E-Book 221-230 - Toni Waidacher - E-Book

E-Book 221-230 E-Book

Toni Waidacher

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Beschreibung

Mit dem Bergpfarrer hat der bekannte Heimatromanautor Toni Waidacher einen wahrhaft unverwechselbaren Charakter geschaffen. Die Romanserie läuft seit über 13 Jahren, hat sich in ihren Themen stets weiterentwickelt und ist interessant für Jung und Alt! Toni Waidacher versteht es meisterhaft, die Welt um seinen Bergpfarrer herum lebendig, eben lebenswirklich zu gestalten. Er vermittelt heimatliche Gefühle, Sinn, Orientierung, Bodenständigkeit. Zugleich ist er ein Genie der Vielseitigkeit, wovon seine bereits weit über 400 Romane zeugen. Diese Serie enthält alles, was die Leserinnen und Leser von Heimatromanen interessiert. E-Book 1: Sommertage in St. Johann E-Book 2: Zwei Herzen und ein Traum E-Book 3: Reise in die Vergangenheit E-Book 4: Das Madl aus der Stadt E-Book 5: Und plötzlich kam das Glück E-Book 6: Höre nur auf dein Herz E-Book 7: Fürchte nicht um meine Liebe E-Book 8: Sie hatte einen Traum … E-Book 9: Jedes Glück hat seine Zeit ... E-Book 10: Durch die Liebe befreit

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Seitenzahl: 1202

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Inhalt

Sommertage in St. Johann

Zwei Herzen und ein Traum

Reise in die Vergangenheit

Das Madl aus der Stadt

Und plötzlich kam das Glück

Höre nur auf dein Herz

Fürchte nicht um meine Liebe

Sie hatte einen Traum …

Jedes Glück hat seine Zeit ...

Durch die Liebe befreit

Der Bergpfarrer – Staffel 23 –

E-Book 221-230

Toni Waidacher

Sommertage in St. Johann

Träume sind Schäume?

Roman von Waidacher, Toni

Der Chorgesang verhallte in einem vollen schönen Ton in der Kirche von St. Johann. »Danke, meine Damen und Herren. Für heute können wir Schluss machen.« Der Chorleiter legte den Taktstock nieder und ließ seine Blicke wohlwollend von einem Chormitglied zum anderen wandern. »Das war wirklich gut. Wenn wir noch drei oder vier Wochen so weiterproben, wird die Aufführung der Krönungsmesse von Mozart am Pfingstsonntag ein voller Erfolg.«

Freudiges Gemurmel erhob sich, während die Sänger und Sängerinnen begannen, die Notenblätter einzusammeln.

Selma Waldner schichtete die Bögen für den Alt fein säuberlich aufeinander und reichte sie nach vorne ans Dirigentenpult.

»Ich bin mir ganz sicher, dass wir die Mozart-Messe prima hinkriegen«, sagte sie dann ihrer Freundin Marga Klemm.

»Auch Hochwürden hat neulich gelobt, wie gut wir als Laienchor das hinbekommen.«

»Tatsächlich?«, fragte Marga nach. »Ich meine …«

Da klatschte der Chorleiter in die Hände, um noch einmal die allgemeine Aufmerksamkeit zu gewinnen.

»Was ich beinahe vergessen hätte, Ihnen zu sagen …«, rief er und hielt ein Plakat hoch, um es allen zu zeigen. »Am Pfingstmontag, also einen Tag nach unserer Mozart-Aufführung, findet hier in unserer Kirche ein musikalisches Großereignis statt. Der berühmte Tenor Hanno Blaschke singt geistliche Lieder und Arien aus allen Epochen der Musikgeschichte: von Monteverdi und Bach über Schubert und Brahms bis Penderecki. Das Konzert ist fast schon ausverkauft, aber die Mitglieder unseres Chors erhalten selbstverständlich Freikarten, die bei der nächsten Probe verteilt werden.«

Ein paar Sekunden lang war es still, dann ließ sich vereinzeltes Händeklatschen vernehmen, das bald in aufgeregtem Geschnatter unterging.

»Der Tenor Hanno Blaschke«, wiederholte Selma Waldner beinahe ehrfürchtig.

»Ist das net der Tenor, der letzten Sommer bei den Münchener Opernfestspielen so großartig gelobt wurde, Selma?«, wollte Marga von ihr wissen.

Selma nickte eifrig.

»Freilich«, erklärte sie. »Und auch bei den Salzburger Festspielen tritt Hanno Blaschke regelmäßig auf. Er ist einer der ganz Großen seines Fachs. Ein wirklich wunderbarer Künst­ler. Mein Mann hat ihn sehr verehrt. Er hat sich fast alle CDs von ihm gekauft. Wir haben sie oft miteinander angehört. Und manchmal, wenn ich jetzt so allein in meiner Wohnung sitze, spiele ich sie mir auch heut noch vor und denk dabei an meinen Mann.«

Auf Margas Lippen trat ein beinahe nachsichtiges Lächeln.

»Nun ja, der Albert war ja ganz verrückt nach klassischer Musik«, sagte sie. »Und du bist net viel besser …«

Die beiden Frauen traten durch das Kirchenportal in den lauen Maiabend hinaus.

»Selma, du kommst doch noch auf einen Sprung mit in den ›Löwen‹, oder?«, erkundigte sich Marga, während sie und die Freundin nebeneinander den Kiesweg vor der Kirche entlanggingen. »Es ist noch so schön warm.«

Selma zuckte die Schultern.

»Ja, schon. Aber ich weiß trotzdem net, ob ich mitgehen soll«, erwiderte sie unentschlossen. »Freilich wäre es ganz nett, mit den anderen Chormitgliedern noch auf ein Bier oder ein Glaserl Wein beieinanderzusitzen und sich ein bissel zu unterhalten. Aber eigentlich hab’ ich mir vorgenommen, heute Abend endlich an meine Nichte zu schreiben. Und wenn ich erst um zehn oder halb elf Uhr heimkomme, bin ich, so wie ich mich kenne, wahrscheinlich doch wieder zu müd für den Brief.«

Marga zog erstaunt die Augenbrauen hoch.

