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"Mein Name ist CoV-2, SARS-CoV-2 - Lizenz zum Töten". Ein Coronavirus wandert durch die Pandemie. Zweiwöchentlich wechselt es den Wirt, lernt neue Welten kennen und erfährt mit dem zunehmenden Wissen der Öffentlichkeit auch viel über sich selbst. In seinem Tagebuch hält es die Erfahrungen fest, ohne die Zukunft zu kennen. Der Leser kann den Weg von Anfang 2020 bis Frühjahr 2021 mitverfolgen. Diese "virale Novelle" bietet auf eine unterhaltsame Weise ein Nachvollziehen und Nacherleben menschlicher Geschichten in dreizehn Monaten. Volker Schoßwald, mit eigener Covid 19 - Erfahrung, erzählt vieles, das ihm bei Gesprächen, Begegnungen, Beerdigungen zugetragen wurde. Er ergänzt es um biologisches und medizinisches Wissen, das einem Laien zugänglich ist.Dabei ist der Blick eines Virus, mit dem der Autor sich notgedrungen, wenngleich fiktiv identifiziert anders als das von Menschen. Das verleiht dem Tagebuch eine ethische Brisanz, gerade auf dem Hintergrund einer durch die Evolutionstheorie geprägten Wissenschaft.
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Seitenzahl: 286
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Die Entwicklung im Landkreis des Autors nach RKI
Dank gilt Hans-Eberhard Rückert für das Korrekturlesen
Ist hier noch ein Plätzchen?
Nachtflug
Trubel auf dem Markt
Reichlich Reis
Land des Lächelns Ambulanz
Was für eine Sprache?
Scala
Vom Gemüsemarkt in die Alpen
Im Zeichen der Burg
Patienten
Frühstück
Faschingstanz
Frühstücksfernsehen: Heinsberg
Joggen gegen Ansteckung
Konkurrenz: die Frau des Pastors
Heinsberg: der erste Tote
Vom Sarg ins Pfarrhaus
Reflexionen eines Geistlichen
Gartenarbeit im Lockdown
Quarantäne
Die Qual-antäne ist vorbei
Freiheit für mich
Das Wandern ist des Virus Lust
Ehekrise im grauen Wohnzimmer
Sex in Zeiten von C
Das Wandern ist der Krone Lust
Querdenker-Demo als Covid-Party
Notarzt
Führer befiehl! Wir schaffen es nicht.
„Herr, zeige uns Covid 19“
Aphorismen von Sars
Das Virus im Rachen der Schönen
Ins Herz
Coronaparty in der Residenz
Geschwisterliches Hickhack
Teststation Dürer
Stille Nacht, tödliche Nacht
Kotzend zur KVB
Silvester und das tödliche „Neue Jahr“
Impfen bloß nicht ja unbedingt
Frisör statt Freiheit
Haarklein
Meine Feinde nahen
Höhlenforscher
Abflug in der Fledermaus
Anhang
46.1 Traueranzeige
46.2 Outtake: Der skurrile Start im Original
46.3 Doku: Quarantäneschreiben und Gutschein
46.4 Gruß von der Bundesregierung
„Nichts ist schöner als Fliegen!“ summte ich, spreizte genüsslich die flexiblen Zacken meiner Kugelkrone, schmiegte mich in die Luft und gondelte über den Windkanal zu dieser witzigen Fledermaus. Sieht sie nicht aus wie Dracula? O, wie ich sie um ihre Beißerchen beneide. So reinbeißen zu können, das muss toll sein. Ich kann nur anklopfen an eine Zelle und dann hineingleiten. Aber erst einmal flog ich durch das Dunkel dieser Höhle.
Ich, ein gekröntes Haupt. Eine fliegende Krone. Corona volanta. Genüsslich schwebte ich zu meinem kuscheligen Fledermäuschen. Mucksmäuschenstill flog ich in es hinein, floss hinein,…
Ich bettete mich in diesem Winzling röcklings, die Zacken nach oben… bei meinem bespickten Körper ist alles oben… Gleiche ich nicht einem Raphaelo Kugelo, das so lecker schmeckt, der Zunge schmeichelt und in den Rachen gleitet… und dann?
Wie schaut man aus einer Fledermaus hinaus? Wo finde ich hier Fenster? Es war stockdunkel in ihr, wie in einer schwarzen Höhle. Hingen an der Decke Myriaden Mikro-Fledermäuse, die gierig ihre Zähnchen in mich bohren würden?
Mit Grandezza glitte ich im Slalom durch den Zähnchenzaun! Meinereins ist ein guter Pfadfinder, auch wo es keine Pfade gibt. Ich schleime mich von Ort zu Ort. Auf Schleimhäuten komme ich einfach besser vorwärts. Am liebsten habe ich auf Schleim SexNichts mit Geburtenkontrolle! Ich vermehre mich wie wild. Im Wild. In Wild-Schleimhäuten… Zellensex, Sex mit Zellen, ach, wie geil!
In meinem Fledertier schlüpfte ich auf schleimigen Bahnen und durch mäandernde Zellen tiefer. Den Schleim für Fortpflanzung und Fortbewegung gleichzeitig nutzend gelangte ich - mich genussvoll vermehrend dank der spendablen Schleimzellen - bis in die Äuglein, in die schwarzen Äuglein. Die schwarzen Fenster zur Welt.
Beim Ausblick übermannten mich Schwindelgefühle. Ich wusste nicht mehr, wo oben noch unten ist – was sich bei meiner Kugelform in der Tat nicht so leicht definieren lässt. Kopfüber starrte ich durch die Augenhöhlen in die Felsenhöhlen, wo das Heer der Fledermäuse abhing. Hang on, bat, hang on! Tausende schmiegten sich aneinander, sich mit Wärme speisend in der kalten Nacht.
