Dietrich Bonhoeffer - Volker Schoßwald - E-Book

Dietrich Bonhoeffer E-Book

Volker Schoßwald

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Beschreibung

Dietrich Bonhoeffer, ein großer Theologe und für viele auch eine Lichtgestalt. Er lehrte "Seelsorge" und er praktizierte sie auch in der Gefangenschaft. Lehre und Praxis stehen in einer Spannung zueinander. Volker Schoßwald setzt sich mit kritischer Sympathie mit dieser Facette Bonhoeffers auseinander. Dabei kommt er auch nicht umhin, die gesellschaftlichen Entwicklungen der 30er Jahre im Deutschen Reich mit den Entwicklungen in der Bundesrepublik und ihrem geographischen Umfeld heute zu reflektieren.

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Denen gewidmet, die von Bonhoeffer gelernt haben, der Komplexität der Welt ins Auge zu schauen und aus dem Glauben heraus zu differenzieren statt in Schablonen zu denken und zu reden und zugleich in der Komplexität das Leben zu lieben und vor allem die Lebenden zu lieben.

Inhaltsverzeichnis

Was bewegt dieses Buch?

„Aus grauer Städte Mauern...“

Der familiengeschichtliche Hintergrund

1906: Bonhoeffers Jahrgänger

Nach 1918: die neue Theologie

Wo sind die Speichen?

Bonhoeffer als Seelsorger

Finkenwalde: Der Seelsorgelehrer

Zeitgenossen in Bonhoeffers Kontext

Theologen *1906: Ernst Käsemann und Karl Steinbauer

Pfarrersein als Widerstand

„Wer bin ich?“ Auf der Suche nach einer Identität

Anhang: Barmen und der ganz Andere

Statt eines Nachworts: Die Hölle und die Teufel

Literatur

1 Was bewegt dieses Buch?

Als ich begann, dieses Buch vorzubereiten, hatte ich vor allem Bonhoeffer als Seelsorger im Blick und dabei seinen Hintergrund, der auch von den preußischen Junkern geprägt war. Eine fremde Welt…

Doch die erneute Beschäftigung mit seiner Biographie führte mich an den Punkt, wo ich erschreckende, im ganz ernsten Sinne mich erschreckende Parallelen zur bundesdeutschen und europäischen Gegenwart wahrnahm. Was sich ganz offensichtlich spätestens seit 1930 in Deutschland abspielte, hatte Entsprechungen zu dem, was uns die Medien über unsere Gegenwart vermitteln. Die Faschisten, die sich in der AfD gruppierten, wurden plötzlich mehrheitsfähig und damit für machtorientierte Politiker anderer Parteien interessante Partner. Die Faschisten sind wieder salonfähig für die, die kein Gewissen haben, sondern den Sinn ihres Lebens im machtpolitischen Erfolg sehen.

Als in Bayern beheimateter Bürger weiß ich, dass vordergründige Bekenntnisse zu Menschenwürde und Demokratie für keine Inhalte stehen, sondern lediglich für Opportunität. Neue Bundesländer wie Sachsen sind anscheinend außen vor, weil die Kommunisten als ethische Rechtsnachfolger der Nazis christlich geprägte menschliche Werte ausradierten. Wir stehen in der BRD auf wackeligen Beinen. Meine Offenheit gegenüber Zuwanderern und Flüchtlingen bekommt Risse, wenn ich wahrnehme, dass mit diesen Menschen auch antidemokratische Einstellungen und massive Fremdenfeindlichkeit in relevanter Größenordnung immigrieren.1

In Bonhoeffers Geschichte erkennen wir Parallelen und realisieren erschreckt, wie kurz der Weg der Nazis zur Macht war. Die Wahlergebnisse nach 1931 / 2017 ließen sich nicht prognostizieren. Wir wissen nicht, was die AfD in der BRD noch erreicht, nachdem wir mit der DDR einen kompletten undemokratischen Staat „integrierten“ und dies auch mit einer wachsenden Zahl von demokratiefremden Immigranten machen. Das ist anders als bei Bonhoeffer, aber die Dynamik könnte ähnlich sein. Wieviel „Juden“ wählten Hitler und wähnten sich bei ihm auf der besseren Seite.

