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Martin Luther King: Bekannt als Bürgerrechtler verstand der charismatische Aktivist sich primär als angetrieben durch die Botschaft Jesu. In seinem aktuellen Buch geht Volker Schoßwald King als Prophet in der Gegenwart nach. Selbst fasziniert von Kings nachdenklicher Gradlinigkeit stellt er Bezüge zur gesellschaftlichen Gegenwart her und bezieht für die Vergangenheit Gandhi und Bob Dylan mit ein. Ein Buch, das den Leser informiert und ermutigt, angesichts der bleibenden Macht des Bösen nicht zu resignieren.
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Seitenzahl: 215
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Bruder Benedikt Reklov, Münster Schwarzach, 2. Februar 2018, Darstellung des Herrn
V: »I have a dream« Ich habe einen Traum...
S: Papa! Ich habe einen neuen Freund. Er heißt Jim. Weißt du, was toll ist? Seine Eltern kommen aus Afrika...
V: Ich habe einen Traum: Eines Tages wird mein Sohn...
S: Papa! Ich habe auch eine neue Freundin. Sie heißt Li. Weißt du, was toll ist? Ihre Eltern kommen aus China...
V: Ich habe einen Traum: Eines Tages wird mein Sohn mit den Kindern von schwarzen und gelben Eltern spielen.
S: Papa: ich kenne ein tolles Lied: Gott hat alle Kinder lieb, jedes Kind in jedem Land...
V: Ich habe einen Traum, und er wird in Erfüllung gehen!1
Sonderstempel 4.4.2018 und Martin Luthers Zuflucht
1 Aus dem Reformationsgottesdienst in Beilngries 2004 mit meinem sechsjährigen Sohn Martin. Heute umgibt ihn ein multinationaler Freundeskreis.
Krieg und Pazifismus
1.1 Wo sind die Speichen?
1.2 Bonhoeffer und Gandhi
1.3 Kings Instrumentarium der Gewaltlosigkeit
1.4 Die Bedeutung der Medien
1.5 „Politisch korrekte“ Sprache
1.6 Steinbruch für pazifistische Kreativität
Vorbemerkungen 2018
Christus ruft zum Widerstand
2.1 Mein Name ist...: Martin Luther
2.2 Ohne Bus von Montgomery nach Birmingham
2.3 Birmingham Sunday
2.4 Eve of Destruction
Auf dem Gipfel des Berges …
3.1 Antagonistische Ikonen
Mann-Act: Jack Johnson – Chuck Berry
Gott beruft zum Widerstand
5.1 Der Prophet und die Propheten
5.2 Der Mystiker und die Stimme des Herrn
5.3 Der Teufel ist noch da und er ist weiß
Vom Propheten zur Leadership
6.1 Busstreik: Rosa Parks bleibt sitzen
6.2 Attentat in Montgomery
Der gewaltlose Kampf geht weiter
7.1 King reist in Gandhis Land
7.2 Gandhi, Nazis, Friedensforschung …
7.3 Der Appell an das Gewissen
7.4 Die Sieger müssen sich selbst besiegen…
7.5 Gewaltlosigkeit und der Nobelpreis
7.6 Anthropologie: Teufel und Sünde
Gewaltfreier Widerstand – verantwortbar?
8.1 Kings Instrumentarium der Gewaltlosigkeit
8.2 Made in Germany
8.3 Die Medien
8.4 Der Pazifismus ist so obsolet wie Gott
8.5 Szenarien gegen die Gewaltspirale
8.6 Positionierungen
Konfrontation mit der Gewaltbereitschaft
9.1 Denn sie wussten, was sie taten: Malcolm X
9.2 Ku Klux Klan
9.3 Malcolm X trifft „Uncle Tom“
King und die 60er
Patrioten, Kriege und Vietnam
11.1 Kontrapunkt: Der Friedensnobelpreis
11.2 Der Tod
11.3 Facetten des Jahres 1968
Theologie der Hoffnung?
