie beugte sich zu Jalak hinüber und zwitscherte und säuselte ihm etwas zu, als sie vorüberritten. Der dünne, elegante Junge an Jalaks anderer Seite war zu gelockt, zu geschmückt und zu parfümiert, um etwas anderes als ein Lustknabe zu sein.
Hinter Jalak und seinen Favoriten kam eine Reihe von Frauen, und unter ihnen, auffallend durch ihr feuerrotes Haar (jetzt leicht von Grau durchzogen), war Melora. Rohana schwindelte. Sie war darauf vorbereitet gewesen; Melora war in Gedanken zu ihr gekommen. Aber sie jetzt im Fleisch zu sehen, zur Unkenntlichkeit verändert … (Und doch, Cassilda erbarme sich unser, ich hätte sie überall wieder erkannt … ) Rohana wurde so von Schmerz und Mitleid überwältigt, dass sie im nächsten Augenblick ohnmächtig werden musste.
Kindras Hand schloss sich schmerzhaft um ihren Arm, die Nägel gruben sich ins Fleisch, und Rohana riss sich zusammen. Dies war ihr Beitrag zu der Rettung, dies konnte nur sie allein vollbringen. Entschlossen griff sie hinaus und stellte den Kontakt mit dem Geist ihrer Verwandten her.
– Melora!
Sie spürte den Schrecken, das Zusammenzucken und Herzklopfen. Wenn Melora sie nur nicht sah und durch irgendein Zeichen verriet, dass sie sich kannten!
– Lass dir nichts anmerken; halte nicht nach mir Ausschau, Liebling. Ich bin dir nahe, zwischen den Freien Amazonen.
– Rohana! Rohana, bist du es?
Rohana sah von ihrem Platz in der Menge – und sie war plötzlich sehr stolz auf ihre Verwandte –, dass Melora weiterritt, als sei nichts geschehen. Ihre Augen blickten ins Leere. Sie saß ein bisschen zusammengesunken im Sattel. Das angespannte, dünne, vergrämte Gesicht unter dem ergrauenden roten Haar zeigte nichts als Müdigkeit und Schmerz. Von Furcht und Gewissensbissen gepackt, dachte Rohana: Sie ist so dick, so nahe ihrer Zeit, das Kind beschwert sie so sehr. Wie können wir sie nur in Sicherheit bringen? Sie sandte Melora die konzentrierte Frage.
– Kannst du reiten, Melora, kannst du bei so weit fortgeschrittener Schwangerschaft reisen?
Die Antwort klang apathisch … Man merkt gleich, dass du die Trockenstädte nicht kennst. Von mir würde verlangt, dass ich reite, auch wenn ich meiner Zeit noch näher wäre.Dann wurden Meloras Gedanken grimmig vor Hass. – Ich kann, was ich muss! Um frei zu werden, würde ich durch die Hölle reiten!
Mühsam, Stückchen um Stückchen, gab Rohana die Botschaft Kindras weiter, erhielt Meloras Antwort, während die Karawane weiterzog und den Marktplatz überquerte. Kindra und Rohana beobachteten das peinliche Schauspiel nicht länger, sondern gingen zu ihrer Bude zurück. Sobald sie sicher drinnen waren, berichtete Rohana über die erhaltenen Informationen.