„Nur die allergrößten Kälber – wählen ihren Schlächter selber…“ hieß es. Problematisch wird es, wenn die Menge dieser Kälber machtpolitisch entscheidend wird. Den vernünftigen Bonhoeffers war 1930 völlig klar, dass dies nicht passieren würde. Hitler? Völlig unwählbar – so würde es die Mehrheit der Deutschen sehen. Nein, die Mehrheit der Deutschen sah es nicht so… und Jahrzehnte später wurde in den USA ein Donald Trump zum Präsidenten gewählt, den die Europäer nur als Witzfigur wahrgenommen hatten.

Bei meiner neuerlichen Bonhoefferlektüre erlebte ich etwas Merkwürdiges: Ich erwartete und hoffte parallel zu Zeitgenossen Bonhoeffers, dass sich die Vernunft und die christliche Ethik durchsetzen würden. Das erwartete ich bei jedem Schritt der faschistischen Eskalation, obwohl mein geschichtliches Wissen eindeutig war. Ich konnte die Bonhoeffers gut verstehen: So schlimm kann es gar nicht werden, dazu sind die Menschen zu vernünftig… Aber es wurde so schlimm.

So bleibt für mich die Frage: Gibt es die Speichen, in die wir fallen müssen?

In die Zeit meiner intensiven Beschäftigung fiel das 500. Reformationsjubiläum. Es war geprägt durch eine ganze „Luther-Dekade“, wobei der Personenkult verbal abgelehnt wurde, aber durchgehend praktiziert. Das Fazit am 31. Oktober 20172 war ziemlich eindeutig: Es gab ganz viele gute und erfolgreiche Veranstaltungen, aber sie blieben weit hinter den Erwartungen an Aufmerksamkeit in der nichtkirchlichen Öffentlichkeit zurück. In Luthers Stammland wurde die rassistische und faschistische AfD zur stärksten Partei und die Mitglieder der evangelischen Gemeinde seiner Geburts- und Todesstadt Eisleben machten gerade mal 6% aus. Das ist deutschlandweit noch lange nicht so, aber die Christen bewegen sich auf unter 50% zu. In meiner Wirkungsstadt Nürnberg verlieren wir derzeit etwa eine Pfarrstelle (bezogen auf Mitglieder) pro Jahr. Die feste Burg „christlicher Gott“ ist zu einer Playmobilfestung geschrumpft, vertreten durch einen Playmobil-Luther (das bisher meistverkaufte Modell dieser Firma!). Bonhoeffers Ankündigung eines religionslosen Zeitalters mag differenziert betrachtet nicht zutreffen, aber ein kirchenloses Zeitalter ist es durchaus geworden.

Die Nürnberger Nachrichten, eine große regionale Zeitung mit einem Chefredakteur, der Mitglied der evangelischen Landessynode in Bayern ist, widmete ihre Zeitung vom 31.10.2017 zwar dem Reformationsjubiläum, konnotierte es aber dezidiert dadurch, dass auf der Titelseite prangte: „Halleluja oder lieber Halloween?“ und „Weil viele lieber Halloween feiern, präsentieren wir die gruseligsten Orte der Region“.

Aber gehen wir aus diesen Fragen der Gegenwart zurück in die Vergangenheit, schauen wir erst einmal zu Bonhoeffers Anfängen.

1 Ob „Türken“ den Despoten Erdogan wählen oder „Russen“ den Diktator Stalin und als seine Wiedergeburt Putin verehren – wohlgemerkt, jeweils in der BRD ansässige Menschen, oder Asylbewerber sich gegenseitig ob ihrer Herkunft / Religion verachten und anfeinden – oder die Dänen die volle Gültigkeit der Menschenrechte auf Dänen beschränken wollen, geht in dieselbe problematische Richtung.