Prophet und Mystiker
Literatur:
angesichts der derzeitigen Kriege
Bonhoeffer, Gandhi, King und der Frieden 2022
„Stell dir vor, es ist Krieg und keiner geht hin!“ laute eine Parole der Friedensbewegung in den Siebzigern. Aber es ist Krieg, und Soldaten werden hingeschickt. Das passt zu jenem Fundament der evangelischen Kirche in die Deutschland, das nach dem Zweiten Weltkrieg und vor allem in den Siebzigern gemauert wurde: Frieden mit der Tendenz zu pazifistischen Lösungen. Schon ist ein neues Umdenken da: Wo keine Gefahr drohte, konnte man bequem waffenfreie Szenarien propagieren, aber jetzt? Jetzt tönen evangelische Stimmen mit einem weichen Gewissensrückgrat, dass man manchmal auch militärische Mittel ergreifen müsse. Der reale Krieg ist der Satan, der an Gottes Stelle überprüft, wie solide unsere Säulen sind. Echte Realisten sehen freilich, dass Kriege praktisch nie Probleme gelöst haben. Den Bösen darf man nicht einfach das Feld räumen. Aber welche Mittel lassen sich militärischer Gewalt entgegen setzen? Bevor ich die breite Geschichte Martin-Luther-Kings aufrolle, bringe ich einige Skizzen zu Bonhoeffer, Gandhi und King, die die Diskussion beleben sollen. Sie setzten in konkreten Konfliktsituationen auf gewaltfreie Wege, kamen jedoch an ihre Grenzen.
Wenn ein Wagen auf Menschen zurast und sie zu überfahren drohe, bestünde die Aufgabe der Kirche darin, „nicht nur die Opfer unter dem Rad zu verbinden, sondern dem Rad selbst in die Speichen zu fallen"2, formulierte es Bonhoeffer angesichts des Wütens der Nationalsozialisten. Allerdings muss man zu einem Zeitpunkt handeln, an dem das Ergebnis, welches das Handeln rechtfertigen soll, noch nicht eingetreten ist, weil gerade dieses Ergebnis verhindert werden muss. Im Erfolgsfall sind die verhinderten Folgen nicht mehr beweisbar. Was ein Tyrannenmord verhindert hat, bleibt dann Spekulation.
Aufgrund des nationalsozialistischen Machtmissbrauchs wurde nach dem Krieg die Möglichkeit der „Kriegsdienstverweigerung“ in der BRD festgeschrieben. Doch als Kriegsdienstverweigerer musste ich 1973 begründen, weshalb ich es nicht verantworten könne zu töten. Nicht-Töten musst du rechtfertigen, Töten nicht… Wie absurd! Dabei war das Töten um einer angeblich gerechten Sache willen stets begleitet von unzähligen Kriegsverbrechen durch Militärs. Der „gerechte Krieg“ als Realität ist eine Lüge.
Meine Gewissensprüfer konfrontierten mich damit, dass ich mit meiner Freundin durch den Wald ginge, überfallen würde und sie nur retten könnte, wenn ich den Angreifer erschieße. Sie bezweifelten nicht, dass ich selbstverständlich den Angreifer erschießen würde, um meine Freundin zu retten. Dabei unterstellen sie, dass ich immer eine Waffe bei mir trage. Hätte ich nun aber trotz aller Unmöglichkeiten den Angreifer in Nothilfe erschossen, würde mir der Prozess gemacht und ein gewiefter Jurist könnte mich fragen, woher ich denn gewusst hätte, dass der Angreifer nicht nur gedroht hätte und letztlich doch nicht geschossen hätte. Dann hätte ich ihn ohne wirklichen Grund getötet.
Hier sind wir bei einem klassischen Dilemma: Niemand weiß vorher, ob ein Angreifer seine üblen Absichten auch verwirklicht oder dann doch im letzten Augenblick zurückzuckt. Wie ist das mit dem „in die Speichen fallen“ heute? Tyrannenmord? Bei Hitler wissen wir, wie die Historie weiter ging. Wie wäre es bei einem erfolgreichen Attentat im August 1938 weitergegangen. Die reale Geschichte nötigt, den Tyrannenmord in den Blick zu nehmen. Aber heute? Wie stellt es sich bei Putin und Russland 2022 dar?
Die dreißiger Jahre warnen. Viele derzeitige politische Analysen verzichten auf anthropologische Aspekte. Als Argumente für das Erstarken der Faschisten in der BRD (und mit Blick auf Trump in den USA) verweist man gerne auf die soziale Schere, weist man auf Menschen, die sich abgehängt fühlen. Die AfD verfügt über besonders viele Wähler in den Regionen, in denen kaum Flüchtlinge untergebracht waren. Offenbar liegen andere Gründe vor als die plakative Fremdenfeindlichkeit. Offenkundig genießen es manche, endlich böse sein zu dürfen.3Das Böse steckt in den Menschen, es will auch heraus. Diese anthropologische Komponente ist nicht zu negieren. Putin ist nicht abgehängt und doch böse.
