Lost in Life - Andreas Degkwitz - E-Book

Lost in Life E-Book

Andreas Degkwitz

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Beschreibung

Julian ist seit seiner Kindheit in der kleinen Stadt immer der, der sich in Familie und Schule vorbildlich verhält. Frieder ist sein Freund und weckt ihn auf. Auf einer Party nach einem Fußballturnier verliebt sich Julian in Jolanta und löst sich von seinem Elternhaus. Nach seinem Abitur zieht er in die große Stadt, wo er Rechtswissenschaft studiert. So will er unabhängig und selbstständig werden. Mit Jolanta sieht er die willkommene Chance, ein eigenes, selbstbestimmtes Leben zu führen. Doch Jolantas Eltern lehnen die Liebesbeziehung der beiden ab. Mit Raissa, die ihn für sich gewinnt, gründet er ein Clublokal und glaubt sich mit ihr auf dem richtigen Weg. Doch dann begeht Raissa Selbstmord ...

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Inhalt

BEHÜTET

BEFREIT

BELASTET

BESTOHLEN

BEHÜTET

Julian war bereits im Dienst, als er – Mitte der 1990er Jahre – noch ein Junge war und zur Schule ging. Da seine Pflichten im Dienst der guten Sache standen, wie ihm seine Eltern sagten, sah er sich stets auf der richtigen Seite und machte gern auch Überstunden. Vorbildlich absolvierte er seine Schulaufgaben und stand seiner Mutter in der Küche immer zur Seite. Sein Zimmer war jederzeit aufgeräumt, ohne dass man ihn eigens dazu auffordern musste: »So ein gewissenhafter, lieber Junge!« Das bekam Julian oft zu hören, und er freute sich darüber, da es sonst nichts gab, worüber er sich freuen konnte. Seinem Vater half er beim Autowaschen oder im Garten – dafür gab es bisweilen eine Belohnung, eine Sonderzahlung Taschengeld oder ein großes Lob. Hatte Julian auch Freunde? Mit Frieder, seinem Schulfreund in der ersten Grundschulklasse, traf er sich manchmal und hörte ihm angeregt zu, da dieser viel zu erzählen hatte. Das war interessanter als der Reit-Club, den ihm seine Mutter vermittelt hatte, »damit Julian nicht nur lernt, sondern auch Sport treibt«. Frieder kam aus einer anderen Welt, die Julian fremd war; er hatte einen Bruder, Oliver, und eine Schwester, Sabina, die zwei und drei Jahre jünger waren als er. Julian hatte als Geschwister Zwillingsbrüder, Adrian und Damian, die geboren wurden, als die Schule für ihn begann. Frieders Eltern waren Musiker. Seine Familie tanzte ständig auf dem Vulkan der Musen. Stets passierte etwas, das Freiraum und Beengung, Streit und Einvernehmen, Familiensinn und Eigenständigkeit zu erkennen gab – das war ganz anders als bei Julian. Mit seinen Eltern und den Zwillingsbrüdern wohnte er in einer guten Gegend in einem schmucken Haus mit einem großen Garten. Julian war der Älteste der Geschwister. Sein Vater hatte eine Zahnarztpraxis und verdiente gut. Die Mutter war Kinderärztin, hatte diesen Beruf aber nie ausgeübt. Einvernehmen und Wohlergehen schien das Familienleben Julians zu prägen.

Als Musiker waren Frieders Eltern oft unterwegs, so dass sich die drei Geschwister selbst zu versorgen hatten. Frieder war dann für Sabina und Oliver verantwortlich. Oliver spielte kein Instrument, sondern malte und zeichnete. Sabina spielte Geige wie ihre Eltern und war bereits Konzertmeisterin in einem Jugendorchester. Frieder wandelte nicht auf den Wegen der Malerei und der Musik, sondern war als Handwerker der Familie mit Instandsetzung und Reparaturen befasst, die die Altbauwohnung bot, in der Frieders Familie in fünf Zimmern durchaus geräumig wohnte.

»Hast du keine Angst, wenn deine Eltern über Nacht nicht da sind und du dann Oliver und Sabina beschützen musst?«, fragte Julian, dem nicht geheuer war, was Frieder ihm erzählte. Denn dass Eltern ihre Kinder über Nacht alleine ließen war Julian nicht vertraut.