»Einen Brief an deine Nichte in Berlin?«, hakte sie nach. »Von der du mir einmal erzählt hast, dass sie so aufopfernd ihren Vater, also deinen Schwager, pflegt? Hat denn das net Zeit bis morgen oder übermorgen?«

Selma schüttelte den Kopf.

»Nein, mittlerweile nimmer«, sagte sie nach einem Moment des Nachdenkens. »Ich hab’ es nämlich sowieso schon viel zu lange aufgeschoben, weil ich mich net aufdrängen wollte. Im Grunde hätte ich das Madl schon gleich hierher nach St. Johann einladen sollen, als sie mir die Trauerkarte geschickt hat.«

»Trauerkarte?« Marga zuckte zusammen. »Was für eine Trauerkarte denn? Dein … dein Schwager wird doch net gestorben sein?«

»Doch«, nickte Selma. »Hoffnung auf Genesung hat es zwar nimmer gegeben, aber dass es auf einmal so schnell gehen würde, hätte dann doch niemand gedacht.«

»Das tut mir leid. Für dich und für deine Nichte«, meinte Marga voller Anteilnahme. »Warum hast du mir denn gar nix davon erzählt?«

Selma zuckte die Schultern.

»Ich hab’ zu meinem Schwager seit dem Unfalltod meines Mannes nimmer sonderlich viel Kontakt gehabt, weißt du«, antwortete sie. »Man sagt zwar immer, die Welt sei klein geworden, aber die Entfernung zwischen Berlin und St. Johann ist trotzdem net gerade ein Katzensprung.«

»Das stimmt«, pflichtete Marga der Freundin bei.

Die beiden Frauen liefen ein paar Minuten stumm nebeneinander her, dann redete Selma weiter.

»Mein Schwager war lange schwer krank«, erzählte sie. »Im Grunde muss der Tod eine Erlösung für ihn gewesen sein. Aber das Madl, meine Nichte … Sie steht jetzt ganz allein in der Welt. Und ich hab’ bis jetzt noch gar nix unternommen, um mich ein bissel um sie zu kümmern. Und deshalb kann ich mir mit dem Brief jetzt wirklich nimmer ewig Zeit lassen.«

Marga machte ein skeptisches Gesicht.

»Ich weiß net, Selma. An deiner Stelle wäre ich mir gar net so sicher, ob das Madl dich so notwendig braucht«, wandte sie ein. »So ein junges Ding hat doch bestimmt eine Menge Freundinnen. Und auf alle Fälle einen Freund. Oder einen Lebensgefährten.«

Selma sah die Freundin eine Weile zweifelnd an.

»Vielleicht, Marga«, schüttelte sie den Kopf. »Aber ich mach mir Sorgen um das Madl. Die Angela … So wie ich sie kenne, hat sie vor lauter Liebe zu ihrem Vater und vor lauter Pflichtbewusstsein jede Einladung die ganzen Jahre über rundweg ausgeschlagen. Solange, bis sie irgendwann keiner mehr gebeten hat, mitzukommen. Und jetzt, wo sie nimmer nein sagen müsste, sitzt sie alleine und einsam daheim und bläst Trübsal.«

Selmas Freundin Marga seufzte. Unwillkürlich verlangsamte sie ihre Schritte, als Selma und sie sich der Kreuzung näherten, an der sich die Wege zu Selmas Wohnung und zum »Löwen« trennten, und blieb schließlich ganz stehen.

»Die Angela ist eben net umsonst zu dir verwandt, Selma«, meinte sie mit wohlmeinendem Spott in der Stimme. »Wenn du mir und den anderen wirklich einen Korb geben und den Abend für dich in die­ner Wohnung vertrauern willst, dann …«

Diesmal war es Selma, die aufseufzte.

»Ach, Marga«, meinte sie. »Ich würd ja gerne mitkommen. Wirklich. Aber ich hab’ so ein schlechtes Gewissen meiner Nichte gegenüber, so ein ungutes Gefühl, und …«

Sie brach ab, als von der anderen Seite unvermittelt Pfarrer Trenker, der Chorleiter und der Mesner auftauchten.

»Guten Abend zusammen«, grüßten die drei Männer fast wie aus einem Munde.

»Auch auf dem Weg zum ›Löwen‹?«, setzte der Bergpfarrer mit einem freundlichen Blick auf Marga und Selma hinzu. »Wir drei wollen nämlich noch mit allen auf die geglückte Chorprobe anstoßen.«

Auf Margas Gesicht trat von einer Sekunde auf die andere ein zufriedenes Grinsen, während Selma sich sichtlich vor Verlegenheit wand.

»Nein, eigentlich net, Herr Pfarrer«, stammelte sie. »Oder besser gesagt, nur meine Freundin, die Marga. Was mich betrifft, wollte ich mich gerade verabschieden und heimgehen. Ich … ich muss nämlich unbedingt noch einen Brief an meine Nichte, die Angela, schreiben. Sie tut mir so leid, weil sie ganz allein ist. Und keinen Menschen hat, der sich um sie kümmert. Sie ist so ein liebes Madl und hat bis jetzt trotzdem fast nur Pech in ihrem Leben gehabt.«

Sebastian Trenker horchte auf.

»Ich mach Ihnen einen Vorschlag, Frau Waldner«, meinte er dann. »Sie begleiten uns jetzt in den Biergarten und genießen ein bissel den schönen, lauen Abend. Man sagt schließlich net umsonst, dass, wer sich der Einsamkeit ergibt, bald allein ist. In einem halben oder dreiviertel Stünderl brechen wir zwei dann gemeinsam wieder auf. Ich, weil ich noch an meiner Predigt arbeiten muss, und Sie, weil Sie Ihren Brief schreiben wollen. Auf dem Wegstück, das wir beim Nachhausegehen gemeinsam zurücklegen, können Sie mir, wenn Sie möchten, vielleicht ein bissel von Ihrer Nichte erzählen. Ist das ein Angebot?«

Selma Waldner schluckte.

