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Jenny Behnisch, die Leiterin der gleichnamigen Klinik, kann einfach nicht mehr. Sie weiß, dass nur einer berufen ist, die Klinik in Zukunft mit seinem umfassenden, exzellenten Wissen zu lenken: Dr. Daniel Norden! So kommt eine neue große Herausforderung auf den sympathischen, begnadeten Mediziner zu. Das Gute an dieser neuen Entwicklung: Dr. Nordens eigene, bestens etablierte Praxis kann ab sofort Sohn Dr. Danny Norden in Eigenregie weiterführen. Die Familie Norden startet in eine neue Epoche! Diese Box enthält: E-Book 1146: Die Gelben Götter E-Book 1147: Die unvollständige Dame E-Book 1148: Striptease Girl E-Book 1149: Unberechenbar E-Book 1150: Spiel des Tigers E-Book 1: Wenn das Herz nicht mitspielt … E-Book 2: Keine Angst vor Dr. Lammers E-Book 3: Ehrlich währt am längsten E-Book 4: Sein weicher Kern E-Book 5: Jede Liebe fordert Opfer
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Seitenzahl: 502
E-Book 1146-1150
Wenn das Herz nicht mitspielt …
Keine Angst vor Dr. Lammers
Ehrlich währt am längsten
Sein weicher Kern
Jede Liebe fordert Opfer
»Willst du nicht doch lieber im Wagen bleiben, Manni?«, fragte Eva Tuck und stellte den Motor ab. Mit beängstigend langen, pinkfarbenen Fingernägeln zog sie den Schlüssel ab. »Dann sage ich einer Schwester oder einem Pfleger Bescheid, dass sie dich hier abholen sollen.«
»Kommt überhaupt nicht in Frage. Ich bin doch kein Pflegefall«, knurrte Manfred.
Er stieß die Wagentür auf und kämpfte sich vom Beifahrersitz hoch.
»Einen wunderschönen guten Tag!«, begrüßte Dr. Daniel Norden die Chirurgin Christine Lekutat.
»Wie kommen Sie denn auf so eine absurde Idee?« Ihr Gesicht erinnerte an eine Bulldogge. Sie klappte die Zeitschrift zu, in der sie gerade gelesen hatte, und ließ sie auf die Bettdecke fallen. ›Schöner essen‹. Nicht unbedingt die beste Lektüre für eine übergewichtige Chirurgin mit einer massiven Herz-Kreislauf-Erkrankung. »Gut, dass Sie hier sind. Das müssen Sie gesehen haben!« Sie winkte Daniel zu sich.
Hob demonstrativ den Deckel des Speisetabletts.
»Eine Scheibe Vollkornbrot, Diät-Marmelade, Linsen-Aufstrich, Joghurt mit frischen Früchten. Was gibt es daran auszusetzen?« Dr. Norden trat an den Tisch und studierte das Patientenblatt.
Blutdruck und Puls ließen zu wünschen übrig. Aber wenigstens hatte sie kein Fieber.
»Machen Sie Witze?«, schnaubte die Lekutat. »Wie soll ich denn so auf Betriebstemperatur kommen? Da fällt mir vor lauter Schwäche ja das Skalpell aus der Hand.«
»Zum Glück müssen Sie zur Zeit nicht operieren, sondern können sich nach Ihrem Schlaganfall und der Herzkathetergeschichte in aller Ruhe hier erholen«, erinnerte Daniel Norden seine Patientin an ihr Schicksal. »Außerdem haben Sie noch einen Eingriff vor sich. Für morgen früh ist ein OP-Saal für Sie reserviert.«
Dr. Lekutat verschränkte die Arme vor der üppigen Brust und musterte ihren Chef aus schmalen Augen.
»Herr Dr. Norden.« So nannte sie ihn sonst nie. »Ich will keinen Defibrillator eingebaut bekommen. Ich will wieder operieren.«
Daniel holte tief Luft.
»Über dieses Thema haben wir uns doch bereits ausführlich unterhalten. Ihre schnellen Herzrhythmusstörungen können unbehandelt erhebliche Auswirkungen auf den Kreislauf haben. Wollen Sie noch einmal im OP kollabieren? Oder gar an einem weiteren Herzinfarkt sterben?«
»Sie müssen mir nicht erzählen, was ich zu tun und zu lassen habe.« Sie schob das Kinn vor. »Ich bin erwachsen und kann selbst entscheiden, was gut für mich ist.«
Daniel Norden hatte es geahnt. Er schüttelte langsam den Kopf.
»Als Ihr Chef kann und will ich diese Verantwortung nicht übernehmen.«
»Haben Sie nicht neulich noch gesagt, dass Sie mich dringend brauchen? Warum wollen Sie mich unbedingt zu diesem Eingriff überreden? Sie wissen doch selbst, dass ich dann nie mehr wieder operieren kann. Dann kann ich als Chirurgin einpacken.«
»Das ist mir bewusst. Aber ob Sie es glauben oder nicht: Ihr Leben ist mir wichtiger. Ohne Defibrillator ist die Gefahr, dass Sie tot umfallen, zu groß.«
»Papperlapapp!«
Mit einer Handbewegung wischte sie seine Bedenken beiseite. »Ich brauche ein wenig Ruhe, und dann ist alles wieder gut.« Ein Gedanke kam ihr in den Sinn. Ihre Miene verriet es. »Denken Sie doch nur an Ihre Frau. Sie hatte auch einen Herzinfarkt und steht trotzdem wieder im OP.«
»Das war eine andere Geschichte, und das wissen Sie genau!«
»Trotzdem. Ich will keinen Defi und damit basta!«
Dr. Daniel Norden stand vor dem Bett und haderte mit sich. Auf der einen Seite verstand er die Kollegin nur zu gut. Sie war eine begnadete Chirurgin. Um weiter als Ärztin arbeiten zu können, müsste sie sich vollkommen neu orientieren. Auf der anderen Seite war sie jung genug, um diesen Schritt zu wagen. Schon deshalb, weil ihr Leben davon abhing.
Er hob den Arm und warf einen Blick auf die Uhr. Höchste Zeit für den nächsten Termin!
»Bitte überlegen Sie es sich noch einmal«, bat er zum Abschied und verließ unverrichteter Dinge das Zimmer.
*
Das Martinshorn hallte im Innenhof der Behnisch-Klinik wider. Der Rettungsarzt Erwin Huber klopfte gegen die Scheibe, die die Fahrerkabine vom Kastenaufbau trennte.
»Stell endlich das Ding ab!«, schimpfte er. »Bei dem Lärm fallen den Kollegen die Patienten aus den Betten.«
»Tut mir leid.« Cornelius Hahn griff über den Kopf und schaltete die Sirene ab.
Wohltuende Stille!
Doch der Traum sollte nicht von Dauer sein. Erwin stieß die Türen auf. Begleitete von metallischem Klappern rollte er die Liege mit seinem jungen Patienten aus dem Wagen und Richtung Notaufnahme. Der Notarzt Dr. Matthias Weigand erwartete sie schon.
»Julian Findeisen, 12 Jahre alt, Sturz vom Waveboard. Verdacht auf Beckenfraktur. Vitalfunktionen stabil. Keine Anzeichen auf innere Verletzungen«, teilte Erwin dem Kollegen mit. Er drückte ihm Klemmbrett und Kugelschreiber in die Hand.
»Vielen Dank.« Matthias unterschrieb das Protokoll. »Wisst ihr eigentlich, dass wir nur wegen euch auf eine Firmenfeier verzichtet haben?«, raunte er dem Rettungsarzt zu.
»Oh, wir können euch vertreten. Unser Job endet an dieser Pforte«, scherzte Dr. Huber. »Was wird geboten? Sekt und Schnittchen?«
»Das könnte dir so passen.« Matthias klopfte dem Kollegen auf die Schulter. Zeit, sich seinem Patienten zu widmen. »Hallo, Julian, mein Name ist Matthias Weigand. Ich bin Notarzt hier. Hast du starke Schmerzen?«
»Geht eigentlich.«
»Er hatte schlimme Schmerzen, bevor der Notarzt gekommen ist.« Eine Frau hielt Matthias die Hand hin. »Manuela Findeisen. Ich bin die Mutter.«
»Wenn Sie wollen, können Sie Ihren Sohn begleiten.«
Manuela umklammerte den Gurt ihrer Schultertasche und nickte. Sie folgte dem Transport in den Schockraum, den Dr. Weigand auch gern den ›Puls der Notaufnahme‹ nannte.
In diesen vier Wänden wurden die Wunden von Schwerverletzten versorgt. Ausgestattet mit modernsten Apparaten, kleinen Laboren, Beatmungsmaschinen und sogar Röntgen- und Infusionsgeräten, bot dieser Raum sogar die Möglichkeit, kleine Operationen durchzuführen. Zum Glück machte Julian nicht den Eindruck, als müsste sein Leben durch einen schnellen Eingriff gerettet werden.
»Zuerst brauchen wir eine Röntgenaufnahme vom Becken«, wies Dr. Weigand die Schwester an, die den Krankentransport begleitete.
»Ich kümmere mich darum«, versprach Rosi, die erst vor wenigen Tagen ihren Dienst in der Behnisch-Klinik angetreten hatte. Sie sah hinüber zu Dr. Lammers, der sich zu ihnen gesellte.
Aufgrund des Alters seines Patienten hatte Dr. Weigand schon im Vorfeld beschlossen, einen Kollegen aus der Pädiatrie hinzuzuziehen. Wegen der Abschiedsfeierlichkeiten für den Verwaltungsdirektor Fuchs hatte er nur den Kollegen Lammers erreicht.
»Braucht ihr mal wieder einen fähigen Arzt zur Unterstützung?« Lammers’ Blick fiel auf Manuela Findeisen. Flog hinüber zu dem Kind auf der Liege. O nein! Musste das sein? »Ähm, ja. Wir kennen uns ja.«
Manuelas Miene erhellte sich.
»Herr Nachbar! Das ist ja ein Zufall.«
Julian hob den Kopf.