2 Ich schreibe dies genau an diesem Tag!

2 „Aus grauer Städte Mauern...“

Als ich mir überlegte, wann ich zum ersten Mal bewusst etwas von Dietrich Bonhoeffer mitbekam, irritierte mich die Berechnung, dass ich seinerzeit seiner Lebenszeit näher war als ich heute meiner eigenen Jugend bin. Durch die Generation meiner Eltern ragte Bonhoeffer noch ein Stück in mein Leben hinein.3

Ein Saal unserer Auferstehungskirche in Schweinfurt, 1959 eingeweiht, hieß „Dietrich-Bonhoeffer“, neben dem klassischen „Johannes-Bugenhagen-Saal“4. Auch andere Säle waren nach WiderstandskämpferInnen benannt. Das war mein Kontext. Heute merke ich, dass für die Generation meiner Eltern und meines jungen Ortspfarrers Dietrich Bonhoeffer eine Orientierung bot.

Für meinen Vater, Jahrgang 1927 war Jungvolk und Hitlerjugend einschließlich der Lektüre von „Mein Kampf“5 selbstverständlich und begeisternd, meiner Mutter, Jahrgang 1924 gefiel die Arbeit beim RAD6. Der Krieg wurde als schlimm erlebt, der Zusammenbruch des „Dritten Reiches“ aber von einem erheblichen Teil dieser Generation als Katastrophe, in der sie das Fundament ihres Lebens im Sinne einer weltanschaulichen Basis verloren. „Heil Hitler!“ bedeutete ja wirklich „Heil“ auch im emotionalen Sinn. Mein Vater notierte in seinem Kriegstagebuch, als er vom Tod Hitlers (natürlich ein Heldentod fürs Vaterland) hörte, seine Erschütterung, aber auch sein unerschütterliches Festhalten am Führer und seiner Sache, für die er weiterkämpfen wollte. Das änderte sich in den nächsten Tagen und Wochen. Aber woran sollte er sich als junger Mann orientieren?

Die deutschen Klassiker kamen in Frage und mit der Zeit auch die Kirche als eine Institution der innerlichen Orientierung. Wer aber war diese Kirche? Wer aber war der Gott, um den es dort ging? Wer war der Heiland, wenn Adolf Hitler es nicht war?

In diese Zeit nach dem Zusammenbruch fiel seine Entscheidung für den Beruf, die Partnersuche, die Familiengründung und dann die Wohnung, in der das Familienleben stattfinden sollte. Für viele junge Familien hieß dies „Neubaugebiete“. Ein neuer Stadtteil entstand und war bevölkert mit Arbeiterfamilien, Großteils „Landflüchtlingen“, die aus dem Umland nach Schweinfurt zogen und tatsächlichen Flüchtlingen, die aus den Ostgebieten kamen. Die Straßennamen waren häufig nach reichsdeutschen Städten wie Liegnitz oder Breslau benannt.

Im neuen Ortsteil wurde eine Kirche gebaut, die Auferstehungskirche7. Eine neue Gemeinde formte sich, viele junge Väter oder Mütter engagierten sich und wollten eine Zukunft für ihre Familie mitschaffen. Das Gebäude war nur über große Freitreppen zu erreichen8, im Erdgeschoss befanden sich die Gemeinderäume – dass Kriegsversehrte, die gehbehindert waren, die Gottesdienste nicht besuchen konnten, nahm der optisch geniale Architekt Olaf Gulbransson mitsamt der Mehrheit der Entscheidungsträger in Kauf.

Ein Gemeinderaum war nach Dietrich Bonhoeffer benannt. Das war natürlich eine inhaltliche Entscheidung. Der junge Gemeindepfarrer Dr. Johannes Thomas9 passte gut dazu. Bei Dietrich Bonhoeffer ging es ja nicht nur um den Widerstand gegen die Nazi-Diktatur, den er mit seinem Leben bezahlte, ihm ging es auch im Christsein außerhalb der Bourgeoisie. Und hier, im Arbeiterviertel, hätte er sich seine Arbeit gesucht, wenn er hier eine Stelle bekommen hätte. Es war das, was er in New York erlebt und gelernt hatte: Jesus gehört in die Welt, in der das Evangelium nicht aufgrund von Bildung und Herkunft ankommt.

Mit dieser Gemeinde sind wir nahe an Bonhoeffers kirchlichen Interessen, die sich bildeten, bevor er erkannte, dass der Kampf gegen das gigantisch Böse zu bestreiten war. Wenn wir Bonhoeffer als Pfarrer und Seelsorger wahrnehmen wollen, müssen wir in die Welt des Proletariats hinein, wie man früher sagte, oder in die Gesellschaft der einfachen Arbeiter.