So ein Fledermausleben hat was! Fledermäuse erleben echten Körperkontakt, wärmen sich gegenseitig. Phantastisch. Denn maus ist nie allein. Die Fledertiere lieben die Nähe so sehr, dass sie sogar miteinander eine Höhle teilen, auch wenn sie zu verschiedenen Arten gehören. Symboltier des Antifaschismus. Sie mischen sich sogar. Das kennt meinereins gar nicht. Ich bin viele, aber immer Einzelkämpfer. Ich bin zwar nur stark, wenn ich viele bin, aber von Gemeinschaft war bei mir noch nie die Rede, ich klone mich und bin doch keine Klonfamilie. Im Augen-Blick fühlte ich mich besonders allein, versackt in einem Auge, das kopfüber in der Gegend baumelte.
Fledermäuse! Die genießen es, mit den Füßen an der Decke zu hängen. Ich aber wurde mitten in der Luft schier seekrank. Es half nichts, dass ich bereits viele war. Mir war zum Kotzen.
Der Fledermaus auch. Ich hatte inzwischen doch zu viele Teilungen in ihr hinterlassen. Wie geht es einer seekranken Fledermaus? Mitten in der Luft fühlt sie sich wie auf hoher See. Um ihrem Leiden ein Ende zu bereiten, stürzte sich meine Fledermaus von der Decke, in die dunkle Tiefe. Gleich würde sie auf die Felsen prallen. Dann wäre es aus mit m-ihr. Könnte ich mich durch einen schnellen Wirtswechsel retten? Aber ihr Suizid-Versuch misslang, ihr Flugreflex funktionierte einwandfrei. Wilde Radarsignale des Ärgers sendend segelte sie durch das Dunkel. Ich suchte keinen Wechselwirt, sondern flirtete flirrend mit meinem fluchenden Flugtier.
Blindflug. Nicht meine Sache. Ich wollte die Augen zumachen. Aber wir Viren haben keine Augen. Da heißt es auch nicht, vier Viren sehen mehr als eines. Wir nehmen ganzheitlich wahr. Sehen, hören, fühlen… das bedeutet uns nichts. Wir werden nicht blind, nicht taub, nicht… Ich bin aber gerne zu Gast in Wesen mit ausgeprägten Sinnesorganen, durch die ich spüren konnte. Ich war jetzt Gast in diesem Fledermausauge.
Irgendwann genoss ich den wilden Flug wie ein Passagier in der besten Fledermaus aller Zeiten, die reinste Fledermaussause! Ich plusterte mich auf zu einem pummeligen Batman mit Spikes. Mit meinem Mäuschen über allen Gipfeln.
„Über allen Gipfeln
Ist Ruh',
In allen Wipfeln
Spürest Du
Kaum einen Hauch;
Die Vögelein schweigen im Walde.
Warte nur!
Balde
Ruhest du auch.“
Goethe und Schubert im chinesischen Äther? Ich flöge singend in meinem Lebenstraum: auf alles und alle herabschauen. Oder heißt es hinabschauen? Aus meiner Perspektive?
Der fahle Mond beschien die bläuliche Landschaft, verwandelte das stille Land in ein Märchenbild. Eine Märchennacht! Was für bizarre Berggipfel! Was für skurrile Bäume? Was für gespenstische Baumkronen, Baumkrönchen. Baumcorönchen? Bin ich vielleicht mit einem Baum verwandt? Findet sich eine Baumkrone in meinem Stammbaum? Fragen über Fragen, die man sich stellen kann, wenn man pfeilschnell durch eine dunkle chinesische Landschaft saust als Passagier im Auge einer Fledermaus.
Freilich war ich längst nicht mehr allein. Schleimsex führte zur Überbevölkerung zwischen den Zellen dieses Sinnesorgans. Aber wie jeder weiß, kommunizieren wir nicht miteinander, sondern enzymieren mit unseren Gastgebern, unseren Gastzellen.
Unter uns breitete sich das Ackerland aus. Endlose Felder in der Morgendämmerung. Gibt es dort vielleicht Feldermäuse? Das wäre auch mal ein interessantes Gasttier. Aber noch befand ich mich im Auge und nicht in den Aerosolen dieser Flugmaus.
Pflopp!
Pflopp?
Was war das? Abrupt wurde meine Reise unterbrochen. Das Auge, der Kopf, die ganze Fledermaus federte zurück. Eine Federmaus? Nein, keine Zeit für dumme Wortwitze, wir sind in Wuhan / China und nicht in Kalau / Niederlausitz… Abgestürzt? What happened? Zwei Augen mit hunderten von Corönchen blickten wild durch die Gegend. Meine Gastgeberin zappelte! Ihre Flügel verhakten sich – in – einem - Netz!
Mein Gott, ich weiß, dass man mit Speck Mäuse und mit Netzen Fische fängt, aber Fledermäuse mit Netzen? Wer weiß denn so was? Erfahrung macht klug. Ich war jetzt klüger und mein Fledermäuschen gefangen.
Ich spürte die Panik, die durch den restlichen Körper pulste. Ich spürte, wie sich der Druck in den Augen verstärkte und mich in den Glaskörper hineinpresste. Aber es half nichts. Die Wirklichkeit blieb, wie sie war. Meine Fledermaus und zugleich der ganze Schwarm, der mit ihr unterwegs war, hatte sich in einem Netz verfangen.
Grobes graues Sisal, verdreht, geknüpft, hart. Es wirkte so natürlich. Bestimmt böte es für touristische Fotografen ein romantisches Motiv. Aber sähen die Augen der Reisenden auch das Leid, das im Netz gefangen war?
Bald bemerkte ich große Tiere. Ihre Hässlichkeit verbargen sie in Stoffen, von ausgesuchter Hässlichkeit. In blauen Hosen mit blauen Jacken näherten sie sich unserem Netz. Sie lachten vergnügt wie angesichts eines willkommenen Ereignisses. Spitze Finger deuteten wie Speere auf uns. Hatten sie mich schon entdeckt? Ich schob mich hinter eine unspezifische Bindegewebezelle, die keinen Anlass gab, sie zu mustern. Dabei vergaß ich, dass man mich ohnedies nur unter einem Elektronenmikroskop entdeckte und so etwas kannte man nicht in der Welt dieser Bauern.