Bonhoeffer unterschätzte lange die reale Gefahr der NSDAP und traute auch seinen braunen Mitmenschen nicht jene gnadenlose Menschenfeindlichkeit zu, die bald zur Staatsideologie wurde. Zu spät realisierte er, man müsse dem Rad in die Speichen fallen. Das Rad hatte schon Millionen überfahren.
Manche realisierten das Böse schneller, weil sie über einzelne Ereignisse erschraken. Der bayerische Pfarrer Karl Steinbauer, zunächst den Nationalsozialisten der sozialen Problematik wegen nahestehend, las in der Zeitung, wie Nazis in Ostpreußen einen Kommunisten in dessen Bett totgetrampelt hatten. Damit war für ihn der Ofen aus. „Das geht zu weit!“ klänge zu diplomatisch. Nein, so geht es nicht! Das ist gegen Gottes Willen! Das ist das Werk des Teufels! Und die Täter sind des Teufels!
Gibt es einen geistigen antifaschistischen Schutzwall?4 Gute Gedankenanstöße gegen die Herrschaft des Bösen über die Seelen bieten Jesu Seligpreisungen.
Der Mann von Bonhoeffers Zwillingsschwester Sabine war „Jude“. Die Nazis etikettierten seinen Schwager als „Juden“, der dadurch vernichtungswürdig sei. Bonhoeffer reagierte schon 1933 mit einem Vortrag im nationalen Rundfunk, in dem er das Führerprinzip christlich relativierte.5 Die Live-Übertragung wurde während der Ausstrahlung abgebrochen. Und heute in China, Russland und der Türkei?
Als am 6.9.33 die Evangelische Kirche den Arierparagraphen einführte, forderte Bonhoeffer von den „bekennenden“ Pfarrern, aus der DEK auszutreten. Aber selbst der kritische Karl Barth sah noch Chancen in einer innerkirchlichen Diskussion. Wer sollte ihn tadeln? Wer den Weg des Friedens und der Versöhnung für den richtigen hält, darf nicht zu früh aufgeben, wenn auch aus heutiger Sicht Bonhoeffers Weg der angemessenere war. Enttäuscht gründete Bonhoeffer mit Martin Niemöller den Pfarrernotbund, um bedrohte Amtsbrüder jüdischer Herkunft zu schützen. Wie konnte auch nur ein einziger kirchlich Verantwortlicher, der sich zum Juden Jesus aus Nazareth als dem Heiland bekannte, Gegner oder Kritiker dieses Notbundes sein?!
Bonhoeffer plante, in Indien von Gandhi Kompetentes zum Thema Pazifismus zu lernen. Einem aufgeschlossenen jungen Mann der 1920er-Jahre konnte Gandhi nicht entgehen. Die Studenten in Tübingen diskutierten 1924 lebhaft über den 55-jährigen Pazifisten. Bonhoeffers toughe Großmutter Julie wollte ihrem Enkel eine Reise zu Gandhi finanzieren. Dazu kam es nicht mehr, doch auf Friedenkonferenzen traf er Gandhis Mitarbeiter C.F.Andrews (*1871-+1940).
Gandhis berühmter gewaltloser Salzmarsch führte dazu, dass britische Soldaten unter den waffenlos demonstrierenden Indern ein Massaker anrichteten. Ihre braven „christlichen“ Familien in England schämten sich. Der soziale Druck in England, nicht in Indien sorgte für ein Umlenken der britischen Regierung. Doch diese Methode kann nicht in jedem Befreiungskampf erfolgreich sein. M. Eberling urteilt über Gandhis Rolle für die Unabhängigkeit Indiens vom britischen Weltreich: „Eine totalitäre Diktatur hätte eine zarte Figur im Lendenschurz wie ihn einfach zerbrochen und ausgelöscht. Aber in einer Demokratie mit einer kritischen Presse – und wenn sie auch eine rassistische, imperialistische Klassengesellschaft wie das Britische Empire war – konnte dieser stete Tropfen des gewaltfreien Widerstands jedoch letztlich das Joch der englischen Kolonialherrschaft brüchig werden lassen.“6 Leider zeugen Gandhis zeitgenössische Stellungnahmen zum Widerstand gegen den Holocaust von einer erschreckenden Unkenntnis. Vom gescheiterten gewaltfreien Widerstand in Polens Hauptstadt Warschau hatte er offenbar keine Ahnung.