Bonhoeffer kommt aus der High-Society. Das gilt sowohl für die schwäbische Bonhoefferlinie, die, obwohl ursprünglich aus den Niederlanden stammend lokalpolitisch stets ein gewichtiges Wort mitzureden hatten wie auch für die mütterliche von-Hase-Linie aus der Welt der Professoren.

Obwohl im Elternhaus politisch informiert aufgewachsen sozialisierte sich der Junge fern des Proletariats. Robert Liebknecht machte wenige Jahre vor ihm in Berlin Abitur, als sein Vater, der Arbeiterführer Karl von Rechtsradikalen 1919 ermordet wurde. Dietrich muss dies mitbekommen haben, aber das Thema „Proletariat“ ging wohl an ihm vorüber. Seine Brüder schienen hier wacher zu sein und wurden auch durch die Familie mit ihren äußerst starken Bindungen nicht auf eine bestimmte Richtung eingeschworen.

Bethge notiert nur, dass Walter Rathenau am 24.6.22 ermordet wurde und Bonhoeffer als Oberprimaner die tödlichen Schüsse im Klassenzimmer hörte10. Heute ist sein damaliges Grunewald-Gymnasium die Walther-Rathenau-Schule.

2.1 New York

Um für sozialkritische Themen zu erwachen, musste Dietrich erst in die USA. Auch dort brachte ihn nicht ein waches politisches Bewusstsein zu den Brennpunkten, sondern eine ausprägte Neugierde, Lebensbereiche, die ihm eigentlich verschlossen waren, kennenzulernen.

Als Bonhoeffer in New York war und kirchliche Kreise im schwarzen Harlem intensiv kennenlernen durfte, war Chuck Berry gerade mal drei Jahre alt; dieser schrieb dann in seinen Lebenserinnerungen, was es hieß, als Mensch aufzuwachsen, der vielleicht nicht wirklich ein Mensch war, sondern etwas, was noch darunter stand. Ich weiß auch nicht, was der Vater von Donald Trump damals machte, der ja zum Ku Klux Klan gehörte. Aber für ein Niederreißen der Rassenschranken wird er nicht eingetreten sein.

Bonhoeffer schien nicht nur keine Berührungsängste zu haben, sondern er integrierte sich, soweit es ging, ins gottesdienstliche Leben einer schwarzen Gemeinde in Harlem.

Als Jugendlicher las ich ein Jugendbuch zum Krieg aus den Zwanzigern11: Josef Magnus Wehner, „Sieben vor Verdun“. Haften blieb in meinem Gedächtnis die Schilderung, wie affenartige Wesen heimtückisch unsere Soldaten angegriffen und töteten. Damit beschrieb Wehner afrikanische Soldaten im französischen Heer. Jenes Buch war seinerzeit weitverbreitet und die dahinterstehende Sicht der Menschen ebenfalls. Wenn also Bonhoeffer in einer schwarzen Gemeinde mitarbeitete, musste er einen alternativen Zugang zum Menschsein haben, für den „andere“ und in gewisser Weise „fremde“ Menschen zugleich Brüder und Schwestern waren.

Mein Pfarrer der Auferstehungskirche mit dem Dietrich-Bonhoeffer-Saal wusste, dass seine Gemeinde in der Nähe einer großen US-Kaserne lag. So stellte er den Kontakt her. Wir konnten zwar nicht wie Bonhoeffer nach Harlem reisen, aber zu uns in die Gemeinde kamen in den sechziger Jahren evangelische Christen aus der Kasernen. Es waren Baptisten und sie waren schwarz. Für uns als Kinder wirkten sie vor allem deshalb fremd, weil sie eine andere Sprache sprachen, aber der Pfarrer machte uns klar, dass sie auch zu einer evangelischen Gemeinde gehörten und damit verband uns etwas. Das gemeinsame Singen auch von US-Volkslieder habe ich immer noch im Ohr.