»Ja, natürlich. Das … das ist wirklich furchtbar nett von Ihnen, Herr Pfarrer«, brachte sie endlich hervor. »Ich … ich will Ihnen aber net lästig sein, ich …«

Der Bergpfarrer schüttelte den Kopf.

»Sie sind mir net lästig, Frau Waldner«, wehrte er ab, wobei deutlich zu erkennen war, dass er meinte, was er sagte. »Und was Ihre Nichte betrifft, möchte ich, um ehrlich zu sein, im Grunde selber ganz gern wissen, was aus ihr geworden ist. Immerhin kann ich mich noch gut erinnern, wie sie als junges Madl in den Schulferien ein paar Mal bei Ihnen und Ihrem Mann in St. Johann auf Besuch war. Sie war so ein liebes, sanftes Geschöpf. Wenn auch für ihr Alter beinahe ein bissel zu ruhig und ernsthaft.« Er schwieg einen Moment und nickte dann Selma Waldner zu. »Wollen wir jetzt also weiter, damit wir net erst hinkommen, wenn die anderen schon fort sind?«

Selma Waldner nickte und hatte, als sie weitergingen, mit einem Mal das Gefühl, als fiele ihr eine schwere Last von der Seele. Bestimmt würde Pfarrer Trenker ihr, wenn sie ihm von Angela erzählte, einen gu­ten, brauchbaren Rat geben. Nicht nur für ihren Brief, sondern auch was ihre Hilfe für Angela betraf.

*

Als Angela das Reisebüro verließ, hatte sie das Gefühl, in ihrem Kopf drehe sich alles im Kreis.

Die freundliche junge Frau, die sie beraten hatte, hatte ihr mindestens ein Dutzend Reisevorschläge unterbreitet: Städtetouren nach Paris, London, Prag und Budapest, Kreuzfahrten im Mittelmeer, Last-Minute-Angebote für paradiesische Traumstrände …

Dennoch hatte Angela sich für keines der Reiseziele spontan erwärmen können. Und deshalb die endgültige Entscheidung erst einmal vertagt.

Wenn sie es sich recht überlegte, war sie sich gar nicht mehr so sicher, ob sie überhaupt verreisen wollte. Was sollte sie mutterseelenallein in einem fernen Land? Andererseits … Wie in aller Welt sollte sie Abstand gewinnen, neue Kräfte sammeln und wieder ins Leben und in die Normalität zurückfinden, wenn sie nie den Mut fand, einmal alles hinter sich zu lassen?

Blicklos lief Angela an den bunten Schaufenstern vorbei, die ihren Weg säumten. Auch die Passanten, die ihr entgegenkamen, beachtete sie kaum. Nicht einmal die einladenden Straßencafés konnten sie locken.

Selbst Berlin, die Stadt, in der sie den größten Teil ihres Lebens verbracht hatte, war ihr fremd geworden.

Angela war froh, als endlich das graue Mietshaus vor ihr auftauchte, in dem sie zusammen mit ihrem Vater dessen letzte Lebensjahre verbracht hatte. In einer Wohnung im Erdgeschoss, damit es keine Probleme bereitete, an schönen Tagen den Rollstuhl ins Freie zu manövrieren.

Sie stieß die Eingangstür auf, leerte als erstes den mit Reklame verstopften Briefkasten und klemmte sich den ganzen Inhalt unter den Arm. Dann sperrte sie ein wenig umständlich ihre Wohnung auf und ließ sich schließlich in der gemütlich eingerichteten Wohn­küche erschöpft auf einen Stuhl fallen.

Gedankenverloren zog sie ein paar der Hochglanzprospekte, die ihr die Angestellte im Reisebüro regelrecht aufgedrängt hatte, aus ihrer Handtasche.

»Hawaii, Insel der Träume. Machen Sie Ferien im Paradies«, las sie mit halblauter Stimme die Überschrift auf der Vorderseite eines der Flyer. Versonnen betrachtete sie die Fotos, die ihr entgegenlachten. Halb nackte Hula-Hula-Mäd­chen mit Blumenkränzen um den Hals schienen ihr zuzuwinken, tiefblaues Meer und ein weißsandiger, im Hintergrund von Palmen bestandener Strand luden zur Erholung ein.

Angela seufzte. Nein, das war bestimmt nicht das Richtige für sie. Sie griff nach dem Packen Post, den sie auf dem Tisch abgelegt hatte. Hoffentlich war nicht schon wieder eine Arzt- oder eine Krankenhausrechnung darunter! Wenn es mit den Zahlungen so weiterging wie in den letzten Wochen, würde das bisschen Geld, das ihr Vater ihr hinterlassen hatte, im Nu aufgebraucht sein.

Und was sollte dann werden?

Leider Gottes hatte sie immer noch keinen Job gefunden! Obwohl sie sich wirklich redlich bemühte. Und keineswegs nach den Sternen griff.

Angela wurde weh ums Herz bei dem Gedanken, wie oft sie in ihrer Schulzeit davon geträumt hatte, Landschaftsarchitektin zu werden.

Sie hatte ihren Berufswunsch jedoch schon gleich nach dem Abitur an den Nagel gehängt. Genau genommen an dem Tag, an dem ihr Vater die schreckliche Diagnose Multiple Sklerose erhalten hatte. Spontan hatte sie damals beschlossen, in der Zeit, die Papa noch blieb, nur für ihn da zu sein. Und sich, wenn es erforderlich werden würde, mit ganzer Kraft seiner Pflege zu widmen.

Denn, war nicht auch er immer für sie da gewesen? Besonders, nachdem Mutter ihn bereits nach drei kurzen Ehejahren verlassen hatte, um sich einem anderen, jüngeren Mann zuzuwenden? Hatte er nicht, soweit es ihm sein Beruf erlaubt hatte, alles getan, um sie den Verlust der Mutter nicht spüren zu lassen? Um ihr ein Heim zu geben, in dem sie Nestwärme und Geborgenheit genießen durfte?