Mitten im zweiten Weltkrieg bezog Gandhi Stellung zu „Hitler und Gewalt“: „Was wird Herr Hitler mit seinem Sieg anfangen können? Kann er eine solche Machtfülle überhaupt verdauen? Ganz persönlich wird er die Welt mit so leeren Händen verlassen wie sein gar nicht allzu ferner Vorfahr Alexander der Große. Er wird den Deutschen nicht das Vergnügen an einem mächtigen Weltreich hinterlassen, sondern die Last, dieses Weltreich, das unter seinem eigenen Gewicht zusammenzubrechen droht, aufrechtzuerhalten. Sie werden nicht in der Lage sein, all die eroberten Nationen in einem Zustand ständiger Unterwürfigkeit zu halten.“7 Auf eine solche Situation setzen manche heute hinsichtlich der Ukraine: Die Russen können die Eroberung nicht durchhalten. Aber stimmt das? Die stalinistische UdSSR behielt ihre Stabilität immerhin bis 1990.
„Aber wie stehen wir zu der prophetischen Frage Bonhoeffers in Fanö 1934: ’Wer von uns darf denn sagen, dass er wüsste, was es für die Welt bedeuten könnte, wenn ein Volk - statt mit der Waffe in der Hand - betend und wehrlos und darum gerade bewaffnet mit der allein guten Wehr und Waffe den Angreifer empfänge?’ 1981 standen betende polnische Arbeiter auf der Lenin-Werft in Danzig.“8 Eberts Hinweis auf den polnischen Widerstand gegen den UdSSR-geschützten polnischen Kommunismus hat ein Gewicht. Aber wie steht das russische Volk heute gegenüber seinem Präsidenten da? Die Leser werden klüger sein als der Autor beim Schreiben. Doch die „Russen“, denen ich in Nürnberg begegne, grade die junge Generation, unterstützt erstaunlich vehement Putin mit seinem Krieg und hält Stalin für einen großen Russen.
Zurück zu Bonhoeffer. Ebert bedauerte, dass er in der konkreten Situation zum bewaffneten Widerstand überging: „…damit hörte er auf, auf diesem Felde kreativ zu sein. Die mentale Blockade ging meines Erachtens sogar soweit, dass er gar nicht mehr wahrnahm, was in seiner unmittelbaren Umgebung sich auf dem Felde der gewaltlosen Aktion ereignete.“9 Dazu verwies Ebert auf den sog. „Rosenstraße-Protest“. 1943 (!), in der brutalsten Phase des Krieges und des Völkermords wurden „Juden“, die in der Rüstungsindustrie noch „arbeiteten“, verhaftet und nach Auschwitz verschleppt. Tausende von „deutschen“ Frauen demonstrierten in der Berliner Rosenstraße gegen die Deportation ihrer Männer. Nach einer Woche ließen die Nazis die Verhafteten frei und brachten einige sogar aus Auschwitz zurück.
Allerdings, das übergeht Ebert, kennen wir sehr viele gescheiterte Versuche. Dabei warf er Bonhoeffer vor, nicht kreativ in Richtung gewaltfreiem Widerstand weitergedacht zu haben. Dieser aber regte zum Beispiel einen „Beerdigungsstreik“ an und scheiterte dabei nicht an den Nazis, sondern an den stupiden kirchenleitenden Personen. Die superklugen Hierarchieros bezweifelten die Erfolgsaussichten. 1941 erwies sich diese Maßnahme in Norwegen als erfolgreich. Ob er da heute in der Kirchenleitung auf andere Charaktere träfe?
Aus den Vorgeschichten vor allem von Gandhi konnte Martin Luther King – dessen Vater sich zur Zeit von Bonhoeffer in Berlin aufhielt - Konsequenzen ziehen. Sein Instrumentarium im gewaltfreien Widerstand bestanden vor allem aus Demonstrationen, Streiks, ökonomischem Druck, Sit-ins und Kneel-ins.
