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Vernunft und Wahrheit, Toleranz und Fanatismus. Volker Schoßwald geht diesen Grundlagen unseres demokratischen Zusammenlebens am Beispiel von Brecht, Lessing, Müntzer, Bin Laden, Rushdie und Karl May nach und versammelt hier politische, philosophische und theologische Beiträge aus zwei Jahrzehnten.
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Seitenzahl: 421
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Vernunft und Wahrheit, Toleranz und Fanatismus am Beispiel von Brecht, Lessing, Müntzer, Bin Laden, Rushdie und Karl May Politische, philosophische und theologische Beiträge aus zwei Jahrzehnten
Schwabach, 2022
1 Der heilige Bertholt der Lesebücher...
2 Galilei, der Haifisch und die neue Gerechtigkeit
3 Religion als Toleranzgefährdung
4 Gotthold Ephraim Lessing und die dumme Vernunft: Die Aufklärung
5 Das Tabu der Macht in der Kirche (Aufsatz 1999)
6 Kirche und Mobbing
7 Glaube, Eifer, Pfarrer und Deutschland (Aufsatz)
8 Die satanischen Verse und 25 Jahre Fatwa gegen Salman Rushdie
9 Glaube, Eifer und Terror 2001 (ausführlich)
10 Der ewig Gute - Old Shatterhand
11 Literatur
12 Stichwortverzeichnis
1 Der heilige Bertholt der Lesebücher...
1.1 Der heilige Bertolt der Schulbücher
1.2 Brecht und „der Mensch“
1.3 Galileo Galilei und die Freiheit des Denkens
1.4 Galileo Galilei oder die faule Vernunft des Aberglaubens
2 Galilei, der Haifisch und die neue Gerechtigkeit
2.1 Protagonist des kausalistischen Weltbildes
2.1.1 Zwischenbemerkung zur Astrologie
2.2 Die Drei-Groschen-Oper und die Gerechtigkeit
3 Religion als Toleranzgefährdung
3.1 Die Bösen sind immer die andern…
3.2 Luther als Glaubensheld und Polemiker
3.2.1 Ein Reformator diffamiert den anderen
3.2.2 Genie schützt nicht vor platten Feindbildern
3.3 Das Begreifen des Unbegreiflichen: Kleingeist contra Spinoza
4 Gotthold Ephraim Lessing und die dumme Vernunft: Die Aufklärung
4.1 Alles ist anders als der Augenschein
4.2 Muss Toleranz Intoleranz tolerieren?
5 Das Tabu der Macht in der Kirche (Aufsatz 1999)
5.1 Wenn der Konsum ruft oder „Der Mammon“
5.2 Wenn die Schule ruft oder „Der Religionsunterricht“
5.3 Wenn Karlsruhe ruft oder „Das Kruzifix“
5.4 Wenn der Berg ruft oder „Der Baal der Alpen“
5.5 Wenn der Guru ruft oder „Die Esoterik“
5.6 Wenn der Muezzin ruft oder „Das Kopftuch“
5.7 Wenn die NATO ruft oder „Wir sind Sünder allzumal“
5.8 Wenn die Glocken rufen oder „Die Kirche sind wir“
5.8.1 Zusatz
5.9 Vorform: Das Tabu der Macht 1999
5.9.1 Das Thema:
5.9.2 Problemanzeige: Wir sind so furchtbar lieb
5.9.3 Die verfaßte Kirche: Seht nur, wie intolerant sie sind...
5.9.4 Kirche im Zwielicht der Macht
5.9.5 Kirchenkritik als hilfloses Aufbegehren
5.9.6 Der praktische Atheist formt sich seinen Gott selbst
5.9.7 Die Religion: Postmoderner Aberglaube
5.9.8 „Wenden Sie sich bitte an mein Sternbild...“
5.9.9 Zeitansage: Setze deine Macht ein, Kirche!
6 Kirche und Mobbing
7 Glaube, Eifer, Pfarrer und Deutschland (Aufsatz)
7.1 Christentum, Islam und „das Teuflische“ "
7.2 Eine knappe Parallelisierung
7.3 Hermeneutik
7.4 Die soziale Problematik und die Religion
7.5 Der „Heilige Krieg“
7.6 Der Wertekonflikt
7.6.1 Exkurs: Datenverglerich von Müntzer und bin Laden
8 Die satanischen Verse und 25 Jahre Fatwa gegen Salman Rushdie
9 Glaube, Eifer und Terror 2001 (ausführlich)
9.1.1 Pharaohs Haus, Babylonische Türme und die Verstörung der "Menschheit"
9.2 Zwischen Mittelalter, Neuzeit und gegenwärtiger Steinzeit
9.2.1 Eine kurze Biografie von Thomas Müntzer
9.3 Gestern und Heute im Orient und Okzident
9.3.1 Parallelisierung: Thomas Müntzer und Osama Bin Laden
9.4 Ad Fontes
9.5 Morgenröte für die Heiligen Schriften und "Herrschaft der Eingeweihten": die ideologischen Grundlagen
9.6 Eitelkeiten und Erkenntnisse
9.7 Das Schriftverständnis in Christentum und Islam
9.8 Der Polytheismus in der ältesten mediterranen Schriftreligion, dem Judentum
9.9 Gott, Schwert und Gerechtigkeit: Die soziale Frage
9.9.1 „Utopia“ und „Reich Gottes“ auf Erden“
9.9.2 Müntzer und Marx
9.9.3 Thomas Morus und die „Utopisten“
9.9.4 Der Gottesstaat der Wiedertäufer von Münster
9.9.5 Calvin, Karl Barth und die Zwei-Reiche-Lehre
9.9.6 Die politische Theologie der Zwei-Reiche-Lehre
9.10 Islamischer Staat
9.10.1 Der Monotheismus
9.10.2 Islamische Theokratie?
9.10.3 Opium
9.11 Die Feindbilder: Der Krieg
9.11.1 Die Feindbilder
9.11.2 Bellum Iustum, Kreuzzüge und Djihad
9.11.3 Djihad
9.11.4 Bellum iustum
9.11.5 Kreuzzüge
9.11.6 Motive für Heilige Krieger
9.11.7 Ursachen des Hasses als Ursachen für Krieg
9.11.8 Sicarios, Kamikazekämpfer und die Bedeutung des religiösen Suizids
9.11.9 Rituelle Reinigung
9.11.10 Der Wert des Lebens angesichts des Todes
9.11.11 Das Paradies:
9.11.12 Vergleich ethischer Positionen
9.11.13 Der Krieg als solcher!
9.12 „Theodizee“: Die göttliche Gerechtigkeit und das Leid
9.12.1 Allmacht oder Niedertracht
9.12.2 Unde malum et qua re?
9.12.3 Crux sola nostra theologia
9.12.4 Lokaltermin auf Golgata
9.13 Am Ende des Regenbogens: die Niederlage
9.13.1 Bauern im Krieg
9.14 Das Ende.... ....im 16. Jahrhundert
9.14.1 Führungspersönlichkeiten
9.14.2 „Gewissen“: Phänomene in der Hirnforschung
9.15 Ausblick: Falschmüntzer, Pharisäer und Gegenbilder
9.16 Anhang: biographische Daten von Müntzer und bin Laden
9.16.1 Jesaja
9.17 Der Teufel
10 Der ewig Gute - Old Shatterhand
10.1 Wenn Gute böse sein dürfen…
10.2 "Wer bist du?" Karl Mays Antwort
10.3 May zeigte Wirkung
10.4 Schluss: Was blieb, was verging…?
11 Literatur
12 Stichwortverzeichnis
1.1 Der heilige Bertolt der Schulbücher
Bertold Brecht war einmal ein Klassiker. Für seinen Anspruch war dies das denkbar Widersprüchlichste. Seine Stücke sollten lebendig sein und nicht einfach wiederholt werden.
Freilich tat sich seine Heimatstadt mit diesem Klassiker selbst im 21. Jahrhundert echt schwer. An die Mozartverehrung hängte sie sich inbrünstig an, obwohl Wolfgang Amadeus nur durch seinen Vater Leopold eine indirekte Beziehung zu dieser eigentümlichen Stadt hat. Mit Brecht, dem echten Sohn der Stadt tat sich dieser beschauliche Flecken im bayerischen Schwaben echt schwer. Die Zeiten, in denen Augsburg geistig innovativ und auf der Höhe der Zeit war, liegen Jahrhunderte zurück. Da muss man schon bis in die Reformationszeit gehen. Damals freilich spielte sich in den Mauern der Stadt revolutionäre Gegenwart ab, die bis heute ihre Spuren hinterließ, sogar bei James Bond, der nur durch die richtige Beantwortung einer Frage über eine Kirche in Augsburg überlebte. Gut, dann gab es noch MAN, die Maschinenfabrik Augsburg – Nürnberg. Die Fuggerschen Armenhäuser, „Fuggerei“ genannt könnten Brecht geprägt haben, der bei seinem antikapitalistischen Feldzug manchem Kapitalisten als Individuum Mitmenschlichkeit und Fürsorge zubilligte. Aus dem Verfall ins gänzlich provinzielle rettete Augsburg vermutlich die berühmte Puppenkiste, die sogar Stücke von Brecht präsentierte.