»Jalak schläft in einem Zimmer an der Nordseite des Gebäudes, zusammen mit seinen Favoriten und Melora. Nicht etwa, dass er zurzeit Interesse daran hätte, ihr Bett zu teilen, so sagte sie mir, aber sie ist augenblicklich sein kostbarster Besitz, da sie seinen Sohn trägt, und er lässt sie nie aus den Augen. Innerhalb des Raums sind keine Wachen, jedoch zwei Wachen und zwei cralmacs,mit Messern bewaffnet, im Vorzimmer. Bis zu dieser letzten Schwangerschaft schlief Jaelle – das ist ihre Tochter – im Zimmer ihrer Mutter, dann wurde sie zu den anderen königlichen Töchtern umquartiert. Sie beklagte sich, bei dem Lärm, den die Jüngeren machen, könne sie nicht schlafen. Jalak ist nachsichtig mit kleinen Mädchen, wenn sie hübsch sind, und wies ihr ein eigenes Zimmer zu. Es befindet sich eine Kinderfrau bei ihr. Das Zimmer liegt am hinteren Ende der Suite für die königlichen Kinder und sieht auf einen Innenhof voller Schwarzfruchtbäume hinaus.«
Kindras nächste Frage vorwegnehmend, erklärte Rohana: »Ich habe den Plan des Gebäudes so genau im Kopf, dass ich ihn aus dem Gedächtnis zeichnen könnte.«
Kindra lachte. »Lady, Ihr würdet keine schlechte Amazone abgeben! Vielleicht ist es unser Schade, dass Ihr Euch nicht für unsern Weg entschieden habt.« Sie trat zu der Frau, die sich noch in der Bude befand, und sagte mit leiser Stimme: »Verkaufe, was du kannst; was bis Dunkelwerden nicht verkauft ist, müssen wir liegen lassen. Baut die Bude nicht ab. Wenn sie stehen bleibt, glauben die Leute, dass wir morgen früh noch hier sein werden. Sorgt dafür, dass die Pferde, die wir als Packtiere benutzt haben, jederzeit für Melora und ihre Tochter gesattelt werden können …«
Langsam, langsam sank die rote Sonne auf die Hügel hinab. Rohana meinte, in ihrem ganzen Leben habe sich noch kein Tag so in die Länge gezogen, jede Stunde wurde zu Menschenaltern. Nicht einmal der Tag, als mein zweiter Sohn geboren wurde, als ich stundenlang auf einem Streckbett des Schmerzes lag und mein Körper zerrissen wurde … da konnte doch wenigstens noch etwas getan werden. Jetzt kann ich nur warten … und warten … und warten …
Kindra ging an ihr vorüber und sagte leise: »Dieser Tag muss Eurer Verwandten noch länger Vorkommen, Lady.« Rohana versuchte zu lächeln. Das stimmte.
»Betet zu Eurer Göttin, dass bei Lady Melora nicht heute die Wehen einsetzen«, fuhr Kindra fort. »Das wäre das Ende unserer Hoffnungen. Wir könnten immer noch ihre Tochter retten, aber wenn das Große Haus hell erleuchtet ist und Hebammen hin und her rennen … dann misslänge uns vielleicht auch das.«
Rohana holte tief Atem. Und sie ist ihrer Zeit so nahe … dachte sie, böser Vorahnungen voll.
Und doch fand auch dieser Tag, wie es allen Dingen dieser Welt bestimmt ist, sein Ende. Die Trockenstädterinnen kamen, verschleiert und kettenklirrend, um Wasser am Brunnen zu kaufen. Wieder blieben sie ein Weilchen, trotz ihrer Verachtung fasziniert, und beobachteten, wie die Amazonen umhergingen, die Pferde fütterten, ihr Essen kochten. Rohana half, so gut sie konnte; es war leichter, wenn ihre Hände eine Beschäftigung hatten. Sie sah die Trockenstädterinnen kommen und gehen und dachte an Melora, die das Gewicht der juwelenbesetzten Kette an ihren Händen und das Gewicht von Jalaks verhasstem Kind in ihrem Leib trug. Sie war als Mädchen so leicht und flink, immer zum Tollen und Lachen aufgelegt …
Die Mahlzeit war zu Ende. Kindra machte Rafaella ein Zeichen, ihre Harfe zu nehmen und ein paar Akkorde zu greifen. Mit gedämpfter Stimme sagte sie: »Kommt nahe heran und passt auf. Tut, als ob ihr nur der Musik zuhörtet.«
Rohana fragte: »Könnt Ihr ›Die Ballade von Hastur und Cassilda‹ spielen?«
»Ich glaube schon, Lady.«
»Ich will sie singen. Sie ist sehr lang, und meine Stimme«, setzte sie ehrlich hinzu, »ist so schwach, dass kein Vorübergehender es seltsam finden wird, wenn ihr sehr leise seid, damit ihr mich versteht – sie ist jedoch stark genug, dass Kindra noch leiser sprechen und doch verstanden werden kann.«
Kindra nickte. Es freute sie, dass Rohana ihren Plan so schnell begriff. Rafaella spielte eine kurze Einleitung, und Rohana begann:
Der See erglänzt in Sternenpracht,Die Heide lag in dunkler Nacht,Still waren Feld und Baum und Stein …«
Die anderen Frauen scharten sich dicht um sie, als lauschten sie der alten Ballade. Rohana merkte, dass ihre Stimme schwankte, und kämpfte darum, sie ruhig zu halten. Es musste ihr irgendwie gelingen, sich an all die endlosen Strophen zu erinnern und sie vorzutragen, während Kindra jeder Einzelnen der Amazonen eingehende Anweisungen gab. Nimm dich zusammen, befahl sie sich. Das ist etwas, das du kannst, während die anderen die eigentliche Arbeit tun … die gefährliche Arbeit, das Kämpfen …
Und doch sind sie Frauen. Ich bin mit der Vorstellung aufgewachsen, der Kampf sei für Männer; ich könnte niemals ein Messer ziehen, zustechen, Blut fließen sehen, vielleicht selbst verwundet werden, sterben …
Sing, verdammt noch mal, Rohana! Hör auf zu denken und sing!