»Was will denn der Blödmann hier?«
»Julian!« Manuela Findeisens Stimme hallte wie eine Ohrfeige.
»Ist doch wahr. Der ist schuld, dass ich vom Waveboard geflogen bin.«
»Aber Schatz, das kann doch nicht sein. Doktor Lammers ist bestimmt schon den ganzen Morgen hier.«
»Seit gestern Abend, um genau zu sein«, knurrte der Kinderchirurg. »Bereitschaft nennt man das. Aber davon hast du Grünschnabel vermutlich noch nie etwas gehört.«
Julian hörte ihm nicht zu.
»Er hat uns verboten, vor den Häusern Waveboard zu fahren und hat uns in den Skaterpark geschickt. Er hat gesagt, dass er unsere Boards kurz und klein schlägt und uns im Fahrradkeller einsperrt, wenn wir nicht sofort verschwinden.«
Mit gesenktem Kopf stand Lammers neben der Liege und strich sich über das Kinn.
»Nein. Nein, das kann nicht sein. Ich habe nie gesagt, dass ich diese Boards kurz und klein schlage. So was machen nur Halbstarke.«
Dr. Weigand hatte genug gehört.
»Später wird sich noch genug Gelegenheit bieten, der Wahrheit auf den Grund zu gehen.« Die Türen zum Röntgenraum öffneten sich vor ihnen. »Jetzt stehen erst einmal ein paar Untersuchungen an.«
*
»Ja, natürlich habe ich das verstanden.« Daniel Nordens Assistentin Andrea Sander hatte den Hörer zwischen Kinn und Schulter eingeklemmt. In einer Hand einen Blumenstrauß, in der anderen eine Glückwunschkarte, eilte sie über den Flur Richtung Verwaltungsbüro, wo die Zeremonie stattfinden sollte. »Aber Dr. Norden ist noch irgendwo im Haus unterwegs.« Sie nickte ihrer Kollegin Regina Kampe zu und betrat das Büro des Verwaltungsdirektors Dieter Fuchs. Arrangierte Blumen und Karte auf dem Schreibtisch. »Natürlich bedauern wir, dass Herr Fuchs uns aus gesundheitlichen Gründen verlassen …« Mitten im Satz hielt sie inne und starrte Elsa Blume an, die mit Zollstock, Block und Stift hantierte. »… Verlassen muss«, beendete sie ihren Satz nach dem ersten Schreck. »Ich werde Dr. Norden ausrichten, dass Sie angerufen haben. Auf Wiederhören.«
Elsa notierte das Ergebnis ihrer Messungen auf dem Block.
»Was machen Sie denn schon hier?«, fragte Andrea einigermaßen irritiert.
»Bevor ich meine neuen Möbel aussuchen kann, muss ich doch die Maße wissen«, erwiderte Elsa, ohne Andrea Sander auch nur eines Blickes zu würdigen. Sie griff wieder nach dem Zollstock und maß die Nische neben dem Schreibtisch aus. »1,63 Meter, das könnte passen«, murmelte sie vor sich hin.
»Aber wir haben doch Ihren Vater noch gar nicht verabschiedet, und schon richten Sie sein Büro neu ein?«
Endlich richtete sich die neue Verwaltungschefin auf. Andrea Sander konnte immer noch nicht glauben, dass diese aparte Frau mit dem ultrakurzen Pony die Tochter des Sparfuchses sein sollte. Der Zweifel verflog, als Elsa den Mund öffnete.
»Worüber regen Sie sich auf? Zeit ist schließlich Geld. Und wir haben weder das eine noch das andere im Überfluss.«
Mit gefalteten Händen stand Andrea im Büro.
»Oh, na ja, gut. Die Gäste werden in etwa zehn Minuten hier sein, um Herrn Fuchs zu verabschieden. Wenn Sie bitte bis dahin …«
»Keine Sorge. Ich bin schon fertig.« Elsa Blume klappte den Zollstock zusammen und schenkte der Chefsekretärin ein strahlendes Lächeln. »Wir sehen uns in zehn Minuten.«
Und schon war sie aus dem Büro verschwunden.
Andrea Sander starrte ihr mit offenem Mund nach.
»Sieht ganz danach aus, als ob du vom Regen in die Traufe gerätst«, sagte sie zu ihrer Kollegin Regina Kampe, die ein Tablett hereintrug. Sekt-Orange zur Feier des Tages. Im wahrsten Sinne des Wortes. Niemand war wirklich böse über das Ausscheiden von Dieter Fuchs, der sich aus gesundheitlichen Gründen zurückzog. Einen würdigen Abschied wollte man ihm dennoch bereiten.
»Ach, halb so wild.« Die Gläser klirrten, als Regina das Tablett auf dem Beistelltisch abstellte. »Frau Blume bringt wenigstens frischen Wind in die Bude.« Sie öffnete die Fenster und ließ die Herbstluft herein. »Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie anstrengend es ist, jeden Tag so einen Miesepeter um sich zu haben. Elsa ist da anders.«
Stimmen und Schritte kamen näher. Gleich darauf betraten die ersten Gäste das Büro des Verwaltungsdirektors.
»Puh, und ich hatte schon Angst, wir kommen zu spät«, seufzte Schwester Elena – ihres Zeichens Pflegedienstleitung – zu ihrer Freundin Dr. Felicitas Norden an ihrer Seite.
Fee suchte noch nach einer Antwort, als die nächsten Gäste eintrudelten. Trotz Rollstuhl deutete der Neurochirurg Dr. Milan Aydin eine Verbeugung an und zog einen imaginären Hut.
»Meine Verehrung, Schönheiten.«
Elena und Fee kicherten wie die Teenager.
»Musst du immer so übertreiben?«, ließ die Reklamation seines Kollegen Dr. Kohler nicht lange auf sich warten.
»Nur kein Neid. Es kann schließlich nicht jeder so gut mit Frauen umgehen wie ich.« Milan wandte sich an Elena. »Ich habe gesehen, dass wir heute Nachmittag zu einer OP eingeteilt sind. Was verschafft mir die seltene Ehre?«
»Ich will nicht aus der Übung kommen, und die Eingriffe mit dir sind immer besonders kurzweilig«, erwiderte Elena mit Blick auf den Kollegen Kohler.
Milan Aydin grinste.
»Da hast du es gehört.«
Bernhard quittierte diese Bemerkung mit einem Augenrollen und war froh, als der Klinikchef die Bühne betrat. Er grüßte in die Runde und nahm dankend ein Glas vom Tablett, das Regina Kampe ihm reichte.
»Bin ich der Letzte?« Dr. Norden sah sich um.
»Der Hauptdarsteller fehlt noch«, raunte Andrea Sander ihrem Chef zu. »Er wird doch wohl nicht kneifen?«
Daniel wiegte den Kopf.
»Verstehen könnte ich es ja. Nach allem, was in letzter Zeit vorgefallen ist.«
»Trotzdem hat er seine Arbeit gut gemacht«, warf Fee ein, die sich zu ihrem Mann gesellt hatte.
»Du brichst eine Lanze für Dieter Fuchs? Hast du schon vergessen, was er uns alles antun wollte?«
Felicitas hängte sich bei ihrem Mann ein und lächelte zu ihm hinauf.
»Du musst das anders sehen. Dank seiner Intrigen konnten wir unsere Stärke unter Beweis stellen. Wir haben allen gezeigt, dass wir unbesiegbar sind.«
»Gut gebrüllt, Löwin!«
Der Applaus einer einzelnen Person ließ die Anwesenden aufhorchen. Aller Augen ruhten auf Elsa Blume, die zurückgekehrt war. Selbstbewusst sah sie sich im Kreis der neuen Kollegen um.
»Ich weiß, dass Sie sich heute hier versammelt zu haben, um die Leistung meines Vaters zu würdigen. Leider muss ich Ihnen mitteilen, dass er es vorgezogen hat, die Klinik auf stille Art und Weise zu verlassen. Ich habe zufällig beobachtet, wie er in ein Taxi gestiegen ist.«
Ein Raunen ging durch den Raum. Daniel Norden tauschte vielsagende Blicke mit seiner Frau. Er räusperte sich und trat einen Schritt vor.
»Ich bedauere, dass unser Verwaltungsdirektor diesen Weg gewählt hat, respektiere aber seine Entscheidung.« Er drehte das Glas in seinen Händen. »Umso mehr freue ich mich darüber, die Gelegenheit nutzen zu können, um Ihnen unsere neue Verwaltungschefin Elsa Blume vorstellen zu dürfen. Frau Blume hat ein Wirtschaftsmanagementstudium in Aachen absolviert und zuletzt als Wirtschaftsberaterin in einem weltweit agierenden Pharmaunternehmen gearbeitet.« Er lächelte Elsa zu. »Einige Kollegen kennen sie bereits als Patientin. Vor einigen Wochen hat ihre kleine Tochter Mathilda in unserer Klinik das Licht der Welt erblickt.«
Elsa gab Dr. Norden ein stummes Signal. Er verstand und nickte kaum merklich.
»Wenn ich an dieser Stelle kurz bemerken darf: Mathilda wird bei mir zu Hause von einem Kindermädchen betreut«, wandte sie sich an die Kollegen. »Sie müssen sich also weder um meine Tochter noch um meine Arbeit als Verwaltungsdirektorin Sorgen machen.«
Daniel Norden hob das Glas. Seine Mitarbeiter taten es ihm nach.
»Lassen Sie uns die Gelegenheit nutzen und unsere neue Verwaltungsdirektorin Elsa Blume herzlich willkommen heißen.« Gläser klangen aneinander.
Der Applaus war verhaltener. Noch wusste niemand, was von dem neuen Direktionsmitglied zu erwarten war.
Doch allein ihr Äußeres gab Anlass zur Hoffnung, wie zumindest Milan Aydin befand.
*
»Wir haben es mit einer Sakrum-Fraktur zu tun.« Dr. Lammers hielt Manuela Findeisen das Tablet mit einer Aufnahme vor die Nase.