Fugger, Mozart, Puppenkiste und Brecht… Konzentrieren wir uns auf Brecht.
Für Theologen –als solcher schreibe ich – wirkte er faszinierend. Immerhin war sein erstes Opus als Jugendlicher ein Theaterstück namens Bibel. Davon gibt es lediglich ein Exemplar, aber immerhin. Seine biblische Kompetenz bleibt unbestritten. Bei ihm treffen wir auf einen biblischen Hintergrund, der bei unseren Zeitgenossen selten wurde, und seine Auseinandersetzung mit der Welt führt uns zwar nicht zwangsläufig zu ähnlichen Folgerungen, aber sie setzte an Stellen ein, die religiös reflektierende Menschen immer wieder umtreiben. Anthropologie, Eschatologie und Ideologiekritik, da lohnt sich eine Beschäftigung.
BB1: Seine Wirkungsgeschichte ist beeindruckend. Als Netzbeschmutzer verpönt, als Verfassungsfeind gebrandmarkt avancierte er für die „vaterlose Generation“, die sog. 68er zum Übervater. Die amoralische Geschichte der Väter, die sich mit dem „Dritten Reich“ arrangiert hatten, fand hier einen Moralisten als Antipoden. Sein Anspruch konnte übermoralisch wirken, zugleich formulierte er eine moralisierende Amoral. Seine menschlichen Differenzierungen mitsamt ihrer realistischen Widersprüchlichkeit wurden gerne überlesen. Seine kollektive Weltanschauung wurde gepriesen, obwohl sie in Spannung zu seinen individualistischen Attitüden stand. War er gar ein Prediger einer Lehre, die er an sich abprallen ließ? Wurde er von seiner Zielgruppe verstanden? Das war für ihn in den späten Tagen am Theater am Schiffbauerdamm in Ostberlin nicht selbstverständlich, so dass er ganz gezielte Programmhefte verfasste.2 Die angeblich kommunistische Regierung des „ersten deutschen Arbeiter und Bauernstaates“ schmückte sich gerne mit dem populären Linken, wollte aber seine Differenzierungen und Nivellierungen nicht gelten lassen.
Brecht bietet viele Projektionsflächen, aber eines ist typisch für ihn: Er artikuliert auch dort Widersprüchlichkeiten, wo sie seiner „linken Ideologie“ nicht in die Argumentation passen. Das macht ihn zu einem der ganz Großen und lässt die DDR-Granden zu Gartenzwergen schrumpfen – die Adenauerprominenz mit ihren vielfältigen Wurzeln im Nazi-Deutschland lassen wir hier erst mal außen vor.
Sein erstes Stück schrieb Bertolt noch als Schüler. Es hatte den überraschenden Titel „Die Bibel“3. Kein Wunder, dass sich die Auseinandersetzung mit Christentum, Kirche und dem sog. Christlichen Abendland, also dem mitteleuropäischen Bürgertum durch seine Arbeiten hindurchzieht. Bereits in seinem ersten professionellen Drama „Baal“ wählt er als Titel einen Begriff, den er aus der Bibel kannte. Durch diesen Titel und damit seine Hauptperson positionierte er seine kritische Sicht. Baal wurde als Fruchtbarkeitsgott von der Kirche (wie vom orthodoxen Judentum) als Gegengott verstanden. Rein inhaltlich hätte Brecht auch die griechische Mythologie mit ihren Saturnalien4 bemühen können, aber sein Baal tritt öffentlich in Erscheinung, als der „Herrgott“ durch die Fluren getragen wird, am für Protestanten geschichtsträchtigen Fronleichnamstag.
Dieser Tag spielte 1530 beim Augsburger Reichstag eine entscheidende Rolle: Die späteren „Protestanten“ waren damals noch eine Gegenbewegung innerhalb der römischen Kirche. Sie wehrten sich gegen den Reliquienkult und gegen eine Verehrung von Gegenständen als göttlich. Das betraf auch die Hostie, die in der Messe angeblich durch die priesterlichen Worte der „Einsetzung“ in Gott verwandelt wurden. An Fronleichnam (Fron heißt Herr, Leichnam ist der Leib) wurde / wird die gewandelte Hostie in der Monstranz durch die Strßen getragen: Hier ist Gott materiell gegenwärtig. Die Lutheranhänger nahmen 1530 demonstrativ an dieser Prozession nicht tiel. Das machte sie in den Augen des Kaisers (Karl V.) zu Ketzern. In Brechts Baal findet die Fronleichnamprozession statt. Dabei lässt er Baal unangepasst auftreten.
Der Baal des Augsburgers Brecht erscheint angesichts einer baalistischen Tradition des Katholizismus: Als er sich über den Natursegen bei der Prozession mokiert, wettert eine alte Frau: „Der wird noch erleben, was es ist, wenn man unser liebes Herrgöttle verlästert.“5 Bekanntlich war im Zusammenhang mit der Verlesung Augsburger Konfession auf dem Reichstag 1530 das symbolische Auseinanderbrechen der Konfessionen an der Teilnahme an der Fronleichnamsprozession festgemacht, also wirklich am „Herrgöttle“, wie es die Frau im Baal benennt. Das „Herrgöttle“ ist der „Herrgott“, also die gewandelten Hostie. Der Begriff „Herrgott“ findet sich übrigens in der Bibel nicht.6
S: Sollen wir auch noch kämpfen, wenn der Feind schon gesiegt hat?
Engel: Geht da ein Nachtwind heute?
S: Ja.
Engel: Steht da nicht ein Baum im Hof?
S. Ja, die Pappel.
Engel: Rauschen die Blätter, wenn der Wind geht?
S: Ja, deutlich.
Engel: Dann soll auch gekämpft werden, wenn der Feind gesiegt hat.
Eine analoge weisheitliche Argumentationsweise finden wir bei Amos: „Können denn zwei miteinander gehen, sie seien denn einig untereinander? Brüllt etwa ein Löwe im Walde, wenn er kein Wild hat? ... ist etwa ein Unglück in der Stadt, das der Herr nicht tut? - Gott, der Herr tut nichts, er offenbare denn seinen Ratschluss den Propheten, seinen Knechten. Der Löwe brüllt, wer sollte sich nicht fürchten?“7 Mit dem Kulturprotestanten Brecht können sich Christen auseinandersetzen, weil er sich mit ihnen auseinandersetzte. In gewisser Weise entwickelte er sich aus dem Protestantismus heraus?
Sprache, Form und Ideale im Brechtschen Oeuvre haben biblische Wurzeln, auch wo sie konträr zu kirchlichen Positionen sind. Seine Biographin Marianne Kesting verweist auf die Parallelität der Brechtschen Erkenntniswege zu kirchlicher Liturgie bzw. zur katholischen Gewissenserforschung:8 „1., 2., 3. Untersuchung, das Examen, Ruhm und Enteignung, die Austreibung, das Einverständnis.“ Auch die Parallelität von marxistischen Erlösungvorstellungen und christlichem Messianitätsgedanken (inkl. des himmlischen Jerusalems) wurden oft aufgezeigt. Wer Brecht zustimmt, sollte sich überlegen, wie weit er christlichen Idealen zustimmt, wer Brecht kritisiert, sollte sich überlegen, wie weit er christliche Ideale kritisiert. Wer atheistisch-materialistisch aufgewachsen ist, wird Schwierigkeiten haben, Brecht adäquat zu verstehen; und wer die Kirchengeschichte studiert hat, wird die Haken bei Brecht parallel zu kirchlichen Fehlentwicklungen benennen können. Die Geschichte wiederholt sich nicht, sagt man, aber... „Es gibt nichts Neues unter der Sonne“ (Prediger 1,9) Das ist keine gesellschaftliche, sondern eine anthropologische Erkenntnis.
1.2 Brecht und „der Mensch“
Schauen wir genauer auf Brechts Anthropologie. Viele ideologische Streitigkeiten lassen sich auf einen Unterschied im Menschenbild zurückführen. Brecht liefert keine einfachen Antworten. Obwohl er definiert, schildert er vor allem, und die Schilderungen von Menschsein brechen griffig formulierte Definitionen wieder auf.