»Hättest du Angst?«, antwortete Frieder, »vielleicht beschütze ich die beiden sogar besser als mein Vater.«

»Kann ich dich mal besuchen?«

»Kein Problem! Jetzt gleich? «

»Sind deine Eltern da?«

»Ich glaube ja. Ist das für dich wichtig?«

»Ich komme lieber, wenn deine Eltern nicht da sind.«

»Wie bitte?«, sagte Frieder und sah Julian fragend an.

»Ich will auch mal ›Zuhause‹ ohne Eltern erleben«, antwortete Julian »das geht doch nur bei dir.«

Von Frieders familiärer Situation ging für Julian einige Faszination aus. Was passierte da? Das weckte seine Neugier. Einerseits begeisterte ihn dieses andere Szenario, das viel Freiheit und Unabhängigkeit versprach. Andererseits war es ihm unheimlich, weil Frieder mit seinen Geschwistern oft allein war, wenn seine Eltern auf Konzerttournee waren.

Als Frieder ihn fragte, ob er einmal bei ihm übernachten wolle, lehnte Julian allerdings ab. Das ging ihm zu weit. Wo sollte er denn schlafen? Allein in einem Zimmer oder bei Frieder im Bett? Ein Bett war viel zu klein für sie beide – auch wusch sich Frieder oft nicht. Aber allein in einem Zimmer in dieser großen Wohnung zu schlafen, kam überhaupt nicht in Betracht. Am Ende verlief er sich noch, wenn er nachts auf die Toilette musste.

Als er in die zweite Klasse kam, war er schon weniger ängstlich. Tapfer wartete Julian einmal die halbe Nacht auf seinen Vater, während seine Mutter mit den Zwillingsbrüdern schon in den Ferien war. Als er die Haustür auf- und zuschließen hörte, war er beruhigt und schlief schließlich ein. So entging ihm, dass sein Vater ziemlich betrunken heimgekehrt und in Begleitung war. Allerdings wunderte er sich, als er am Tag drauf einen schwarzen BH unter dem Sofatisch im Wohnzimmer und einen Lippenstift auf der Toilette fand. Was war da passiert? Doch mit Fragen wie dieser befasste sich Julian noch nicht, als er Frieder kennenlernte. Da ging es noch um Angst – nicht nur die Angst, bei Frieder zu übernachten, mehr noch die Angst, beim Sport zu versagen, beim Spielen zu verlieren und in der Schule den Erwartungen nicht zu entsprechen. Außerhalb von Haus und Garten seiner Eltern sah er sich nicht geschützt; dort hatte er kein Gefühl für eine Chance der Bewährung. Wo er sich beweisen konnte, glaubte er sich vom Erfolg beschützt. Doch diesen Zusammenhang verstand Julian noch nicht. Dafür war er noch nicht wach genug, was seinem Wohlbefinden zu Hause allerdings keinen Abbruch tat; denn erlebt hatte er bisher nichts anderes als diese Käseglocke, die ihn und seine beiden Brüder in seinem Elternhaus umgab.

Wenig später brach ein Unfall in die Familie ein. Der Vater verunglückte mit seinem roten Cabrio in einer Kurve, die er zu schnell genommen hatte. Fast hätte er diesen Unfall nicht überlebt.

»Was ist mit Papa?«, fragte Julian seine Mutter, die besorgt aus dem Krankenhaus nach Hause kam.

»Papa hatte einen Autounfall, ist schwer verletzt, aber er lebt. Sein Auto hat allerdings Totalschaden.«

»War er denn allein in dem Auto?«

»Keine Ahnung«, antwortete die Mutter, »wer soll denn noch in dem Auto gewesen sein?«

Dazu sagte Julian nichts. Aber er fragte sich, warum sein Vater mit seinem Cabrio an einem Werktag durch die Gegend fuhr

»Hat er eine Freundin?«, warf die Mutter ein, »was wird über ihn in der Stadt geredet?«

»Ich gehe jetzt mit Frieder Fußball spielen«, rief er ihr zu und war verschwunden. Er wollte diese Fragen nicht, die ihm seine Klassenkameraden öfter stellten. Dass er ihrer Frage auswich, begriff seine Mutter mit dem Seidenschal, den sie auf dem Hintersitz des Cabrios fand. Die Besitzerin des Schals stand mit dem Unfall ihres Mannes wahrscheinlich in Zusammenhang. Denn wie sie vermutete, hatte die Frau ihren Gatten abgelenkt, ihm insofern das Steuer aus der Hand gerissen und sich – offenbar unverletzt – aus dem Staub gemacht, nachdem der Unfall passiert war. Julian wusste davon nichts und wollte davon auch nichts wissen. Denn ihm reichten die Gerüchte, die über seinen Vater und seine angebliche Freundin durch die Schule gingen. Er wollte mit seiner Mutter darüber nicht reden und erst recht nicht ihre Fragen zu dem Thema beantworten.