Schnatternd wie eine ganze Gänseherde verschnürten sie das Netz. Wie unser Schwarm schrie! Aber sie hörten nichts, mit ihren unsensiblen Ohren, diese Homines mit dem eingeschränkten Frequenzspektrum. Mit meinen 99 Nanometern bin ich ganzkörpersensibel. Welche Schwingung auch immer: Ich schwinge mit. Leider schwang ich mich ja auch mit den Fledermäuschen in die Lüfte. Nun war ich mitgeflogen und mitgefangen. Mitgefangen, mitgehangen? Nein, gehangen hatten wir schon in der Höhle. Was käme nun? Microchiropterae als Schmusetierchen für kleine Gören? Gespiele für Drakula? Ach, wir befanden uns ja in China, nicht in Transsylvanien. Aber hier gab es Dragons, Drachen. Passten die Spitzzähnchen meiner Wirtin dazu?
Irgendetwas versetzte mich in einen kognitiven Ruhezustand: Gedächtnislücke. Reproduzieren statt wahrnehmen? Wie immer dem sei: Ich fand mich wieder in einer riesigen Stadt mit einem gigantischen Markt. Ich klebte immer noch im Auge dieser Java-Hufeisennasen-Fledermaus und es war immer noch Dezember.
Dezember in Wuhan erlebte ich als Paradies. Die Temperatur schaukelt um die vier Grad herum. Was für eine angenehmere Umgebung! Ein lauschiger Abend bei vier Grad mit einer Zelle, eine Penetration und der Austausch von Zärtlichkeit gegen Enzyme und schon… Meinereins setzt sich unseren Gastgebern als Krönchen auf. Heiße Liebe am liebsten locker über dem Nullpunkt.
Meine „Augen“ wanderten neugierig über das, was meine Wirtin vom Marktgeschehen erkennen konnte. Zwischen zwei schwarzen Körpern hindurch erkundete ich die Umgebung, in der sich viele Menschen tummelten. Ein mit vielen Meerestieren bestückter asiatischer Markt. Wie ein Voyeur spitzte ich auf die flanierenden Käufer…
Von den behäbigen Schildkröten schlenderte eine junge Frau über den Markt herüber. Ihre Augen musterten das Angebot. Suchte sie leckere Meeresfrüchte für ein festliches Gericht? Zielgerichtet näherte sie sich uns. Ihr Begleiter wirkte gar nicht chinesisch, eher wie ein Ami. Ein Reporter für eine US-Zeitung? Ich nannte ihn Sam.
Sam machte eine Kopfbewegung zu einer jungen Chinesin, die einige Meter weiter stand und flüsterte seiner Begleiterin etwas zu: „Li-Darling, das ist Bat-Woman!“
„Eine schlechte Frau?“ flüsterte sein Schätzchen mit großen Augen zurück. Sie hatte offenbar “bad woman“ verstanden.
Sam grinste nur: „Nein, eine Fledermausmietze…“
Li blickte ihn fragend an.
Sams Gesicht schob wissend seine breiten Lippen nach vorne: „Sie ist eine Koryphäe, vor allem für heimische Fledermäuse, für Bats. Eine anerkannte Forscherin, die wissenschaftlich bestätigte, dass die Flatterwesen ein willkommenes Transportmittel sind.“
„Fledermäuse? Transportmittel?“
Der Mann lachte breit amerikanisch; mit einem Stetson-Hat wäre er die klassische Besetzung für einen Western. Mit seinem Chewing-gum glich er einer wiederkäuenden Kuh. Herablassend flüsterte er der netten, offenbar einheimischen Frau seine Erklärung zu: „Flattermäuse bringen Viren von Ort zu Ort. Die nette junge Frau da drüben untersucht die Transportwege. Shi Zhengli. Ein Name wie der einer Schweizerin, aber sie stammt von hier. Machte sich als Grippenforscherin einen Namen.“
„Fledermausgrippe?“
Der Ami präsentierte seine dicken Zähne: „Guter Joke! Bat-Influenza… Das könnte ich in meinem Artikel aufgreifen. – Aber jetzt lass uns weiter ziehen. Ihr Mikroskop baut Shi Zhengli hier nicht auf. Die süßen kleinen Nager an unserem Stand haben ‚Batwoman‘ nicht interessiert. Ich muss noch zu den Schildkröten.“
Das Pärchen verweilte in der Nähe, denn lustvoll musterte die Begleiterin des Reporters den Stand mit Garnelen nebenan. Sie schaute an dem auffallend größeren Journalisten hoch: „Turtles?“ Der Ami schob seinen Gum quer über den Gaumen in die andere Backe und brillierte mit Sonderwissen. Nicht alles, was man im Ausland von China weiß, wissen dessen Bewohner auch.
„Listen, Baby! Die Händler verkaufen hier Meeresfrüchte und auch Schildkröten. Die Kunden erwarten die besten, die echten Meeresschildkröten. Was kennzeichnet sie? Als Produkte der freien Natur zeigen sie beispielsweise Macken am Schild. Gezüchtete Schildkröten aus der Gefangenschaft weisen einen ganz anders pigmentierten Panzer auf. Echt Ätzend für die Händler! So what? Sie greifen zu einer kleinen, feinen Methode. Mit etwas Kaliumpermanganat – ächt ätzend! – höhöhö… nein, im Ernst: mit dieser Lösung verätzen sie den Panzer. Wie Antiquitätenfälscher. Ihre Produkte gleichen dann wilden Schildkröten. Die bringen den Händlern einfach mehr Kröten in den Beutel.“
O, was für ein witziger Coolporteuer. Seine hübsche Begleiterin lächelte bereitwillig: „Nehmen wir die Garnelen hier mit?“
„Mach das“, brummte Sam, „die sehen lecker aus. Aber nicht billig. Billiger kriegst du sie da drüben.“ Er deutete in die Ferne.