Mit klammen Fingern begann Angela, in der Post zu blättern. Aufatmend stellte sie fest, dass keine weiteren Rechnungen darunter waren, viel Reklame und nur ein Brief, mit dem sie zunächst recht wenig anfangen konnte.

Die Adresse war in runden Buchstaben geschrieben, deren Schwung Angela irgendwie bekannt vorkam. Wenn sie auch nicht hätte sagen können, woher.

Schließlich drehte sie das Briefkuvert um und suchte den Absender.

Selma Waldner, Ainringer Straße 8, St. Johann im Wachnertal, las sie und hatte den Umschlag im nächsten Moment auch schon aufgerissen.

Tante Selma!

Endlich antwortete sie ihr auf die Trauerkarte, die sie ihr schon gleich nach Vaters Tod hatte zukommen lassen!

Ungeduldig faltete Angela den Brief auseinander.

Liebste Angela, stand unter einer aufgeklebten Ansichtskarte von St. Johann, die fast die ganze obere Hälfte des Briefbogens einnahm. Leider hat es eine Weile gedauert, bis ich mich dazu aufraffen konnte, Deine Nachricht zu beantworten. Aber ich wusste einfach nicht so recht, was ich Dir schreiben sollte. Deine Zeilen sind mir sehr zu Herzen gegangen. Ich bin Dir in Deinem Kummer nahe und fühle mit dir. Und ich bin Dir zutiefst dankbar für alles, was Du für Deinen Vater, für meinen Schwager, getan hast. Am allerliebsten möchte ich Dich für diesen Sommer zu mir nach St. Johann einladen, weiß aber natürlich nicht, ob Dir meine Einladung gelegen kommt. Ob Deine Zeit es Dir erlaubt, mich zu besuchen. Ob Du bereits andere Pläne hast, oder …

Die Buchstaben begannen vor Angelas Augen zu tanzen und zu verschwimmen.

Sie ließ den Brief sinken.

Eine Einladung von Tante Selma! Und obendrein für den ganzen Sommer!

Angela spürte, wie von einer Sekunde auf die andere eine unbändige Freude in ihr aufstieg. Eine Freude, wie sie sie schon seit ewigen Zeiten nicht mehr gespürt hatte.

Tante Selmas Brief kam ihr wie gerufen.

War ein Aufenthalt bei ihr in St. Johann in ihrer momentanen Situation nicht genau das Richtige für sie? Weg von Berlin, aber doch nicht am anderen Ende der Welt? Und vor allem nicht allein?

Als hätte sich tief in ihrer Seele eine Schleuse geöffnet, bahnten sich mit einem Mal Bilder ihren Weg in Angelas Bewusstsein. Bilder von sonnigen Ferientagen, die sie, ein Schulmädchen noch, bei Onkel und Tante hatte verbringen dürfen. Vor ihrem geistigen Auge sah Angela den von Bergen eingerahmten Achsteinsee mit der Liegewiese und der kleinen Schwimminsel in der Mitte, die Zwillingsgipfel der Himmelsspitz und der Wintermaid, die St. Johanner Kirche mit dem freundlichen Geistlichen, der, daran erinnerte sie sich spontan, damals sogar hin und wieder zusammen mit ihrem Onkel eine Bergtour unternommen hatte.

Angela versuchte, sich Tante Selma vorzustellen.

Ob ihre dunklen, lockigen Haare mit noch mehr silbrigen Strähnen durchzogen waren? Und immer noch am liebsten Dirndlkleider trug und um den Hals den silbernen Edelweißanhänger, das Hochzeitsgeschenk ihres Mannes?

Es hätte nicht viel gefehlt, und Angela hätte zum Telefon gegriffen, um Tante Selma ihre spontane Entscheidung, die Einladung nach St. Johann anzunehmen, auf der Stelle mitzuteilen. Doch dann zögerte sie.

Angela beschloss, der Tante ebenfalls einen Brief zu schreiben. Was sie aber trotzdem nicht daran hinderte, im Geiste bereits die Koffer zu packen.

*

Es regnete in Strömen, als Angela Waldner die letzten Kilometer nach St. Johann zurücklegte. Die Scheibenwischer ihres roten Renaults arbeiteten unentwegt und schafften es dennoch kaum, die Windschutzscheibe vom Regenschwall zu befreien. Die Berge waren von grauen, ziellos umhertreibenden Wolkenfetzen verhüllt, und unter den Autoreifen zischte das Wasser, das sich auf dem dunkelgrau glänzenden Asphalt angesammelt hatte.

Überall schienen düstere Schatten zu lauern, die sich mehr und mehr auch auf Angelas Gemüt legten.

War es etwa ein schlechtes Omen, dass St. Johann sie diesmal nicht mit einem strahlenden Sommertag begrüßte, sondern mit einem Wetter, das dem November alle Ehre gemacht hätte? Fast kam es Angela so vor, als wollten ihr die dunklen Wolken über St. Johann in aller Deutlichkeit vor Augen führen, dass man die glücklich unbeschwerten Tage der Kindheit nicht zurückholen konnte.

Trist war ihre Welt geworden, dachte sie entmutigt, öde und ohne Liebe. Oder war sie nur einfach von der langen Fahrt müde und erschöpft und …

Der schrille Ton einer Autohupe riss Angela aus ihren Gedanken. Entsetzt sah sie das rote Licht der Ampel dicht vor ihr, doch zum Bremsen war es bereits zu spät.

Ehe Angela es sich versah, spürte sie einen dumpfen Aufprall, der sie unsanft in den Sicherheitsgurt und wieder zurück in den Fahrersitz warf. Sie hörte das Knirschen von Blech, dann war alles still.