Hier wurde Bonhoeffers Erbe umgesetzt – zu einem Zeitpunkt, wo Altersgenossen von Bonhoeffer durchaus in der Gesellschaft mitredeten. Es war also nicht das Erbe eines alten Mannes, sondern ein quasi zeitgleiches. Wenig später wurde Martin-Luther King ermordet und damit aus Sicht von uns Kindern einer von uns.

193012 hielt Bonhoeffer auf Kuba13 eine Weihnachtspredigt über die Geschichte, in der Moses ins gelobte Land schauen kann. Bonhoeffer nahm Bezug auf Arbeitslosigkeit und Rassismus. Dieser Text lag auch der letzten Ansprache von King zugrunde, der bekannte: „Ich habe das gelobte Land gesehen…“, damit ein Land ohne Rassengrenzen meinend14.

Bonhoeffer ahnte 1930 nicht, dass in seinem Heimatland gerade die Weichen in die Gegenrichtung gestellt wurden, in einer Radikalität, Brutalität und Menschenverachtung, an die die US-amerikanische Rassentrennung allenfalls punktuell kam. Für Bonhoeffer empfing durch die Zeit in Harlem einen unglaublichen Impuls, der später in Deutschland, in Berlin Wirkung zeigte.

Trotz der schwierigen Rahmenbedingungen vor allem zwischen 1914 und 1930 schilderte Eberhard Bethge Kindheit und Jugend von Dietrich Bonhoeffer eher idyllisch, vor allem durch den Familienzusammenhalt in einem meist gutsituierten System getragen.

Die USA, Afrika und das ersehnte Indien lagen noch in weiter Ferne, als die Brüder Bonhoeffer Deutschland per Pedes erkundeten.

An der aktuellen Jugendbewegung, nahm Dietrich nur sehr begrenzt teil, mit einer Episode bei den Pfadfindern. Die Wandervogelbewegung mit ihrem Zupfgeigenhansl und dem sich ausbreitenden Jugendherbergswerk15 erreichte nur in ihren Ausläufern die Familie. Wenn Dietrich zur Zupfgeige griff und entsprechende Lieder sang, wird auch bei ihm die emotionale Saite zur Schwingung gekommen sein. In den Erzählungen meiner etwas älteren Großmutter von ihrer Wandervogelzeit spielte bei aller Romantik auch die Horizonterweiterung eine Rolle sowie der Rückgriff auf die Tradition der Walz, die es ja bei Akademikern so nicht gab: „Den soll man als Gsell erkennen oder gar ‚nen Meister nennen, der noch nirgends ist gewest, nur gesessen in sein’m Nest.“16

Bonhoeffers sozialer und kultureller Background ermöglichte ihm viel mehr als den meisten seiner Altersgenossen. Studium in Rom, USA-Aufenthalt, London… Wer erlebte sonst so etwas? Einer meiner Urgroßväter beispielsweise, ein Müller in Pfungstadt bei Darmstadt war auf die Walz gegangen, immerhin bis Budapest – und dabei viel gelernt. So ermunterte er seine Kinder: Einer ging nach Frankreich, einer nach England und eine Tochter nach Italien. Trotzdem blieb dies die Ausnahme, mit einer großen Ausnahme wiederum: Viele Männer sammelten Auslanderfahrungen im Krieg. Das galt schon für die knappe Generation vor Bonhoeffer im ersten Weltkrieg17 und auch für Bonhoeffers Generation im zweiten Weltkrieg.

Der Aufenthalt in den USA war nicht einer der primären Träume von Bonhoeffer. Lieber wäre er nach Indien gereist und hätte Gandhi getroffen. Aber die USA-Zeit prägte ihn nachhaltig.