Die junge Frau war verunsichert: „Soll ich sie woanders kaufen?“
Der Ami lachte behäbig: „No! A joke! Da drüben, in den großen Kanal entsorgen die Restaurants ihre übrig gebliebenen Garnelen. Eine Art unbegleitete Rückführung in die Heimat. Da schwimmen jeden Tag ein paar tausend Pfund ab…“
Seine Begleiterin schüttelte sich angewidert: „Du verdirbst mir den ganzen Appetit. Jetzt verliere ich die Lust auf Meerestiere!“
Das störte ihren Herrn und Gebieter wohl wenig. „Kauf, was du willst. Aber pass auf: Die manipulieren ihre Mikrochips. Moderne Waagen, auf neuem Standard, elektronisch, aber wenn ich gut informiert bin – und das bin ich in der Regel immer -, dann zocken sie ziemlich elektronisch ab. hier was manipuliert.“
Li war inzwischen völlig abgetörnt, aber er insistierte: „Heute gibt es das Bat-man-Menü. Wir nehmen hier zwei von den Tierchen mit.“
Seine widerliche Fratze näherte sich mir. Er deutete mit seinem fetten Finger auf mich, obwohl er meinen Wirt meinte.
Der ölige Händler stellte sein Glas mit Tee beiseite. Ich hatte es beobachtet: Seit dem frühen Morgen hatte er weißen Tee in einem alten Konservenglas aufgebrüht. Von Zeit zu Zeit schüttete er sich etwas in eine dicke, gelbgrüngemusterte Porzellantasse und wenn das Glas leer war, holte er sich von der großen Hütte heißes Wasser nach. Der Tee müsste für den ganzen Tag reichen und offenbar wurde er mit der Zeit immer besser. Anscheinend muss man weißen Tee mehrmals aufbrühen. „Der Tee hält mich wach…“ murmelte er immer wieder zu seinem Kompagnon. Für diesen war dies bestimmt keine Neuigkeit, denn auch er hatte sich mit einem Glas dieser Flüssigkeit ausgerüstet.
„Dürfen es diese beiden sein? Sehr lecker. Sehr frisch, von heute Nacht. Zartes Fleisch.“ Als müsse er Überzeugungsarbeit leisten, nachdem sich der Tourist oder was immer dieser Europäer war bereits entschieden hatte. Kaufen ohne Handeln geht gar nicht. Und Handeln ohne Animation ist unvorstellbar…
Aber der Kunde schob nur seinen Kaugummi von seiner linken auf seine rechte Backe und fragte nach dem Preis. Er wusste, dass er hier über den Tisch gezogen wurde und die Fledermäuse überteuert kaufte, aber für sein Budget zahlte er einen vernachlässigbaren Preis. Quasi als Geschenk erhielt er auch noch mich dazu. Der Verkäufer berechnete keinen Corona-Aufschlag. Das fand ich eigentlich ziemlich fair.
Reichlich Reis. Und reichlicher Braten.
Ein dreikontinentales Gespann scharte sich in Lis Wohnung in einem Außenbezirk von Wuhan um die heimische Köstlichkeit. Die Wohnung war einfach eingerichtet, das Porzellangeschirr gelb und grün, die Wand zierte eine Kalligraphie, daneben hing ein buntes Tuch. Auf dem Regal befanden sich Bücher unterschiedlichen Charakters. Und neben dem Fenster hing der unvermeidliche Vogelkäfig. Darin hüpfte zwitschernd ein buntes Federtierchen. Manche Chinesinnen trugen es sogar morgens mit ins Freie, wenn sie ihr unvermeidliches Schattenboxen, ihr Taijiquan gruppenweise praktizierten. Ying und Yang im öffentlichen Park. Die Ausgewogenheit als höchste Stufe des Lebens. Wenn dem nur der Rest der Kultur auch entspräche! Li schien dafür den Qíméigùn, den Kurzstock zu nutzen. Zumindest lehnte drüben an der Wand neben dem Computer.
Der kleinen Gesellschaft aber ging es ums Essen. Mein Zwischenwirt lag gut gehäutet und gebraten auf einer Schale. Die Hitze bekäme mir nicht, aber ich beendete ohnedies gerade meinen Umzug. Das geschah schon auf dem Weg in die Küche. Kaugummis produzieren jede Menge Speichel, ab und zu fuhr Sam sich mit der Hand unwillkürlich über den Mund, die Hand streifte zuvor am Netz, in dem der Kavalier meinen vorläufigen Wirt trug.
Keine Angst vor malmenden US-Zähnen! „America bites first!“ Zwischen seinen gigantischen Beißerchen fanden sich reichliche Abstände und so richtete ich es mir schnell bequem ein. Bestens gelaunt genoss ich die herrliche Umgebung, wo ich auch ohne Stars&Stripes mit Spikes andocken und replizieren konnte. Hier baute Sams Präsident keine Mauern. Aber die Amis verkennen häufig die echten Gefahren.
Mir ging es gut. Statt zu essen, verdoppelte ich mich mit den Enzymen meines ahnungslosen Wirts. Ich begann gleich mit der Vermehrung, da ich in seinem riesigen Rachen eine wunderbare Umgebung fand. Sein Immunsystem erkannte mich zunächst einmal nicht und im Verborgenen genoss ich meine Sexspielchen. Schade, dass es keine akustischen Zeichen an die Ohren der kleinen Gesellschaft gab. Rachenporno! Wie hätten sie gestaunt.