»Am Strand strahlt auf ein heller Schein.Der Gott wie in Juwelen lag;Cassilda sah es und erschrak.«
Während sie in ihrem Gedächtnis nach den nächsten Zeilen suchte, hörte sie Kindra mit leiser, angespannter Stimme die Informationen wiederholen, die sie ihr gegeben hatte. Dabei zeigte die Anführerin auf den Plan, den sie beim Schein des Feuers in den Sand gekratzt hatte.
»Jalak schläft hier, zusammen mit seinen Favoriten und Melora. Im Zimmer sind keine Wachen, aber gleich vor der Tür …«
»Im Morgenlicht Camilla kam …«
»Nein, verdammt noch mal, ich habe eine Strophe ausgelassen.« Ärgerlich auf sich selbst brach Rohana ab. Dann wurde ihr klar, dass es nicht darauf ankam. Es hörte ihr sowieso niemand zu.
»Im Morgenlicht Camilla kam;Der Gott die ird’sche Speise nahmAus Kirschen, Wein und weißem Brot,Da schwand der Glanz, der ihn umloht.Cassilda Scheu nicht mehr empfand,Sie kam und legt in seine HandDie Sternenblume gold und blau.Da ward er sterblich wie die Frau.«
»Sind die Fenster über Leitern erreichbar?«, erkundigte sich Gwennis, und Kindra fuhr sie an: »Gut möglich, wenn wir Leitern hätten! Nächste Frage, aber bitte keine dummen mehr! Wir haben genug Zeit, um zu töten, aber so viel Zeit auch wieder nicht!«
»Von einem bösen Wahn getriebenHat Alar Zandru sich verschriebenUnd schmiedete in HöllennachtEin Schwert mit dunkler Zaubermacht.«
»Devra und Rima, ihr bleibt hier, und in dem Augenblick, da wir in Sicht kommen, brecht ihr auf. Achtet darauf, dass die Wächter am Tor nicht aufschreien …« Kindra sah Rima bedeutungsvoll an.
Die dicke Frau legte die Hand auf ihr Messer und nickte grinsend. Kindra fuhr fort: »Camilla, du reitest leichter als jede andere von uns; du nimmst das Kind auf deinen Sattel. Lady Rohana – nein, singt weiter! Ihr reitet neben Melora, für den Fall, dass sie irgendetwas braucht. Wir werden genug damit zu tun haben, Verfolgern auszuweichen und uns derer anzunehmen, die uns vielleicht einholen.«
Rohana fühlte sich von Entsetzen gepackt und am ganzen Körper geschüttelt wie ein Rabbithorn im Griff eines Wolfs. Ihr versagte die Stimme. Sie versuchte, es mit einem Husten zu bemänteln, und sang entschlossen weiter:
»Verborgen blieb vor seinem Blick
Der Plan, der menschliches Geschick
Gestaltete an Halis Strand,
Indem er Gott und Weib verband.
