Dritte Orte - Andreas Degkwitz - E-Book

Dritte Orte E-Book

Andreas Degkwitz

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Beschreibung

Gesellschaftliche Veränderungen stellen Archive, Bibliotheken und Museen vor große Herausforderungen. Um weiterhin Akzeptanz und Wertschätzung zu finden, sind diese Einrichtungen in der Situation, ihren Auftrag wie ihre gesellschaftliche Rolle neu zu bestimmen. Vor allem Bibliotheken verfolgen das Ziel, sich zu einem "Dritten Ort" zu entwickeln, der als öffentlicher Raum Zugang zu Informationen und Medien sowie Vermittlung von Kompetenzen bietet und darüber hinaus Möglichkeiten eröffnet, sich auszutauschen, miteinander zu diskutieren und kreativ zu sein. Dieser Ansatz ist vielversprechend und zeitgemäß, kann allerdings auch Risiken bergen, wenn die kulturellen Einrichtungen ihre Deutungshoheit verlieren und in der weiteren Folge Fehlentwicklungen unterliegen.

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Seitenzahl: 84

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Inhaltsverzeichnis

Prolog

Discount-Kultur

Podiumsdiskussion

Internet

Wertschätzung

Interviews

Abseits

Offener Brief

Sinnkrise

Spagat

Das Konzept

Bewerbung

Eröffnung

Lesesaal

Neue Aufgabe

Endlose Gegenwart

Openness

Eklat

Letzter Versuch

Albtraum

Epilog

Prolog

Bildung und Kultur unterliegen seit jeher Veränderungen, die in vielerlei Hinsicht auf einem Wandel der Gesellschaft beruhen – das ist auch heute so. Dabei werden Aufgaben und Rollen traditioneller Kultureinrichtungen oft in Frage gestellt - mit der Folge, dass die Wertschätzung dieser Einrichtungen in der Gesellschaft verloren geht. Das gefährdet den Fortbestand dieser Kultureinrichtungen, zu denen Archive, Bibliotheken und Museen sowie Institutionen der Musik- und Schauspielkultur gehören. Um dem Verlust an Akzeptanz und der Infragestellung ihres Fortbestands entgegenzuwirken, sind diese Einrichtungen hochgradig bemüht, ihre Angebote und ihr Selbstverständnis an Erwartungen anzupassen, die in den Veränderungen der Gesellschaft begründet sind. Der Spagat zwischen Tradition und Neuorientierung, der sich daraus ergibt, kann im Zuge des digitalen Wandels nochmals verstärkt, aber auch überbrückt werden. Dabei laufen Archive, Bibliotheken und Museen durchaus Gefahr, ihre herkömmlichen Rollen zu verlieren. Dieses Risiko wird offensichtlich, wenn die Neuausrichtung der Kultureinrichtungen von politischer Seite ausgenutzt wird, um sie mit Aufgaben zu betrauen, die mit ihrem bisherigen Auftrag in keinem Zusammenhang stehen. Die Deutung ihrer Weiterentwicklung liegt dann nicht mehr bei Archiven, Bibliotheken und Museen, sondern erfolgt durch die Politik.

Ursache dafür sind politische Prioritäten, die durch finanzielle oder ideologische Zielkonflikte bedingt sind. Der „Dritte Ort“, den vor allem Bibliotheken für sich beanspruchen, bietet dafür ein gutes Beispiel. Dieses selbst gesetzte Ziel ihrer Weiterentwicklung kann für Bibliotheken dazu führen, dass sie als Bibliotheken kaum mehr zu erkennen sind. Deshalb sind die Entwicklungsziele der Bibliotheken nicht falsch – ganz im Gegenteil: Aus fachlicher Sicht trifft der „Dritte Ort“ den Bedarf. Doch wenn die Politik sich in der Situation sieht, die Weiterentwicklung ihrer Kultureinrichtungen zu deuten und vorzugeben, kann es zu Ergebnissen kommen, die von den Vorstellungen der Kultureinrichtungen deutlich abweichen, so dass sich deren richtige Ansätze gegen sich selber richten und im äußersten Fall sogar zu ihrer Auflösung führen.

Ein guter Freund, der seit langer Zeit im Bibliothekswesen tätig ist und den ich seit einer ganzen Weile nicht mehr gesehen hatte, berichtete mir von zwei Bibliotheken, die eine solche Entwicklung genommen hatten, deren Ergebnis zu großen Schäden und Verlusten beider Bibliotheken führte. Zunächst als Direktor einer Stadtbibliothek und dann als Leiter der Public-Relations-Abteilung einer großen wissenschaftlichen Bibliothek hatte er damit zu tun. Er verstand Bibliotheken als öffentliche Räume, die einen niedrigschwelligen Zugang zu Informationen und Medien ermöglichen wie auch Expertise und Kompetenzen zur Auffindbarkeit und Nutzung von Wissensgütern vermitteln. Aus seiner Sicht war der „Dritte Ort“, den Kultureinrichtungen boten, ein wesentlicher Beitrag für kulturelle Bildung und den Zusammenhalt unserer Gesellschaft. Denn in Kultur erkannte er Orientierung und Teilhabe, die auf gemeinsamen Traditionen und Wertvorstellungen beruhten. Von seiner Herkunft her war ihm diese Auffassung nicht in die Wiege gelegt. Vielmehr hatten ihn Schule und Studium zu dieser Einsicht gebracht und motiviert, den Beruf des Bibliothekars zu ergreifen. Zu seinen Erfahrungen mit der Fehlentwicklung der beiden Bibliotheken berichtete mir mein Freund dann folgendes.