Aus Sams breiten Mund quollen lockere Späße. Lockere Kleidung trug er ohnedies: „Naja, Fledermäuse sind nicht so ganz mein Geschmack! Ich mag Bats eher als Comic.“
Dabei hatte er sie selbst erworben, im Sog seiner Weltmann-Attitüde. Was sollte er nun tun? Aus Höflichkeit probierte er lächelnd die Köstlichkeit. Aber die Höflichkeit reichte nicht, um die Gastgeberin zu loben.
„Reich mir noch was vom Reis. Die Sauce ist dir sehr gut gelungen.“
„Ein Rezept meiner Mutter. So kocht man bei uns traditionell. Ist es dir nicht zu scharf?“
„Nein, überhaupt nicht. Könnte ich noch etwas Ketchup haben?“
Die kleine Frau mit den glatten, fast schwarzen Haaren klimperte irritiert mit den Wimpern. Traditionelle Küche und Ketchup. Was für ein No-Go! Sie seufzte in sich hinein: Amis! Eine Nation ohne Geschichte und ohne Kultur, dachte sie sich, verbarg aber ihre Gedanken hinter ihrem freundlichen, perfektionierten Lächeln.
„Shit!“
Der junge Mann hatte sich hellrotes Tomatenketchup über sein neckisches T-Shirt gekippt. Es wirkte wie Blut. „Shit!“, fluchte er nochmal und tupfte sich das T-Shirt ab.
„Apropos Shit: Morgen muss ich nach Beijing!“ Dabei stopfte er sich mit seinen Stäbchen etwas Reis zwischen die Zähne.
„Konferenz?“
„Meistens konferieren wir per Video, aber manchmal müssen wir dreidimensional auftauchen…“ er lachte wie über einen tiefsinnigen Witz. „Die regionalen Mitarbeiter treffen sich im Zentrum zum Austausch. Diesmal kommt eine Delegation aus New York. Denen zeigen wir natürlich etwas China.“
„Die verbotene Stadt…“ Sie seufzte über die Eintönigkeit der touristischen Ziele.
„Bestimmt auch den Kaiserpalast. Und ein leckeres Steakhouse!“
Li schauderte: Ein Steakhouse galt jeder anständigen Chinesin als No-Go, als Prolo-Treff. Stilloses Essen, uniformes Ambiente. Fehlte nur noch, dass die Servietten mit Stars-and-Stripes bedruckt wären. Was konnte man andererseits von einer Nation mit einem stillosen Präsidenten erwarten. Millionen standen hinter ihm. Auf demselben Niveau. Praktisch unter Meeresspiegel. Geistiges Landunter in USA. Aber leider mit viel Macht.
Gerne griff der Westmann zu einem bunt bemalten Gläschen mit bräunlichem Reiswein. Er schlürfte es über seine breite Zunge mit Genuss. Aromatisch wie Likör strömte der Wein an mir vorbei die Kehle hinunter. Alkohol macht mir nichts aus, selbst wenn einer gurgeln würde, ;)
„Das macht ihr aber ganz nett…“ singsangte sie, mit der in ihrem Volk tiefverwurzelten Diplomatie, der Aufrichtigkeit als ein Fremdwort erschien. Bei einer Mischung von Chinesen mit Amis passt nichts, was ethisch belastbar wäre. Aber solange die Welt nicht von uns beherrscht wird, bleibt das auch so.
Neben den beiden großen Nationen der nationalen Lügen saß Sams Kollegin. Sie musste auch auf diese Konferenz. Freilich kam sie aus einer unbedeutenden Nation. Italien. Wie die meisten ihrer Landleute war sie auf ihr altes Rom stolz, doch mehr als die Ruinen der Tempel und des Forums war ihre heutige Regierung auch nicht wert. Schon die Amis wechseln im Vergleich mit China ihre Präsidenten wie reinliche Menschen ihre Unterhose, aber die Italiener wechselten ihre Regierungen wie Nutten ihre Freier. Da konnte einer den anderen verachten. Von allen drei machte aber die Italienerin auf mich den solidesten Eindruck. Giulia. Sam verbreitete diverse Witzeleien über die Hälfte des berühmtesten Liebespaares der Weltgeschichte. Unter Giulias Balkon könnte er sich zwei ganz unterschiedliche „Bau“-werke vorstellen. Walt Disney-Niveau. Aber immerhin ein Literaturkenner. Durch Shakespeare, der wenigstens sprachlich den Amis glich, wusste man von Romeo und seiner verglühten Liebe.
„Darf ich mal noch etwas Reis haben?“ fragte Giulia mit einem unwiderstehlichen Lächeln, die Anspielung auf den Balkon charmant überhörend.
Ihr Lächeln machte mich an. Verzaubert schwebte ich aus der US- Luftröhre durch den Rachen via Mundhöhle und begab mich auf die Luftreise zu der netten Italienerin. Selbstlos ließ ich Kohorten von Klonen zurück. Das war meine Rache im Rachen des Großmauls. – Nein! Ich bin ethikfrei. Die Unterschiede, die ich mache, sind rein anatomischer Natur. Da haben Arier, Asiaten und Aborigines die gleichen Chancen, nur Afrikaner aus dem Äqaatorialgürtel sind günstiger dran.
„Bitte, nehmen Sie sich reichlich!“ forderte der Kenner des Landes sie auf, „die Chinesen lieben es, wenn man Reis nimmt. Sie betrachten es als Anerkennung.“ Herrlich, dieser Wortreichtum! Er schuf mir eine märchenhafte Luftbrücke.
„O, vielen Dank! Ja, ich nehme mir gerne einen guten Löffel von diesem Reis. Er schmeckt herrlich aromatisch.“ Beim Sprechen muss man nicht nur Luft von sich geben, sondern auch einatmen. Ich wählte sicherheitshalber nicht den Weg durch ihr bezauberndes Mündchen, sondern durch das Stupsnäschen. Da würden mich ihre Worte nicht so leicht wieder hinauspusten. In ihrem Nasenschleim fühlte ich mich wohl. Meine neue Wirtin. Giulia, eine Italienerin. Auch mal was Neues. Diese Mahlzeit entpuppte sich als eine Super-Swingerparty. Da konnte mir in aller Ruhe aussuchen, zu wem ich wechselte. Die Klone als Gastgeschenk in Sam schuldete ich meinem guten Ruf.