Seine sozialkritischen Gedanken brachte er konstruktiv in seine berufliche Weiterentwicklung ein. Dass er in einer Negergemeinde aktiv mitwirkte, zeichnet ihn schon als „Weltbürger“ aus, der sein Zeitgenosse Albert Einstein ganz bewusst sein wollte. Oh, schrieb ich gerade „Negergemeinde“? Habe ich das Unwort mit „N“ gebraucht? In meiner Bonhoefferbiographie finde ich es auch und ich halte es nach wie vor für sinnvoll, in Deutschland mit dieser Begrifflichkeit zu operieren. Das Problem ist schließlich nicht, dass wir ein lateinisches Wort für „Schwarz“ zugrundlegen, sondern wie wir damit umgehen. Egal, welcher Begriff heutzutage politisch correct ist. Entscheidend ist doch, in welchem Ton ich über Mitmenschen rede. Bei „Black is beautiful“ taucht eben das englische Wort für „niger“ („black“) auf. Anders wäre es mit Begriffen, die zunächst abwertend sind und dann auf Personen übertragen werden – beispielsweise von den Nazis auf „entartete“ Kunst.18 Eindeutig abwertend und ohne neutralen Kontext ist „Nigger“ im US-amerikanischen. Darin steckt bereits Menschenverachtung. John Lennons Song „The woman is the nigger of the world“ darf den Begriff beinhalten, weil er die Diskriminierung thematisiert.

Bonhoeffer reagierte auf die Menschen selbst, und nicht auf deren Hautfarbe oder entsprechende Bezeichnung.19 Freilich kam er aus einem Elternhaus, das sich im Rassenwahn nur schwer behaupten konnte, weil sein Vater immerhin Psychiater Nummer Eins im Reich war.

Das war er schon vor der „Machtergreifung. Nach dem „Dritten Reich“ erklärte er, immer gegen Hitler gewesen zu sein, schon weil seine Fachkollegen sich über dessen Pathologie eindeutig geäußert hätten. Das macht die Sache natürlich noch problematischer: Wenn die Fachleute in der Hauptstadt nicht in der Lage sind, einen psychisch als pathologisch einzustufenden Mann als Regierungschef des Landes zu verhindern, wer dann? Heute denken wir da auch an Mister Trump. Bei Erdogan, Putin, Assad und Co. liegt die Sache anders, weil sie inzwischen in keinen demokratischen Strukturen mehr operieren. Freilich kann man sich angesichts der Erfolge der AfD fragen, ob es nicht auch ein pathologisches Wahlvolk geben kann.

Karl Bonhoeffer hatte einen „jüdischen“ Schwiegersohn und musste im Zusammenhang mit „geistigen Behinderungen“ lebenswertes und nicht-lebenswertes Leben unterscheiden. Für jemanden, der die Medizin für eine objektive Wissenschaft hält, muss dies furchtbar sein.

Gehen wir noch einmal zurück in Bonhoeffers Zeit in den USA. Dort war er eben auch als Deutscher präsent. Das schien noch relativ unproblematisch, wenn er als jemand, der die Theologie von Karl Barth über den Ozean transportiere, auftrat. Was aber, wenn man ihn als Deutschen ansprach auf das, was sich in Deutschland gerade tat? Bonhoeffer war keineswegs auf der Höhe der tagesaktuellen Zeit und konnte das auch kaum sein, weil die Entwicklung im Deutschen Reich rasant verlief.

Er setzte sich gegen negative Darstellungen von Deutschland wortgewaltig zur Wehr. Deutschland wurde als unzivilisiert und barbarisch skizziert. Dem konnte er eine andere Skizze entgegen halten und sie auch untermauern.

Aber später musste er seinen amerikanischen Freunden zerknirscht, reumütig und deprimiert gestehen, dass die Deutschen nachträglich die US-Skizze bestätigt hätten – und aus heutiger Sicht: bestimmt auch noch übertroffen. Das deutsche Barbarentum von 1938-45 konnte gar nicht so plastisch vorweg genommen werden.

Freilich habe ich selbst Ende der 60er Imperialismusvorwürfe gegenüber den USA vor allem von den deutschen Linken mitbekommen, die ich für übertrieben hielt, welche die Bush-Regierungen aber voll bestätigten. Selbst wenn heutzutage angesichts von Donald Trump die Bushs moderat erscheinen mögen: Sie haben Kriege willentlich und mit Lügen herbei geführt20.