Angela schloss die Augen und hätte sie am liebsten nie wieder geöffnet. Seit sie den Führerschein erworben hatte, war sie untadelig gefahren. Nicht einmal eine Verwarnung wegen Falschparkens oder einer Geschwindigkeitsüberschreitung hatte sie sich eingehandelt. Und nun hatte sie einen Unfall verursacht.

Wie hatte sie nur so unaufmerksam sein können!

Unwillkürlich duckte Angela sich noch ein wenig tiefer in sich zusammen, als wütend gegen die Scheibe der Fahrertür gehämmert wurde.

Erst als sie fürchtete, das Glas müsse unter den trommelnden Fäus­ten zu Bruch gehen, zwang sie sich aufzuschauen. Sie blickte in das zornrote Gesicht eines Mannes von vielleicht dreißig Jahren, der sich, kaum hatte er aufgehört, das Au­tofenster zu malträtieren, immer wieder mit dem Zeigefinger gegen die Stirn tippte, um Angela zu zeigen, was er von ihr hielt.

Sie musste all ihren Mut zusammennehmen, um das Fenster herunterzufahren, durch das augenblicklich ein Schwall kalter und feuchter Luft ins Wageninnere drang.

Ein Schauer lief ihr über den Rücken, zumal der Mann jetzt erst so richtig in Fahrt zu kommen

schien.

»Haben Sie Ihren Führerschein bei den Hottentotten gemacht, falls Sie überhaupt einen besitzen?«, brüllte er so laut durch das offene Fenster, dass auf dem Trottoir unwillkürlich ein paar Passanten stehenblieben und neugierig zu ihnen hinüberschauten.

Angela wäre am liebsten an Ort und Stelle in den Boden versunken vor Scham.

»Entschuldigung. Ich … ich hab’ nicht aufgepasst. Es … es tut mir furchtbar leid«, würgte sie mühsam hervor. Und fügte nach ein paar aufgeregten Atemzügen hinzu: »Es war eindeutig mein Fehler. Da gibt es nichts zu beschönigen. Aber ich bin selbstverständlich haftpflichtversichert. Und meine Versicherung muss den Schaden übernehmen. Wir … Sie … Wir brauchen also eigentlich gar keine Polizei. Ich gebe Ihnen meine Karte und leite alles

in die Wege, und Sie können sich dann …«

»Ihre Versichertenkarte ist mir im Moment schnurzpiepegal«, fuhr ihr der Geschädigte harsch in die Parade.

»Und ohne Polizei wollen Sie das Ganze abwickeln? Reizende Idee. Das könnte Ihnen so passen. Aber da wird nix draus. Ich bin doch net bescheuert und lasse mich auf Ihre leeren Versprechungen ein. Die Polizei habe ich bereits gerufen. Damit alles seinen geordneten Gang geht, wie es sich gehört.«

Angela erschrak bis ins Mark.

Dass jetzt auch noch die Polizei anrückte und sie Rede und Antwort stehen musste wie eine Verbrecherin, hatte ihr gerade noch gefehlt! Es würde eine Anzeige geben, vielleicht sogar eine Gerichtsverhandlung. Sie würde mit einer Geldstrafe belegt werden. Oder würde man ihr womöglich gar den Führerschein entziehen?

Auf alle Fälle stand ihr eine entsetzliche Blamage bevor.

»Nein, bitte, keine Polizei, bitte«, verlegte Angela sich aufs Betteln. »Ich werde mir ganz bestimmt alle Mühe geben, die Sache zu Ihrer Zufriedenheit zu bereinigen. Das verspreche ich Ihnen hoch und heilig.« Sie sah den Mann flehentlich an, wobei ihr Blick mühelos einen Stein hätte erweichen können. »Können Sie denn der Polizei nicht wieder abtelefonieren?«, presste sie, die Tränen mühsam zurückhaltend, hervor. »Und sagen, dass wir alles gütlich regeln? Das müsste doch möglich sein, oder? Bitte, bitte, tun Sie mir den Gefallen!«

Auf die Lippen des Mannes trat ein spöttisches Lächeln, wodurch seine Miene nur noch abweisender wurde. Um sein Herz schien ein Panzer aus Stahl und Eisen zu liegen.

»Den Teufel werde ich tun«, gab er zurück. »Wieso sollte ich Ihnen auch nur einen Millimeter entgegenkommen? Leute wie Sie sollte man ohnehin aus dem Verkehr ziehen und sicherstellen. Oder sind Sie etwa alkoholisiert und fürchten, dass die Polizei das herausfindet?«

Angela sagte nichts mehr.

Sich mit diesem Mann auf weitere Diskussionen einzulassen, machte keinen Sinn.

Wortlos stieg sie aus, um im strömenden Regen den Schaden, den sie angerichtet hatte, in Augenschein zu nehmen. Dabei versuchte sie, nicht auf die Schimpfworte zu hören, die der Mann beinahe ununterbrochen ausstieß.

Sie besah sich alles sehr genau und stellte zu ihrer Erleichterung fest, dass weniger passiert war, als sie befürchtet hatte. Zumindest am Fahrzeug ihres Unfallgegners. Das silbergraue Cabriolet des cholerischen Mannes war am linken Kotflügel nur ganz leicht eingedrückt. Ihr eigener Wagen sah dagegen viel schlimmer aus, was ihr aber im Moment nur einen kurzen, bedauernden Blick wert war.

Zumal das Polizeiauto, das mit Martinshorn und Blaulicht angerast kam und schließlich mit quietschenden Bremsen an der Unfallstelle hielt, alle Blicke auf sich zog.

»Gut, dass Sie endlich kommen, Herr Wachtmeister«, nahm der cholerische Mann den jungen Polizisten in Beschlag, noch ehe der richtig ausgestiegen war. »Sehen Sie sich bloß dieses Schlamassel an. Und sagen Sie mir, wie ein vernünftiger Mensch einfach bei Rot über eine Kreuzung fahren kann. Frau am Steuer, kann ich da nur sagen. So dumm …«

»Immer mit der Ruhe«, unterbrach der Polizist, als er seinen Wagen verlassen hatte, den Redeschwall des Cabriolet-Fahrers.