In der Dreigroschenoper, seinem internationalen Durchbruch, lässt Brecht wörtlich sagen: „Der Mensch ist schlecht“. Er führt es auf die „Verhältnisse“ zurück: „Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral“. Die anthropologische Grundaussage „Der Mensch ist schlecht“ passt nicht zum Kommunismus, jedoch mit Brechts Modifikation zum „modernen“ Katholizismus: Die Erbsünde setzen manche Theologen mit den „Verhältnissen“ als Quasi-„Urschuld“ gleich9. Dadurch erhalten sie ihr heimliches Postulat: Der Mensch ist gut, nur... Lutherische Theologie sieht dies anders. Das liegt an ihrer Christozentrik: Gott wurde Mensch, weil der Mensch nicht eigentlich göttlich ist. Nota Bene stammt das Wort „Gott“ aus der Wurzel „gut“. Etymologisch könnte man einen guten Menschen auch als einen göttlichen Menschen bezeichnen, was m.E. nachzuvollziehen wäre. Hilfreich scheint hier das Wort Jesu „Niemand ist gut als Gott allein“.
In der Dreigroschenoper macht Brecht die Verhältnisse immer auch an Personen fest und widersetzt sich billigen Ausreden. Gerade die Dreigroschenoper wurde vom bourgeoisen Publikum begeistert aufgenommen, weil es das Böse von sich abspalten konnte. Das änderte sich bei späteren Werken Brechts. Ironie der Geschichte oder Offenbarung der Doppelmoral und der Heuchelei der „demokratischen“ USA („Hypocrites“): Während Louis Armstrong für „Macky the knife“ gefeiert wurde, wurde Brecht vom antikommunistischen „Amerika“ gefeuert.
Das gegenwärtige „America“ – so reden die USA in narzisstischer Verkennung der Geographie von sich selbst – macht einen geistlosen Eindruck; vielleicht wäre „ungeistig“ ein besserer Begriff. Gleichzeitig beherrscht diese Nation wirtschaftlich, politisch, kulturell und militärisch weite Bereiche des Globus. Hier bin ich als Theologe Bert Brecht dankbar für ein kirchenkritisches Stück, das als kulturkritisches Stück heute erschreckend aktuell wurde: Galileo Galilei. Als Lehrstück greift es eine historische Szene auf: Das Mittelalter siegt über die Neuzeit – zumindest in Rom -, als der Papst über Galileo Galilei siegt. Natürlich hat sich die Neuzeit auch dank Galilei und seinen „Discorsi“ durchgesetzt: Das kopernikanische Weltbild triumphiert; es wurde zwar inzwischen durch die Big-Bang-Theorie übertroffen, hielt sich aber im epistomenologischen Prinzip, und deswegen konnten die US-Amerikaner am 21. Juli 1969 die US-Flagge auf dem windstillen Mond hissen, ihre Sternchen am Sternenhimmel positionieren. Aber Anfang des 21. Jahrhunderts scheint es, als wollten die USA unter Führung ihrer Präsidenten ins Mittelalter zurück. Ich spreche von den sog. Kreationisten10. Zwar praktiziert die herrschende Klasse11 politisch die Hackordnung aus dem Hühnerhof, aber ideologisch wollen sie nicht von Tieren abstammen. Naja, die Friedfertigkeit von Schimpansen und Gorillas passt auch nicht zu ihrer Außenpolitik, ebenso wenig Jesu Rede von der Feindesliebe, wohl aber die blutrünstigen Geschichten aus dem AT, die kulturell in der Stein- und Bronzezeit anzusiedeln sind. Was die US-Evangelikalen an Jesus finden, ist mir ein Rätsel. Sie berufen sich auf einen Jesus, den sie vermutlich aus verborgenen Quellen der Neandertaler haben – oh, ich nehme das zurück. Im Vergleich zu US-Fundamentalisten waren Neandertaler friedfertig. Anthropologen gehen davon aus, dass sie wegen ihrer schwach ausgeprägten Brutalität ausstarben, verdrängt vom Homo Sapiens12.
Was Brecht zu einem guten anthropologischen Ansprechpartner macht, ist seine Bewegung und seine Offenheit in seinem „Menschenbild“. Auch wenn Galileo mit einem Idealbild von Wissenschaftler konfrontiert wird, greift Brecht immer auch mit Sympathie gegenläufige Aspekte heraus; selbst bei Galilei erscheint noch das Baalistische. Max Frisch13 formulierte in seinem „Tagebuch“ sehr treffend, das Gebot „Du sollst dir kein Bildnis machen“ träfe auch auf Menschen zu. Hier zitiere ich meinen verehrten Lehrer Jürgen Moltmann: „Erst in der Ankunft Gottes selbst, der dieses Leben hier unendlich in Frage stellt, kann die Apokalypse des menschlichen Geheimnisses erhofft werden. Deshalb wird der Mensch in keinem seiner Menschenbilder sich selbst finden und zur Ruhe kommen. Die Unruhe des Herzens wird zu einem permanenten Bildersturm der Hoffnung gegen jene Menschenbilder führen, die ihn festlegen und endgültig fixieren wollen.“14 Der Kruzifixus als Imago Dei kreuzigt auch die idealisierenden Menschenbilder: Ecce Homo!
Die DDR-Kritik nahm ihrem Aushängeschild Brecht übel, dass er auch die von der Propaganda hochstilisierten „kleinen Leute“ kritisch zeichnete, etwa als habgierig und streitlustig.15 Gleichzeitig machte man sich in den Führungskreisen über die „Gläubigen“ lustig, die wirklich an den Kommunismus, an die Gleichheit aller glaubten - und noch dazu glaubten, dass die Führungs-Elite eben dieses anstrebe. Heuchelei gibt es in allen kleinbürgerlichen Herrschaftsformen, seien sie nun faschistisch, kommunistisch oder demokratisch.
Ein Blick auf Brechts Stück Galileo Galilei zeigt: Brecht stellt diesen Wissenschaftler keineswegs als Atheisten dar. Vielmehr wird durch ihn der Himmel, und zwar der sichtbare Himmel, entgöttert16, dafür aber die Gottheit ins Herz positioniert. Darin steckt zumindest für unsere Zeit mehr Wahrheit als in einem geozentrischen Weltbild, in dem die Päpste ohnedies Gott nur zu gern im Himmel ließen, damit er ihre Aktionen nicht stören konnte.
1.3 Galileo Galilei und die Freiheit des Denkens
Galileo Galilei wurde der Inquisition ausgesetzt. Brecht schrieb seine erste vollständige Version des Stückes 1938 auf der Flucht vor den Nazis in Dänemark. Das sog. Dritte Reich, die Gestapo und das Reichskammergericht mit Freisler als Großinquisitor hatten ihren Höhepunkt bereits erreicht, Stalin, dieser faschistoide Kommunist aus einem orthodoxen Priesterseminar hatte dies schon früher geschafft. Bei Stalin suchte Brecht ebenso wenig Zuflucht wie bei Hitler. Dass er nach der Zeit in den USA letztlich in der DDR sich beheimatete, wirft die Frage auf, ob er seine kommunistischen Ideale dem anthropologischen Härtetest aussetzte. Vermutlich hatten seine Stücke letztlich mehr Wirkung im „kapitalistischen“ Westen als im „ersten deutschen Arbeiter- und Bauernstaat“ mit seine kryptokapitalistischen Elite.
1947 kam der Dichter im demokratischen Exil vor den „Ausschuss für unamerikanische Betätigung“. Seit diesem Jahr war McCarthy Abgeordneter. Er entpuppte sich als „Hexenjäger“, der durchaus nicht allein war in jenem angeblich demokratisch-liberalen Land. Brecht musste aus dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten fliehen, ebenso wie der gebürtige Brite Charles Chaplin, der mit „Der große Diktator“ bekanntlich die treffendste Parodie auf Adolf Hitler noch vor dem 2. Weltkrieg lieferte17. Brecht freundete sich im US-Exil mit Chaplin an, griff auch auf Einfälle Chaplins zurück (geistiges Urheberrecht war ihm suspekt) und kommentierte sogar: „Es gibt nur zwei Regisseure... der andere ist Chaplin.“18 Beide verließen die McCarthy-USA. Dafür müssen sich die „Amis“ bis heute schämen.19
Soviel als Vorbemerkung zum Thema Inquisition und Mittelalter. Brecht war im Übrigen via UdSSR nach USA geflohen. Ins Mittelalter kam er also aus der Steinzeit.