Ohn ’einen Laut Camilla fiel …«
Verdammt, verdammt, schon wieder habe ich zwei ganze Strophen ausgelassen …
»Sie bot ihr Herz dem Schwert als Ziel,
Das Alar hielt in seinen Händen,
Um Hasturs Leben zu beenden.«
»Lori, du befasst dich mit den cralmacs; du kennst ja ihre Art zu kämpfen. Diese langen Klingen … sonst noch etwas? Leeanne?«
»Vergesst nicht, dass die Trockenstädter ihre Schwerter manchmal vergiften. Vernachlässigt nicht einmal einen Kratzer. Ich habe eine Salbe dabei, die ihre stärksten Gifte neutralisieren soll …«
»Vernichtet war durch ihn ein Leben,
Und Hastur hatt’ sein Wort gegeben
Dem Herrn des Lichts, dass dann sogleich
er heimkehr’ in sein eignes Reich.«
»Bereiter als jetzt werden wir nie sein«, sagte Kindra leise. »Beende das verdammte Lied, Rafaella, und hol deinen Dolch.«
Dankbar begann Rohana die letzten Strophen:
»Die Wolkenwellen in dem See
Singen ein Lied von altem Weh,
Und in der feuchten Nebel Weben
Immer noch die Tränen schweben.«
Es war ein scheußliches Gefühl zu wissen, dass sie jetzt alle zuhörten, über jeden Ton ungeduldig waren und nur darauf warteten, dass sie zum Schluss kam. Verdammt, nicht ungeduldiger als ich selbst!
»Für Hasturs Sohn in wildem Land
Die königliche Stadt entstand,
Und für Camillas Tat ein Mal
Errichtete man aus Opal.«
Sie verzichtete auf das kurze Nachspiel, sprang auf und überließ es Rafaella, die Harfe wegzubringen. Schon am Nachmittag hatte sie die wenigen Gegenstände, die sie auf diese Reise mitgenommen hatte, zu einem kleinen Bündel verpackt. Innerhalb des Zeltes verstauten die Amazonen Lebensmittel und notwendige Ausrüstungsgegenstände schnell und zielstrebig beim Licht einer einzigen abgeschirmten Kerze in ihren Satteltaschen. Rohana sah zu und blieb ihnen aus dem Weg. Devra und die Dicke Rima gingen in Richtung der Stadttore davon, und Rohana erschauerte von neuem: Diese beiden Frauen hatten dafür zu sorgen, dass die Tore unbewacht waren, wenn die anderen in eiliger Flucht zurückkehrten …
Sei nicht so zimperlich! Die Wachen dort sind Trockenstädter; wahrscheinlich haben sie den Tod dutzendfach verdient …
Aber sie haben mit keiner von uns Streit! Es müssen ein paar gute Männer unter ihnen sein, die nichts verbrochen haben, als dass sie so lebten, wie ihre Vorfahren jahrhundertelang gelebt haben …
Ärgerlich auf sich selbst, unterdrückte Rohana den Gedanken. Ich habe Kindras Schar angeworben, um Melora und ihr Kind hier herauszuholen. Habe ich wirklich geglaubt, das könne ohne Blutvergießen geschehen? Man kann keine Falken aus dem Nest nehmen, ohne Klippen zu erklettern!
Kindra winkte die rothaarige Frau zu sich und flüsterte: »Ich hatte daran gedacht, Euch auch zurückzulassen. Wir werden Euch jedoch brauchen, falls Eure Verwandte Hilfe nötig hat – oder Trost Kommt mit uns, Lady, nur gebt auf Euch Acht, wenn gekämpft wird. Keine von uns wird Zeit oder Gedanken übrig haben, um Euch zu beschützen, und Jalaks Männer könnten Euch für eine von uns halten und Euch angreifen. Habt Ihr irgendeine Waffe?«
»Hier.« Rohana zeigte den kleinen Dolch vor, den sie wie alle Comyn-Frauen zum Schutz ihrer eigenen Person bei sich trug. Rohana zitterte leicht. Die hartknochige Hand der Amazone legte sich auf ihre Schulter, nur leicht und für einen Augenblick, zögernd, als fürchte Kindra, die Edelfrau könne ihr Mitgefühl zornig zurückweisen. »Meine Dame, glaubt Ihr, wir hätten keine Angst? Wir haben nicht gelernt, uns nicht zu fürchten, sondern mit unserer Angst weiterzumachen, was die Frauen auf unserer Welt selten lernen.« Sie wandte sich ab, und ihre Stimme klang brüsk aus der Dunkelheit. »Komm, Nira, du gehst voran. Du kennst den Weg Schritt für Schritt, wir kennen ihn nur aus Lady Rohanas Zeichnungen und Karten.«
Rohana, ans Ende der kleinen Gruppe von Frauen gedrängt, fühlte ihr Herz so laut klopfen, dass sie meinte, man müsse es in den staubigen, verlassenen Straßen hören. Sie bewegten sich wie Geister oder Schatten, hielten sich im Lee der Gebäude, stahlen sich auf lautlosen Füßen vorwärts.
