Schimpfer und Versager - Andreas Degkwitz - E-Book

Schimpfer und Versager E-Book

Andreas Degkwitz

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Beschreibung

Immer offenbarer werden die Schwierigkeiten, Konflikte und Probleme im wechselseitigen Austausch oder in Gesprächen zu lösen. Wir alle tendieren dazu, primär für uns, aber immer seltener miteinander zu sprechen. Dass Menschen, die schimpfen, ungern mit anderen reden, um sich in ihrem Ärger und ihrer Wut nicht in Frage stellen zu lassen, ist nicht überraschend: Schimpfer schätzen den Monolog. Versager sind eher im Selbstgespräch und führen Monologe in anderer Weise. Wie der Schimpfer scheitern sie, weil sie sich Dialogen versagen. Im Unterschied zu Schimpfern wollen sie keine Konflikte, sondern setzen alles auf sich. Angesichts dessen geht es in diesem Band um Monologien, die die Tiraden eines Schimpfers wie die Unfälle von Versagern in ganz ähnlicher Weise charakterisieren. Die pluralistisch geprägte Gesellschaft ist, für sich genommen,noch keine Gemeinschaft.

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Inhaltsverzeichnis

Der Schimpfer

Die Versager

Epilog

Der Schimpfer

„… die eigene Haut für Graffitis zu nutzen, was sich zunehmend tätowierte Zeitgenossen mehr und mehr antun, verstört mich wieder und wieder. Waren Tattoos zu früheren Zeiten eher ein Ausnahmefall, hat sich daraus nun eine „hippe“ Mode entwickelt, die massenhafte Verbreitung findet. Tattoos vervielfachen sich ungehemmt und sollen als Körperkunst der extravaganten Profilierung in einer pluralistisch geprägten Gesellschaft dienen. Welcher Abgrund öffnet sich da, der auf keine Kuhhaut mehr geht und keine Körperregion verschont. Kosten spielen dabei allem Anschein nach gar keine Rolle. Oftmals manifestiert sich da eine Metaphorik des Schreckens - facettenreich wie schablonenhaft auf Schultern, Oberarmen, Rücken, Hüften und Waden, Handrücken und Gesichtern. Wie schwach sind die Absichten, Erinnerungen und Wünsche derer, die sich dergleichen unter die Haut spritzen lassen, um sich stets ihrer bewusst zu sein! Doch wer sich in dieser Weise „schmückt“, möchte im Grunde vergessen - glaubt vielleicht Absichten, Erinnerungen und Wünsche zu ästhetisieren, macht sie aber zu einer blassen Konserve und steckt sie auf diese Weise weg. Was ist passiert, dass diese befremdenden Formen der Selbstverwirklichung so erfolgreich sind? Was will jemand, der sich tätowiert, eigentlich anderes sagen, als dass er oder sie buchstäblich aus ihrer Haut fahren möchten, da er oder sie sich in ihrer Haut nicht mehr ertragen? Tätowierte sind Menschen, die sich nicht in den Mittelpunkt stellen wollen, aber mit ihrer „Kriegsbemalung“ Aufmerksamkeit auf sich ziehen möchten, Menschen, die nicht wirklich aus sich herausgehen, sondern hautnah und nicht mit Worten anderen und vor allem sich selbst beweisen wollen, dass sie etwas ganz Besonderes und ebenso Individuelles sind. Tätowierte mögen sich als Antipoden oder Widersacher einer „Mainstream-Kultur“ verstehen. Doch die Körperkunst, die sie ziert, ist selbst zum Mainstream geworden und keine Gegenbewegung, sondern ein Rückzug auf sich selbst. Insofern arrangieren sich diejenigen, die sich tätowieren lassen, passen sich an und beweisen vor allem sich selbst, dass sie die „Coolen“ sind. Sie gehören nicht zu den Schimpfern, wie ich einer bin, die sich beschweren, kritisieren und Auseinandersetzungen suchen, sondern sie zeigen sich als Gezeichnete, die ihre Haut „zu Markte tragen“, um, wie sie meinen, anders und einzigartig zu sein.