Der Kommunist Brecht hatte seine Zuflucht nicht im stalinistischen Kommunismus gesucht. Den qualitativen Unterschied zwischen Hinrichtung (UdSSR) und Berufsverbot (USA) muss man festhalten.20 Es ist kein quantitativer Unterschied, denn ein Toter hat überhaupt keine Möglichkeiten mehr.21 Brecht betonte schon im Galileo, dass er das Überleben sehr hoch schätzte, anders als ein gewisser Klassiker namens Schiller, der fabulierte: „Das Leben ist der Güter höchstes nicht.“22 Ein toter Galileo hätte der Wissenschaft nichts mehr bringen können, ein toter Brecht der Kultur ebenfalls nicht. Und beide hätten sich um den eigenen Lebensgenuss gebracht. – Martin Luther-King wurde erschossen. Lebend hätte er weichenstellende Impulse für die Rassenfrage in den USA geben können. Selbst aus dem Gefängnis agierte er. Tot aber war er tot und agierten andere.23
Theologischer Einschub: Es ist gut, dass weder Galileo noch Brecht sich für einen Messias hielten; christologisch haben wir Schwierigkeiten, die Bedeutung Jesu ohne das Kreuz mit derselben Evidenz oder gar mit der Prämisse Schillers aufrecht zu erhalten.24
In den USA wurde der Galilei 1947 aufgeführt. Kurz darauf zitierte man Brecht vor den Untersuchungsausschuss. Zwei Jahre vorher hatten die USA die ersten und bisher einzigen Atombomben im Krieg gegen Japan abgeworfen.25 Damit war– gerade auch für ehemals deutsche Wissenschaftler – die ethische Frage in die Atomphysik massiv eingedrungen. Neuzeitliche Waffen und steinzeitliche Ethik, das ist seither der Konflikt.26
Inhaltlich geht es Brecht beim Galilei um die Freiheit des Denkens. Völlig frei sollte das Denken allerdings gar nicht sein, sondern es sollte sich an die Regel der Logik und der Beweisführung halten, am Krassesten, als Galileo Galilei seine Kritiker bittet, durch das Fernrohr zu den Sternen zu schauen. Doch diese diskutieren darüber, ob es das, was sie sehen könnten, laut Aristoteles überhaupt geben dürfte und schauen dann gar nicht erst durch das Rohr27.
Man könnte lachen, aber es ist nicht lustig. Bei vielen Menschen, denen wir begegnen, ist es bis heute so: Sie wollen nicht durchs Rohr schauen.28
Ironischerweise lässt sich Galileis Tochter Virginia für ihre Hochzeit ein Horoskop erstellen. Horoskope deuten die Stellung der Gestirne. So gibt es z.B. ein Geburtssternzeichen. Bei mir wäre dies laut Astrologen der Stier, weil zum Zeitpunkt meiner Geburt die Sonne gerade im Stier stand (ein Vorgang, der fast einen Monat lang anhält). Nur: Das stimmt nicht! Wäre ich zur Zeit Jesu geboren, würde es zutreffen, aber innerhalb dieser zwei Jahrtausende hat sich der Sternenhimmel geändert, zumindest der über uns, nicht aber der der Astrologen. Die erstellen ein minutiöses Horoskop von der Stellung der Gestirne zum Zeitpunkt der Geburt, bei dem allenfalls die Sonnenstellung und der Mond zutrifft. Der Rest ist... Woran liegt es? Daran, dass die Astrologen nicht durch das Rohr schauen und die Veränderungen der Gestirne aus irdischer Sicht nicht realisiert haben29, auch nicht die Existenz des Planeten Sedna, der erst 2004 registriert wurde und dazu führte, dass Pluto der Planetenstatus aberkannt wurde. Wer mittels eines virtuellen Planetariums den Sternenhimmel zum Zeitpunkt seiner Geburt betrachtet, stellt fest, dass die Sonne nicht in dem Sternzeichen steht, unter dem er angeblich geboren wurde30. Also: als meine Mutter in den Wehen lag, ruhte die Sonne zwischen Widder und Fischen. Das muss meine Persönlichkeit aber unheimlich geprägt haben.
Die Astrologen senden praktisch rund um die Uhr ihre Fehlinformationen via Satellit (wie der sich wohl auf Geburtshoroskope auswirkt?). Das wäre nicht möglich, wenn sie nicht eine unglaublich große Fangemeinde hätten, die die Programme auch schaut. Sitzt das Mittelalter bereits im Nachbarhaus und wir wissen es bloß nicht, weil wir nicht zum Fernsehen hinüber gehen?31
1.4 Galileo Galilei oder die faule Vernunft des Aberglaubens
„Die Verführung, die von einem Beweis ausgeht, ist zu groß. Ihr erliegen die meisten, auf die Dauer alle.“ Damit behält der Brechtsche Galileo nicht Recht. Der Begriff Beweis sagt noch nichts über sich selbst aus. Es wird immer wieder viel hin und her bewiesen. Aber die eigentliche prolegomatische Frage wäre ja: Welche Art von Beweisen ist tragfähig? Immerhin beweisen auch Galileis vatikanische Gegner ihre Position, mittels Bibelzitaten und Aristoteles. Galileo wird als Erzvater der modernen Naturwissenschaft betrachtet, weil er zwei Vorgaben machte: Ein Beweis muss logisch nachvollziehbar sein und er muss nachgewiesen werden können, z.B. durch Wiederholung einer Versuchsanordnung durch andere Personen.
Auf diesem Hintergrund ist es heutzutage extrem schwierig, innerhalb des naturwissenschaftlichen Weltbildes die Tragfähigkeit neuer Beweise nachzuvollziehen, weil wir in aller Regel nicht genügend Vorwissen mitbringen. Das erhellt ein Beispiel aus meiner Praxis als „Sektenbeauftragter“: Eine Frau kontaktierte mich, weil sie durch Orgonstrahlen verfolgt würde. Eine der Beratungsebenen ist die „objektive“, also: Was ist dran an Orgonstrahlen?
Mein Versuch, herauszufinden, was an dieser sich auf Wilhelm Reich berufenden Theorie dran sei, scheiterte, weil ich zwischen Fiktion und Naturwissenschaften nicht mehr unterscheiden konnte. Mein mühsam erarbeitetes Wissen über Atomphysik, Relativitätstheorie und Quantenmechanik war zu Ende, als die Orgonstrahlenverkäufer im Internet munter zu plaudern begannen und zu mir bekannten Fakten mir unbekannte lieferten, mit dem Hinweis, dies sei wissenschaftlich erwiesen. Dank des „Quantensprunges“ können sich nun alle Pseudonaturwissenschaftler Gedankensprünge, Lücken in den Kausalketten sowie Sprünge in der Schüssel leisten, um es einmal salopp zu formulieren. Der „Quantensprung“ gilt als wissenschaftlicher Beleg dafür, dass Widersprüche in der Naturwissenschaft beheimatet sind.
Gerade in der Esoterik scheint zu gelten: solange etwas nicht widerlegt ist, ist es bewiesen. Und wenn etwas widerlegt ist, gilt sein Zwillingsbruder immer noch als bewiesen. Das ist wie mit den verbotenen chemischen Drogen: sobald eine Zusammensetzung verboten wird, tritt eine neue Zusammensetzung an deren Stelle, die erst noch verboten werden muss. Inzwischen wird z.B. beim „Orgon“ mit einer sog. postmodernen Naturwissenschaft argumentiert. Hier werden klassische Autoritäten ausgehebelt. Und gerade Brechts Galileo ist eine Symbolfigur für die Kritik an Autoritäten. Er könnte gut in esoterische Beweisführung eingebaut werden. Ich meine allerdings: zu Unrecht.
Brecht lässt Galileo im naturwissenschaftlichen Bereich32 grundsätzlich die Autoritäten in Frage stellen. Dafür gibt es gute, nachvollziehbare Gründe. Das Beispiel von Virchow kontra Semmelweis ist der Klassiker: Ein wirklich renommierter Fachmann diskredigiert die Forschungen eines jungen Kollegen. Seine Autorität bewirkte eine Stütze seiner (bornierten) Sicht, stand aber der Forschung im Wege.33
Zurück zu Brecht: Woher nimmt der Kritiker die Legitimation für seine eigene Autorität? Ich erlebe es im Unterricht mit erwachsenen SchülerInnen: Sie kritisieren sehr schnell, manchmal stimmt die negative Seite der Kritik tatsächlich; aber in der Regel können sie nichts an deren Stelle setzen. Manche sind zu faul, einige auch zu dumm, um ein Gegenmodell nicht nur zu nennen, sondern auch zu begründen. Das zeigt sich beispielsweise bei der beliebten Kritik an der sog. Schulmedizin. Natürlich müsste es eine Kritik an den Schulmedizinern, also an Personen sein, wenn diese scheuklappenmäßig ihr Wissen anwenden oder überbewerten. Doch die grundsätzliche Methodik neuzeitlicher Wissenschaft lässt sich zwar differenzieren und weiterentwickeln, ist in ihrer Struktur aber unaufgebbar (Nachvollziehbarkeit, Wiederholbarkeit). Dummheit und Denkfaulheit ist nicht von „Autoritäten“ gepachtet. Gerade im „alternativen“ Gesundheitswesen ist Eklektizismus sehr beliebt – und die anatomischen Grundkenntnisse eines Schulmediziners sind nicht zu leicht zu erreichen. Man überlege sich nur die Komplexität des Nervensystems. Also, Kritik ist nur im oberflächlichen Sinne leicht.