Beim Kneel-In zogen Demonstranten nach einem Auftaktgottesdienst durch die Straßen. Zwischendurch knieten sie nieder, um zu beten. Ließen sie sich dabei auslachen? Oder beeindruckten sie diejenigen Gegner, denen christlicher Glaube existentiell wichtig war. Deutschland erlebte seinen Kniefall später durch Willy Brandt in Warschau. Der sollte den „Krieg in den Köpfen“ beenden.
Die sog. Freedom Rider fuhren 1961 gemischtfarbig in den Überlandbussen durch Virginia, North Carolina und Georgia, um die Umsetzung der bundesstaatlichen Gesetze auszutesten (Qualitätsmanagement). Doch Rassisten griffen die Busse bei Anniston, Alabama an, setzten einen Bus in Brand und weiße Superchristen unter der geistigen Führung des Teufels blockierten die Türen, damit die Insassen verbrannten. Dank einer Explosion entkamen die Rider aus dem Bus. Die Rassisten ergriffen sie, um sie zu lynchen. Der Warnschuss eines Autobahnpolizisten stoppte sie. Ein Geistlicher besorgte Fahrzeuge, die die Bedrohten in Sicherheit brachten.
In Birmingham leitete der durch Korruption politisch aufgefallene Polizeikommissar Bull Connors blutige Angriffe auf die Freedom Rider an. Ku-Klux-Klan-Anhänger schlugen besonders die weißen Aktivisten brutal zusammen. John F. Kennedy kommentierte dies süffisant: “The civil rights movement should thank God for Bull Connor. He's helped it as much as Abraham Lincoln.” Denn eine schlechte Presse stößt den Bürgern übel auf. Wer will schon zu einer Stadt gehören, bei der man denkt: hirnlose Brutalos. Könnte diese soziale Kontrolle heute bei Russland funktionieren?
Bei seinem Indienaufenthalt besuchte King auch die Stätte, an der Gandhis großer Salzmarsch begann. Mahatma startete mit acht Leuten und erweiterte die Menge sich Stück für Stück auf Millionen. Gandhi beherrschte die Sprache der Symbolik: Er nahm etwas Salz in seine Händen, um zu dramaturgisch darzustellen, dass er jetzt ein Gesetz bräche, das Gesetz, dass die Inder in der Salzindustrie arbeiten, aber das Produkt nicht besitzen durften.10
Die Analyse des Erfolgs von Gandhis Freiheitskampf ergab, dass Gandhis gewaltlose Aktionen moralisch die „Heimatfront“ der Kolonialisten bewegte. Viele Engländer konnten auf ihrem christlichen Hintergrund das Gemetzel an wehrlosen Indern nicht mittragen und zweifelten zunehmend an der moralischen Qualität ihrer Regierung. Kings Aktionen warben weiße Mitstreiter an, etwa zum Marsch von etwa 250.000 Menschen auf Washington für „Arbeit und Freiheit“ am 28. August 1963. King visionierte: „I have a dream…“ Seine Sicht schien unrealistisch wie auch realisierbar. Würden seine Kinder wirklich mit Kindern von Eltern anderer Hautfarbe spielen? Inzwischen wählten die USA einen farbigen US-Präsidenten.
Zu Kings Strategien gehörte, Forderungen möglichst konkret zu formulieren, damit die Erfüllung auch als direkter Erfolg verbucht wurde. Er entwickelte eine Methoden- und Ereignisfolge: Challenge, Conflict, Crisis, Confrontation, Communication, Compromise, Change.11 Entscheidend ist die Eskalation, aufgrund derer vorformulierte Ziele zur Konfliktlösung angeboten wurden.
Kings und Gandhis gewaltfreie Methoden waren nur erfolgreich, weil ihnen die Massen folgten. Doch ohne Charismatiker gelingen solche Aktionen nicht. Die Methoden kannte man schon lange. Massendemonstrationen sind aus dem Altertum bekannt, Wirtschaftsblockaden ebenfalls. Wirtschaftssanktionen gelten als politisches Instrumente. Kings theoretische Schriften boten auch Politikern, die sich nicht als Pazifisten verstanden, wichtiges Material, weil er klug Mechanismen analysierte und mögliche Reaktionen durchspielte.
Unter den brutalen Folgen von Wirtschaftssanktionen hat vor allem die Bevölkerung zu leiden. Im Ukrainekrieg wird das wieder plastisch.