Die Stadt war ein Labyrinth. Und doch dauerte es nicht lange, bis die Frauen vor Rohana stehen blieben und dicht gedrängt über einen offenen, windgefegten Platz zu dem Großen Haus hinübersahen, wo Jalak von Shainsa herrschte. Das Haus war ein großes, viereckiges Gebäude aus hell gebleichtem Stein und schimmerte schwach im Licht eines einzelnen abnehmenden Mondes: eine blinde, fensterlose Front, eine Festung, die beiden Türen von hoch gewachsenen Posten in Jalaks barbarischer Livree bewacht. Die Amazonen schlichen durch die Schatten und an dem Gebäude entlang. Rohana hatte Kindras Plan gehört und hielt ihn für gut. In den Trockenstädten wurde jede Außentür eines Hauses bewacht; zwei Posten konnten sie gegen einen direkten Angriff für unbegrenzte Zeit halten. Aber wenn sie irgendwie durch das kleine Seitentörchen in den Hof gelangten, den Garten – der zu dieser Stunde hoffentlich verlassen war – durchquerten und in das Haus durch die unbewachten Innentüren eindrangen, mochten sie auch in Jalaks Schlafzimmer gelangen.
Während Rohana sang, hatte sie Kindra sagen hören: »Hoffen wir, dass in den Trockenstädten viele Monde lang Frieden geherrscht hat. Vielleicht haben die Posten dann Langeweile und sind nicht so wachsam wie gewöhnlich.«
Rohana konnte den Posten an der Seitentür jetzt sehen. Evanda sei gelobt, nicht mehr als einer. Er lümmelte sich gegen die Wand. Sein Gesicht erkannte sie nicht, aber Rohana war Telepathin, und obwohl sie sich gar keine Mühe gab, empfing sie seine Gedanken deutlich: Langeweile, Überdruss, das Gefühl, ihm sei alles willkommen, sogar ein bewaffneter Angriff, was die Monotonie seiner Wache unterbrechen würde.
»Gwennis«, flüsterte Kindra. »Du bist dran.«
Absichtlich stieß Gwennis mit dem Fuß einen Stein gegen die Wand, und Rohana hörte die Anführerin der Amazonen denken: Dies ist der Augenblick des höchsten Risikos …
Der Posten richtete sich auf, von dem Geräusch alarmiert.
Er ist wachsam, wir können ihn nicht überraschend angreifen. Deshalb müssen wir ihn von dem Tor weglocken, ihn mitten auf den Platz bringen, dachte Kindra.
Gwennis hatte Messer und Dolch abgelegt und den Verschluss ihrer Jacke ein Stückchen geöffnet. Sie schlenderte auf den mondbeschienenen Platz hinaus. Der Posten stand sprungbereit. Gleich darauf entspannte er sich. Es war ja nur eine Frau.
Wir übertölpeln ihn, ja. Wir ziehen Vorteil aus der jahrhundertelangen Verachtung der Trockenstädter für Frauen als hilflose, harmlose Haustiere. Opfer, dachte Kindra bitter.
Der Posten zögerte nicht länger als eine halbe Minute, bis er seinen Platz an der Tür verließ und entschlossen auf das junge Mädchen zuging. »He, Hübsche – fühlst du dich einsam? Eine von den Amazonen, wie? Hast du sie satt bekommen und siehst dich nun nach besserer Gesellschaft um?«