Barths „Kritischer müssten mir die Kritischen sein...“ hat viel für sich, auch wenn es ein überstrapaziertes Bonmots eines theologischen Giganten ist. Die Dialogmethode, die Platon in seinen Stücken anwendet, hat die Substanz, das Niveau des Kritisierten mindestens zu erreichen. Und auch der sog. Advocatus Diaboli der jesuitischen Auseinandersetzungen muss die Qualität des Teufels erst einmal erreichen, damit seine Widerlegung Sinn macht.
Ich erlebte bei einer Übung der Bereitschaftspolizei, dass viele junge Beamte sich freiwillig als „Chaoten“ meldeten. Sie konnten mit spielerischer Lust den Motiven ihrer späteren Kontrahenten etwas abgewinnen. Für die Motivation von Polizisten hieß das: Sie müssen erst einmal erkennen, weshalb ihr Handeln moralisch überlegen ist – und das war vielen nicht klar, weil sie den Eindruck hatten, von den Politikern verheizt zu werden. Wenn die Staatsmacht argumentativ den Kritikern unterlegen ist, wird es kritisch. Die Problematik zieht sich über Jahrzehnte und geht letztlich bis hin zur Querdenker-Debatte.
Brecht lässt Galileo sagen: „Ich glaube an den Menschen, und das heißt, ich glaube an seine Vernunft!“ Sagredo entgegnet: „Vierzig Jahre unter den Menschen haben mich ständig gelehrt, dass sie der Vernunft nicht zugänglich sind.“ Galileo beharrt: „Die Verführung, die von einem Beweis ausgeht, ist zu groß. Ihr erliegen die meisten, auf die Dauer alle.“34
Galileo huldigt zunächst einem blinden Vertrauen an die Vernunft des Menschen. Anthropologisch scheint seine Wissenschaft mitunter defizitär. Während er astronomische Phänomene „phänomenologisch“ nachweist, macht er dies für die Vernunft des Menschen nur situativ, setzt sie ansonsten apodiktisch voraus. Er glaubt an das Gute im Sinne von „Vernünftigen“ im Menschen. Dem bekennenden Katholik hätte die lutherische Anthropologie weiterhelfen können. Der Pferdefuß der Materialisten wie später der Kommunisten liegt in einer hypothetischen positiven Anthropologie. Aber der Mensch ist nicht einfach gut und seine Vernunft entsprechend auch nicht.35.
Frau Sarti, die für Brecht eine konterkarierende Funktion hat, bringt die politische Vernunft des „kleinen Mannes“ ein. Wenn es um das Überleben geht, ist es fahrlässig, diese zu überhören. Natürlich wird der kleine Mann nicht dadurch genial, dass er der „kleine Mann“ ist; das sind sozialromantische Träumereien, die sich Brecht nicht gestattet. Aber er bringt kollektive Erfahrungen ein.
Brechts Galileo ist lernfähig. Der alte Papst, bei dem er geschwiegen hatte, war tot. Auf seinen Nachfolger Barberini hatte Galileo gehofft. Doch das Gespräch zwischen beiden war ernüchternd: Galileo: „Ich glaube an die Vernunft.“ Barberini: „Ich halte die Vernunft für unzulänglich. Er schweigt. Er ist zu höflich, jetzt zu sagen, er hält meine für unzulänglich.... Die Vernunft, mein Freund, reicht nicht sehr weit. Ringsum sehen wir nichts als Schiefheit, Verbrechen und Schwäche. Wo ist die Wahrheit?“36 Mit dem Realitätssinn des politisch erfahrenen Papstes müsste es der Wissenschaftler erst einmal aufnehmen können. Aber er ist eben Naturwissenschaftler und kein Anthropologe.
Nach den negativen Auseinandersetzungen mit der Macht, bei der ein Wissenschaftler auf dem Stuhl Petri Macht über Vernunft stellt, muss der Wissenschaftler Galileo, der auf den neuen Papst gesetzt hatte, differenzieren: „Es setzt sich nur so viel Wahrheit durch als wir durchsetzen; der Sieg der Vernunft kann nur der Sieg der Vernünftigen sein.“37
Diesr Herausforderung müssen wir uns gerade im selbsternannten, selbstetikettierten postmodernen Zeitalter, das vor einem halben Jahrhundert ausgerufen wurde, stellen. Zur Freiheit hat uns Christus berufen, mahnt Paulus die Galater. Ich möchte es für den Bereich, in dem die Vernunft und die Kausalität relevant ist, fortführen: drum lasst euch nicht aufs Neue zu Knechten der Unvernunft machen. Dies scheint mir in der aufklärungsmüden Gegenwart ein wichtiger Aspekt für uns Reden und Handeln auch als Theologen.
1 Ins Neuhochdeutsche übersetzt bedeutet der Name Bertold Brecht: Glänzend glänzend
2 Allerdings erinnere ich mich daran, dass ich bei einer Brechtaufführung in Ost-Berlin mich mit meiner unbürgerlichen Kleidung deplatziert fühlte.
3 K.Völker, Brecht-Chronik, S.6: 29.3.1912: Konfirmation in der Barfüßerkirche. Januar 1914: „...erscheint in der ‚Ernte‘ sein Drama ‚Die Bibel‘“
4 Saturnalien ein altrömisches Fest zu Ehren des Gottes Saturn am 17.12. nach Beendigung der Herbstaussaat. Zu den Festbräuchen gehörten u.a. Aufhebung der Standesunterschiede, gegenseitiges Beschenken.
5 Brecht, Baal, 1974(7), S.40 (Suhrkamp, kritische Ausgabe von Baal; in der Sammlung „Stücke in einem Band“ ist die Passage nicht enthalten).
6 Vgl. V. Schoßwald, Herrgott. Kampf um Welt und Wirklichkeit. Die Rede von Gott in Gesellschaft und Kirche; Analysen eines volkstümlichen Gottesprädikates, seine Herkunftsgeschichte und sein Wortfeld, seine Bedeutung in Gesellschaft und Kirche sowie seine indikatorische Bedeutung im seelsorgerlichen Geschehen.
7 Amos 3,3-8 ähnliche Struktur etwa Spr.6,27-29; Weisheit 5,10-13...
8 Kesting, M., Brecht rororo (1983), S.61
9 Die Erbsünde ist zu verstehen als „existentiales Situiert-Sein durch persönliche Sünden anderer.“ Schoonenberg nach Ott, Antwort des Glaubens, S.185
10 Intelligent design nennen sie das Werk Gottes. Ich will Gott bestimmt die Intelligenz nicht absprechen, aber aus der Schöpfung lässt sie sich garantiert nicht ableiten. Da stehe ich dogmengeschichtlich auf festem Untergrund, sowohl mit der Kritik an der bodenständigen Theologie in Deutschland im 18. Jahrhundert wie auch mit der Theodizeefrage, die sich durch Intelligenz bestimmt nicht beantworten – richtiger wäre ohnedies: lösen – lässt. Für mich steckt hinter dieser US-amerikanischen Bewegung Wunschdenken, das sich allerdings ebenso wissenschaftlich verbrämt wie die ebenfalls US-gesteuerte New-Age-Bewegung (ich erinnere an F. Capra). Man erkennt die Absicht und ist verstimmt.
11 George Bush verdankte seinen zweiten Wahlerfolg den nordamerikanischen Fundamentalisten, den ersten m.W. seinen kriminellen Machenschaften im Umfeld der Wahlauszählung (und denen seines Bruder Jeb in Florida u.a. bei der Nicht-Zulassung von potentiellen Demokraten-Wählern). Der Heide D. Trump sahnte ebenfalls bei den Fundamentalisten ab. Bei denen muss das Feindbild stimmen (die Linken) und das reicht.
12 Im Homo Sapiens finden Anthropologen sicherlich einmal ein unausrottbares US-Gen, das Raub und Mord wie bei der Inbesitznahme der Neuen Welt für erstrebbare Werte hält.
13 Auch zu ihm hatte Brecht in seinem Schweitzer Zwischenexil beim Einreiseversuch nach West-Deutschland Kontakt.
14 Moltmann, Mensch S.29
15 M. Kesting S.123: „Brecht verzichtet auf eine Heroisierung der unteren Schichten... ein Faktrum, das ihm in der ostzonalen Kritik übel vermerkt wurde."
16 Nach einer Anekdote aus dem letzten Jahrhundert, antwortete ein Astronaut auf die Frage, ob er „dort oben“ Gott gesehen habe „Nein, aber ohne das Vertrauen auf ihn wäre ich nicht eingestiegen.“.
