Außergewöhnlich gewöhnlich - Andreas Degkwitz - E-Book

Außergewöhnlich gewöhnlich E-Book

Andreas Degkwitz

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Beschreibung

Was ist mit Menschen, die außergewöhnlich gewöhnlich sind? Sie sind ausgeprägt oder ungewöhnlich gewöhnlich, halten sich manchmal allerdings für außergewöhnlich, was zu einer hohen Selbsteinschätzung führt. Diese falsche Einschätzung - oft verbunden mit fehlgeleitetem Ehrgeiz - lässt sie furchtbar scheitern, wie die Erlebnisse eines außergewöhnlich Gewöhnlichen zeigen, der kein Einzelfall ist. Denn mit schrillen Projekten, auf sich aufmerksam zu machen, um der Welt zu zeigen, was geht, wenn nur gewollt, ohne aber tatsächlich zu können, ist derzeit weit verbreitet und motiviert, über Selbstbild und Scheitern eines außergewöhnlich Gewöhnlichen zu berichten - ein "Felix Krull" der Postmoderne?

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PROLOG

Außergewöhnliche Menschen bedürfen oft vieler Worte, um sich zu beweisen oder erklärt zu werden; das trägt nicht immer dazu bei, dass sie sympathisch wirken oder für sympathisch gehalten werden. Gewöhnliche Menschen brauchen sich im Regelfall nicht zu beweisen und bedürfen nicht vieler Worte, um sich zu erklären. Denn Gewöhnlichkeit erklärt sich häufig selbst; auch machen viele Worte niemanden außergewöhnlich. Mit Gewöhnlichkeit verbindet sich oft die Sympathie anderer Menschen. Aber was ist mit Menschen, die außergewöhnlich gewöhnlich sind? Sie sind ausgeprägt oder ungewöhnlich gewöhnlich, halten sich manchmal allerdings für außergewöhnlich, was zu hoher Selbsteinschätzung führt, für die ihnen alle Voraussetzungen fehlen. Diese falsche Einschätzung – oft verbunden mit fehlgeleitetem Ehrgeiz – lässt sie wider eigenem Erwarten furchtbar scheitern, ohne dass sie die Gründe dafür verstehen, wie die Erlebnisse eines außergewöhnlich Gewöhnlichen im Folgenden zeigen, der kein Einzelfall in unserer Zeit ist. Denn mit schrillen Projekten, auf sich aufmerksam zu machen, um »der Welt zu zeigen, was geht«, wenn nur gewollt, ohne aber tatsächlich zu können, ist derzeit weit verbreitet und motiviert, über Selbstbild und Scheitern eines »Felix Krull« der Postmoderne namens Norbert K. zu berichten.

Inhaltsverzeichnis

KAPITEL 1

KAPITEL 2

KAPITEL 3

KAPITEL 4

KAPITEL 5

KAPITEL 6

KAPITEL 7

KAPITEL 8

KAPITEL 9

KAPITEL 10

KAPITEL 11

KAPITEL 12

EPILOG

KAPITEL 1

An seinem 18. Geburtstag, einem Mittwoch im Frühling des ersten Dezenniums der 2000er Jahre, beschloss Norbert von der Gewöhnlichkeit Abstand zu nehmen, die ihn, wie er glaubte, prägte, ja, seine Lebensjahre geradezu auszeichnete, ohne dass er wusste, um was es dabei tatsächlich ging. An diesem Tag, der ihm die Volljährigkeit schenkte, stellte er für sich fest, zu Außergewöhnlichem wie Höherem berufen zu sein. So hatte er es für sich immer wieder empfunden, doch nicht verstanden, diese Mission tatsächlich zu leben. Die Berufung, der er sich verpflichtet fühlte, war bisher im Dunklen und Ungefähren geblieben und bedurfte offenbar einer Entscheidung, die zu treffen nun Zeit war; er glaubte, nun sei endlich der Moment gekommen, um sich als Außergewöhnlicher mit der Volljährigkeit neu zu gebären. In Jeans und in einem karierten Hemd trat er ans Fenster und strich sich die Haare aus der Stirn, um in den blauen, sonnigen Himmel zu schauen, der ihm den Höhenflug versprach, den er mit seiner Entscheidung erwartete und der ihn von der Mittelmäßigkeit seiner Familie befreien und zu Höherem aufsteigen lassen würde – davon war er, gerade achtzehn geworden, jedenfalls fest überzeugt.