Dr. Martin Luther King realisierte die Bedeutung der Medien. 1962 wurden Ralph und er in Albany ins Gefängnis geworfen. Man steckte beide in eine verdreckte Einzelzelle, das Ekligste, das er je erlebt hatte. Als dem Chef ihre Prominenz klarwurde, wollte er negative Berichte unterbinden und ließ die Zelle auf Hochglanz polieren. Kurze Zeit darauf verhaftete man bei einer riesigen Demonstration etwa 50 Anführer. Als diese „Freedom-Songs“ singend zum Gefängnis kamen, steckte man Ralph und Martin in die Bull-Pen: Dunkel, schmutzig. Man sollte nicht glauben, dass es so etwas in einer Gesellschaft gäbe, die man für zivilisiert hielt.12 Am dritten Tag mussten sie zivil gekleidet beim Chef erscheinen, der ihnen ihre Entlassung verkündete. King wollte nicht freigelassen werden, da er mit 700 weiteren Gefangenen solidarisch sei. „God knows, Reverend, I don’t want you in my jail.“ Die beiden wurden „zwangs“-entlassen. Diesmal bedauerte King, aus dem Gefängnis zu kommen.13
In Albany ergänzte King die Methodik um das Jail-In. Beim Jail-In erklärte er, die Schwarzen in Albany hätten ihren Rücken gerade gehalten: „Niemand kann auf dem Rücken eines Menschen reiten, außer er ist gebeugt!“ (Gandhi)14
Kings größter schwarzer Kontrahent war „Malcolm X“. Die brutalen Erfahrungen seiner Kindheit, wie die Ermordung seines Vaters durch Weiße, saßen zu tief, um übertüncht zu werden. Die Wut der Unterprivilegierten fand sich in der „sanften“ Revolution Kings nicht wieder. Das „Kneel-In“, das Gott galt, wurde als Knien vor den Mächtigen interpretiert, besser wählte man die klassische Sprache der Weißen: Gewalt. Damit traf Malcolm X den Nerv vieler, denen die Fortschritte durch Nonviolence marginal erschienen. Nach der Lektüre der Lebensgeschichte von Malcolm X wusste ich wieder, wo der Gegner steht. Dieser Gegner ist nicht einfach sichtbar. Er steckt in dem Übel, das Menschen sich gegenseitig zufügen. Über schwarze Gewalt darf sich niemand empören, der sich nicht vorher über weiße Gewalt empört hat.
Putin erklärte das Wort „Krieg“ zum Unwort. Die Verwendung ist strafbar. Heißt dies, dass Putin, der atomwaffenstarke, sich durch Wort bedroht fühlt? Lässt sich Putin im Umkehrschluss durch Worte bekämpfen? Was wäre, wenn ein Familienmitglied ihm sagen würde: „Du bist wie Hitlers Bruder! So einen wollen wir nicht in der Familie!“ Oder eine seiner Töchter, die in Dresden zu Schule gingen, würden sagen: „Du hast ein Herz, eiskalt wie hundert russische Winter!“ Das könnte ihn treffen, weil es aus seinem einzigen Vertrauenskreis käme. Aber würde es ihn bewegen? Ein Insider meinte, Putin hätte sich zu einer Wachsfigur verwandelt. Meine laienhaften neurologischen Kenntnisse lassen mich vermuten, dass sein Frontlappen geschädigt ist und er daher rein physiologisch über kein Gewissen mehr verfügt. Aber was würde das für eine effektive Strategie bedeuten? Eine konfrontative militärische Reaktion wäre kontraproduktiv, ein Appel an sein Gewissen sinnlos. Würde selbst King einen Tyrannenmord in Betracht ziehen? Man redet schon darüber. Eine Lösung liegt vermutlich nur in seinem Umfeld, wo man „Gefühle“ aufspüren müsste wie mit einem Metalldetektor. Was mich irritiert: Jahrelang gab es tschetschenische Extremisten, die sich gegen Putin stellten. Für die müsste doch nun eine Sternstunde sein. Aber sie erscheinen nicht. Waren sie vielleicht nur eine russische Inszenierung für innenpolitischen Zusammenhalt gegen den Feind?
Der gewissenlose Putin und seine Drohung mit Atomwaffen machen uns hilflos. Doch selbst Militärs erkennen, dass militärische Aktionen nicht zielführend sind. Da sollte man mal auf das Instrumentarium von Pazifisten schauen.