17 Allerdings mit einem sehnsüchtig romantischen Happy End. Chaplin reiste 1952 in seine Heimat England. Einen tag nach der Ausreise wurde seine Wiedereinreisegenehmigung widerrufen. Er durfte nicht mehr zurück! Dieser Bankrott eines liberalen, demokratischen Staates wurde nie mehr aufgeholt. Es macht die USA bis heute unglaubwürdig, wenn es um Liberalität geht; das gilt sogar für den ökonomischen Bereich, international gesehen. 1972 kehrte Chaplin anlässlich der Verleihung eines Ehrenoscars in die Vereinigten Staaten zurück, doch seine Tochter Geraldine relativiert die Großzügigkeit der selbsternannten Hüter der Freiheit: „Sie gaben ihm nur ein Visum für zehn Tage – wir konnten es einfach nicht fassen. Aber wir … er hat fröhlich erzählt: Die Amerikaner haben immer noch Angst vor mir.“ „Bei der Oscarverleihung erhielt er einen zwölfminütigen Applaus vom Publikum, ein Rekord in der Oscar-Geschichte.“ (Wikipedia)
18 nach M.Kesting S.109)
19 Erinnert sei auch an den Umgang mit den Rolling Stones („We love you“ als Dokument der Polizeihaft) und John Lennon („Green Card“).
20 Morde waren für russische Führer (und Führerinnen) nie ein Tabu – bis heute nicht.
21 Nebenbemerkung 2021, also zwei Präsidenten nach Barak Obama, dem Friedensnobelpreisträger: Wenn Menschen in Guantánamo jahrzehntelang ohne Gerichtsverhandlung, geschweige denn – urteil in Lagern festgehalten werden, gleicht dies einer Hinrichtung ohne Tod. Moralisch dürfen sich die USA weder über Russland noch über China erheben, wenn man dies berücksichtigt. Es ist eben eine Nation von Landräubern seit der Mayflower.
22 Schiller, F., Die Braut von Messina: „...der Übel größtes aber ist die Schuld.“
23 Schoßwald, V., Martin Luther King, der letzte Prophet
24 Dogmengeschichtlich könnte man beim Schweykschen Überlebensmenschen Brecht auf die Problematik des Donatismus verweisen.
25 Die folgende Fußnote müsste eigentlich monatelang die Schlagzeilen in den Zeitungen beherrschen: Die USA sind die bisher einzige Nation, die einen Angriff gegen ein extraterristrisches Territorium starteten und zum Unabhängigkeitstag 2005 einen Asteroiden bombardierten. Ich würde dies wie auch Atombombenabwürfe auch anderen Nationen zutrauen, aber in der Tat sind die US-Amerikaner die einzigen, die beides bisher praktiziert haben. Zitat aus einem Kabarett-Programm meiner Popenspötter: „Die US-Amerikaner zeigten als erste dem Universum ihre feindliche Gesinnung und bombardierten einen fremden Himmelskörper, wohl weil es dort keine demokratische Regierung gab. Jetzt gibt es dort wenigstens Demo-Krater. Das machten die Republikaner am Indepedence-Day –nun enthält die US-Flagge einen Stern mehr.“
26 Dass die US-Amerikaner dank des Nazi-Technikers Wernher von Braun auf dem Mond landeten, verleiht dieser Geschichte auch eine nach Toten stinkende Note. Die Zwangsarbeiter von Peenemünde starben auch unter seiner Verantwortung.
27 Dass ich der leading opinion in den united states of america kritisch gegenüberstehe, verhehle ich nicht. Aber bodenlos dumm scheint mir die Unterstellung, die Mondlandung sei nur „gefaked“ (zu Deutsch: getürkt) gewesen. Andererseits ist diese alberne Behauptung vom Niveau der leading opinion nicht weit entfernt. Von oben oder von unten?....
Die Reaktion von Galileis Gegenspielern erinnert an Semmelweis und seine arroganten Kollegen, die absichtlich mit schmutzigen Händen Frauen behandelten, um ihn lächerlich zu machen; zu Semmelweis‘ Gegnern zählte ein sog. Medizinpapst, ein gewisser Herr Virchow, dessen Namen heute noch Apotheken ziert.
28 Das erinnert an die radikalen Linken in den späten 60ern und frühen 70ern, die sich nie umschauten, ob die Massen auch so hinter ihnen stünden, wie sie es behaupteten. – Meine eigene Position ist – auch durch Schiller geprägt – nicht optimistisch: Die Massen werden nicht dadurch gut, dass es ihnen in irgendeiner Hinsicht schlecht geht. 1989 in Deutschland hat gezeigt: die Banane ist ein Symbol: der Masse geht es darum, dass es ihr gut geht, egal auf wessen Kosten. Das praktizierten die sog. kommunistischen Leitfiguren auch nicht anders.
29 Wer sich ein graphisches Horoskop anschaut, also die Grundlage der Astrologen, die sich selbst für ernsthaft halten, erkennt bereits auf den zweiten Blick das geozentrische Modell der alten Babylonier: Die Erdscheibe, um die Sterne und Planeten (dazu gehören Sonne und Mond) kreisen. Die direkte Verbindungslinie zwischen Aszendent und Deszendent ist unsere Erdscheibe...
30 Ausnahme: Das Sternzeichen „Fische“ ist so groß, dass es teilweise noch zutrifft.
31 (Anmerkung 2012:) Der politische Ahnherr Bushs, Ronald Reagan, ein „wiedergeborener Christ“ im Kampf gegen den Antichristen (Moskau) (heute: Bagdad, afghanische Höhlen oder ganz allgemein: Terroristen, vielleicht sogar Monsieur Chirac und Herr Schröder), suchte vor wichtigen Entscheidungen seine Astrologin auf... Anmerkung 2021, elf Jahre später während der Corona-Pandemie: Inzwischen nennen sich die Leu
te, die „nicht durchs Rohr schauen“, „Querdenker“ und halten sich für besonders intelligent, weil sie auf Logik und Nachweisbarkeit verzichten.
32 Den theologischen Bereich nimmt er explizit aus.
33 De facto war Semmelweis drei Jahre älter als Virchow.
34 Brecht, Stücke, S.503:
Bertholt Brecht, Bibel, eine bundesrepublikanische Positionsbestimmung und hochvernetzte Wissensschnipsel
2.1 Protagonist des kausalistischen Weltbildes
Bertholt Brecht, verstorben am 14. August 1956 ist tot. Seit -zig Jahren... In den 1970ern dachte man noch, er sei unsterblich. Inzwischen ist er verblichen und verbleicht. Doch die Erinnerung an ihn lohnt sich in mehr als einer Hinsicht. Unsere Betrachtungen gelten dem leidenschaftlichen Verfechter des kausalistischen Weltbildes einerseits und dem Vertreter der gesellschaftlichen Gerechtigkeit zum anderen. Brecht nötigte seine Zuhörer und Zuschauer dazu, Position zu beziehen. Auch ihm gegenüber dürfen wir nicht neutral bleiben. So beziehen wir Position. Positionen müssen einseitig sein. Gerade, wer von Brecht begeistert ist, muss sehr pointierte Positionierungen ertragen – und sich zu eigner Positionierung herausfordern lassen.
„Galileo Galilei“ ist ein Stück aus der Anfangszeit des Brechtschen Exils. Der historische Galilei gilt als der Bahnbrecher neuzeitlichen Wissenschaftsverständnisses mit den beiden Grundpfeilern Kausalnexus und experimentelle Wiederholbarkeit. Brecht führt uns einen Wissenschaftler vor, der nur in einer Hinsicht Position bezieht, nämlich hinsichtlich seiner Forschungen. Aber auch diese Position relativiert er, als er selbst in Gefahr gerät. Sein Gegenüber und meist auch Gegner ist die Kirche, d.h. die römische Kirche in Italien, die zugleich die herrschende Macht repräsentiert. Es geht niemals nur um Kirche oder Religion, es geht sofort auch um Macht. Brechts Galilei erklärt unmissverständlich: Wenn sich die Sonne nicht mehr um die Erde dreht, dann kann der Mittelpunkt des Universums auch nicht mehr auf der Erde angesiedelt werden, dann ist er nicht mehr in Rom und auch nicht beim Heiligen Stuhl. Emotional verständlich artikuliert der „alte Kardinal“: „Die Erde ist im Mittelpunkt des Alls, ich bin im Mittelpunkt und das Auge des Schöpfers ruht auf mir.“38
Der Physiker Galilei bringt seine Ergebnisse nicht nur für Schulbücher, sondern sie wirken aktuell politisch: Wenn sich die bisherige Herrin Erde um die bisherige Dienstmagd Sonne dreht, weshalb sollte sich die irdische Herrin nicht auch um die irdische Dienstmagd drehen? So dreht es sich der Volksmund zurecht.39 Religiös wirkt Galilei eher protestantisch wie Brecht, aber unpassend für Italien, denn er entgöttert zwar den sichtbaren Himmel, äußert sich aber nicht atheistisch, sondern lokalisiert Gott im Inneren des Menschen. So fragt und antwortet er: „Warum stellt er40 die Erde in den Mittelpunkt des Universums? Damit der Stuhl Petri im Mittelpunkt der Erde stehen kann!“ Bezeichnenderweise stellt Brecht hier sofort ein machtpolitisches und kein theologisches Motiv in den Mittelpunkt. Das dürfen wir getrost bei den Machtpolitikern heutiger Tage auch tun, wobei wir das Adjektiv „theologisch“ durch „ethisch“, „menschenfreundlich“ und dergleichen ersetzen können. Das Schlimme an Jesus war ja, dass Gott auf die Erde kam. Da hat er nach Meinung der Machtpolitiker nichts zu suchen, wie es der Großinquisitor in Dostojewskis Brüder Karamassow klassisch dem wiedergekommen Jesus gegenüber ausdrückte: Jesus ist eine Gefährdung der Menschen, weil diese keine Freiheit vertragen.41 Jesus ist eine Gefährdung der Mächtigen, weil Gott nicht in der Ferne bleibt.