Norbert lebte in einer großen Stadt, die viele Anregungen für jede und jeden bot. Doch um damit in Berührung zu kommen, war die Siedlung, in der er wohnte, allem Anschein nach zu weit vom pulsierenden Zentrum der Stadt entfernt. Denn zu erfahren oder gar zu erleben, was außerhalb der Siedlung in der großen Stadt geschah, daran bestand für Norbert bisher weder Interesse, noch hatte er irgendeine Form der Neugier darauf entwickelt. Die Doppelhaushälfte, in der er mit seinen Eltern wohnte, die Straße, die daran vorbeiführte, der Weg zur Schule, der Sportplatz und das Jugendzentrum standen im Mittelpunkt seines Lebens und waren seine Welt, der er sich zugehörig fühlte und wo sich sein außergewöhnlich gewöhnliches Leben in Kindergarten, Grundschule und Gymnasium mit der Familie und seinen Freunden abspielte. Sein Vater war Apotheker, der sein Geschäft mit großem Ehrgeiz betrieb und deshalb für Norbert überhaupt keine Zeit fand, allerdings auch nicht wusste, was er mit ihm anfangen sollte. Norberts Mutter war leidenschaftlich Krankenschwester, die nach seiner Geburt kürzer treten musste und ihn als »Klotz am Bein« empfand. Unzufrieden mit ihrer Mutterrolle gab sie ihm zu verstehen, wegen ihm zu Hause bleiben zu müssen und ihn äußerst ungern zu betreuen; denn sie fürchtete nun, mit ihrer begonnenen Karriere im Krankenhaus schmerzhaft zurückzufallen.

Deshalb blieb Norbert ein Einzelkind – allerdings mit dem eigenen Reich eines großen Zimmers wie kein anderer seiner Freunde oder Schulkameraden. Dort hatte er als Kind mit Bauklötzen, Legosteinen, Spielzeugautos und Stofftieren gespielt und sich Tag für Tag seine eigene Welt geschaffen, aber diese auch immer wieder zerstört, wenn ihm die Spielergebnisse des jeweils gestrigen Tages im Wege standen. Mit einigem Vergnügen trat er dann die Türme aus Bauklötzen und die Häuser aus Legosteinen ein, vertrieb seine Stofftiere aus ihren Gehegen und warf seinen beachtlichen Fuhrpark an Matchbox-Autos in eine Kiste, die ihm als Garage diente. Doch er gehörte schon zu der Generation der Kinder, die in den 90er Jahren an beliebten, elektronischen Spielen wie Game Boy und Tamagotchi ihren Spaß hatten und in deren Kinderzimmern weder Streetview Teppich noch Stickeralben fehlen durften.

Die schönsten Stücke seines Kinderspielzeugs landeten auf einem Regal neben seinen Bilderbüchern und Kinderkrimis, wenn die nächste Spielzeuggeneration einzog und die bisherige verdrängte, während er sich auf seinen zehnjährigen Geburtstag zubewegte. Zu den Highlights gehörte die elektrische Eisenbahn mit Lokomotiven, Waggons, Schienen, Weichen, Signalanlagen, die immer wieder neu zu einer Gleislandschaft zusammengesetzt wurden und »en miniature « an Bahnhöfen und Stadtfragmenten vorbei über Gebirgszüge aus Pappmaschee, durch Tunnel und angemalten Seen entlang ein bewegtes Abbild des Lebens auf Eisenbahngleisen boten. Mit seinem Vater baute Norbert diese Fantasie zunächst in seinem Zimmer auf; als das Szenario dafür zu groß wurde, diente ein Keller dafür, der eigens für diesen Spielplatz ausgeräumt worden war. Lange Nachmittage verbrachten Norbert dort als Direktor der Eisenbahn und seine Freunde als Eisenbahnschaffner mit den Rangierherausforderungen des Güter- und Personenverkehrs im Kleinen. Dabei war Norbert froh, keine Geschwister zu haben, die ihm das Spielfeld des Schienennetzes und die Verantwortung seiner Funktion als »Chef des Ganzen« fortwährend streitig machten.