Freilich hielten sie sich an die Zeiten und kehrten in ihre Unterkünfte zurück. Morgen früh würde der Flieger nicht auf unausgeschlafene Passagiere warten.
So trafen sie sich in den Morgenstunden in der Eingangshallte des Terminals. Giulia bewunderte unterwegs die Gruppen von Menschen, die sich im Park fast in Zeitlupe bewegten. Nichts Schweißtreibendes, in gewisser Weise sogar choreographisch. Auch die typischen Vogelkäfige, die an kräftigere Äste gehängt waren, bemerkte sie neben den „Tai Chi“-Gruppen.
Dann hob die Maschine ab. Wuhan blieb zurück und durch Öffnungen strömte weißes Gas in die Kabine. Sauerstoff? Giulia lehnte sich zurück und signalisierte, dass sie jetzt ihre Morgenruhe bräuchte.
Sam schwieg höflich und beschäftigte sich mit seinem Laptop. Er nannte ihn „My home and my castle“. Das digitale Gegenüber ersetzte ihm Familie und Partnerin. Nicht, dass er einem erotischen Vergnügen abgeneigt gewesen wäre, aber eine emotionale Bindung? Das passte nicht zu seinem Lebensentwurf. Vom Notebook abgesehen…
Der Inlandsflug setzte sie etlichen Turbulenzen aus und die leichte Maschine geriet öfters ins Schwanken. Das mochte Giulia gar nicht und sie ahnte nicht, dass ich an diesem Unwohlsein einen steigernden Anteil hatte. Bei Sam übrigens auch, der befremdet Gefühle in seinem Magen spürte.
„Heute ist es aber extrem unruhig!“
„Ja, ich komme mir vor wie in… was heißt Achterbahn auf Englisch?“
„Like a roller coaster?“
Vermutlich war es das. Doch Beijing nahte, die Maschine setzte etwas holprig auf. Die Passagiere applaudierten nicht. Das überließen sie den Reisenden in den Chartermaschinen.
Dann warteten sie etwas länger am Gepäckband und als Sam seinen Koffer als erster bekam, fragte er fast schon anzüglich: „Gehen wir zu mir oder dir?“
Auf Sams Scherz lächelte Giulia verschmitzt: „Wir haben denselben Weg.“ Ich begriff: Wir waren im selben Hotel untergebracht, einem beliebten Ausländerhotel. Hotel Xinquiao . Ich wechselte lediglich das Zimmer.
So betrachteten sie das Laufband, von dem sich die anderen Passagiere ihre Gepäckstücke herunter nahmen, bis ein kleiner roter Koffer erschien. „Schick!“ kommentierte Sam. Wie die meisten Männer machte rot ihn an…
Dann teilten sie sich das Taxi zum Hotel.
„Ich übernehme!“ erklärte Sam.
Giulia lächelte und widersprach nicht. De facto würde seine Firma übernehmen… Andernfalls ihre. Das liefe auf dasselbe hinaus.
„Komm! Wir setzen uns noch auf einen Absacker zusammen. Morgen geht’s in den Flieger nach Beijing“, schlug Sam vor, als wir durch den Eingang schritten und uns der Portier freundlich lächelnd begrüßte. Giulia nickte. Sie ließen ihre Koffer aufs Zimmer bringen und stiegen die breite Treppe mit dem dunkelroten Teppich hinunter zur Bar.
Sam bibberte, sein Oberkörper zitterte. Schweißperlen standen auf der glatten Stirn. Seine blauen Augen glänzten fiebrig.
„Du musst sofort ins Krankenhaus!“ befahl Giulia. Sie schüttelte energisch ihre schwarzen Locken. „Ich rufe die Ambulanz…“
„n’t worry…“ lallte Sam. Aber seine Körpersprache konterkarierte seine Worte.
Giulia griff zum Handy und rief die Rettungszentrale. Gut, dass die Nummer eingespeichert war. Ihre Chinesisch-Kenntnisse gingen gegen Null und mit Italienisch käme sie in der Metropole wohl nicht weiter. So hoffte sie auf ein englischsprachiges Gegenüber. Immerhin war man in der Hauptstadt. Sie ahnte nicht, wie schnell man in dieser Hauptstadt für fast eineinhalb Milliarden Menschen, von denen gut 20 Millionen hier wohnten, in fremdsprachenfreie Stadtteile kommen konnte. Wen interessieren fremde Sprachen, wenn man ein Fünftel der Weltbevölkerung stellt? Eher müssten die anderen Chinesisch lernen, allenfalls ginge noch Spanisch, aber Italienisch bestimmt nicht.
„Ja“, dachte Giulia, „ich spräche gerne Mandarin, wenn es nicht so verdammt schwierig wäre.“ Sie wusste: Was heißt schon Chinesisch? Zwar spricht eine Milliarde Menschen Mandarin als Muttersprache, aber beileibe nicht alle wohnen in China. Sie könnten auch in den USA leben.
Was machte Giulia in Beijing, dem Zentrum des „offiziellen“ Mandarin? Ihre drei Versuche, selbstbewusst und zielstrebig Mandarin autodidaktisch oder mit einem Kurs zu lernen, waren kläglich gescheitert. So musste sie den Gastgebern ihr flüssiges, aber doch italienisch klingendes Englisch zumuten.
„Do you speak English?“
„Yes, I do. How can I help you?”
Erleichtert seufzte Giulia. Ihr chinesisches Gegenüber verstand Giulias keineswegs akzentfreies Englisch. Mit weicher, fast empathischer Stimme nahm eine junge Frau ihr Anliegen auf. Die Ambulanz kannte ihr Hotel als typisches Europäerhotel. Eine kurze Schilderung der Beschwerden – Fever und Sweat kennt man, aber was ist Schüttelfrost?: Shattering Icing? Frosty shake? – genügte der freundlichen Dame am Telefon. „Wait some minutes. The Ambulance will come to the Hotel!“ Der Rettungswagen setzte sich in Bewegung.