Sie trat einen Schritt zurück und musterte die Schwarz-Weiß-Aufnahme, die sie an die optischen Täuschungen ihrer Kindheit erinnerte. Sie basierten auf dem Phänomen, dass das Auge ›Nachbilder‹ produzierte. Es war ein beliebtes Spiel gewesen, diese Bilder über einen längeren Zeitraum zu fixieren und dann abrupt auf eine leere, weiße Fläche zu blicken. Mit dieser Aufnahme klappte der Trick allerdings nicht. Manuela konnte nicht entschlüsseln, was ihr Nachbar meinte.
»Und was genau ist das?«, fragte sie.
Immer diese Unwissenden!
»Bei einem Sakrum handelt es sich um eine verschobene Fraktur des Kreuzbeines. Das können wir operieren.«
»Ich will aber nicht, dass mich der Blödmann operiert«, meldete sich Julian von seiner Liege zu Wort.
Manuela fuhr herum. Ihr war anzusehen, was sie vom Kommentar ihres Sohnes hielt.
»Julian, bitte!«
»Ich will einen anderen Doktor.«
Volker Lammers verzog den Mund.
»Es gibt hier aber leider keinen besseren Kinderchirurgen als mich. Wenn du je wieder laufen und mit deinem Skateboard deine Mitmenschen in Lebensgefahr bringen willst, solltest du es dir noch einmal überlegen.«
»Nein. Niemals.« Julian lag flach auf der Liege. Das hinderte ihn nicht daran, die Arme vor dem Oberkörper zu verschränken.
»Gut. Wie du willst. Dann eben nicht.« Lammers machte auf dem Absatz kehrt und marschierte zur Tür.
Schwester Rosi folgte ihm.
»Was wird denn jetzt aus dem Jungen?«
»Auf ihn wartet eine großartige Karriere als Rollstuhlfahrer.«
Schwester Rosi lief neben dem Arzt her. Sie schnappte nicht nur wegen seines Stechschritts nach Luft.
»Sie wollen ihm nicht helfen?«
Volker Lammers blieb so abrupt stehen, dass sie um ein Haar mit ihm zusammengestoßen wäre.
»Sehen Sie mich an!«, verlangte er von ihr.
Sie schluckte und nickte.
»Sehe ich aus wie ein Hanswurst?«
»Nnn … nnnein.«
»Na bitte. Dann will ich auch nicht so behandelt werden.« Lammers setzte seinen Weg fort. Bog mit wehendem Kittel um die Ecke. Schwester Rosi sah ihm kurz nach.
Als er ihre Schritte hinter sich hörte, rollte er mit den Augen.
»Schlimm genug, dass ich wegen dieses Lümmels die Begrüßung der neuen Verwaltungsdirektorin verpasst habe«, schimpfte er. »Dann muss ich nicht auch noch darum betteln, ihn behandeln zu dürfen.«
»Doktor Lammers?« Eine Stimme, die nicht Rosi gehörte, hallte über den Flur. Kurz darauf blieb Manuela Findeisen vor dem Kinderchirurgen stehen. »Es tut mir leid, dass mein Sohn so frech zu Ihnen ist. Ich weiß auch nicht, was in Julian gefahren ist. Wahrscheinlich ist er traumatisiert wegen des Unfalls.«
Lammers verdrehte die Augen gen Himmel.
»Ja, und?«
Manuela packte den Gurt ihrer Tasche fester.
»Ich wollte Sie bitten, es sich noch einmal anders zu überlegen. Julian hat versprochen, nicht mehr frech zu sein. Bitte behandeln Sie meinen Sohn.«
Volker Lammers war auch nur ein Mann. Manuelas Betteln schmeichelte ihm.
»Also gut«, gab er sich schließlich geschlagen. »Er bekommt noch eine Chance. Aber noch eine Unverschämtheit, und ich bin raus.«
*
Auf dem Rückweg von Elsa Blumes Empfang machte Milan Aydin einen Umweg über die Abteilung für gebrochene Herzen, wie er sie bei sich nannte. Sein Chef hatte ihn um einen Gefallen gebeten, den er ihm nicht abschlagen konnte.
»Hallo, Christine!« Er stieß die Tür auf und fuhr ins Krankenzimmer. Das Glitzern in den Augen der Kollegin gefiel ihm nicht. »Wie fühlst du dich?«
»Wenn ich wieder arbeiten dürfte, ginge es mir besser.«
»Deshalb bin ich hier. Der Chef hat mir gesagt, du hättest deine Operation morgen früh streichen lassen. Warum?«
»Du bist also nur gekommen, weil sie dich geschickt haben«, schnaubte die Lekutat.
Frauen! Manchmal waren sie wirklich kompliziert.
»Ich wäre sowieso gekommen. Das wusste der Chef. Deshalb hat er mich gebeten, mit dir zu reden.« Milan fuhr so nah ans Bett, wie es sein Rollstuhl erlaubte. »Du kennst die Untersuchungsergebnisse selbst am besten, Christine. Willst du wirklich riskieren, von einer Sekunde auf die andere weg vom Fenster zu sein? Probier es doch wenigstens mit dem Defibrillator.«
Langsam schüttelte sie den Kopf.
»Nein.« Mehr sagte sie nicht.
Meine Güte! Ein sturer Esel war ein Kinderspiel dagegen!
»Dann nimm dir wenigstens ein Beispiel an mir. Hätte ich nach meinem Unfall aufgegeben, wäre ich niemals Chirurg geworden. Aber ich habe den Stier bei den Hörnern gepackt und weitergemacht. Und, siehe da! Es funktioniert.«
Christine Lekutats Lachen klirrte wie Eis im Glas.
»Du bist ein schlechtes Beispiel. Im Gegensatz zu mir kannst du immer noch operieren.«
»Und du wirst eine andere Berufung finden. In der Forschung gibt es immer genug zu tun. Oder wie wäre es mit einem Lehrstuhl an der Universität? Du könntest dich auch auf Diagnosen spezialisieren und die Drecksarbeit anderen überlassen.«
Schweigen.
Milan Aydin dachte schon, dass die Kollegin Lekutat ihn vergessen hatte, als sie tief Luft holte. Sich ein Lächeln abrang.
»Ach, Milan.« Ihr Blick machte ihm immer noch Angst. »Ich bin nicht so dumm wie deine hübschen Blondchen. Ich habe mir das genau überlegt.«
»Dann willst du also sterben?«
»Nein. Ich will euch schon noch länger mit meiner Anwesenheit beglücken. Und jetzt lass mich allein! Ich brauche meinen Schönheitsschlaf.« Sie wedelte mit der Hand durch die Luft, als wollte sie eine Horde lästiger Fliegen verscheuchen.
Kopfschüttelnd trat Milan Aydin den Rückzug an. Die Tür fiel hinter ihm ins Schloss. Er hörte es nicht. Tief in Gedanken versunken rollte er über den Gang. So etwas war ihm selten passiert. Was war das nur für eine Frau, die seinem Charme so hartnäckig widerstehen konnte? Die ihm noch nicht einmal diesen winzig kleinen Gefallen tun wollte. Und das, obwohl sie ihn immer wieder mit diesem Blick musterte, der eine ganz andere Sprache sprach. Aber auch das war ihm ganz und gar nicht recht.
*
»Ich habe gehört, hier wartet ein Stuntman auf mich.« Ein Klemmbrett unter dem Arm betrat Dr. Klaiber das Krankenzimmer, in dem Julian Findeisen lag.
Seine Mutter sprang vom Stuhl auf.
»Hallo, mein Name ist Arnold Klaiber.« Er hielt zuerst Manuela Findeisen und dann Julian die Hand hin. »Ich bin Anästhesist an dieser Klinik und sorge dafür, dass du während der Operation schläfst wie ein Murmeltier.«
Er zückte das Tablet und schaltete es ein.
»Das verstehe ich jetzt nicht«, sagte Manuela. »Ich dachte, Sie bringen die Überweisungspapiere für eine andere Klinik.«
»Warum sollte ich das tun?«
Manuela strich sich eine Strähne aus der Stirn.
»Weil Dr. Lammers die Operation abgesagt hat. Wir sollen uns eine andere Klinik suchen, weil …« Sie schickte ihrem Sohn einen Blick, der Bände sprach, » … weil Julian sich nicht von Ihrem Kollegen operieren lassen will.«
»Ach ja?« Auch ohne die Hintergründe zu kennen, konnte Arnold Klaiber die Entscheidung des Jungen nachvollziehen. Aber das konnte er natürlich nicht laut sagen. »Und warum nicht?«, schützte er Unwissenheit vor.
»Weil der Idiot schuld ist, dass ich mir das Becken gebrochen habe.«
»Julian!« Allmählich hatte Manuela genug. »Ich habe dir doch verboten, solche Wörter zu sagen.«
»Du hast gesagt, dass ich nicht mehr Blödmann sagen soll«, verteidigte sich der Junge so energisch, dass Klaiber um ein Haar laut losgelacht hätte.
»Warum ist der Kollege Lammers schuld an deinem Unfall?«, erkundigte er sich.
»Er hat uns verboten, in der Anlage Waveboard zu fahren, und uns in den Skaterpark geschickt. Dabei sind die Hindernisse da viel zu schwierig. Kein Wunder, dass es mich zerlegt hat.«
Dr. Klaiber zögerte kurz. Um Zeit zu gewinnen, legte er das Klemmbrett aufs Bett. Er steckte die Hände in die Kitteltaschen und betrachtete Julian. Wie löste man dieses Problem möglichst elegant?
»Als ich den Kollegen Lammers kennengelernt habe, fand ich ihn auch ziemlich seltsam.« Er beugte sich ein Stück vor. »Und ehrlich gesagt ist er bis heute nicht mein bester Freund.« Er zwinkerte Julian zu. »Aber er ist wirklich der allerbeste Kinderchirurg in dieser Stadt. Vielleicht sogar im ganzen Land. Deshalb solltest du der Klügere von euch beiden sein und dich entschuldigen. Was meinst du?«
Julian kaute auf der Unterlippe.
»Ich weiß nicht …«
Plötzlich hatte Arnold eine Idee.