Klar stellen möchte ich, um als Schimpfer nicht missverstanden zu werden, dass ich alles, woran ich Anstoß nehme, stets nüchtern und mit gebotenem Abstand betrachte. Für alle Bewertungen dessen, was mich ärgert, plagt oder mir gegen den Strich geht, beanspruche ich für mich, ebenso sachkundig wie urteilsfähig zu sein. Dabei versteht sich von selbst, dass ich mein Unbehagen uneingeschränkt wie auch ungeschminkt zu Gehör bringe – das ist doch ganz klar. Denn in unseren Zeiten müssen Ärger und Wut deutlich vernehmbar sein. Anders würden sich meine Worte verlieren und nichts verändern. Denn wer hört heute noch zu, wenn es kein Geschrei ist? Wer ist heute noch in der Lage, überhaupt jemandem zuzuhören, der argumentiert und nicht alles und jedes zum Skandal macht? Wer ist noch bereit, auf jemanden einzugehen, der genauso verärgert ist, wie ich es wieder und wieder bin?

Diese Form der Respektlosigkeit trifft ja nicht nur mich, sondern jede und jeden von uns. In unseren Zeiten verstöpseln sich alle die Ohren, um entweder nur sich selbst oder nur das zu hören, was gerade gehört werden will - nicht gehört werden möchte, was aufregt oder bewegt. Dieses Verhalten ist im wahrsten Sinne des Wortes ungehörig und verbietet sich eigentlich, wenn so etwas wie eine Gemeinschaft oder Gesellschaft weiterhin erwünscht oder gewollt ist. Gibt es noch etwas, was einem Verbot unterliegt, weil es gegen den „common sense“ oder gemeinsame Werte verstößt? Ist nicht alles erlaubt – auch das, was ganz eindeutig im Widerspruch zu einem Zusammenleben steht, das auf Einvernehmen und Rücksichtnahme beruht? Ist es mit dem, was wir unter Toleranz verstehen, so weit gekommen, dass selbst auf denjenigen nicht mehr gehört wird, der im Sinne einer Gemeinschaft auf Kompromissbereitschaft besteht, und dass jemand herausgekickt und übergangen wird, der dies zu Recht beansprucht und damit deutlich mehr über den Tellerrand der eigenen Spielräume blickt als einer, der mit großen Sprüchen und kleinen Skandalen Aufmerksamkeit erheischt?

Immer wieder sehe ich mich in der Situation, die Bewohner des Hauses, in dem sich meine Zwei-Zimmer-Wohnung befindet, zu ermahnen, ab 20 Uhr die Haustüren zu verschließen, ihren Müll zu trennen und das Treppenhaus nicht mit großem Getöse am Sonntagmorgen aufzupolieren. Ich klebe Aushänge an die Wände in Hausflur und Treppenhaus, unterstreiche die Wochentage und Uhrzeiten mit einem knallroten Edding. Nicht nur, dass ich ohrenverstöpselte, taube Mitbewohner habe – es sind darüber hinaus ganz offensichtlich auch Analphabeten oder mit Blindheit geschlagene Zeitgenossen, die nicht nur nicht hören können, sondern auch zum Lesen nicht mehr in der Lage sind. Dass ich mir diese Typen Tag für Tag antun muss, diese Blindgänger digitaler Un-Zivilisiertheit – ein Unwort, ich weiß, aber absolut treffend. Denn wenn überhaupt noch etwas angeschaut oder betrachtet wird, ist es ein Smartphone, das alles an Aufmerksamkeit aufsaugt und jede Rücksichtnahme verbietet.

Nichts reißt die Blicke mehr los von vermeintlich lebenswichtigen Bildern, E-Mails, News, Videos oder SM-Sen. Diese Blindgänger laufen lieber quer über die Straße ins nächste Auto, als sich ein einziges Mail nach links und rechts umzusehen – nicht zuletzt verstehen sie sich als „Multitasker“. Doch dies ist der Verblödung und Unverschämtheit noch nicht genug. Denn wenn ich so jemandem nicht ausweiche oder Platz mache, ernte ich den unglaublichen Vorwurf asozialen und rücksichtslosen Verhaltens. Tja, wenn‘s den großen Zeh von Frau Facebook oder Herrn Twitter trifft, tut’s plötzlich weh und wird zum Skandal, was, wenn es andere trifft, ganz normal und eben leider passiert ist.