Mit geübten Augen verschaffte er sich einen ersten Überblick über die Lage. Dann schaute er prüfend zwischen dem Mann, dessen Kopf inzwischen das dunkle Rot einer Paprikaschote angenommen hatte, und Angela hin und her.

»Bei Rot fährt sie los«, begann der cholerische Cabriolet-Fahrer von Neuem. »Und bei Grün bleibt sie wahrscheinlich stehen. Mit Sicherheit hat sie schon drei Dutzend Autos ruiniert. Wenn’s reicht. Und obendrein …«

Ein sehr energischer Wink des Polizisten brachte den wutschnaubenden Mann verblüffend rasch wieder zum Schweigen.

Der Ordnungshüter wandte sich nun Angela zu, die mit gesenktem Kopf und hängenden Schultern im Regen stand und wahrhaft wie ein begossener Pudel aussah.

»Und was haben Sie zum Unfallhergang zu sagen?«, erkundigte sich der junge Polizeibeamte überraschend sanft und freundlich.

Schüchtern hob Angela die Lider.

Ihr Blick traf sich mit dem des Polizisten, und sie stellte zu ihrer Verblüffung fest, dass in seinen Augen keine Spur von Verachtung oder Tadel lag. Im Gegenteil. Beinahe glaubte sie, so etwas wie Wärme und Mitgefühl zu entdecken, rief sich aber sofort auf den Boden der Tatsachen zurück. Sie war die Schuldige, und der Polizist hatte wahrlich keinen Grund, ihr dafür auch noch Sympathie entgegenzubringen. Das bildete sie sich bloß ein, weil sie es sich wünschte.

»Ich hab’ ganz einfach Mist gebaut«, erklärte sie zerknirscht. »Ich war tief in Gedanken versunken und hab’ das rote Signal der Ampel übersehen. Mehr gibt es dazu wohl nicht zu sagen.« Wieder richtete sie ihren Blick auf den Asphalt zu ihren Füßen, fügte aber, als der Polizist immer noch nichts dazu sagte, hinzu: »Muss ich jetzt meinen Führerschein abgeben? Und bin ich, wenn es zu einer Gerichtsverhandlung kommt, hinterher vorbestraft?«

Der junge Polizist unterdrückte nur mit Mühe ein Lächeln.

»So schnell schießen die Preußen net. Und erst recht net die Bayern «, erklärte er und berührte Angela sachte am Arm, halb um sie zu trös­ten und halb um sie dazu zu bringen, sich ihm wieder zuzuwenden. »Erstens ist noch lang net erwiesen, ob Sie tatsächlich die Alleinschuld trifft. Und zweitens muss ich jetzt sowieso erst einmal die Personalien der Unfallbeteiligten aufnehmen.«

Angela sagte bereitwillig Namen und Adresse, sie erläuterte ihm auch, dass sie vorhatte, den ganzen Sommer bei ihrer Tante Selma Waldner in St. Johann zu verbringen.

Unwillkürlich leuchtete es bei ihren Worten in den Augen des jungen Polizeibeamten auf.

»Ich heiße Wolfgang Falk«, stellte er sich vor. »Und bleibe ebenfalls noch mindestens den ganzen Sommer hier in St. Johann. Weil ich unter Max Trenker, dem Bruder unseres Pfarrers, meine Anwärterzeit ableiste.«

Er nickte Angela zu und freute sich wie ein Kind am Weihnachtsabend, als endlich wenigstens für einen Moment der Anflug eines Lächelns auf ihre Züge trat. Es wirkte wie ein Sonnenstrahl, der ihr ebenmäßiges Gesicht in seinen Augen noch schöner erscheinen ließ.

Schließlich wandte Wolfgang Falk sich pflichtschuldigst wieder dem Cabriolet-Fahrer zu, lief aber plötzlich, eine Entschuldigung murmelnd, zum Polizeiwagen. Er kam mit einem Regenschirm zurück, den er zuvorkommend aufspannte und Angela, zum sichtlichen Ärger ihres Unfallgegners, anbot.

Obwohl Angela sich sagte, dass der Schirm nun eigentlich keinen Sinn mehr machte, weil man nasser als nass sowieso nicht werden konnte, griff sie dankbar danach.

Sie war sich sicher, noch nie einem Mann wie diesem Wolfgang Falk begegnet zu sein.

Er sah mit seinen dunklen Augen, seinen gewellten dunkelbraunen Haaren und seiner schlanken, sportlich durchtrainierten Gestalt nicht nur ausge­sprochen gut aus, sondern war obendrein liebenswürdig, zuvorkommend und höflich. Einfach rundweg nett. Eine bessere Verkörperung für den Slogan »Die Polizei, dein Freund und Helfer« konnte es gar nicht geben. Er war …

Der immer lauter werdende Wortwechsel zwischen Wolfgang Falk und dem Cabriolet-Fahrer riss Angela abrupt aus ihren Gedanken.

Überrascht stellte sie fest, dass der junge Polizeian­wärter offensichtlich versuchte, den Cabriolet-Fahrer zur Rücknahme seiner Anzeige zu bewegen. Mit strenger Miene erklärte er ihm, dass ihn womöglich eine Teilschuld träfe, wenn sich nach Untersuchung seiner Bremsspuren eine Tempoüberschreitung herausstellen sollte, und verunsicherte ihn damit erheblich.

Angela schluckte.

Warum tat der junge Polizist das? Warum stand er ganz offensichtlich auf ihrer Seite, obwohl sie doch die Schuldige war?

»Ich würde Ihnen auf alle Fälle raten, das Ganze noch einmal gründlich zu überdenken, mein Herr«, vernahm sie in diesem Moment die Stim­me Wolf­­gang Falks.

Der cholerische Mann, der vor wenigen Minuten sogar noch die Polizei beschimpft hatte, wurde zusehends kleinlauter.

Wolfgang Falk registrierte es mit Genugtuung.