»Was meinst du, wie er sich ärgert, wenn er dich operiert und du als Dank wieder Waveboard in der Wohnanlage fährst.«
Die Augen des Jungen blitzten auf.
»Coole Idee.«
»Dann entschuldigst du dich?«
»Also gut«, gab sich Julian geschlagen.
Dr. Klaiber griff wieder nach dem Klemmbrett. Zumindest ein Etappenziel war erreicht. Zeit, das Anästhesiegespräch durchzuführen und das Einverständnis der Mutter einzuholen.
Alles andere würde sich finden. Zumindest hoffte er das.
*
Die Nachrichten, die Dr. Aydin von der Kardiologie mitgebracht hatte, waren nicht gerade erfreulich gewesen. Notgedrungen machte sich Dr. Norden selbst noch einmal auf den Weg zu der Kollegin. Mit wehendem Kittel eilte er den Gang entlang, vorbei an großformatigen Naturaufnahmen, die den Patienten Mut machen sollten. An anderen Tagen blieb er stehen und bewunderte Sonnenblumen vor strahlend blauem Himmel. Wogende Palmen im Wind. Einen Schmetterling auf einer Blüte.
Die Bilder hingen nicht umsonst da. Abgesehen von ihrer Schönheit war die Wirkung von Natur auf den Menschen wissenschaftlich bewiesen. Die Natur tat ihm gut. Ablesen ließ sich das an niedrigerem Puls und Blutdruck. Auch der Kortisolgehalt im Blut – ein Stresshormon – sank deutlich. Dabei musste man sich noch nicht einmal in der Natur aufhalten, um ihre Wirkung zu spüren, wie Versuche von Wissenschaftlern bewiesen hatten. Schon ein Bild genügte für einen positiven Effekt. Dieses Wissen hatte sich Dr. Norden zunutze gemacht und die Fotos aufhängen lassen.
Doch an diesem Tag hatte er keinen Sinn für diese Schönheiten. Bemerkte er noch nicht einmal die Kollegen, die ihm allein oder in Gruppen entgegenkamen und freundlich grüßten. Daniel erwachte erst aus seinen Gedanken, als er Christine Lekutats Zimmer betrat. Seine schlimmsten Befürchtungen wurden noch übertroffen.
»Was machen Sie da?«
»Wonach sieht es denn aus?«, fragte die Lekutat zurück. Das Kleidungsstück auf dem Bett hatte mehr Ähnlichkeit mit einem alten Postsack denn mit einer Jogginghose. Sie faltete sie vier Mal zusammen und steckte sie in die Reisetasche zu den anderen Kleidern.
»Sie gehen nach Hause?«
»In die Reha-Klinik, in die die Kollegin Linhardt ihre Patienten schickt. Sie genießt einen ganz hervorragenden Ruf. Dort habe ich einen Platz bekommen.«
Daniel Norden schob die Hände in die Kitteltaschen und kam näher. Nur jetzt nichts Falsches sagen!
»Selbst wenn wir es gern wären: Wir Ärzte sind keine unverwundbaren Götter. Noch nicht einmal Halbgötter. Auch wenn wir Weiß tragen.«
Christine Lekutat faltete eine Strickjacke zusammen. Legte sie zu den anderen Kleidern in die Tasche. Sie zog den Reißverschluss zu und drehte sich zu ihrem Chef um.
»Im Gegensatz zu Ihnen bin ich davon überzeugt, dass mir mein Herz keine Probleme mehr machen wird. Die richtigen Medikamente, ein bisschen Ruhe und schon bin ich wie neu.«
»Und was, wenn Sie sich irren?«, gab Dr. Norden zu bedenken. »Ein Defibrillator hat schon vielen Menschen das Leben gerettet. Das hat Ihnen Dr. Linhardt doch bestimmt gesagt.«
»Hat sie. Aber das, was für OttoNormalverbraucher gilt, muss für mich noch lange nicht richtig sein«, schnaubte Christine. »Ein Defi in meiner Brust wäre kein Lebensretter, sondern mein Ende. Beruflich wie privat.« Sie packte die Tasche und wuchtete sie vom Bett. »Ich kann mir ein Leben ohne Operationen nun einmal nicht vorstellen. Oder können Sie sich vorstellen, ohne Ihre Frau zu leben?«
»Was hat das eine mit dem anderen zu tun?«
Die Lekutat legte das Mondgesicht schief.
»Sehr viel. Sie haben eine Beziehung zu Ihrer Frau, ich habe eine Beziehung zu den Operationssälen dieser Klinik. So ist das nun einmal.« Sie warf einen Blick auf die Tasche zu ihren Füßen. »Wie sieht es aus? Helfen Sie mir?«
Daniel zögerte. Schließlich schulterte er die Reisetasche. Begleitete die Kollegin schweren Herzens durch die Klinik Richtung Ausgang. Draußen wartete schon das Taxi. Der Fahrer stellte das Gepäck in den Kofferraum. Christine Lekutat kletterte auf den Rücksitz. Dr. Norden beugte sich hinunter.
»Passen Sie bitte auf sich auf.«
Christine blinzelte zu ihm hinauf.
»Schade, dass Sie schon verheiratet sind. Sonst würde ich Sie glatt einpacken. Oder Aydin. Den würde ich zur Not auch noch nehmen.«
Allein der Gedanke daran jagte Daniel einen Schauer über den Rücken.
»Wer weiß, vielleicht finden Sie in der Reha-Klinik Ihren Traummann.«
Christine lachte.
»Ein bisschen mehr Realitätssinn hätte ich Ihnen schon zugetraut. Und jetzt machen Sie endlich die Tür zu. Es zieht.«
Daniel kannte die Kollegin inzwischen gut genug, um zu wissen, dass sich hinter der schnoddrigen Art ein weicher Kern verbarg. Ein empfindsames Herz. Zu empfindsam. Daran konnte auch die harte Schale nichts ändern.
»Ich komme Sie besuchen«, versprach er noch, ehe er ihren Wunsch erfüllte und die Tür zuschlug.
*
Endlich! Die Gäste hatten sich zurückgezogen.
Elsa Blume schloss die Tür hinter dem letzten Besucher. Sie drehte sich um. Mit jedem Schritt Richtung Schreibtisch wuchs das Triumphgefühl in ihr.
Hatte ihr Vater wirklich gedacht, sie würde ihm die jahrelange Vogel-Strauß-Taktik einfach so verzeihen? Vergessen, dass er die Existenz seines Kindes einfach ignoriert hatte? Das bewies wieder einmal, wie eindimensional Männer gestrickt waren. Eine Erfahrung, die Elsa schon öfter in ihrem Leben gemacht hatte. Zuletzt mit dem Vater ihres Kindes. Dominik König. Doch das war Geschichte. Sie brauchte keinen Mann. Konnte mit dem richtigen Job gut für sich und ihre Tochter Mathilda sorgen. Diesen Job hatte sie jetzt.
Der Chefsessel hatte seine besten Zeiten längst hinter sich. Aber auch das machte nichts. Nicht mehr lange und diese schäbige Bude wäre nicht wiederzuerkennen. Natürlich kostete die neue Einrichtung ein paar Euros. Doch die konnte Elsa Blume spielend an anderer Stelle einsparen. Sie musterte den Schreibtisch. Die Tastatur, die mittig vor dem Monitor stand. Füller, Kugelschreiber und Minenbleistift ihres Vaters im Etui daneben. Auf der linken Seite des Tisches lagen – Kante auf Kante – zehn Akten. Elsa nahm die oberste vom Stapel. Sie schlug sie auf und lehnte sich zurück. Es handelte sich um die jüngst eingegangenen Anträge der Belegschaft. Es ging um neue Geräte, Möbelstücke, Lampen und andere mehr oder weniger dringend benötigte Gegenstände. Ein Antrag stach ihr ins Auge.
»Sie wollen also nicht mehr benötigte Gerätschaften an die Kirche spenden?«, fragte sie den Kinderchirurgen Dr. Lammers, der wenig später vor ihrem Schreibtisch stand. »Warum?«
Der Anruf der neuen Verwaltungschefin war Volker Lammers gerade recht gekommen. Endlich konnte er damit beginnen, seine Fäden zu spinnen. Als er lächelte, entblößte er eine Reihe strahlend weißer Zähne.
»Die Tochter des evangelischen Pfarrers lag auf meinem OP-Tisch. Diese Gelegenheit hat er genutzt, um mich zu fragen. Es geht um eine Kinderklinik in Südafrika, die dringend ein tragbares Röntgengerät benötigt. Genau so ein Gerät steht in unserem Lager.«
»Und da dachten Sie, wir sollten es verschenken?« Elsas Stimme war butterweich.
»Schön, dass Sie meiner Meinung sind.« Lammers war sich seines Rufes an der Klinik mehr als bewusst. Da schadete es nicht, neue Kollegen frühzeitig auf seine Seite zu ziehen. Bis sie ihre Meinung änderten, konnten sie durchaus nützlich sein. »Im Grunde genommen sind mir diese Rotznasen ja egal. Aber der Pfarrer würde der Klinik eine anständige Spendenquittung ausstellen. Das sollte durchaus in Ihrem Sinne sein.«
Elsa klappte die Mappe zu. Sie lächelte wie eine Wölfin.
»Sprechen Sie mit Ihrem Pfarrer, was er bereit ist, für das Gerät zu bezahlen. Das ist mir lieber als eine Spendenquittung.«
Volker Lammers schloss die Augen, wartete ein paar Sekunden, ehe er sie wieder öffnete. Er hatte sich nicht getäuscht. Ihm gegenüber saß nicht etwa sein ehemaliger Verbündeter Dieter Fuchs. Wider Erwarten schien seine Tochter aus gleichem Holz geschnitzt. Und das, obwohl sie sich erst vor ein paar Wochen kennengelernt hatten.