Doch der Gipfel ist, dass die Single-Horde der „Multitasker“ von sich behauptet, auch aktiv, genauer gesagt, interaktiv zu sein. Am Ende wollen die auch noch Geld für ihren Autismus! Mit dem Smartphone aktiv oder interaktiv zu sein, ist genauso absurd wie zu glauben, Fußball zu spielen, wenn frau oder man sich bei Sky-TV ein Champions-League-Spiel ansieht. Schon die Behauptung, im Internet oder „digital“ unterwegs zu sein, zeugt von einem Selbstverständnis, das nur erstaunen kann. Viele haben es offenbar weit gebracht und so viel Verstand verloren, dass sie Wunschvorstellungen mit Realitäten verwechseln. Via Virtualität meinen sie, sich ihrer selbst vergewissern zu können, und halten sich für Individuen, die weltweit für jede und jeden verfügbar sind. Avatare sind diese offenbar lieber, als mit beiden Füßen im Leben zu stehen: Was, wenn nicht dies, wird die Welt absehbar in den Abgrund führen!

Mit Bloggen, Posten, Surfen und Tweeten gewinnen wir nichts. Vielmehr verlieren wir uns auf diese Weise im Strudel permanenter Vernetzung und werden von der Informationsflut an ausgelutschte und abgeschöpfte Ufer der Realität gespült. Doch wer dergleichen vernehmbar zu sagen wagt, ist ein Spielverderber, einer, der sich nicht weiterentwickeln möchte, ein jemand, der immer von gestern ist und von Zukunft nichts wissen will, um die es doch heute schon geht. Klar, wer im Digitalen aufgeht, fühlt und sieht sich immer schon einen Schritt voraus, ohne es wirklich zu sein. Wer sich dabei verstolpert, sieht die Ursache nicht bei sich, sondern die Ewig-Gestrigen haben Schuld, da sie dem Fortschritt im Wege stehen.

Doch warum sehe ich mich ununterbrochen veranlasst, meiner Verärgerung darüber Luft zu machen, dass heute eigentlich alles, was schief läuft, im Sinne welcher Weiterentwicklung auch immer entweder unwichtig ist oder für richtig gehalten wird? Keinerlei Grund habe ich mich, meiner Herkunft zu schämen oder sie gar zu verleugnen, in der mancher den Grund für meinen Ärger erkennen will. Dass ich einem bürgerlichen Milieu entstamme, sollte mir niemand zum Vorwurf machen. Die überschaubare, allerdings von Touristen häufig besuchte Stadt, in der ich Kindheit und Jugend verbrachte, soll mir kein Stigma sein. Ich gebe zu, dass ich gern dort gelebt habe, und das bürgerliche Milieu mir zumindest nicht stets widerstrebte. Die Grenzen dieser Umgebung, die ich erlebt und erfahren habe, lasse ich mir nicht zum Vorwurf machen – der Spießer aus der Provinz bin ich nicht. Denn mir ist wohl bewusst, dass das Idyll, das viele Zeitgenossen in meiner Geburtsstadt sehen, auch Ecken und Kanten hat - daran kann man sich in der Tat sehr unangenehm verletzen.

Aufgehoben, beschützt war ich in vieler Hinsicht. Bisweilen war dies des Guten sogar zu viel, da begleitet von einer ständigen Angst, aus einer Welt herauszufallen, die Sicherheit und Erfolg versprach. Doch diese Welt war schon damals im Vergehen begriffen, so dass sie eher der Vergangenheit angehörte als eine Zukunft zu haben: Die Mitte der Gesellschaft war dabei zu zerbrechen. Hatte es im Idyll meiner Jugend noch Werte gegeben, die anerkannter Bestandteil von Aufgaben und Verpflichtungen waren, löste sich der Zusammenhalt, der darauf beruhte, zunehmend auf. Denn die Tugenden, die mein Heranwachsen prägten, begannen sich mehr und mehr zu verflüchtigten. Als sei sie von allen guten Geistern verlassen, strauchelte die Moral. Der flächendeckend erfolgte, konsumgetriebene Bruch mit dem sechsten Gebot fand darin seine Rechtfertigung, dass die Menschheit in diesem Kontext schon immer schwach und noch nie perfekt war, als sei Perfektionismus der Maßstab für die Gültigkeit von Moral.