»Der Beleidigung eines Polizeibeamten haben Sie sich inzwischen auch schuldig gemacht«, legte er nach, als er das allmähliche Zurückweichen des Cabriolet-Fahrers bemerkte. »Ich bin zwar kein Erbsenzähler und könnte mir durchaus vorstellen, großzügig darüber hinwegzusehen, aber wenn Sie natürlich gericht­lich gegen Frau Waldner vorgehen wollen, muss ich, allein schon der Ordnung halber, auf einer Gegenanzeige bestehen. Das ist, wie Sie mit Sicherheit begreifen werden, eine amtliche Notwendigkeit. Sollten Sie da­ge­gen mit einer außergerichtlichen Regelung zufrieden sein …«

Angela Waldner wäre dem jungen Polizisten vor Dankbarkeit am liebs­ten um den Hals gefallen, als sie sah, wie der Cabriolet-Fahrer mit gerunzelter Stirn wieder in seinen Wagen stieg und versprach, sich Wolfgang Falks Worte durch den Kopf gehen zu lassen.

»Ich weiß gar net, wie ich mich bei Ihnen revanchieren kann«, sagte Angela schließlich, als nur noch Wolfgang Falk und sie an der Kreuzung standen, die Wolfgang provisorisch mit Warndreiecken abgesichert hatte.

»Das wird sich, wenn Sie ohnehin noch längere Zeit in St. Johann sind, schon finden«, meinte der junge Polizist augenzwinkernd. »Aber erst einmal bringe ich jetzt Ihr Auto in die Werkstatt. Und Sie zu Ihrer Tante. Sie sind ja, obwohl ich Ihnen den Schirm gegeben habe, tropfnass. Wenn Sie net bald ins Warme und Trockene kommen, werden Sie sich mit Sicherheit eine Erkältung holen, die sich gewaschen hat.«

Angela lächelte unsicher und strich sich ihre blonden Haare, die ihr in feuchten, strähnigen Kringeln ins Gesicht fielen, zurück.

»Ich … ich würde Ihr Angebot wirklich gern annehmen, aber …«, wandte sie wenig überzeugend ein und wurde auch prompt von Wolfgang unterbrochen.

»Sie müssen es ganz einfach annehmen, Angela«, erwiderte er mit Bestimmtheit. »Los, steigen Sie ein. Ich fahre Sie zu Ihrer Tante.«

Er fasste die junge Frau, nachdem er ihren Wagen an den Straßenrand manövriert und dort abgestellt hatte, an der Hand wie ein Kind und zog sie mit sanftem Drängen zum Polizeiwagen.

Angela ließ es einfach geschehen. Sie fühlte sich, wenn Wolfgang sie so führte und sich um sie kümmerte, auf eine Art und Weise geborgen und wohl, wie sie es nie für möglich gehalten hätte. Fast als wäre sie wieder ein kleines Mädchen, aber doch auch wieder ganz anders.

In diesem Moment wäre Angela, ohne auch nur einen Moment zu zögern, bereit gewesen, mit Wolfgang Falk Hand in Hand bis ans Ende der Welt zu gehen.

*

»Und? Gefällt es dir in St. Johann noch immer so gut wie früher, als du noch ein Schulmadl gewesen bist?«, erkundigte sich Selma Waldner.

Angela nickte.

»Ja, Tante. Es ist wirklich wunderschön hier. Viel schöner als in Berlin. An meinem Ankunftstag, als das Wetter so schlecht war und ich dann zu allem Überfluss auch noch den Unfall gebaut hab’, war ich zwar erst einmal überzeugt, dass mein Aufenthalt bei dir diesmal unter einem schlechten Stern steht, aber inzwischen …«

»Scheint die Sonne wieder, und alles ist gut«, ergänzte Selma mit einem Blick aus dem Fenster.

Sie schob Angela, die ihr

am Frühstückstisch gegenübersaß, Milch­­kännchen und Zuckerdose hin, damit sie sich bedienen konnte. »Magst noch eine Semmel?«, fragte sie dann mit einem Blick auf Angelas leer gegessenen Teller und reichte ihrer Nichte den Korb mit den frisch gebackenen Brötchen aus der Bäckerei Ter­zing.

Angela schüttelte den Kopf.

»Nein, danke«, sagte sie. »Das ist lieb von dir, Tante Selma, aber ich bin wirklich mehr als satt. Das

Frühstück war hervorragend. Und wenn man net allein essen muss, schmeckt es halt einfach viel besser.«

Mit einem zufriedenen Lächeln legte Angela die Serviette mit Selma Waldners Monogramm beiseite und ließ ihre Blicke in dem sonnendurchfluteten Wohnzimmer ihrer Tante hin und her wandern.

Hier in Selmas Wohnung schien die Zeit stehengeblieben zu sein.

Geschirr, Tischwäsche, Mobi­liar … alles sah noch aus wie vor zehn Jahren. Selbst in dem kleinen Gästezimmer, das die Tante ihr genau wie früher zum Schlafen angewiesen hatte, hatte sich nichts verändert. Dieselbe rustikale Gemütlichkeit, dieselben Tapeten an den Wänden, die gleichen Vorhänge …

»Aber eine Tasse Kaffee trinkst du doch noch?«, bat Tante Selma, während Angelas Blicke sich ihr wieder zuwandten. »Dazu muss man schließlich keinen Hunger haben.«

Angela nickte und hielt Selma ihre Tasse hin.

Die Tante goss sie randvoll, dann meinte sie: »Wollen wir net noch ein bissel Musik hören, bis wir fertig gefrühstückt haben? Das mach ich sonst auch manchmal so. Besonders an Feiertagen. Wenn du nix dagegen hast …«

Angela schüttelte den Kopf.