Als der Vater nach zwei Wochen Krankenhaus und vier Wochen Reha nach Hause kam, waren alle froh, dass er wieder da war. Die vermutete Freundin, bei der die Mutter die Schuld an dem Unfall sah, geriet in Vergessenheit. In den Alltag, wie er vor diesem Unfall war, wollten alle zurückkehren. Auch Julian wusste eine solche Normalität zu schätzen, die allen ihre Rolle und ihren Platz gab und das Gefühl von früher in Erinnerung rief. Aber so richtig wohl fühlte er sich nicht mehr dabei. Ohne darüber zu sprechen, war die Ursache dafür eine Distanz zum Vater, die seit dem Unfall in der Familie existierte. Die Fassade des Zusammenhalts, die sich die Familie gab, war plötzlich brüchig geworden. Die Untreue, die dem Vater nachgesagt wurde, zerrte an der Idylle des Familienglücks.

Mit Frieder entdeckte Julian die Stadt und ihre Umgebung. Bald hatten die beiden in einer etwas auswärtig gelegenen Fabrikruine am Ufer des Flusses einen geheimen Ort für sich gefunden, den sie sich mit einem Tisch, zwei Stühlen und einer Kommode aus Holz möblierten. Mit einigem Eifer und noch mehr Geschick hatten sie diese Möbelstücke mit ihren Fahrrädern und einem Leiterwagen dorthin geschafft und in einem Raum auf der zweiten Etage abgestellt; von dort aus konnten sie auf den Fluss blicken. Am Nachmittag schien die Sonne in diesen Raum und wärmte sie. Bei Regen und Wind wurde es feucht und kühl; denn bei den meisten Fenstern waren die Scheiben herausgeschlagen. Viele Nachmittage saßen sie dort und phantasierten ihre Zukunft herbei, die ihnen, wie sie glaubten, offenstand.

»Willst du reich werden und mit einem schicken Porsche durch die Stadt fahren?«, fragte Julian.

»Lieber würde ich eine Weltreise machen«, gab ihm Frieder zur Antwort, »mit Flieger und Schiff um den ganzen Globus.«

»Bist du schon einmal geflogen?«, wollte Julian wissen.

»Nein, bisher noch nicht. Meine Eltern fliegen manchmal auf Tournee, doch für uns alle ist das viel zu teuer. Und du?«

»Wir fahren immer an die Nordsee, wenn wir Ferien haben. Aber da fahren meine Mutter, meine Brüder und ich mit dem Zug. Mein Vater, der meistens später kommt und früher wieder abreist, fährt mit dem Caravan.«

»Aber der hat doch ein tolles Cabrio?«

»Damit fuhr er spazieren«, merkte Julian an und schluckte, »das Cabrio hat er vor kurzem zu Schrott gefahren.«

»Das war euer zweites Auto«, stellte Frieder fest und fragte, »wie ist denn das passiert? Ich habe von dem Unfall gehört.«

»Das weiß ich nicht«, antwortete Julian, »wie das passierte, hat uns mein Vater nicht erzählt.«

»Willst du reich wie dein Vater werden und seine Praxis erben?«

»Nein«, gab Julian zurück, »auf Zahnarzt habe ich keine Lust. Und du?«

»Ich wäre gern Arzt«, äußerte Frieder, »doch ich weiß nicht, ob mein Abitur dafür gut genug wird.«

»Das schaffst du«, machte Julian Mut, »wir schaffen beide, was immer wir später werden wollen – keine Sorge, Frieder!«

So verbrachten die beiden dort ihre Zeit und besorgten sich noch einen zusätzlichen Tisch, der größer war und auf dem sie spielten oder ihre Schulaufgaben machten. Manchmal luden sie weitere Freunde ein, um sich mit Monopoly, Siedler und anderen Strategiespielen zu vergnügen. Dabei glaubten sie sich in dem Fabrikgebäude ganz allein und waren stolz, dort einen Raum für sich zu haben.