Sam klammerte sich an den Tisch. Er zitterte noch immer. Aber er konnte sich ja nicht auf den edlen Teppich legen.
„Die Ambulanz trifft gleich ein. Schaffst du es hier allein? Ich passe sie am Eingang ab.“ Er zitterte, er nickte. Ich dachte an alle meine Klone, die mitzitterten und wunderte mich wieder einmal, weshalb es ihm denn schlecht ging. Es war doch alles wunderbar gelaufen. Ich hatte andocken können, ich hatte mich replizieren können, ich wurde wieder aus den Zellen herausgeschleust. Wo war sein Problem? Er sollte sich freuen statt zu zittern. Seine Enzyme hatten zu neuem Leben geführt – und das bei einem Mann! War es nicht ein Wunder der Natur?
Meine Wirtin stieg die flachen Treppen mit dem weichen Teppichboden hinauf in die Empfangshalle. Oben wandte sie sich an den Rezeptionisten: „Meinem Freund geht es nicht gut. Ich habe einen Krankenwagen bestellt. Er wird gleich kommen.“
Der Empfangsdiener bot eifrig in flüssigem Englisch an: „Kann ich Ihnen helfen, Madame? Brauchen Sie Unterstützung? Wir könnten das übernehmen!“
Giulia schaute ihn irritiert an. Warum war sie nicht selbst darauf gekommen? Natürlich, der Portier konnte sich doch viel besser verständigen. Sie nickte: „Erklären Sie den Sanitätern die Situation? Ich wüsste gerne, wo man uns hinbringt.“
Unruhig ging sie hinaus auf Straße. Der Verkehr pulsierte, hunderte von Autos schoben sich mehrspurig durch die staubige Luft. Angeblich hatten die Luftverhältnisse sich in den letzten Jahren gebessert. Wie übel musste es davor gewesen sein, wenn es jetzt noch so smoghaltig war? Sie schaute abwechselnd in beide Richtungen. Zu ihrer großen Erleichterung entdeckte sie bald blau blinkendes Licht: Der Rettungswagen. Er kurvte mit Sirene wie ein Slalomläufer durch die Verkehrsströme und verlangsamte erst kurz vor der Einfahrt sein Tempo.
Zwei Sanitäter sprangen eilige heraus und liefen an ihr vorbei in die Empfangshalle. Giulia eilte hinterher. Die beiden blickten sich kurz in der Halle um und steuerten dann zum Portier. Mit wenigen Worten klärte sich die Situation. Der Portier deutete auf Giulia. Sie winkte den beiden und sie begaben sich ins Untergeschoß.
Sam hing erschöpft in seinem Stuhl. Ein Sanitäter sprach ihn kurz an – leider auf Chinesisch -, worauf Sam nur müde reagierte. Zielgerichtet griff der Chinese nach dem Arm und fühlte kurz den Puls. Er schaute kurz in Sams Augen, tastete die Stirn ab und verständigte sich mit seinem Kollegen.
Der ging rasch hinaus und kehrte bald mit einer zusammengeklappten Trage zurück. Sie stellten sie neben Sams Stuhl und halfen diesem, sich darauf zu legen. „Hospital!“ nickte einer zu Giulia. Damit hatte er der Ausländerin alles gesagt. Sie folgte den Männern, als sie vorsichtig die Bahre über die glücklicherweise breite Treppe hinauftrugen.
„Call me, if you need help!“ rief ihr der freundliche Portier nach. Sie hörte es dankbar und fühlte nach der Visitenkarte des Hotels, die sie sich eigentlich nur zum Andenken eingesteckt hatte. Die Telefonnummer könnte sich als nützlich erweisen.
Die Sanitäter schoben Sam hinten in den Sanka. Giulia und ich durften daneben Platz nehmen. Sie schlossen die Türen wurden, so dass Giulia nur noch durch ein schmales rückwärtiges Fenster blickte. Die Sanitäter platzierten sich vorne beim Fahrer. Eine akute Versorgung schien nicht nötig.
Der Fahrer drückte auf die Tube. Ihm schien das Überholen Vergnügen zu bereiten. Doch Giulia genoss es nicht wie ein wunderbares Abenteuer, so souverän durch die Metropole zu rasen. Sie befand sich in einer furchtbaren Situation. Würde sie später mit Sam über dieses Abenteuer lachen können, bei einem Glas Chianti vielleicht? Sie stürzte sich in die erleichternde Hoffnung, alles erwiese sich bald als übler Traum. Doch sie spürte eine Angst aus der Tiefe aussteigen, dass es hier in der Fremde nun ein Desaster gäbe.
Die Ambulanz düste durch die Stadt, auf den vielspurigen Straßen, die wie ein Autobahnnetz die Großstadt durchzogen. Der Fahrer schien an einem Rennwettbewerb teilzunehmen, unter heftigem Einsatz von Blaulicht und Hupe. In einem so restriktiven Land wie China musste offizielle Raserei ein Hochgenuss sein.
Doch die passierenden Menschen gönnten dem Ambulanzwagen keinen Blick. Gemächlich gingen sie ihrem Tagewerk nach. Giulia hingegen fühlte sich wie in einer anderen Welt, direkt am Abgrund, oder schon in der Luft schwebend während eines Absturzes. Ihr ganzes Leben, ihren Rhythmus wirbelte dieses unfassbare Ereignis durcheinander.
Der Wagen drosselte das Tempo und hielt vor einem riesigen Gebäude, das Giulia vom Sehen kannte. Nie hätte sie gedacht, dass sie hier einmal hermusste. Im zentralen Krankenhaus in Beijing war man auf Ausländer vorbereitet. Hier wurden Diplomaten und Vertreter der Wirtschaft behandelt. Giulia begleitete Sam, der nun, nach einer Injektion, viel ruhiger wirkte, von der Aufnahme zur Station.