Doch es hat eben Spaß gemacht, ohne Hemmung zu dürfen, was bisher Tabu war: Sex ohne Hülle in Überfülle – wer konnte da widerstehen? Eine zweite Aufklärung fand statt. Diesmal allerdings nicht in Akademien und in philosophischen Köpfen, sondern in Schlüpfern, Unterhosen und Zeitschriften, deren Titelblätter pralle Girls und knackige Boys im Angebot hatten, um ihren verklemmten Leserinnen und Lesern die Lust an der Lust zu vermitteln: Das Glück liegt in Euren Hüften und Lenden! Die Gegenbewegung entwickelte sich zum Anwalt von Anstand und Sitte, argumentierte mit abendländischer Ethik und prüder Vernunft und gebar die abstruse Angst, dass sich die Weltbevölkerung außerhalb familiärer Beziehungen exponentiell vermehren dürfte. Wenn es gar nicht mehr anders ging, kam Lebenserfahrung ins Spiel, die auf dem Feld sexueller Befreiung mit Sicherheit nicht existierte – beide Seiten hatten sich so sehr auf das Thema Sex fokussiert, so dass ihnen Argumente, die darüber hinaus gingen, schlicht fehlten. Dabei hätte es solche Argumente durchaus gegeben.

Denn was diese Revolution vor allem bewirkte, waren der Rückzug ins Private und die Offenbarung der Intimität. Mit anderen Worten: Gesellschaft und Politik wurden als gemeinsame Sache aller vom Wohlfühlbedürfnis einer und eines jeden verdrängt. Körperlichkeit und Befindlichkeit rückten ins Zentrum aller Lebensgestaltung - Deutschland hatte das „Laissez faire“ der Lust für sich entdeckt und begann es zu organisieren. Die Ketten der Ehe waren gesprengt, jetzt ging es um Partnerschaft. Körperpflege wurde zum Kult. Wer kein Deodorant benutzte, der stank. Wer sich mit seiner Biographie in diese Entwicklung nicht einzuordnen verstand, beschwor sein Unterbewusstsein mit Therapien, um sich von was auch immer zu befreien und loslassen zu können. Das Zurück zur Natur gebar alternative Medizin, die Gesundheit in jeder Hinsicht zum Kern einer ökologischen Glaubensauffassung machte. Was sich allerdings als spektakulär absurd erwies, war die Verkehrung der politischen Botschaft, die der Fackel der Freiheit das Feuer gab, ins intime Private persönlichen Wohlbefindens.

Anders gesagt: Die neu gewonnene Freiheit wurde im besten Fall zur Befriedung von Lust und Trieben genutzt. Zugleich boomten Konsum und Markt um die Nachfrage zu stillen, zu der die neuen Bedürfnisse führten. Daraus resultierten Gewinne, die zuvor niemand erwartet hatte. Wer hätte für möglich gehalten, dass der politische Anspruch der 68er dermaßen degenerierte, dass Durchbruch und Aufbruch im Ergebnis zur größten, kollektiven Bettgeschichte des letzten Jahrhunderts mutierten. Die zweite Reformation, die - wie die erste - die Gesellschaft teilte und Spannungen mit dem Heiligen Stuhl generierte, war im Rückblick ein aufgebauschter, sinnloser Wahn, endlich zum freien Menschen zu werden. Zum Glück sind wir dabei nicht zu Tieren geworden, was 40 Jahre zuvor geschah.

Doch die Schwäche des Fleisches, die dessen Stärke war, hat den Willen des Geistes gebrochen und die Debatte in eine Richtung gebracht, die nicht mehr die Freiheit für alle, sondern die Ansprüche auf was auch immer für jede und jeden zum Gegenstand hatte. Bis heute glauben wir uns gefunden zu haben, wenn sich erfüllt, was wir für uns beanspruchen können. Doch ob dies zu einem gesellschaftlichen Nutzen aller führt oder auf Basis des Rechts des Stärkeren praktiziert wird, erweist sich als nebensächlich. Der unablässig gepriesene Fortschritt hat sich als Sprung des Tigers auf einen Bettvorleger herausgestellt: Spießige Häuslichkeit bei gedimmter Beleuchtung, Bordellgefühle und Rotlichtambiente im Ehebett, vitaminbewehrter Gesundheitswahn und penible Kalorienkontrolle - die Blumen der Gutmenschen blühten, hatten jedoch jede andere Flora trocken gelegt, so dass die Früchte der tatsächlich guten Menschen verdorrten.