Von einem auf den anderen Tag wurden Autorennbahn und elektrische Eisenbahn Geschichte. Der eigene Laptop, das Desktop-Gerät zu Hause im eigenen Zimmer und das Handy fütterten die Fantasie von Verfügbarkeit und Zugänglichkeit all dessen, was im Netz erreichbar war und zu jeder Zeit über den Bildschirm zum Greifen nah erschien. Nun konnte sich Norbert mit seinen Freunden treffen, ohne sich deshalb an einen gemeinsamen Ort bewegen zu müssen. Doch der Verlust an Gemeinschaft war dabei zu groß, um sich allein auf Computer und Internet zu beschränken. Deshalb überlebte der Freundeskreis mit seinen Begegnungen und halbwegs regelmäßigen Treffen im Jugendzentrum, auf dem Sportplatz und im »Bierhimmel« der Siedlung. Immer mehr Spielzeug verschwand im Keller oder verstaubte mit den Büchern auf dem Regal. Im Mittelpunkt standen ein PC für Spiele und Videos und ein Handy, das viel mehr konnte, als das bisher ausschließlich genutzte Telefon.

Bis er achtzehn wurde, ging Norbert in dieser Umgebung auf, so dass ihm jeder Gedanke und alle Ideen fremd waren, die Grenzen der heimatlichen Siedlung zu überschreiten und neue Wege zu gehen, um sein Leben mit spannenden Erfahrungen und ungewohnten Erlebnissen zu bereichern. Wagte jemand, der zum vertrauten Kreis seiner Freunde und Klassenkameraden gehörte, diesen Schritt und erzählte, was er oder sie »draußen« erlebten, kursierten allerhand Kritik und Vorbehalte, die ihm oder ihr nicht offen mitgeteilt wurden, sondern die hinter ihrem oder seinem Rücken nach Art von Gerüchten von Mund zu Mund gingen. Für das offene Wort hatten er oder sie das Vertrauen verloren. Dennoch wuchs die Zahl derer, die den Schoß dieser Gemeinschaft verließen, obwohl denjenigen, die gingen, bewusst war, auf Dauer aus diesem Kreis verstoßen zu sein. Krisen und Abstürze derer, die »ausgewandert« waren, wurden mit Schadenfreude beobachtet und mit Häme versehen. Da solche »Katastrophen« eher selten waren, wurden Berichte zu einzelnen Beispielen hemmungslos aufgebläht und übertrieben, um zu beweisen, dass »daheim zu bleiben« der »rechte« Weg sei und es sich lohne, die »auswärtige Welt der Abenteuer« zu meiden. Diese Reaktion gründete darauf, aufkommende Neidgefühle im Keim zu ersticken. Denn keiner derjenigen, die der »Heimat« die Treue hielten, sollte von dieser Welt da »draußen« Genaueres wissen. Dazu gehörte vor allem auch Norbert, bis er 18 Jahre alt war und Volljährigkeit für sich beanspruchte. Nun durfte er, wie er glaubte, endlich außergewöhnlich sein.

Mit diesem Schub ließ er seine heimatverbundenen Freunde zu ihrer Überraschung wissen, dass sie sich in der Siedlung vor Herausforderungen versteckten und sich in lächerlicher Weise nur mit sich selbst befassten. Höchste Zeit sei es doch, sich den Wind ins Gesicht blasen zu lassen und nach den Sternen zu greifen. Denn wer wüsste nicht von der Außergewöhnlichkeit eines jeden und der Besonderheit, die jeden ausmache und die niemandem innerhalb und außerhalb der heimatlichen Gefilde entgehe, sobald man sich dafür entschieden habe, die stets eigene »Berufung« herauszufinden, aufzugreifen und zu verfolgen.

»Was machst du künftig anders als bisher? Was wirst du als Nächstes tun?«, wurde Norbert gefragt, als er eine Woche nach seinem Geburtstag an einem Samstag im »Bierhimmel« der Siedlung mit ein paar Freunden zusammensaß.