„Es wird ein Infekt sein“, kommentierte der aufnehmende Arzt. „Bei Europäern erleben wir das öfters. Ihr Immunsystem ist nicht auf alle Bakterien, die hier herumfliegen, ausgerichtet.“
Der etwas flapsige Tonfall erleichterte Giulia. Die Temperaturen immer so um den Nullpunkt herum waren auch in Europa die kritischsten… Da konnte man schon mal einen heftigen Infekt einfangen, vor allem, wenn man wie Sam, eher die leichtere Bekleidung bevorzugte.
Auf der offenkundig vollen Station erhielt Sam ein Bett in einem Vorraum. Die kaum kaschierten silbernen Heizungsrohre liefen durch das Zimmer. Die Verwaltung heizte offenbar auf Hochtouren, was zu einer sehr trockenen Luft führte. Aber ich kuschelte mich in die feuchten Schleimhäute und genoss es.
„Wie geht’s dir jetzt?“
„Die Spritze hat mir gut getan. Ich sollte mich ein bisschen ausruhen.“
„Gut so. Mach es dir bequem. Ich kann ja morgen wieder nach dir schauen.“
Er lächelte sie an.
Giulia betrachtete ihn aufmerksam: „Ist dir das Heizungsrohr nicht unangenehm?“
„Welches Heizungsrohr?“, grinste er, wobei er ihre Frage wohl nicht verstand.
„Na, direkt an deinem Unterschenkel.“ Sie fasste vorsichtig an das Rohr. „Puh, das ist ja knallheiß.“ Sams Bein lag im Freien, direkt an der Heizung. Die Haut war sichtlich gerötet.
„Spürst du denn nichts?“
Sam schüttelte den Kopf. So schob sie den Unterschenkel mehr unter die Decke und stopfte ein Kissen zwischen ihn und das Rohr.
„Dass du das nicht spürst! Ich werde es dem Arzt sagen…“
Sie strich ihm schwesterlich über den Kopf, der zu ihrer Erleichterung nicht mehr glühte und verließ das Zimmer. Auf dem Gang begegnete sie dem Arzt, der sie aufgenommen hatte. Er verstand offenbar Englisch.
„Sam liegt direkt an der Heizung. Aber er spürt die Wärme nicht. Kann es sein, dass mit seinen Nerven etwas nicht stimmt?“
Der Arzt nickte und lächelte: „Nein, es ist ganz klar ein Magen-Darm-Infekt. Er ist etwas fiebrig. Da spürt er die Differenz nicht. Don’t worry, wir kriegen das schnell in den Griff.“
Sie befanden sich in der Topklinik der Hauptstadt des bevölkerungsreichsten Landes auf der Erde. Sam befand sich in den besten Händen. Oder bräuchte er die alternative Medizin? Hülfe ihm Akkupunktur?
Am folgenden Tag brachte sie etwas Süßigkeiten mit. Doch Sam zeigte keinen Appetit. Untypisch für ihn. Er schien auch mehr Temperatur zu haben. Sie wandte sich an den sehr entgegenkommenden Stationsarzt.
„Ja, er reagiert untypisch auf unsere Medikamente. Vielleicht fing er sich einen… sagen wir mal seltenen Virus ein? Ich überwiese ihn gerne ins Infektionskrankenhaus. Aber das müsste er privat bezahlen. Und es ist ein gutes Stück weit entfernt.
Giulia überlegte nicht lange und bedachte auch nicht, dass sie keine verbindliche Beziehung zu Sam hatte, sondern nur eine nette Bekanntschaft mit einem Touch Freundschaft. Aber die Situation erforderte überlegtes Handeln und dies überforderte einen fiebrigen Patienten.
„Bringen Sie ihn zum Infektionskrankenhaus. No risk!“ Sie spürte förmlich die Erleichterung des Arztes. In seinem weißen Kittel mit dem Stethoskop wirkte er wie eine medizinische Autorität, aber im Betrieb spürte man ihm eine gewisse Hektik ab. Es ging zu wie im Taubenschlag. Da brauchte er nicht noch ein schwer zu diagnostizierendes Problem mit einem Ausländer.
Dr. Wang leitete den Transport erstaunlich schnell in die Wege. Giulia informierte Sam über die Entscheidung. Der nickte nur müde und fragte, ob sie ihm nicht ein paar Sachen aus seinem Hotelzimmer bringen könne? Natürlich würde sie dies machen. Aber erst einmal begleitete sie ihn ins andere Krankenhaus. Dass sie schon übermorgen zurück nach Italien musste, verdrängte sie.
Ich befand mich in einer wunderbaren Umgebung. Es war ziemlich warm, aber die Wege mittels der Aerosole waren kurz und es gab reichlich einladende Wirtskörper für meine zahlreichen Klone, die sich in Sam und auch in Giulia weiterentwickelt hatten.
Was für eine grässliche Fahrt! Ebenso ruppig und zügig wie das letzte Mal, aber bei dichterem Verkehr und schlechteren Straßen. Wie es hoppelte! Der Wagen schwankte wie auf hoher See. Vorne machte man Witze. Das Lachen klang nach hinten, aber weder Sam noch Giulia war zum Lachen zumute. Das Land des Lächelns mutierte für sie zum Alptraum. Eine Traummutation!
Ich meinerseits fühlte mich wohl bei Giulia und meine Klone in Sam genossen es offenbar auch. Doch ich ahnte, weshalb er sich schüttelte, als wäre ihm die Beziehung unangenehm.
In einer völlig fremden Gegend bremste der Wagen abrupt. Die hintere Türe öffnete sich und die Sanitäter lächelten herein. Dann holten sie, mit gut gestimmten Geplauder, Sam heraus.