Pazifistische Lösungsstrategien setzen oft auf Deeskalation. Das Wichtigste ist das Gespräch miteinander. Dies bei einem blutrünstigen Aggressor durchzuhalten, ist schwierig und schwierig zu vermitteln. Tatsächlich kann auch Nachgeben weiterhelfen, obwohl es dem Aggressor Gewinne verschafft.
Diese Option scheint Noam Chomsky die am wenigsten schlechte Option nach der Invasion: „Eine neutrale Ukraine nach österreichischem Vorbild. Sehr weit entfernt von Gerechtigkeit. Aber wann hat die Gerechtigkeit in internationalen Angelegenheiten schon einmal gesiegt? … Ob es uns gefällt oder nicht, die Möglichkeiten beschränken sich jetzt auf ein hässliches Ergebnis, das Putin für den Akt der Aggression eher belohnt als bestraft – oder auf die hohe Wahrscheinlichkeit eines Krieges im Endstadium.“15
Im individuellen Konflikt konnte bestimmt jede/r schon friedensstiftenden Erfolge durch Nachgeben erleben. Manchmal hilft auch ein Mediator, international eigentlich die UNO. Aber dieser fehlt die Neutralität. Hilfreich könnte auch ein Gericht sein wie der internationale Gerichtshof in Den Haag.16 Nicht pazifistisch, aber hilfreich könnten Ordnungsmächte sein wie Polizei (im zivilen Bereich etwa bei Hooligans) oder UN-Truppen (militärisch etwa im Balkan). Wirklich pazifistisch ist eine Friedenseskalation. Das wären vertrauensbildende Maßnahmen. Wir kennen es aus dem Krimi: Geiselnehmer u Kommissar stehen sich gegenüber, Kommissar entwaffnet sich, um angstfrei reden zu können… Dazu passt eine präventive Selbst-Entwaffnung wie in Mazedonien oder Abrüstungsverträge. Wichtig sind gemeinsame Aktionen wie Gandhis Salzmarsch oder 1968 die soziale Verteidigung in der Tschechoslowakei, wo Verwaltungsstrukturen lahmgelegt wurden oder die „Schwarzen Mütter“ in Jerusalem, die israelische und palästinensische Familien plakativ verbanden, indem sie sich Freitags an belebten Kreuzungen positionierten, sichtbar schwarz gekleidet, als Appell an die militanten Männer. Auf die Kraft des Gewissens setzte Albert Schweitzer mit seiner kulturübergreifenden Weltethik „Ehrfurcht vor dem Leben“.
Bei manchen Konflikten ist schon ein einfacher Weg plausibel: Beseitigung der Ursachen wie Hunger oder Unterdrückung.
Ich schließe ohne Lösung – so vermessen bin ich nicht -, aber mit dem Hinweis, dass es Jesus um die Liebe Gottes zum Leben in uns geht und Lösungswege ohne Liebe unrealistisch bleiben.
2 "Die Kirche vor der Judenfrage" (1933) (Werke Bd. 12. S. 353)
3 Beatrix von Storch, Galionsfigur der AfD ist Enkelin von Johann Ludwig Graf Schwerin von Krosigk, Finanzminister im „Dritten Reich“.
4 1981 imponierte mir Sir Karl Popper (*1902) bei einem Vortrag an der Uni Tübingen mit seiner These, dass Wissenschaft direkt mit Demokratie korreliere. Wissenschaftliche Erkenntnisse lassen sich nicht autoritär herstellen. Er selbst emigrierte zu Bonhoeffers Zeit nach Neuseeland, was ihm das Überleben ermöglichte – zu Lasten der österreichischen Intelligenz.
5 Bethge, Bonhoeffer, S.57
6 M. Eberling: Mahatma Gandhi – Leben, Werk und Wirkung, S. 7
7 Gandhis Artikel “How to combat Hitlerism“ aus „Harijan“ am 6.4.40 in Theodor Eberts Übersetzung 1995
8 Theodor Ebert, Bonhoeffer und Gandhi - Oder: Hätte sich der Hitlerismus gewaltfrei überwinden lassen?
9 ebd.