Discount-Kultur

Mitte der 80er Jahre war am Rand der Stadt ein Discount-Markt gebaut und eröffnet worden: ein Erdgeschoss und ein Obergeschoss über eine weiträumige Fläche und ein riesiger Parkplatz. Verkauft wurden Mobiliar für Küchen, Badezimmer und Schlafzimmer sowie Arbeits- und Kinderzimmer, aber auch Geschirr, Bettwäsche, Handtücher, Vorhänge, Baumaterial und Werkzeug sowie jede Menge Dekorationsobjekte, die auch dürftig ausgestattet erscheinende Wohnungen bunter, moderner und wohnlicher machen sollten und dabei völlig frei von Sinn und Funktion waren. Das Sortiment, das der Discount-Markt bot, wirkte preiswert, reichhaltig und manchmal auch originell. Große Pappkartons und volle Plastiktüten wurden beglückt in Caravans oder Kofferräume geschoben, um Reihenhäuser und Eigentumswohnungen zu befüllen – viele fanden das schön. Immer neue Kaufanreize verstand der Discounter erfolgreich zu setzen, um den Einkaufshunger zu stimulieren. Mit einem Erweiterungsbau wurde ein Lebensmittelbereich eröffnet, dessen Sonderangebote zweimal wöchentlich mit Wurfpostillen unter die Leute gebracht wurden, die zu eifrigem Studium führten und sich großer Beliebtheit erfreuten.

Der Discount-Markt war Kult. Eine Buslinie wurde eingerichtet, um die Fahrt dorthin zu erleichtern; denn der täglich zunehmende Ansturm hatte viele Staus auf der Straße zum Discount-Markt zur Folge. Geschäfte im Nahbereich derjenigen Stadtbewohner, die nun zum Discountmarkt strömten, hatten darunter zu leiden und sahen sich in ihrer Existenz bedroht. Eine Konsumkultur machte sich unter dem Motto des Sparens breit und führte zahlreiche Einzelhandelsgeschäfte, die den ruinösen Preiswettbewerb mit dem Discount-Markt nicht bestanden, in den Bankrott. Diese Orte, die zu Begegnung und Nachbarschaft täglich beitrugen, starben zunehmend aus – dergleichen hatte sich allem Anschein nach überlebt und lohnte nicht mehr. Denn nun traf man sich beim Einkauf im Discount-Markt.

Der Konsum weckte zugleich den Austausch über Themen wie Schnäppchenjagd, Niedrigpreisangebote, Sonderposten und Ausverkauf – das war neu und hatte es bisher in diesem Umfang noch nicht gegeben. Insofern erwies sich der Discount-Markt für seine Kunden als Einführung in die Betriebs- und Marktwirtschaft. Unentwegt wurden Preise verglichen, Sparangebote analysiert, preisleistungsbezogen kalkuliert und in Rabatten gedacht. Diese und andere Themen bewegten die Gemüter und Gespräche der Käufer und Käuferinnen, die oft in Gruppen den Discount-Markt aufsuchten. Dass sich die Potenziale der Konsumkultur so integrierend entwickelten, hätte ich nie für möglich gehalten. Der Discounter hatte einen Kulturwandel eingeleitet, der von wechselseitigem Austausch geprägt, aber auch wettbewerbsorientiert war. Denn mit der Kauflust ging auch ein Kräftemessen einher, das Rabattgespür, Liquidität und Kaufgeschick ansprach. Niemand wollte als Käufer im Abseits stehen. Alle sahen sich in der ersten Reihe – als Kunden wie als Verbraucher.

Um einen Platz für Gespräche, Vergleiche und Zusammenkünfte zu bieten, entstand im Discount-Markt ein Self-Service-Restaurant, das jenen Hunger stillte, den die Einkaufsaktivitäten zwischen Hochregalen und Sonderauslagen nicht befriedigen konnten. Im Restaurant wurde nicht nur – umgeben von vollen Einkaufswagen – gespeist, sondern man evaluierte auch Einkäufe und verglich mit denen anderer Kunden. Hier wurden Heißgetränke und warme Mahlzeiten kalt, da sich Ehepaare, Eltern, Freunde, und Nachbarn über Einkaufserfolge stritten, um zu beweisen, mit den Modalitäten des Discounters vertraut zu sein und als Käufer und Kunden nicht über den Tisch gezogen zu werden – das war wichtig, um im Wettbewerb dieser Kultur als Gewinner zu gelten.