Umso mehr waren sie überrascht, als sie ihr Refugium eines Tages völlig verwüstet vorfanden. Die Kommode war ausgeleert. Die Spiele lagen auf dem Fußboden. Der große Tisch hatte keine Beine mehr und die Stühle waren weg. Als sie entsetzt die Treppe herunterliefen, kam ihnen ein Mann entgegen, der brüllte:

»Wer seid ihr? Verschwindet! Sonst sperre ich euch in den Keller.«

»Seit einigen Wochen haben wir hier einen Raum«, entgegnete Frieder.

»Ihr gehört nicht hierher – raus!«, schrie der Mann.

»Haben Sie unseren Raum verwüstet?«, fragte Julian.

»Halt dein Maul, du Rotzlöffel! Ich wohne hier – nicht ihr. Raus jetzt!«

Dabei erhob der Mann seinen Arm, als wolle er jetzt auf Frieder und Julian losgehen. Aber die beiden drängten ihn zur Seite und eilten die Treppe hinunter nach draußen. Zum Glück stand die Tür offen. Sie rannten weg so schnell und so weit, sie konnten.

»Niemand hätte gewusst, wo wir sind, wenn der Kerl uns im Keller eingesperrt hätte«, sagte Julian, »nicht ungefährlich.«

»Wir hätten uns schon befreit«, gab Frieder zurück, »wollen wir nachsehen, ob er noch da ist?«

»Willst du das wirklich?«

»Warum nicht – hast du Angst?«

Doch als sie vor dem Gebäudeeingang standen, war die Tür fest verschlossen war. Sie gingen einmal um die Fabrikruine herum und sahen, dass die Einzelteile ihrer Möbel aus dem Fenster geworfen wurden und auf der Wiese lagen. Mit dem geheimen Ort war es vorbei.

Die Grundschulzeit der beiden kam an ihr Ende. Ihr Weg führte aufs Gymnasium. Sie freuten sich, in derselben Klasse zu sein; das tat ihnen gut. An einem geheimen Ort trafen sie sich nun nicht mehr, sondern fast täglich auf dem Fußballplatz. Dort spielten sie mit ihren Klassenkameraden, nachdem sie die Schularbeiten gemacht hatten. Julian spielte im Mittelfeld, Frieder war Torwart. Ihre Mannschaft gewann gegen andere Schülermannschaften und hatten einen sensationellen Erfolg auf einem Schülerfußballturnier in der großen Stadt. Es war das erste Mal, dass sich die beiden in der großen Stadt aufhielten. Trotz des Lärms und des Trubels gefiel es ihnen dort sehr gut – es war eine andere Welt als die der kleinen Stadt: Große Straßen, Trambahnen, volle Bürgersteige, eine unaufhörliche Bewegung großer Menschenmassen, in denen der Einzelne aufging, was nie in ihrer Heimatstadt geschah. Es gab große Geschäftshäuser mit riesigen Schaufenstern und stets hell erleuchteten Auslagen – egal, ob es Damen- oder Herrenkonfektion, Schuhe, Geschirr, Spielzeug, Outdoor-Kleidung oder welche Konsumgegenständen auch immer waren. Frieder und Julian konnten sich nicht sattsehen … und dann gab es noch hübsche Mädchen, die den »Fußballstars« nachguckten, und umgekehrt sahen die »Fußballstars« den Mädchen nach – beide Seiten fühlten sich sehr geschmeichelt.

»Du wirst nicht Zahnarzt, sondern Fußballstar«, sagte Frieder zu Julian, nachdem sie das Turnier gewonnen hatten, »so wirst du noch reicher als dein Vater …«

»… und du kommst als Torwart rund um den Globus«, unterbrach Julian ihn, »anstatt Medizin zu studieren.«

»Aber jetzt machen wir erst einmal Party«, rief Frieder, »da sind echt süße Girls bei den Cheerleadern – die wollen sicher tanzen.«

»Genau, die mit den langen blonden Locken ist echt cool – die hat mir gewunken, als ich den Pokal hochgehalten habe.«

»Na, dann weißt du ja, mit wem du auf der Party abrockst«, merkte Frieder an.