»Na, hören Sie mal! Sie sind doch selbst Mutter.«
»Gerade deshalb kann ich es nicht mit meinem Gewissen vereinbaren, wenn Kinder irgendwo auf der Welt mit minderwertigem Material versorgt werden. Die Kirche verfügt über genügend finanzielle Mittel. Die will doch nur Geld sparen.«
»Aber unser Lager ist voll.«
»Das glaube ich Ihnen.« Elsa Blumes Stimme war weich und warm.
Volker wähnte sich einem Sieg nahe.
»Sie haben also ein Herz für Kinder und stimmen meinem Antrag zu?«
Elsa saß am Schreibtisch ihres Vaters und musterte den stellvertretenden Chef der Kinderstation. Der Vollbart stand ihm gut und die stechend blauen Augen versprachen Spannung. Mit ihm würde sie noch viel Spaß haben. Warum nicht gleich damit anfangen?
»Nein!«, erwiderte sie und lächelte liebenswürdig.
*
Manuela Findeisen saß am Bett ihres Sohnes.
»Komm schon, Julian. So schlimm ist das doch nicht. Jeder muss sich mal entschuldigen.«
»Er war so ätzend zu uns.« Julian zog eine Grimasse. Streckte die Zunge heraus.
Um ein Haar hätte Manuela gelacht.
»Ich verstehe dich ja. Aber es geht um deine Gesundheit. Du hast den Arzt doch gehört. Wenn du dich nicht operieren lässt, wird der Bruch schief zusammenwachsen. Dann kannst du vielleicht nie mehr wieder richtig laufen.« Sie legte die Hand unter sein Kinn und zwang ihn, ihr ins Gesicht zu sehen.
»Warum kann mich kein anderer Arzt operieren?«
»Weil Dr. Lammers der Spezialist ist. Du hast doch gehört, dass es in ganz München keinen besseren gibt als ihn.«
»Dann gehen wir eben in eine andere Klinik in einer anderen Stadt«, maulte Julian.
»Jede unnötige Bewegung ist mit einem Risiko verbunden. Ein Transport könnte unabsehbare Folgen haben.« Mit Engelszungen redete Manuela auf ihren Sohn ein. »Bitte, Julian, mach uns das Leben doch nicht so schwer.« Sie horchte auf.
Schritte näherten sich. Dr. Lammers! Endlich! Doch Manuelas Hoffnung verflog, kaum dass sie ihm ins Gesicht gesehen hatte.
»Und? Hat sich die kleine Rotznase endlich zu einer Entschuldigung durchgerungen?«, fragte er und trat ans Bett. Der Besuch bei Elsa Blume war nicht gerade dazu angetan gewesen, ihn milder zu stimmen.
Julian presste die Lippen aufeinander. Schweigen.
»Nicht? Auch recht.« Lammers machte auf dem Absatz kehrt und ging zur Tür.
»Halt!« Wie ein Schrei gellte Manuela Findeisens Stimme durch das Zimmer. »Bitte warten Sie! Julian hat mich gebeten, mich an seiner Stelle zu entschuldigen. Er traut sich nicht.« Sie knetete die Finger und lächelte. »Bitte operieren Sie ihn so schnell wie möglich. Der Anästhesist war schon da. Eigentlich können Sie sofort anfangen.«
Lammers stand an der Tür. Er haderte mit sich. Die Liste der Beschwerden über ihn war lang. Eine weitere Rüge konnte er sich nicht erlauben.
»Also gut«, gab er sich schweren Herzens geschlagen. »Ich schicke eine Schwester. Sie bringt den Bengel in den OP.«
Julian starrte seine Mutter an, als hätte sie sich vor seinen Augen in eines der Monster aus seinem Lieblingscomputerspiel verwandelt.
»Ich will aber nicht«, rief er.
Doch Lammers hatte endgültig genug.
»Hör auf mit diesem Theater, du Schreihals. Ein Glück, dass deine Mutter erziehungsberechtigt ist und du hier nichts zu sagen hast.«
Schwester Rosi kam herein und löste die Bremsen des Bettes.
»Nein, Mama!«, jaulte Julian auf. »Sag ihm, dass du nicht einverstanden bist.«
Manuela wäre am liebsten in Tränen ausgebrochen.
»Eines Tages wirst du mir dankbar sein dafür.« Sie suchte in ihrer Tasche nach einem Päckchen Papiertücher.
»Nein. Ganz bestimmt nicht. Ich will das nicht. Lasst mich. Ich will nicht! Hilfeeee!!!«
Manuela wandte sich ab. Wenn Julian gesund werden sollte, musste sie hart bleiben. Auch wenn es ihr das Herz zerriss.
Lammers konnte das nur recht sein. Eine Nervensäge weniger!
»Kümmern Sie sich um einen freien OP«, befahl er Schwester Rosi auf dem Flur. »Und rufen Sie mich, wenn Sie fündig geworden sind.« Er hob die Hand zum Gruß und verschwand im Aufenthaltsraum der Ärzte.
Schwester Rosi sah ihm nach. Um ein Haar wäre sie in Tränen ausgebrochen. Genauso wie ihr Patient, der das Gesicht hinter den Händen verborgen hatte.
»Komm schon, Kleiner. Zusammen kriegen wir das schon hin!«, raunte sie ihm zu. Dabei wusste sie selbst nicht, wem sie Mut zusprechen wollte: Julian? Oder doch eher sich selbst?
*
»Du schon wieder?« Dr. Matthias Weigand wunderte sich, den Kollegen Erwin Huber so schnell wieder zu Gesicht zu bekommen.
»Und ich kann es kaum erwarten, meine Fracht wieder loszuwerden«, raunte Erwin dem Notarzt zu. »Eure Kollegin ist ja die reinste Furie. Kein Wunder, dass sie Herzprobleme hat.«
Dr. Weigand warf einen Blick auf die Liege.
»Dr. Lekutat!« Er schnappte nach Luft. »Was machen Sie denn hier? Ich dachte, Sie wären auf Station.«
»Offenbar haben Sie sich getäuscht«, schnaubte Christine wie ein wild gewordener Stier. »Und jetzt lassen Sie mich gefälligst wieder gehen! Mir fehlt nichts.«
»Da hat der Taxifahrer aber etwas ganz anderes erzählt«, erwiderte Dr. Huber und ließ sich das Protokoll unterschreiben.
Erleichtert sah er zu, wie sich die Türen hinter der Liege schlossen. Er war das Problem los. Milan Aydin dagegen traute seinen Augen kaum. Er war zufällig in der Notaufnahme, als Matthias die Liege mit Christine herein rollte.
»Unvernunft, dein Name ist Lekutat«, schimpfte er bei ihrem Anblick.
Beleidigt verschränkte sie die Arme vor dem Oberkörper.
»Statt dass du dich freust, mich wiederzusehen …«
»Ehrlich gesagt wäre es mir lieber gewesen, wenn du die Klinik gar nicht erst verlassen hättest.«
Da war es wieder, das verdächtige Blitzen in ihren Augen. Diesmal gesellte sich ein Lächeln dazu.
»Wirklich?«
Milan presste die Zähne aufeinander. Er wendete den Rollstuhl. Konzentrierte sich auf die Linien des Herzmonitors, an den Dr. Weigand seine Patientin inzwischen angeschlossen hatte.
»Sie hatte wieder eine Attacke«, murmelte er vor sich hin. »Wie ich es mir gedacht habe.« Er wandte sich an Christine, die nur Augen für Milan Aydin hatte. »Tut mir leid, Kollegin Lekutat. Sie haben es nicht anders gewollt. Ich muss Sie so lange an die Infusion hängen, bis Sie sich endlich zu einem Defi durchringen können.«
»Nur über meine Leiche.«
Die beiden Männer schickten sich vielsagende Blicke.
»Und ich dachte, Esel seien stur«, raunte Matthias dem Kollegen zu.
»Ich bin vielleicht herzkrank, aber noch lange nicht schwerhörig«, zeterte Christine. »Aua! Haben Sie Ihren Abschluss im Lotto gewonnen? Sie stechen wie ein Erstsemester«, beschuldigte sie Dr. Weigand.
»Das liegt an Ihnen.« Er sicherte den Zugang auf ihrem Handrücken mit einem Pflaster. Mehr konnte er im Augenblick nicht tun. »Schwester Josepha, bringen Sie Dr. Lekutat bitte auf ihr Zimmer und hängen Sie sie an die Infusion.« Er nannte Medikament und Dosierung und sah dem Gespann nach. »Offenbar hast du einen Draht zu ihr. Bitte geh … fahr mit und bring sie zur Vernunft«, bat er den Kollegen. »Ich habe keine Lust, einen Todesfall zu beklagen.«
Dr. Aydin zögerte, beschloss dann aber, dem Transport doch zu folgen. Das lag nicht nur an Matthias’ Bitte. Aufgeben war einfach nicht seine Art. Wenn Christines Glitzerblick etwas zu bedeuten hatte, dann wollte er sein Glück wenigstens noch ein Mal versuchen. Ein allerletztes Mal. Er packte die Greifräder und fuhr los.
»So, da wären wir wieder.« Schwester Josepha parkte das Bett am Fenster. Sie steckte einen durchsichtigen Plastikschlauch an die Infusionspumpe und stellte die Dosierung ein. »Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?«
Milan rollte herein. Sie lächelte in an.
»Schmachten Sie Dr. Aydin gefälligst nicht so an«, verlangte Christine. »Der gehört mir.«
Das Blut schoss Schwester Josepha in die Wangen.
Sie murmelte eine Entschuldigung und verließ das Zimmer, als wäre der Teufel persönlich hinter ihr her. Na warte, das würde die Chirurgin büßen. Nicht umsonst waren sie und ihre Kollegin Astrid in der ganzen Klinik als Lästerschwestern bekannt.
Christine Lekutat sah ihr düster nach.
»Also hatte ich doch recht. Du bist der Schwarm aller Frauen hier in der Klinik«, sagte sie Milan auf den Kopf zu.