Gegenwärtig zeigen sich die Gegner Galileis irritierenderweise in den großen, sich feindselig gegenüberstehenden „Kulturen“ unserer Erde, sei sie nun der Mittelpunkt des Universums oder auch nicht. Da sind zum einen die Moslems; ich kenne persönlich viele, die ein geozentrisches Weltbild vertreten, ungeachtet der Satellitenschüssel, mit der sie ihre vorwiegend türkischen Programme empfangen, und die die Evolutionstheorie für einen Ausdruck westlicher Dekadenz halten42. Auf der anderen Seite artikulieren sich die Kreationisten der USA, die zwar die Mondlandung und damit die Führungsrolle der USA im Universum nicht bestreiten, aber die Evolutionstheorie mit biblizistischfundamentalistischer Grundhaltung bekämpfen und Gott als superschlauen Gentechniker darstellen. Für sie ist unerträglich, dass der Mensch mit den Affen einen gemeinsamen Vorfahren haben solle. Vermutlich würden sich Schimpansen und Gorillas von den politisch-militärischen Eskapaden der militantarabischen Staaten wie auch der USA durchaus distanzieren43.
Der Vatikan legte in Galileis (postlutherischen) Zeit Wert auf die lateinische Sprache, aber die Mehrheit des Kirchenvolks verstand diese nicht. Bekanntlich provozierte das zur Wandlung der Hostie in den Leib Christi gemurmelte „Hoc est corpus meus“ in den Ohren der einfachen Leute Hokus pokus...). Die US-Amerikaner artikulieren sich über ihre weltweiten Medien auf Englisch, doch ein relevanter und steigender Anteil der US-Bürger spricht spanisch. Diese Menschen werden „Latinos“ genannt. Die sich englisch artikulierenden US-Amerikaner demonstrieren heute ein Weltbild, das enger als geozentrisch, nämlich US-zentrisch ist. Einem Ondite zufolge wusste der US-amerikanische Präsident Ronald Reagan44 bei Amtsantritt nicht, in welcher Gegend der Erdkugel Europa liegt.45
Die globalen Gegner, die sich blutig bekriegen, verbinden also „fundamentalistische“ Gemeinsamkeiten. Das gilt etwas weniger für die bundesrepublikanische Wirklichkeit: Zwar wissen viele meiner jugendlichen (Berufs- )Schülerinnen und Schüler46 nur begrenzt etwas über das geozentrische Weltbild oder den Kreationismus, zugleich haben sie zumindest den Stand von Kopernikus, also heliozentrisches Wissen und grobes Wissen um die Ideen von Darwin, also „Affen als Vorfahren des Menschen“. Möglicherweise ist der bekannteste Deutsche der Neandertaler.47 Aber dieses (Halb-) Wissen wird oft im konkreten Leben ausgeblendet.
Kehren wir von den Prähominiden zurück zum geozentrischen Weltbild in der beginnenden Neuzeit und in der Postmoderne: Bei Brecht lässt sich Virginia, die Tochter Galileis vor der Hochzeit ein Horoskop erstellen. Diesen Brecht-schen Sarkasmus muss man sich vor Augen führen: Die Astrologie baut bis heute auf ein geozentrisches Weltbild. Auch heute noch werden Sonne und Mond von Astrologen48 unter die Planeten gerechnet und drehen sich mit diesen um die Erde, die wiederum kein Planet ist. Also, sobald es um Astrologie geht, tauchen erstaunlich viele Bundesbürger und nicht nur sie ins Mittelalter zurück. Galilei: „Sie benützen dafür ein sehr altes System, das sich in Übereinstimmung mit der Philosophie, aber leider nicht mit den Fakten zu befinden scheint.“ (Ersetze Philosophie durch Astrologie)
Es ist erschreckend, wie sehr die Argumentationsweisen des von Brecht skizzierten 16.-17. Jahrhunderts denen des postmodernen 21. Jahrhunderts gleichen, wenn man Brecht und die gegenwärtige US-amerikanische Oberschicht betrachtet. Komplizierte Sachverhalte müssen mediengerecht möglichst eindimensional dargestellt werden. Bei den US-kritischen Hinweisen lasse ich Russland, China, die islamischen Staaten und auch viele afrikanische Ländern weg, weil dort in der Regel die Regierung massiven Einfluss auf die Medien nimmt und die Verhältnisse mit Nordamerika und Westeuropa nicht vergleichbar sind. Meine Kritik an den USA adelt diese zugleich, weil dort im Prinzip freiheitliche Grundbedingungen vorliegen.
Rückblick zum sog. Nine-Eleven: Ich verfolgte die Reaktionen auf den 11.9.2001 in den amerikanischen Printmedien (Newsweek; Time), die in Deutschland vertrieben werden, also quasi die europäische Sicht der US-Amerikaner. Diese Sicht blieb auch in der Darstellung für Europa US-zentrisch, das entspricht in gewisser Weise dem geozentrischen Weltbild. Da wurde gebildeten Europäern mit Englischkenntnissen49 ein bereits geografisch reduktionistisches Weltbild zugemutet. Wenn Richard Nixon konsequent gewesen wäre, hätten Armstrong und Aldrin 1969 eine US-Flagge mit einem zusätzlichen Stern gehisst, den Mond als quasi weiteren US-Bundesstaat annektiert.50
Galilei seinerseits benannte einen von ihm entdeckten Himmelskörper nach dem Herrscherhaus von Florenz, bei dem er Zuflucht finden wollte. „Wenn ich den neuen Sternen, die ich entdeckt habe, den erhabenen Namen des Mediceischen Geschlechts zuteile, so bin ich mir bewusst, dass den Göttern und Heroen die Erhebung in den Sternenhimmel zur Verherrlichung gereicht hat, dass aber in diesem Fall umgekehrt der erhabene Name der Medici den Sternen unsterbliches Gedächtnis sichern wird.“51
Der Nazigegner Bertholt Brecht, der in den USA den Galilei mit Charles Laughton verfilmte, wurde wegen „unamerikanischer“ Umtriebe ähnlich wie sein Freund Charles Chaplin aus den USA vertrieben. Der Augsburger konnte deswegen nach Kriegsende nicht im besetzten West-Deutschland einreisen, weswegen er in der SBZ, genauer: in Ost-Berlin Zuflucht suchte. All dies spricht für mich weder dafür, dass Brecht mit seinen Stücken, die den Verstand herausfordern, echten Erfolg hatte, noch, dass das Mittelalter wirklich überwunden wurde. Da hilft auch nicht der geniale Satz, den der unsterbliche Galilei durch seinen Ghostwriter Brecht formuliert: „Angesichts von Hindernissen mag die kürzeste Linie zwischen zwei Punkten die krumme sein.“52
2.1.1 Zwischenbemerkung zur Astrologie
οιαδ ουκ ειωσ , „ich weiß, dass ich nichts weiß“, lernte ich seinerzeit im Griechischunterricht. Darin scheint eine tiefe Weisheit zu stecken. Ich kritisiere die Astrologie; zugleich sehe ich mich außerstande, alles darüber zu wissen und bin nicht einmal in der Lage, alle astrologischen Unterformen zu registrieren – man denke nur an die speziellen TV-Sender. Dass mir ein astrologisch kundiger Mensch sagt: „Bei mir ist das aber anders als bei dem Unsinn, den Ihnen andere Astrologen erzählen“ kann ich nicht verhindern. Es erinnert mich ein bisschen an das Problem der Drogenbekämpfung: Wenn eine synthetische Droge verboten wird, erscheint binnen kurzem eine chemisch veränderte Geschwisterdroge, die eben noch nicht verboten ist. Das kann endlos weitergehen.