Doch als es so weit war, und die Party losging, verlor Julian allen Mut, den er auf dem Fußballplatz gehabt hatte, und traute sich nicht, auf die Blondine zuzugehen, die ihm von der Tribüne aus gewunken hatte. Obwohl sie nicht weit von ihm weg stand, machte sie sich nicht bemerkbar. Deshalb begann er, an ihrer Begeisterung für ihn zu zweifeln. Vielmehr war ihm, als sei er für sie nicht mehr da und dass sie von ihm nichts mehr wissen wolle. Offenbar war die Party nicht sein Spielfeld, auf dem er als Sieger hervorgehen konnte wie auf dem Fußballplatz – das war seine Welt. Besser ich gehe jetzt, sagte er sich, und machte sich auf den Weg nach draußen. Da hielt ihn plötzlich jemand am Arm.

»So schnell kommst du mir nicht davon«, sagte die Blondine mit hellem Lachen, »warum bleibst du nicht hier auf der Party?«

»Ich bin müde …«

»Hat dich der Sieg deiner Mannschaft erschöpft?«

»Ich mag Party nicht, das ist nicht mein Ding – ich will jetzt gehen.«

»Sei doch kein Spielverderber – bleib hier! Oder gefalle ich dir nicht?«

»Doch«, mit einem verkniffenen Lächeln sah er sie an, »du hast mir gewunken – von der Tribüne aus.«

»Stimmt! Willst du gehen, weil ich dir zu blöd bin?«

»Nein …«, sagt Julian zögerlich, »ich will …«

»… hierbleiben«, setzte sie fort und hielt ihn an den Armen, »wie heißt du?«

Diese Geste beglückte ihn wie sie ihn verlegen machte. Leise verriet er ihr seinen Namen und fragte, wie sie hieß.

»Jolanta«, sagte sie, »ich gehe hier aufs Gymnasium. Mein Vater hat hier ein Autogeschäft und ist Sponsor des Fußballballturniers.«

»Ah«, bemerkte Julian, »dein Vater ist reich.«

Das überging Jolanta und antwortete: »Deshalb war ich auf dem Fußballplatz und bin jetzt auf der Party. Du hast super gespielt und drei Tore geschossen. Hast du schon etwas gegessen?«

Als Julian das verneinte, nahm sie ihn an der Hand und zog ihn durch die Partygesellschaft zum Buffet. Dass er auf diese Weise abgeschleppt wurde, irritierte ihn. Was passierte ihm da, fragte er sich, dass er Jolanta widerspruchlos an der Hand folgte, als sei sie seine große Schwester. Doch der Anblick des Buffets ermutigte ihn und ließ ihn jedes Zögern vergessen. Julian griff zu und war nach einem Glas Bier, das ihm Jolanta besorgt hatte, ganz ausgelassen.

»Gefällt es dir besser jetzt? Oder willst du dich immer noch verdrücken?«, fragte sie ihn.

»Wir machen jetzt Party«, rief er ihr zu »willst du tanzen?«

Er hatte Feuer gefangen. Jolanta war begeistert und ließ sich auf ihn ein.

»Du bist super«, quietschte sie, fiel ihm um den Hals und freute sich den Rest des Abends an ihm. Frieder sah die beiden turteln und fand sich in seiner Vermutung bestätigt.

Als Julian am nächsten Morgen in seinem Hotelzimmer aufwachte, brummte ihm der Kopf, und das Fußballturnier war fast vergessen. Die Party stand im Mittelpunkt seiner Erinnerung. So ungezwungen wie dort war er noch nie gewesen. Noch immer war er ganz euphorisch. Doch zugleich plagte ihn die Frage, ob er sich richtig verhalten habe oder eher unanständig war, als er Jolanta zum Abschied geküsst und ihr dabei unter die Bluse gegriffen hatte. Als er wieder zu Hause war, blieb ihm der Zauber des Kusses und der Party noch lang in Erinnerung. Zum ersten Mal hatte er seinem Drang nach Freiheit nachgegeben und seine Hemmungen überwunden, die ihm sonst zu schaffen machten. Dabei hatte er sich in Jolanta heftig verliebt, ohne zu wissen, ob sie sich wieder begegnen würden.