»Ach was!« Er winkte ab. »Ich kann dir aus dem Stegreif ein Dutzend Damen aufzählen, die keinerlei Interesse an mir haben.«
»Das mag für die glücklich Verheirateten gelten. Aber nicht für die Singlefrauen.« Christine Lekutat ließ das Kopfteil ein Stück hochfahren und stopfte sich das Kissen in den Nacken. Ihr Blick machte Milan Angst. Er dachte an Flucht. Doch er musste es versuchen.
»Im Augenblick wäre ich vollkommen zufrieden, wenn ich Einfluss auf eine einzige Singlefrau hätte.«
»Ach ja?« Christine drehte den Kopf zur Seite und klimperte mit den Wimpern. Ganz so, wie sie es in dem Liebesfilm im Klinikfernseher neulich gesehen hatte. Nicht, dass sie bislang ein besonderes Faible für derart romantischen Kram gehabt hätte. Ganz im Gegenteil. Glückliche Paare, Liebesschwüre, Herzklopfen, schweißnasse Hände, hilfloses Gestammel. All das gehörte für sie in eine Welt, die sie weder kannte noch kennenlernen wollte. Bisher. Doch in letzter Zeit schien sich etwas geändert zu haben. Wie sonst ließ sich erklären, dass sie in Milans Gegenwart ständig Schnappatmung bekam? »Du meinst doch nicht etwa mich?«
Dr. Aydin schluckte. Es war eine Gratwanderung auf einer Rasierklinge.
»Ganz genau. Dich und keine andere.« Er rollte dicht ans Bett. Griff nach Christines Händen. Es waren die Hände einer Arbeiterin, rau und eiskalt. Beim Anblick ihrer verzückten Miene hatte er fast ein schlechtes Gewissen. Doch heiligte der Zweck nicht die Mittel? »Und wenn dir nur ein bisschen an mir liegt, dann lässt du dir diesen Defibrillator einbauen.«
Christine schluckte.
»Du weißt genau, wie sehr ich dich mag.« Ihre Stimme klang, als hätte sie eine ganze Schachtel Zigaretten hintereinander geraucht. Sie richtete sich auf. Zog ihre Hand aus Milans Händen und legte sie um seinen Nacken. Wollte ihn an sich ziehen. Milan hielt die Luft an. Damit hatte er nicht gerechnet. Was sollte er jetzt tun? Dem Teufel in den Schwanz beißen?
Vor seinem geistigen Auge zogen Frauengesichter vorbei. Eines hübscher als das andere. Eine Frau wie Christine war nicht dabei. Schon spürte er ihren Atem in seinem Gesicht. Gummibärchen, kein Zweifel! Und Schokolade! Oder beides? Er hatte keine Zeit mehr, darüber nachzudenken. Kurz bevor ihre Lippen ihr Ziel erreichten, drehte er den Kopf weg.
»Tut mir leid … muss los … Operation … glatt vergessen«, stammelte er in seiner Not. Packte die Greifräder und rollte zur Tür. Dort angekommen, machte er noch einmal Halt. »Du solltest jetzt ein bisschen schlafen. Und denk über die Operation nach. Wir sehen uns.«
*
Volker Lammers hatte eine Entscheidung getroffen. Nach ein paar Minuten im Aufenthaltsraum machte er sich ein weiteres Mal auf den Weg in die Direktionsetage. Unterwegs machte er einen Umweg in Hanna Bäumls Blumenladen. Ein atemberaubender Duft empfing ihn. Jeder Quadratzentimeter war bedeckt mit Grün. Auf Kommoden und Hockern, Buffets und Stühlen drängelten sich die Töpfe, fielen Ranken von oben herab und bewegten sich im Luftzug der Tür. Sogar auf der Kasse, die auf dem Tisch in der Mitte thronte, stand ein Töpfchen mit vierblättrigem Klee. Lammers blieb zwischen Eimern mit bunten Sträußen stehen und sah sich um. Ein Betonklotz inmitten einer charmanten Bauernhaussiedlung hätte kein größerer Störenfried sein können.
»Was kann ich für Sie tun?«, erkundigte sich Hanna trotzdem freundlich.
Dr. Lammers fuhr zu ihr um.
»Ich brauche einen Strauß.«
»Für eine Dame, nehme ich an. Eine Verwandte?«
»Nein.«
»Gut, dann eine Bekannte.« Hanna Bäuml war Floristin aus Leidenschaft. Oft war ihr die Sprache der Blumen verständlicher als die der Menschen. »Wie gut kennen Sie die Dame denn?«
»Gar nicht. Geben Sie mir einfach was von diesem Grünzeug da.« Lammers deutete auf einen Eimer mit weißen Lilien.
»Ich fürchte, das ist eher unpassend.« Hanna ging in die Knie. Liebkoste eine der Blüten wie eine Kinderwange. »Gerade die weiße Lilie sollte mit viel Herz weitergegeben werden. Sie steht für Licht und Liebe und ist ein Symbol für Jungfräulichkeit, Reinheit und Unschuld.«
»Was für ein Schwachsinn«, entfuhr es Volker.
»In Ihren Augen vielleicht. Aber die Dame sieht es bestimmt anders.« Hanna strich sich eine Korkenzieherlocke aus dem Gesicht und lächelte wie ein Schulmädchen. »Wir Frauen neigen ja dazu, in jede Geste eines Mannes etwas hineinzuinterpretieren.«
Volker fühlte, wie sich sein Magen zusammenzog. Er presste die Lippen aufeinander.
»Verkaufen. Sie. Mir. Einen. Strauß.«
Gefahr war in Verzug. Das bemerkte auch Hanna endlich. In ihrer Not griff sie nach dem erstbesten Strauß, der ihr in die Hände fiel. Sonnenblumen mit gelben Rosen und weißen Margeriten.
»Soll ich ihn einpacken?«
Lammers legte einen Geldschein auf den Tresen. Nahm der Blumenhändlerin den Strauß aus der Hand und stand ein paar Minuten später vor Elsa Blumes Schreibtisch.
»Haben Sie mich erschreckt!« Sie presste die Hände auf das Herz. »Bitte klopfen Sie das nächste Mal an. Sonst erleide ich am Ende noch einen Herzinfarkt.«
»Kein Problem. Ich kenne da einen guten Arzt.«
Elsa lachte. Bewunderte den Strauß, den er hinter dem Rücken hervorzauberte. Sonnenblumen. Er mochte sie also. Obwohl sie seinen Antrag abgelehnt hatte. Und die gelben Rosen? Unter Freunden ein Zeichen der Versöhnung, des Zusammenhalts. Ganz offensichtlich wollte er sich für sein forsches Auftreten von vorhin entschuldigen.
»Für mich?«, fragte sie kokett.
»Sehen Sie hier sonst noch jemanden?« Volker sah ihr nach, wie sie zum Schrank ging, um eine Vase zu holen. Tadellose Figur in gut sitzendem Kostüm. Immerhin. Da musste er noch nicht einmal über seinen Schatten zu springen, um ihr den Hof zu machen.
»Was kann ich für Sie tun?«
»Ich möchte, dass Sie den heutigen Abend mit mir verbringen. Absagen und Ausreden lasse ich nicht gelten.«
Elsa drehte sich zu ihm um. Ein Lächeln zuckte um ihre Lippen.
»Machen Männer nicht für gewöhnlich einen großen Bogen um junge Mütter?«
»Ich will Sie treffen und nicht Ihren Schreihals.«
Elsas schluckte. Für einen winzigen Augenblick hatte Volker Lammers sie aus dem Konzept gebracht.
»Sie gehen ja ganz schön ran.«
»Hören Sie. Wir sind doch keine Kinder mehr. Wozu also herumplänkeln? Gehen Sie heute Abend mit mir aus? Ja oder nein?«
Die glatte, kühle Vase in ihren Händen gab Elsa die Sicherheit wieder zurück. Mit wiegenden Hüften ging sie zum Waschbecken. Während das Wasser in die Vase rauschte, dachte sie nach. Wann hatte sich zuletzt ein Mann um sie bemüht? Sie konnte sich kaum mehr daran erinnern. Und zugegeben: Es fühlte sich gut an. Schmeichelte ihrem Ego. Die Vase war voll. Sie drehte sich wieder zu Volker Lammers um. Die Augenbrauen unter ihrem ultrakurzen Pony hatten sich zusammengeschoben.
»Und weil wir keine Kinder mehr sind, wissen wir, wie diese Abende verlaufen. Man geht zusammen essen oder tanzen, redet über Banalitäten und …«
»Ich will weder mit dir essen und schon gar nicht tanzen. Geschweige denn über Banalitäten reden.«
»Über das tragbare Röntgengerät vielleicht?«
»Auch das nicht.« Volkers Blick traf Elsa mit voller Wucht.
Ihre Knie wurden weich. Sie musste sich setzen. Die Blumen hatten also die Wahrheit gesagt.
*
»Bis der nächste Operationssaal frei ist, kann es noch eine Weile dauern.« Mit dieser Nachricht schlüpfte Schwester Rosi ins Zimmer und schloss die Tür hinter sich.
Schnuppernd hob Julian die Nase.
»Hier riecht es wie bei meiner Oma in der Küche.« Er legte die Hand auf den Bauch. »Wann bekomme ich etwas zu essen? Ich habe so Hunger.«
Rosis Herz wurde schwer.
»Tut mir leid. Aber wenn du heute noch operiert wirst, darf ich dir nichts geben.«
»Ich will aber nicht operiert werden. Nicht von dem Blödmann.«
Die Schwester zog einen Hocker ans Bett.
Ein rascher Blick über die Schulter. Sie waren allein.
»Soll ich dir ein Geheimnis verraten? Eigentlich gibt es an der Klinik niemanden, der Dr. Lammers so richtig mag.«
»Warum schmeißt ihn dann der Chef nicht raus?«
Rosi strich ihrem jungen Patienten eine widerspenstige Strähne aus der Stirn.
»Weil er ein toller Arzt ist. Der beste Kinderchirurg weit und breit.«
»Ich finde, ein Arzt ist gut, wenn er auch nett ist.« Julian betrachtete den Zugang an seiner Hand. Tropfen für Tropfen fiel aus dem Infusionsbeutel in den Schlauch, wanderte hinunter und verschwand in seinem Handrücken. »Wenn ich mal groß bin, will ich auch Arzt werden. Aber ein freundlicher, der Spaß mit den Patienten macht.«
»Das ist ein schöner Vorsatz.«
Die kleine Stirn runzelte sich.