Was macht die Astrologie problematisch? Rein phänomenologisch ist ein Horoskop der graphische und schriftliche Niederschlag eines geozentrischen Weltbildes. Doch dieses Weltbild ist überholt, wie nicht zuletzt der Nobelpreis für Physik 2006 an John Mather zeigt. Er wies die Hintergrundstrahlung nach, die das „Echo“ des Urknalls ist. Auch der Sonnenauf- und -untergang, den wir mit eigenen Augen sehen können, findet eben nicht statt, sondern ist eine optische Täuschung, hervorgerufen durch die Erdrotation. Was kann denn dran sein an Einsichten, die sich heute aus einem solchen Weltbild ergeben?
Ich will nicht den antiken Astronomen und Astrologen ans Leder. Ehrlich: Dass die Erde sich dreht und nicht die Sterne um uns, habe ich nie erkannt, sondern nur gelernt und meine persönlichen Himmelsbeobachtungen sind selbst trotz der heimischen Nürnberger Regio-Montanus-Sternwarte nicht so ergebnisreich wie diejenigen der Babylonier oder Ägypter. Mich beeindruckt auch, dass der Zusammenhang zwischen dem Sirius und dem Hochwasser des Nils schon im 4. Jahrtausend vor Christus erkannt wurde.
Dass die Astrologie / Astronomie Herrschaftswissen war, legt sich nahe. Denn wenn man bei den Sternen die Götter ansiedelt, dann hat das höchsten Stellenwert.53 Meines Wissens ließ sich der US-amerikanische Präsident Ronald Reagan vor wichtigen Entscheidungen astrologisch beraten.54 Die USA erklärten inzwischen den Weltraum zu ihrem schützenswerten Interessengebiet. Zwar passen so viele Sterne, wie das Universum hat, wirklich nicht auf die US-Flagge, aber… mich macht das nachdenklich. Immerhin nutzten die US-Amerikaner ihren Unabhängigkeitstag 2005 für ein Bombardement im Weltraum, ohne gefährdet gewesen zu sein.
Doch in der Astrologie spielen die Zerstörungen von Himmelskörper durch das Militär keine Rolle. Hingegen werden in der sich selbst ernst nehmenden Astrologie (also alle Medienfakes einmal ausgenommen) Sonne und Mond als Planeten behandelt, obwohl sie es nicht sind. Der Mond entspricht als einziger nicht künstlicher Himmelskörper der astrologischen Sicht des Himmels, indem er um die Erde kreist.
Die astronomische (Neu) Bestimmung von Pluto, durch die dann auch Sedna und Xena (2003 UB313), um die Entdeckung sehr großer Planetoiden noch mit hinzuzunehmen, ihren vorerst endgültigen Platz erhielten, fand vor relativ kurzer Zeit statt.55 Es läuft aber mit oder ohne Pluto auf dasselbe hinaus: Himmelskörper unseres Sonnensystems sollen Einfluss zumindest auf unseren Charakter haben.
Doch bereits die Benennung der Planeten ist zwar nachvollziehbar, aber willkürlich, geographisch begrenzt und hat höchstens bei Merkur einen astronomischen Anhalt, weil dieser nach dem Gott der Wanderer benannte „umherirrende Himmelskörper“ (so wohl die korrekte Übertragung von „Planet“) tatsächlich am schnellsten die Sonne umrundet, dank der kleinsten Umlaufbahn. Pluto56, der als äußerster Planet der Wächter des Sonnensystems sein sollte, wurde aus dem Kreis der edlen Planeten verbannt, degradiert, quasi in die Hundehütte „Zwergplanet“ umgesiedelt. Dass der dank seines hohen Eisengehaltes verrostete rote Mars für den Krieg steht, verdankt der Planet nur dem Aussehen. Dass die Venus mit Liebe verbunden wird, hängt mit ihrer Helligkeit und ihrer ersten und letzten Sichtbarkeit in der Abend- und Morgendämmerung, also der Zeit der intensivsten Liebestätigkeit der Menschen zusammen, nicht mit irgendeiner Planeteneigenschaft.
Ich finde, das kann man Astrologen sagen, ohne sich selbst der Inkompetenz bezichtigen zu müssen.
Dass die Sternbilder ein rein optisches Phänomen sind, dem nur in Ausnahmefällen eine echte räumliche Zugehörigkeit der entsprechenden Sterne entspricht, macht die Astrologie nicht gerade überzeugend. Die absolute Helligkeit der Sterne lässt sich im Unterschied zur relativen mit bloßem Auge nicht erkennen. Doch mit vergleichsweise einfachen Computersimulationen können wir heutzutage Flüge durchs Universum unternehmen, die uns ein völlig neues Bild vermitteln, gerade auch, wenn man mal den Standpunkt verlagert und sich außerhalb unseres Sonnensystems positioniert.
Auch eine rein terrestrische Beobachtung relativiert die Sternbilder: Andere Kulturkreise haben andere Sternbilder konstruiert. Sehr beliebt ist seit einigen Jahrzehnten die fernöstliche Astrologie. Gleicher Himmel, andere Bilder, andre Rhythmen…
Das Phänomen der „Häuser“ ist astronomisch nicht verifizierbar. Mir sind daher mehrere Systeme von Häusern begegnet. Geschichtlich machen sich „Häusersysteme“ an Namen wie Campanus, Regiomontanus, Placidus oder Koch fest. So werden Horoskope im wörtlichen Sinne unübersichtlich. Die Häuser sind ein künstliches Koordinatensystem, den Längen- und Breitengraden vergleichbar oder der Skala einer analogen Uhr und haben am realen Sternenhimmel kein Äquivalent – ebenso wenig wie die Verbindungslinien zwischen den Sternen der Sternbilder. Dass gerade diesen Häusern nun spezielle Themenbereiche des psychischen und sozialen Apparates zugeordnet werden, macht die Astrologie zwar ergiebig, aber noch beliebiger als tatsächlich sichtbare Himmelskörper.
Ein weiterer Problempunkt betrifft die sog. „Aspekte“, d.h. die graphisch darstellbaren Beziehungen zwischen den Himmelskörpern: Wie steht Mars zu Venus und Jupiter zu Saturn und dergleichen… In der Tat wäre dies objektivierbar, ließe sich sogar auf einer Sternenkarte einzeichnen, freilich auch wieder unter geozentrischer Sicht. Astrologieapologeten reden hier von Topozentrik, was nach meinem Verständnis bedeutet, dass das Zentrum des Horoskops der Fragesteller selbst ist. Also: Aspekte als Stellung der Himmelskörper zueinander definiert sind zwar visualisierbar, aber daraus ergibt sich kein objektives Deutungspotential.
Damit wären wir beim Punkt „Wissenschaftliche Sicht der Astrologie“. Vorausgesetzt, naturwissenschaftliche Kriterien zur Untersuchung von Phänomenen (Wiederholbarkeit, Kausalitätsprinzip etc.) gelten als angemessen, muss man festhalten, dass es eine beträchtliche Anzahl von Untersuchungen zum Thema gibt. In der dänisch-deutschen Hartmann-Studie etwa wurden die Daten von 15.000 (!) Personen in Beziehung zu ihrem Horoskop ausgewertet; dabei ging es nicht um „Zukunftshoroskope“, sondern um Charakterhoroskope. Die Studie konnte keine signifikanten Zusammenhänge etwa zwischen Geburtssternzeichen und Persönlichkeitsmerkmalen ermitteln. 15.000 Personen sind ein gewichtigeres Argument als alle Gegenbeispiele aus dem eigenen Umfeld.
Dabei ist die argumentative Ebene nur ein Teilbereich. Weshalb lassen sich Menschen ein ausführliches Horoskop stellen?! Unsicherheit und Vergewisserung spielen eine Rolle. Häufig begegnet mir eine Haltung, in der das Gegenüber sich nicht fassen lässt: Es glaubt nicht so ganz an Horoskope. Es weiß, dass vieles nicht stimmt, gibt dies auch zu, beruft sich dann aber darauf, dass das Stimmende eben doch verlässlich sei. Ich fand in einem beschreibenden Artikel folgenden Kommentar: „Astrologie erfüllt bei vielen Menschen ein Bedürfnis nach übernatürlichen, transzendenten oder metaphysischen Erklärungen für ihre aktuelle oder zukünftige Befindlichkeit. Die Erwartung metaphysischer Aussagen lässt per Definition jede naturwissenschaftliche Kritik belanglos sein.“ Das könnte stimmen.