Ich erinnere mich durchaus noch an die Lektüre von „Ich war gern in My Lai“. In seinem autobiographischen Buch meinte William Calley: „Ich war gerne in Vietnam. Ich wusste, ich kann hier getötet werden, aber ich konnte auch mehr erleben als in Amerika. Denn in Vietnam musste ich immer voll dabei sein“. Natürlich ist echtes Killen ein besserer Thrill als virtuelles. Gut, dass der Leutnant nicht heute kämpfen muss, denn da läuft die Realität virtuell ab, d.h. reales Sterben der Opfer, virtuelles Töten der Militärs – oder sollte man sagen „Mörder“? Soldaten als Mörder zu bezeichnen ist in der BRD durch die Meinungsfreiheit und den BGH gedeckt, aber auch in den USA?

Ich las es als junger Mann und war kaum schockiert. Dazu war mir das, was ich las, zu realitätsfern. Ich konnte es mir einfach nicht vorstellen, dass die Emotionslosigkeit der US-Soldaten Realität war. Heute sehe ich es anders.

Ich konnte mir allerdings auch nicht erklären, warum Gandhi bei den Briten erfolgreich war, Bonhoeffer und andere Kritiker des „Dritten Reiches“ bei den Deutschen hingegen nicht. Es wäre mir unangenehm, mir die Wahrheit eingestehen zu müssen, dass die Deutschen einfach ein unterentwickeltes Moralgefühl hatten.

Wenn ich jedoch an Paul Althaus, Werner Elert und Konsorten denke, dann weicht mein Nicht-Verstehen einer unglaublichen Wut mit Gewaltphantasien: Es waren deutsche Theologieprofessoren, die den Rassenwahn politisch proklamierten im Ansbacher Ratschlag, also nach der Barmer Theologischen Erklärung. Sagen wir es einmal so: Von Jesus hatten Althaus und Co keine Ahnung. Das lässt sich zwar durch ihre Schriften wie auch das Zeugnis von Zeitgenossen widerlegen, aber durch ihre Politik belegen. Es ist beschämend, dass solche Menschen nach 1945 wieder die Jugend verführen durften. Althaus hat noch in den 50er-Jahren in seinem weitverbreiteten Römerbriefkommentar (NTD) die Todesstrafe theologisch legitimiert. Nach meiner Ansicht gibt es kein lebensunwertes Leben, aber durchaus lehrunwürdige Lebensgestalten.21

2.2 Berlin

„Aus grauer Städte Mauer…“ steht für den Ausbruch aus der Provinzialität. Aber ist ein Berliner in den zwanziger Jahren, heute oft als die „goldenen Zwanziger“ bezeichnet, überhaupt provinziell?

Beim jungen Dietrich Bonhoeffer hat man den Eindruck, dass er in einem sehr offenen Elternhaus aufwuchs. Aber die Kontakte durch die Familie gehörten doch eher zur High Society. Im Berlin der 20er Jahre tauchen Namen auf, die im Zusammenhang mit Dietrich Bonhoeffer fehlen.

Bei der Bücherverbrennung geht es auch um Bücher Berliner Autoren. Kurt Tucholsky und Erich Kästner wären zu nennen. Wusste er von der Existenz der „Weltbühne“? Erich Kästner brachte seinen „Fabian“ heraus mit einer pessimistischen Anthropologie. Gerade dieser Autor beliebter Kinderbücher entschied sich explizit gegen eigene Kinder, weil diesen seine Welt nicht zuzumuten wäre.22 Kästners unmoralischer Moralist Fabian ist „ohne Ethik“ wie Bonhoeffers „Mensch“ offenbar eigentlich „ohne Religion“ existiert.

Hatte Bonhoeffer von Erich Mühsam gelesen? Der Ex-Revolutionär aus München war seit 1924 wieder in seiner Heimatstadt. Beteiligt an der Novemberrevolution in München machte er seinen Weg über den Kommunismus zum theoretischen Anarchisten. 1934 brachten in die Nazis um.

Erfuhr Bonhoeffer von Carl von Ossietzkys Enthüllungen über die deutschen Aufrüstungspläne?

Berlin war komplex…

3 Zum Konzept dieses Buches gehören Facetten, die mit Bonhoeffers Lebensgeschichte nichts zu tun haben, aber dieses Buch erden, da es assoziativ den Alltag einbringt.

4 Johannes Bugenhagen erstellte die erste Schweinfurter Kirchenordnung

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