»Nur blöd, dass ich nicht mehr groß werde.«
Rosi riss die Augen auf.
»Was redest du denn da? Wieso solltest du nicht erwachsen werden?«
»Weil mich dieser blöde Doktor hasst. Bestimmt lässt er mich bei der Operation sterben.« Julian presste die Lippen aufeinander. Seine Augen glänzten verdächtig. »Und meine Mama tut nichts dagegen.«
O je! So viele Baustellen auf einmal. Rosi wusste gar nicht, wo sie anfangen sollte.
»Erstens würde Dr. Lammers dich niemals sterben lassen. Das verbietet ihm schon sein Stolz. Und deine Mama will, dass er dich operiert, weil sie dich so lieb hat.« Sie nahm die Kinderhand in die ihre und tätschelte sie. Ihre Augen füllten sich mit Erinnerungen, die sie längst vergessen gewähnt hatte. »Weißt du, meine Eltern waren auch einmal in so einer Situation wie deine Mama. Sie mussten entscheiden, ob meine Schwester operiert werden sollte oder nicht. Therese machte so ein Theater, dass Mama und Papa zu lange gewartet haben. Als sie endlich ihr Einverständnis zur Operation gegeben haben, war es zu spät. Seitdem sitzt Therese im Rollstuhl.« Schwester Rosi suchte in Jonas’ Blick nach Verständnis. »Deshalb verstehe ich deine Mutter sehr gut. Sie liebt dich und will nur das Beste für dich.«
»Aber jemanden zu zwingen, ist doch keine Liebe.«
»Ich weiß, dass es schwierig ist. Aber versetz dich doch mal in die Lage deiner Mama.«
Wohl oder übel musste Julian einsehen, dass er allein mit seiner Angst vor Volker Lammers war. Niemand verstand ihn. Selbst die nette, junge Schwester fiel ihm in den Rücken.
Er drehte den Kopf weg und starrte hinüber zu dem Rollstuhl in der Ecke.
»Ich bin müde«, murmelte er.
Schwester Rosi seufzte erleichtert auf.
»Schlafen ist immer noch die beste Medizin.« Sie stand auf. Stellte den Hocker zurück an seinen Platz. »Hast du Schmerzen? Musst du auf die Toilette? Brauchst du irgendwas?«
Julian schüttelte den Kopf. Für das, was er vorhatte, brauchte er niemanden.
»Nein, danke.«
Rosi lächelte auf ihn hinunter.
»Dann schlaf gut. Ich wecke dich, sobald ein der OP frei ist.«
*
Schwester Elena stand im Aufenthaltsraum der Ärzte und brütete über dem Dienstplan. Ein Pfleger hatte um einen Tausch der Schichten gebeten. Wenn sie Schwester Astrid für die Spätschicht gewinnen konnte und Schwester … Ein Knirschen, begleitet von einem Seufzen, ließ sie hochsehen.
»Hast du gespielt und Haus und Hof verloren?«, spottete sie beim Anblick von Milan Aydin, der sich zu ihr gesellt hatte.
»Viel schlimmer.« Ein Satz und er landete auf der Lehne seines Rollstuhls. Angelte eine Tasse aus dem Schrank und schenkte sich Kaffee ein. »Ich lächle nie wieder eine Frau an. Das schwöre ich dir.« Statt zwei warf er vier Zuckerstücke in den Kaffee. Manchmal konnte eine Extraportion Süße nicht schaden.
Elena ließ den Dienstplan sinken.
»Welche Dame der Schöpfung konnte nicht an sich halten und hat sich auf dich gestürzt?«, fragte sie schmunzelnd. »Die neue Reinigungskraft vielleicht? Oder nein, ich weiß es. Katja aus dem Labor rechnet sich wieder Chancen aus.«
Mit Leichenbittermiene schüttelte Milan den Kopf.
»Schön wär’s!«, brummte er. »Die Kollegin Lekutat flirtet mit mir. Mehr als offensiv.«
»Sieh mal einer an.« Mit einem Glas Apfelschorle gesellte sich Elena zu ihrem Kollegen an den Tisch. Um ihre Mundwinkel zuckte es. »Darauf kannst du dir wirklich was einbilden. Bisher dachte ich, dass sie gegen die Männerwelt immun ist.«
»Das dachte ich auch.« Milan nahm einen Keks vom Teller und tauchte ihn in den Kaffee. Vermutlich würde die Belegschaft noch Monate an den Restbeständen von Dieter Fuchs’ Großbestellung zu knabbern haben. Zu dumm, dass sich der Preis im Geschmack niederschlug. »Aber sie hat mich heute eines Besseren belehrt.«
Elena lachte.
»Sag bloß, du hast ein Problem damit, wenn Frauen die Initiative ergreifen.«
Milan verzog keine Miene.
»Mach dich nur lustig über mich. Das war echt gruselig, als sie vorhin versucht hat, mich zu küssen.«
Das wurde ja immer schöner.
»Und? Wie hast du reagiert?«
»Mit professioneller Distanz!« Was hätte er auch sonst sagen sollen? »Dabei wollte ich sie eigentlich überreden, sich den Defibrillator einsetzen zu lassen. Damit bin ich vermutlich kläglich gescheitert.«
Diese Nachricht war natürlich weniger erheiternd.
»Und jetzt?«, fragte Schwester Elena. Die steile Falte zwischen den Augen kräuselte ihre Nase.
»Hängt Christine an der Infusionspumpe und bekommt Kreislaufmittel, bis sie eine Entscheidung getroffen hat.«
Schwester Elena nippte am Tee.
»Wenn sie sich gegen die Operation entscheidet, spielt sie mit ihrem Leben.«
»Du sagst es.«
Mehr gab es dazu nicht zu sagen. Eine Weile saßen Milan und Elena noch gemeinsam am Tisch und hingen ihren Gedanken nach.
»Ich muss dann wieder«, seufzte die Pflegedienstleitung und erhob sich. »Die Arbeit ruft.«
Dr. Aydin folgte ihr. Er verriet nicht, dass er beschlossen hatte, noch einmal bei Christine Lekutat vorbeizuschauen.
*
Innerlich lachte sich Schwester Josepha ins Fäustchen. Sie hatte Milan Aydin auf seiner Flucht beobachtet. Doch nach außen machte sie gute Miene zum bösen Spiel.
»Und? Wie läuft es mit Ihrem Dr. Aydin?«, säuselte sie, als sie den Nachttisch ausklappte, um das Mittagessen zu servieren.
Christine Lekutat hatte sich hinter ihrer Zeitschrift verschanzt.
»Wie meinen Sie das?«, knurrte sie dahinter hervor.
»Oh, es wird gemunkelt, dass Sie gar nicht sein Typ sind.« Schwester Josepha verließ das Zimmer, um das Tablett zu holen.
»Ach ja? Wer sagt das?«, rief Christine ihr nach.
»Sie wissen doch, wie das so ist mit der Klinikflüsterpost«, hallte es vom Flur wider.
»Dann haben Sie bestimmt auch gehört, dass es umgekehrt war. Der Kollege Aydin hat mir den Hof gemacht. Aber ich habe kein Interesse. Schon gar nicht an so einem Schnösel.« Christine klappte die Zeitschrift zu und beobachtete die Schwester dabei, wie sie das Tablett auf dem Nachttisch abstellte.
Draußen ging Dr. Norden vorbei. Bei Christines Anblick blieb er stehen. Betrat das Zimmer.
»Kollegin Lekutat. Da sind Sie ja wieder.«
»Sparen Sie sich Ihren Kommentar«, knurrte sie. »Sagen Sie mir lieber, ob dieses Ding da richtig eingestellt ist.«
Daniel kontrollierte die Infusionspumpe.
»Alles in Ordnung.« Er musterte die Kollegin nachdenklich. Blass war sie. Trotz ihrer Fülle wirkten ihre Wangen eingefallen. »Fühlen Sie sich nicht gut?«
»Wie würde es Ihnen gefallen, von so einem Kasten abhängig zu sein?« Abwehrend hob sie die Hände. »Ich weiß, was Sie jetzt sagen wollen. Sparen Sie sich einfach Ihren Kommentar.«
Daniel Norden holte tief Luft. Gemahnte sich zur Ruhe. Aus eigener, schmerzlicher Erfahrung wusste er, dass Herz-Kreislauf-Erkrankungen nicht nur den Körper, sondern auch die Psyche in Mitleidenschaft zogen. Fee war das beste Beispiel dafür gewesen.
»Und Sie sollten sich keine Sorgen machen. Solange Sie am Perfusor hängen und Sie Ruhe geben, wird Ihnen vermutlich nichts geschehen.«
»Das sagen Sie so einfach.« Die Lekutat schickte dem Gerät einen misstrauischen Blick. »Ich habe schon öfter erlebt, dass diese Dinger Aussetzer haben oder nicht richtig funktionieren.«
»Tatsächlich? Meiner Erfahrung nach arbeiten diese Apparate absolut präzise.«
Christine musterte den Klinikchef mit einem seltsamen Blick.
»Wenn Sie das sagen, muss es ja stimmen.« Es war ihr anzusehen, dass ihre Kraft aufgebraucht war. Sie sank zurück in die Kissen und blinzelte ins Licht des frühen Nachmittags, das durch die Jalousien fiel und ein Streifenmuster auf Bett und Boden malte.
Daniel Norden konnte ihr die Erschöpfung nicht verdenken.
»Versuchen Sie, ein wenig zur Ruhe zu kommen«, empfahl er. »Ich sehe später noch einmal nach Ihnen.«
*
»Danke. Der Rest ist für Sie!« Zum Abschied schenkte Dr. Felicitas Norden dem Taxifahrer ein Lächeln.
Schwer bepackt mit Aktenkoffer und Umhängetasche machte sie sich auf den Rückweg in die Klinik, als sie plötzlich merkte, dass etwas fehlte.