Bald darauf wurde Julian stark zu Hause gefordert. Wegen eines Magengeschwürs musste seine Mutter rasch operiert werden und lag aufgrund der Schwere des Eingriffs im Krankenhaus. Niemand wusste, ob sie wieder gesundwerde und sich wie zuvor um die Familie kümmern könne. Julian wurde deshalb die Betreuung der der beiden Zwillingsbrüder und die Verantwortung für den Haushaltsübertragen. Noch vor dem Krankenhausaufenthalt seiner Mutter hatte er Geburtstag gehabt und war fünfzehn geworden. Von der Schulpflicht wurde er befreit, was kein Problem darstellte. Denn er gehörte zu den guten Schülern und war in der Lage, zu Hause nachzulernen, was er im Unterricht versäumte. Allerdings machte ihm der Ernst der Lage heftig zu schaffen. Da waren zum einen seine nur langsam genesende Mutter und zum anderen die Verantwortung, die er trug und ihn sonst an nichts denken ließ als an Adrians und Damians Wohlbefinden und an die vielfältigen Aufgaben, die er zu erledigen hatte, um den Haushalt aufrechtzuerhalten; dazu gehörte einkaufen, kochen, putzen, waschen und vieles andere, was im Haus anfiel. Eine Hilfe, die zwei Mal in der Woche kam, unterstützte ihn, doch das meiste musste er selbst machen. Fußball spielen, Frieder treffen oder sich den Traum erfüllen und Jolanta besuchen – dergleichen kam für ihn nicht in Betracht und musste zurückgestellt werden, um den versäumten Unterricht nachzuholen, über den Frieder ihn auf dem Laufenden hielt. Dieser hohe Einsatz für seine Familie strengte ihn an und nahm ihm alle Freiheit und jeden Spielraum. Als seine Mutter viel später als angekündigt aus ihrer Reha wieder nach Hause kam, überfiel ihn der innige Wunsch, wie er ihn bisher noch nie gehabt hatte, sich von allen häuslichen Pflichten zu befreien und endlich eigene Wege zu gehen. Keine zwei Tage war seine Mutter wieder zu Hause, als er ihr erklärte, am Wochenende zusammen mit Frieder in die große Stadt zu fahren, um dort mit Schülern Fußball zu spielen. Frieder und er hatten sich dafür bereits mit Spielern verabredet, die sie auf dem Turnier vor einigen Wochen kennengelernt hatten. Julians Hoffnung war allerdings auch, Jolanta wiederzusehen. Mit einer Mail hatte er sie angeschrieben, aber noch keine Antwort erhalten.

»Warum kommen diese Freunde nicht zu uns?«, fragte die Mutter, »das wäre mir viel lieber.«

»Wir sind in der großen Stadt schon verabredet«, sagte Julian, »dort gibt es einen Fußballplatz, wie wir ihn uns wünschen.«

»Unser Sportplatz genügt euch nicht?«

»Frieder und ich sind außerdem eingeladen. Absagen oder einen anderen Vorschlag machen, wollen wir nicht. Warum auch?«

»Ich verstehe nicht, dass du am ersten Wochenende, an dem ich wieder bei Euch bin, gleich unterwegs bist. Dass du mir das antust, verletzt mich.«

Vor ihrer Krankheit hätte Julian den Wunsch seiner Mutter befolgt; das wäre für ihn überhaupt keine Frage gewesen. Doch nach der langen Zeit, während der er sie gleichsam vertreten hatte, fühlte er sich von ihr, die ihn aufforderte, das Wochenende im Kreis der Familie zu verbringen, vollkommen falsch verstanden und von der Verletzung erpresst, die er ihr damit antue, wie sie ihm sagte, als wolle er nach ihrer nun erfolgten Genesung nicht mehr mit ihr zusammen sein. Hatte er sich in ihrer Abwesenheit für seine Brüder und den Haushalt eingesetzt, um wie ein kleiner Junge behandelt zu werden, der ihr zu folgen hatte? Sollte er sich als ihr Sohn in derselben Weise um sie sorgen, wie sie es für ihn als seine Mutter tat? War das ihre Idee von Familie und vom Verhältnis zu ihren Kindern? Hatte sie nicht mit seinem Vater einen Mann, dem die Rolle zukam, sich um sie kümmern? Das war doch nicht er, der für sie den Partner abgeben musste, da ihr tatsächlicher Partner, der Vater, sie unter dem Vorwand vieler Arbeit und noch mehr Verpflichtungen schäbig im Stich ließ.

»Meine Mutter möchte nicht, dass ich mit dir in die große Stadt fahre«, sagte er zu Frieder.

»Du sprichst von unserem Ausflug am Wochenende?«, gab Frieder zurück.

»Ja! Unsere Fußballfreunde, die wir besuchen wollen, können doch auch zu uns kommen, meint sie.«