10 Martin Luther King, Autobiography S.128
11 Zusammengefasst von T.Dietrich, S.50
12 Nicht vergessen: Das rechtsfreie Gefangenenlager Guantanama auf Cuba unterhält die USA bis heute.
13 ebd. S.159
14 ebd. S.168
15 Noam Chomskys Blick auf die Ukraine, 18.03.22 - Pressenza IPA
16 In meiner Nürnberger Gemeinde Gostenhof ist der Justizpalast, bekannt durch die Prozesse gegen die führenden nationalsozialistischen Kriegsverbrecher: ein Hoffnungsschimmer für Opfer, dass Unrecht verurteilt wird und politische Verbrecher ebenfalls.
Martin Luther King kämpfte für die Gleichberechtigung von Menschen aller Hautfarben. Ich konnte das nie so richtig verstehen. Für mich war das immer eine Selbstverständlichkeit.
Als unsere evangelische Auferstehungs-Gemeinde in Schweinfurt Christen aus der nahen US-Kaserne 1963 zum Gemeindefest einlud, ging es für mich um die „Amis“. Hautfarben spielten keine Rolle, eher die fremde Sprache. Es war Sommer und zwei Familien kamen zu uns in den Garten zu Gast. Sie waren schwarz. Selbstverständlich spielten wir Kinder sofort miteinander. Die Erwachsenen taten sich mit dem Radebrechen etwas schwerer. Irgendwann erklangen Volkslieder in beiden Sprachen und ich durfte eines der fremden Lieder lernen. Unser Pfarrer hat das damals gut gemacht. Ich erlebte es als eine völlig unaufdringliche Begegnung, wie einen Verwandtenbesuch. Wo also war das Problem?
Inzwischen kenne ich die Probleme. Umso mehr teile ich Kings Empörung, dass das Selbstverständliche nicht selbstverständlich sein sollte. Kings Ermordung schockte mich als Jugendlichen. Meine Abscheu gegenüber Rassisten wurzelt darin. Mein Interesse an King aber wurde erst später tiefer, als sich die Frage nach der Gewalt und ihrer Berechtigung stellte. Als Kriegsdienstverweigerer musste man viele gewaltfreie Szenarien durchspielen und gegen militärische Lösungen hochhalten. Ich erlebte Prag zwei Tage vor dem russischen Einmarsch, der den sog. Prager Frühling durch Panzer beendete. Blauäugiger Gewaltverzicht wurde mir genauso verdächtig wie ein Militärschlag, der den dritten Weltkrieg auslösen könnte. Der regelmäßige Besuch bei Freunden in der DDR ließ die Frage unbeantwortet, wie man das Unrechtssystem beenden könnte. Wir diskutierten die Ideen von King, der uns näher war als Gandhi.
Martin Luther King bietet so viele Facetten und Ereignisse, dass eine Monographie schnell die Grenzen der Vertiefung erreicht. In ihm treffen sich die Aspekte des Kampfes gegen Ungerechtigkeit in rassistischer wie sozialer Hinsicht, der Unfassbarkeit des Krieges, speziell in Vietnam, das Beharren auf gewaltfreier Methodik und der spirituelle Charakter seines Wirkens.
Bei King in der Vergangenheit zu bleiben, verbietet sich von selbst. Auch Schriften aus der bundesdeutschen Provinz müssen auf das Zeitgeschehen Bezug nehmen. Noch ist das gelobte Land nicht erreicht, formieren sich die Gegner immer wieder neu. Deswegen beließ ich aktuelle Passagen, auch wenn sie überholt waren. Das veranschaulicht den Prozess, in dem wir uns befinden.
Das Buch ist engagiert, also keineswegs wertfrei – was für einen Christen ohnedies nicht geht. Pilatus war Diplomat, Jesus nicht. Wer auf der Seite der Gewinner stehen will, muss sich an Pilatus halten. Wer auf der Seite des Siegers stehen will, muss sich an Jesus halten – und Niederlagen einkalkulieren.
Martin Luther King als Propheten wiederzuentdecken schließt eine nachhaltige Beschäftigung mit seiner Lebensgeschichte und seinen Aktionen ein. Bei den großen alttestamentlichen Propheten finden wir dies ansatzweise auch.
Manche Aktionen wie der Busstreik in Montgomery werden wiederholt erwähnt, um sie in verschiedener Hinsicht zu beleuchten.
Die Leser solcher Bücher verstehen meist Englisch gut genug, um Zitate im Original zu lesen, auch bei längeren Abschnitten. Gerade Auszüge aus Kings Predigten sind „in his own words“ prägnanter, auch in ihrer poetischen Dimension.17