Weitere Attraktionen folgten. Um Eltern Einkaufsstress zu ersparen, wurde Kinderbetreuung angeboten und ein Spielplatz zur Verfügung gestellt. Dass dabei Sandkisten, Schaukeln und Spielzeuge eingesetzt wurden, was sich zugleich im Freizeit- und Spielzeugsegment des Marktes befand, führte dazu, dass diese und andere Utensilien bald in jedem Reihenhausgarten zu finden waren. Welche Eltern würden Kindern solche Wünsche abschlagen, wenn sie dafür ohne Kindergeschrei zwei Stunden einkaufen konnten? Hier griff die neue Kultur in Beziehungen ein – das galt nicht nur für Eltern und Kinder. Beim Möbelkauf war es schon länger so, dass Kaufentscheidungen auf Beziehungen Einfluss nahmen und durchaus zu Trennungen führten. Die Eröffnung eines Erotik-Shops im Discount-Markt tat das Seine in dieser Hinsicht und steigerte gleichzeitig Umsatz und Verkauf bei der Bett- und Unterwäsche, deren Sortiment auf das Portfolio des Erotik-Shops abgestimmt war.

Doch allen Erfolgen zum Trotz war es gut fünfzehn Jahre nach seiner Gründung mit dem Discount-Markt vorbei. Dem Inhaber wurde wegen Bilanzfälschung und Steuerhinterziehung der Prozess gemacht – er musste für seine Vergehen für zwei Jahre in Haft. Das war das Ende des Discount-Markts. Überraschend war, dass seine treuen Käuferinnen und Käufer ihn offenbar gar nicht vermissten, als hätten sie den Markt gleichsam leergekauft, so dass sie ihn nicht mehr brauchten. Doch die Zeit solcher Märkte war offenbar an ein Ende gekommen. Die Kultur, die sie befördert und groß gemacht hatte, entwickelte sich in eine andere, neue Richtung. Ich erinnerte mich noch gut an den Aufstieg und Fall des Discounters, dessen Liegenschaft in meinem beruflichen Werdegang eine wichtige Rolle spielte.

Podiumsdiskussion

Als Bibliothekar der Stadt sah ich mich dazu berufen, eine Podiumsdiskussion zum Thema „Öffentlicher Raum und Kultur“ zu veranstalten, nachdem der Discount-Markt seine Tore und Türen geschlossen hatte. Denn der Discount-Markt war zu einem öffentlichen Raum geworden und hatte niedrigschwellig eine Kultur etabliert, mit der sich viele Bürgerinnen und Bürger identifizierten – bisweilen sogar mit Leidenschaft. Allerdings sah ich in einer Konsumkultur keinen unmittelbaren Zusammenhang mit Vorstellungen und Werten, die auf der Tradition unserer Stadtgesellschaft beruhten.

„Bibliotheken bieten öffentlichen Raum und nennen ihn ihren ‚Dritten Ort‘ - ein Ort, der weder Wohn- noch Arbeitsort ist, aber alles umfasst, was zwischen Arbeit und Wohnen liegt und der zugleich einen jeweils eigens gestalteten Ort darstellt, wie ihn Bibliotheken, aber auch Kaufhäuser, Kinos, Märkte, Bahnhöfe, Tankstellen, Archive, Museen, Konzert-, Theater- und Opernhäuser und viele andere Einrichtungen haben. Dort geschieht Privates in der Öffentlichkeit und umgekehrt geht Öffentlichkeit in Privates ein. Früher wurden solche Orte auch Allmende genannt. Brauchen wir solche Orte weiterhin oder sind sie für uns heute kein Thema mehr?“

Mit diesen Worten eröffnete ich die Veranstaltung und begrüßte den Kulturdezernenten unserer Stadt, eine Professorin der Soziologie, eine Stadtplanerin und einen Eventmanager, der mit seiner Agentur erst vor Kurzem in unsere Stadt gekommen war. Der Kulturdezernent ergriff das Wort.

„Wir leben in einer Stadt, die so offen ist wie die Gesellschaft auch. Mit der Kulturverwaltung ermöglichen wir für alle Sparten kulturellen Lebens ein Angebot, sei es Musik, Kino, Theater, Sport, Museum, Volkshochschule oder Kunst in allen Facetten – und nicht zuletzt Bibliotheken. Alle Programme sind offen für jede und jeden. Die Besucherzahlen zeigen, dass wir der Stadtgesellschaft etwas geben, das sie zahlreich annimmt und schätzt. Öffentlicher Raum ist Raum für kulturelle Ereignisse in unserer Stadt – dafür setzen wir uns Tag für Tag ein.“

Für diesen Beitrag gab es Beifall des Publikums, das den Vortragssaal der Bibliothek bis auf den letzten Stehplatz füllte. Offenbar war das Thema von großem Interesse.