Jede Form von Verstand hatte der Körper verschluckt und als Geständnis intimer Befindlichkeit wieder ausgespuckt. Über die Wirkung „meiner“ Hormone wurde bis zum Erbrechen berichtet, Frigidität und Impotenz zu den großen Geißeln der Menschheit gezählt, die Tugend treuer Verbundenheit, da zu wenig belastbar, schlicht in den Wind geschossen. Unter solchen Auspizien führte die Eigenentfaltung auf unmittelbarem Wege zur Selbstverblödung und erwies sich im Rückblick als Vorspiel dessen, was Digitalisierung und Internet dann zur Vollendung brachten.

Um ehrlich zu sein, ganz frei blieb ich von diesen Einflüssen nicht. Zu meinen Ärger im Nachhinein habe auch ich mich betäuben lassen vom Wahn sexueller Befriedigung, mit der der männliche Teil der Bevölkerung bekanntlich nicht auf Dauer bedacht wird. Insofern wurde ich leider zum Wiederholungstäter und habe mich im Kampf um die Vereinigung beider Geschlechter wieder und wieder vergessen. Es war vergleichbar mit einer Sucht, die mich trieb, wenn füllige Brüste oder kraftvolle Hüften mir sehenden Auges entgegenwippten. Das waren Jugendsünden - das ist mir bewusst. Doch war es nicht leicht, die Finger wieder davon zu lassen und sich geistig zu regenerieren. Wie im Rausch konsumierte ich Frauen – was ich dabei empfand überließ ich dem nächsten Tag, der mich meistens schon beim Erwachsen zur Einsicht brachte, dass dieser One-Night-Stand es wohl gewesen war - und der Vorgang bereits Geschichte. Tränen habe ich nie getrocknet. Ich öffnete keine Tür noch ging ich ans Telefon, auch wenn am Tag danach das eine oder das andere unmissverständlich klingelte. Ich ging einfach zur Nächsten, putschte mich auf mit einem Joint und brachte das Spiel wie immer zum selben Ende.

Mehr und mehr blies ich mir den Verstand aus dem Hirn und hätte ihn fast verloren. Die Drogen, die im Zuge der sexuellen Befreiung mein Bewusstsein erweiterten, hatten mich fest im Griff. Auch das war eine der Folgen, die vollkommen überraschten. Stand doch der unbedingte Wunsch nach Aufklärung und Offenlegung im krassen Gegensatz zu der Forderung, bewusstseinserweiternde Drogen freizugeben und zur Verfügung zu stellen. Sinn und Verstand wurden auf diese Weise vernebelt, mehr noch verengt - von klarer, offener Bewusstseinsbildung konnte die Rede nicht sein. Wie meine Jugend, die dem Erlernen der Unterschiede von Kür und Pflicht unter Einschluss aller Tugenden gewidmet war, stellte sich der fortschreitende Untergang oder Zusammenbruch meiner Person als Schule des Lebens dar. Ich zog mich am eigenen Haarschopf aus dem Sumpf, indem ich mich abschottete, distanzierte, zurückzog von allem, was mich auf Abwege lockte, und arbeitete hart als Jobber, um mir Geld für ein Studium zu verdienen.

Die Einsicht überwältigte mich, dass alles, was mich zu welchen Zwecken auch immer beeinflussen oder vereinnahmen wollte, eine große und unberechenbare Gefahr für meine Freiheit und Unabhängigkeit war. Selbstbestimmt und nicht unter Anleitung wollte ich denken und handeln. Eigene Ziele wollte ich verfolgen, die ich mir selbst gesetzt hatte, und nicht solche, die andere mir empfohlen und vorgekaut hatten. Lieber allein und ungebunden als in welche Gemeinschaft auch immer eingebunden wollte ich sein, um niemandem außer mir selbst rechenschaftspflichtig zu sein. Hatte 68 versucht die Welt auf die Füße zu stellen, ging ich meinen Weg in die entgegengesetzte Richtung und setzte auf meinen Kopf, der quer und nicht angepasst war. Ich lief meiner Zeit nicht hinterher noch war ich ihr voraus. Vielmehr sah ich mich mitten in meiner Zeit, womit ich nicht sagen möchte, dass, was ich mir antat, zum richtigen Zeitpunkt geschah. Zu der Erkenntnis, was richtig und falsch war, musste ich mich erneut auf den Weg machen.