»He, Sie!«, rief sie und fuhr herum, jederzeit bereit, die Verfolgung des Diebes aufzunehmen.
Daniel riss die Arme hoch. In seiner Rechten baumelte der Aktenkoffer.
»Schuldig im Sinne der Anklage.« Das Lachen wollte nicht recht gelingen.
Fee atmete durch.
»Dan, was machst du denn hier?«
»Ich brauchte ein wenig frische Luft«, gestand er, als sie Seite an Seite durch die Schiebetüren traten. Der Geruch in der Lobby war ihm vertraut, als wäre die Klinik sein Zuhause. »Zeit für einen Kaffee im Kiosk?«
»Ich habe schrecklichen Hunger. Ich könnte ein ganzes Paket Nudeln auf einmal essen.«
»Nudeln hat Herr Windisch sicher nicht im Angebot. Aber wenn ich mich nicht irre, ist vorhin ein Fahrer aus der Bäckerei ›Schöne Aussichten‹ gekommen. Wenn wir uns beeilen, bekommen wir noch was von Tatjanas Flammkuchen.«
»Oder von ihrem georgischen Fladenbrot mit Käsefüllung. Das ist fantastisch.« Allein bei dem Gedanken an Tatjanas neueste kulinarische Errungenschaft lief Fee das Wasser im Mund zusammen.
Daniel komplimentierte seine Frau an einen Platz unter Palmen und versprach, sich höchstpersönlich um ihre Wünsche zu kümmern. Felicitas lehnte sich zurück, schloss die Augen und genoss das Rauschen des Wasserfalls, der sich aus dem oberen Stockwerk über eine künstliche Felswand nach unten stürzte. Sie brauchte nicht viel Fantasie, um sich vorzustellen, an einem ganz anderen Ort zu sein.
Genau das war das Anliegen der ehemaligen Klinikchefin Jenny Behnisch gewesen. Einen Platz in der Klinik zu schaffen, der Patienten, Besucher und Personal gleichermaßen eine Auszeit von der mitunter rauen Wirklichkeit bot. Einen Kurzurlaub inmitten exotischer Pflanzen und ebensolchem Flair. Bei Köstlichkeiten, die den Gaumen verwöhnten. Der Plan ging auf, wie Fee wieder einmal feststellen konnte. Das musste sie ihrer Freundin Jenny beim nächsten Telefonat unbedingt sagen. Sie würde sich freuen!
»Du lächelst so verzückt.« Daniels Stimme riss sie aus ihren Träumereien. »Ich hoffe doch sehr, du träumst nicht gerade von einem anderen Mann.«
Er stellte das Tablett vor seiner Frau ab. Ein Duft nach frisch gebackenem Brot und Käse stieg ihr in die Nase.
»Ich musste gerade an Jenny denken«, gestand Fee und trank einen großen Schluck von der Rhabarberschorle. »Was für eine wunderbare Idee, dieses kleine Paradies hier zu schaffen.«
»Wer weiß. Vielleicht kommt sie ja eines Tages einmal vorbei und sieht selbst, was daraus geworden ist.« Daniel trank einen Schluck Wasser. »Weißt du eigentlich, wo sie und Roman zur Zeit stecken?«
»Meines Wissens arbeiten sie gerade im Oman an einem neuen Projekt. Deshalb könnte es mit einem Besuch noch dauern.« Felicitas biss in das Fladenbrot. Brösel regneten auf den Teller. Eine Dampfwolke stieg auf. Die Füllung war warm, der Käse saftig. Sie nahm gleich noch einen Bissen, ehe sie sich wieder auf das Gespräch konzentrierte. »Ein Glück, dass es diese modernen Kommunikationsmittel gibt. Früher wäre es schwieriger gewesen, den Kontakt zu halten.« Sie wollte noch einmal von der Chatschapuri abbeißen, als ihr auffiel, dass ihr Mann nur mit Kaffee und Wasser bei ihr saß. »Warum hast du dir nichts zu essen geholt?« Sie hielt ihm das Fladenbrot hin.
Daniel hob die Hand. Schüttelte den Kopf.
»Danke. Ich habe keinen Hunger.«
Ein Blick aus schmalen Augen traf ihn.
»Lass mich raten? Du denkst über die Lekutat nach.« Das Theater um die Chirurgin war Felicitas nicht entgangen. Doch von den letzten Entwicklungen dieses Tages hatte sie keine Ahnung.
Daniel berichtete seiner Frau.
»Und was hast du jetzt vor?« Sie befeuchtete den Zeigefinger und tupfte die Brösel vom Teller.
Dr. Norden zuckte mit den Schultern. Es kam nicht oft vor, dass er ratlos war.
»Momentan ist sie relativ sicher. Aber wenn sie sich weiter gegen eine Behandlung sperrt, kann ich für nichts garantieren.«
»O Dan, das tut mir wirklich leid.« Aus den Augenwinkeln bemerkte Fee eine schnelle Bewegung. Sie wandte den Kopf.
Mit wehendem Kittel kam der Kollege Lammers am Kiosk vorbei. Er entdeckte seine Chefin. Stutzte. Zwei, drei Atemzüge später stand er am Tisch.
»Gut, dass Sie von der Besprechung zurück sind. Es gibt ein Problem.«
»Ach ja?« Felicitas Norden zog eine Augenbraue hoch.
»Ein Rotzlöffel mit Beckenbruch, der sich weigert, sich von mir operieren zu lassen.«
Es war nicht das erste Mal, dass Fee solche Nachrichten erreichten. Jedes Mal wieder wünschte sie sich aber, dass es zum letzten Mal geschah.
»Können Sie sich erklären, warum er sich nicht von Ihnen behandeln lassen will?«
»Woher soll ich das wissen?«, log er. »Vielleicht passt ihm meine Nase nicht. Aber das hilft ihm auch nicht. Wenigstens seine Mutter ist vernünftig und hat sich durchgesetzt. Sobald ein OP frei ist, erledige ich den Lümmel. Nur, dass Sie Bescheid wissen.« Er nickte dem Ehepaar zu, machte kehrt und verschwand kurz darauf um die Ecke.
Felicitas sah ihrem Stellvertreter nach. Trotz der köstlichen Mahlzeit hatte sich ihre gute Laune in Luft aufgelöst.
»Sieht so aus, als wäre Boykott zur Zeit sehr beliebt an dieser Klinik.« Sie stellte Glas und Teller auf das Tablett.
»Was ich im Fall des Jungen durchaus verstehen kann«, erwiderte Daniel und stand auf.
Es gab viel zu tun. Auch wenn die Sonne den Zenit bereits überschritten hatte, schien der Tag noch lange nicht zu Ende zu sein.
*
»Da sind Sie ja! Ich habe Sie überall gesucht«, keuchte Schwester Rosi, als ihr der stellvertretende Chef der Pädiatrie auf dem Flur entgegenkam. »OP drei ist jetzt frei.« Ihre Wangen glühten. Feine Schweißperlen glänzten auf ihrer Oberlippe.
»Haben Sie schon mal was von einem Pieper gehört?«, schimpfte Lammers.
»Sie haben keinen dabei.«
Seine Hand tastete die Kitteltaschen ab. Er presste die Lippen aufeinander und hastete weiter.
Als Manuela Findeisen die Schritte hörte, sprang sie vom Stuhl auf.
»Gott sei Dank. Ich dachte schon, das wird heute nichts mehr.«
Lammers blieb vor dem Krankenzimmer stehen.
»Warum sind Sie nicht bei Ihrem Sohn?«
Manuela zuckte zusammen, als hätte er sie geohrfeigt.
»Mein Sohn will mich nicht sehen«, gestand sie so leise, dass er sie kaum verstand.
Im Grund interessierte sich Volker Lammers auch gar nicht für die Antwort. Er schickte ihr einen vernichtenden Blick und marschierte an ihr vorbei durch die Tür. Schwester Rosi folgte ihm. Im nächsten Moment hallte ein Schrei über den Gang. Manuela Findeisen lief ins Zimmer. Sah den schmächtigen Körper auf dem Boden liegen. Sie presste die Hand auf den Mund. Zitterte wie Espenlaub. Und wagte doch nicht, näher zu kommen.
»Julian!« Rosi fiel neben dem Jungen auf die Knie.
Der Kinderarzt schob sie unsanft zur Seite.
»Wie konnte das passieren?«
»Keine Ahnung.« Schwester Rosi sah sich um. Ihr Blick fiel auf den Rollstuhl. Sie zählte eins und eins zusammen. »Sieht so aus, als wollte er abhauen.«
»Mit einem gebrochenen Becken? Sie haben wirklich Humor.«
»Aber da … der Rollstuhl.« Die Schwester deutete auf das Hilfsmittel. »Er stand vorhin noch in der Ecke.«
»Hmmmm.« Volker konzentrierte sich auf seinen Patienten.
Manuela Findeisen dagegen konnte nicht länger an sich halten.
»Das ist alles meine Schuld«, schluchzte sie auf. »Warum habe ich auch mit Julian gestritten?«
Dr. Lammers rollte mit den Augen.
Ein bewusstloser Patient war schlimm genug. Eine hysterische Mutter mehr, als er verkraften konnte. Er versuchte, sie zu ignorieren.
»Wann waren Sie zum letzten Mal hier?«, wandte er sich wieder an die Schwester.
»Vor ungefähr einer Stunde.«
»Nicht gut. Ab mit ihm in den OP.« Mit vereinten Kräften hoben sie Julian zurück ins Bett. »Vorsicht! Das Becken«, mahnte Volker Lammers. »Ich will nicht mehr Arbeit haben als unbedingt nötig.«
Manuela Findeisen starrte ihn an wie einen Außerirdischen. Hatte ihr Sohn am Ende doch recht gehabt? War es eine Zumutung, Julian diesem Arzt anzuvertrauen? Doch jetzt war es zu spät für Zweifel. Hilflos musste sie mit ansehen, wie Julian seinem Schicksal entgegenrollte.
*