»Was sollte ausgerechnet ich dagegen haben?«, erwiderte sie. »Mein Papa hat, selbst als es ihm schon sehr schlecht ging, immer noch gerne Musik gehört. Und so lange er noch einigermaßen bei Kräften war, ist er leidenschaftlich gerne ins Konzert und in die Oper gegangen. Besonders der Tenor Hanno Blaschke hatte es ihm angetan. Jedes Mal, wenn der berühmte Sänger nach Berlin gekommen ist, hab’ ich mich um Karten für seine Vorstellungen bemüht. Sogar im Rollstuhl hab’ ich Papa noch zu einem von Hanno Blaschkes Liederabenden in der Philharmonie gefahren.«

Selma Waldner lächelte ein wenig wehmütig, während sie eine CD in die Stereoanlage einlegte.

»Die Verehrung für Hanno Blaschke scheint eine Gemeinsamkeit zwischen deinem Vater und meinem Mann gewesen zu sein«, bemerkte sie. »Was auch net weiter verwunderlich ist. Schließlich waren sie ja Brüder.«

Angela erwiderte nichts.

Ein paar Minuten lang hingen die beiden Frauen jede ihren eigenen Gedanken nach, dann begann sich das Wohnzimmer von Selma Waldners Wohnung mit den üppigen Klängen eines romantischen Orchesters zu füllen, in die hinein Hanno Blaschkes Stimme mit der Arie »Wie sich die Bilder gleichen« aus der Oper »Tosca« einsetzte.

Selma und Angela lauschten wie gebannt.

»Hab’ ich dir eigentlich schon erzählt, dass Hanno Blaschke hierher nach St. Johann kommt? Und am Pfingstmontag in unserer Kirche ein geistliches Konzert gibt?«, fragte Selma unvermittelt, als das Gesangsstück zu Ende war.

Angela zog verwundert die Augenbrauen hoch.

»Hanno Blaschke? Hierher ins Wachnertal?«, fragte sie ungläubig nach.

Selma nickte gewichtig.

»Und, stell dir vor, jedes Chormitglied kriegt eine Freikarte. Ist das net toll?«, erwiderte sie.

»Ja, das ist es in der Tat«, entgegnete Angela, stutzte einen Moment und meinte dann: »Vielleicht könnten wir das Konzert zusam­men besuchen, Tante Selma. Ich besorge mir ganz einfach auch eine Karte und …«

Selma winkte ab.

»Das wird leider net gehen. Soviel ich weiß, gibt es nämlich kei­ne weiteren Karten mehr. Das Konzert ist voll ausverkauft«, erklärte sie bedauernd. »Wenn du Hanno Blaschke allerdings gerne hören willst, Angela, stelle ich dir selbstverständlich meine Karte zur Verfügung. Schließlich bist du es ja, die sich erholen soll und Entspannung und Zerstreuung braucht.«

Angela schüttelte den Kopf.

»Das kann ich nicht annehmen, Tante Selma«, lehnte sie energisch ab.

»Und dein Verzicht ist auch gar nicht notwendig. Was glaubst du, Tante, wie oft ich für den Papa noch Karten aufgetrieben hab’, wenn schon längst alles ausverkauft war. Darin hab’ ich Übung. So etwas ist für mich kein Problem.«

Selma tätschelte die Hand ihrer Nichte.

»Umso besser, Madl«, sagte sie erfreut und fügte mit dem nächsten Atemzug beinahe bittend hinzu: »Aber zur Elf-Uhr-Messe am Pfingstsonntag, in der wir mit unserem Chor die Krönungsmesse von Mozart aufführen, kommst du doch auch, oder? Ich würd mich wirklich sehr freuen. Mit Hanno Blaschke können wir es zwar net aufnehmen, aber schlecht sind wir deshalb noch lange net.«

»Dass ihr schlecht seid, hätte ich auch nie im Leben angenommen, Tante«, gab Angela zurück. »Und dass ich an Pfingsten den Hauptgottesdienst besuche, ist doch eine Selbstverständlichkeit. Ich hätte im Grunde sogar Lust, selber in eurem Chor mitzusingen. Nur bin ich dazu wahrscheinlich zu sehr im Probenrückstand. Wenn ihr allerdings über den Sommer ein neues Projekt in Angriff nehmt, bin ich auf alle Fälle dabei.«

Selma Waldner bedachte ihre Nichte mit einem wohlwollenden Blick.

»Das ist lieb von dir, Madl«, sagte sie. »Nur kann ich mir net vorstellen, dass nach der Urlaubszeit schon gleich wieder ein großer Auftritt ansteht. Ganz abgesehen davon, dass es für dich be­stimmt net das Wahre ist, wenn du immer nur mit mir und meinesgleichen zusammen bist. Du bist noch so jung. Geh am Samstag zum Tanzabend in den ›Löwen‹ und amüsier dich ein bissel mit Leuten in deinem Alter. Oder mach mit ein paar Burschen und Madln vom Alpenverein eine Bergtour, zum Beispiel auf die Kan­dereralm. Dort droben ist übrigens immer noch der Thurecker-Franz Hüttenwirt. Er hat bestimmt eine mordsmäßige Freude, dich wiederzusehen. Und überhaupt, der Achsteinsee ist auch noch da. Wenn es recht heiß ist, kann man dort oben nach wie vor herrlich baden. Einen Badeanzug hast du doch dabei, oder?«

»Freilich«, versicherte Angela. »Ich hab’ schließlich net vergessen, wie viel man in St. Johann unternehmen kann.« Sie lächelte ihre Tante an. »Ein Aufstieg zur Kandereralm ist für diese Woche schon beschlossene Sache. Herr Falk hat mich eingeladen. Das ist der nette Polizist, mit dem ich gleich bei meiner Ankunft Bekanntschaft gemacht hab’, weißt du.«

Selma schwieg, wusste aber nur zu gut, wovon ihre Nichte redete. Wenn sie sich auch nicht sicher war, was sie von der Sache halten sollte.

Dass Angela gleich bei ihrer Ankunft in St. Johann der Liebe ihres Lebens begegnet sein sollte, er­schien ihr dann doch ein wenig unwahrscheinlich.

Obwohl man natürlich nie wissen konnte …

Aber selbst wenn aus der Bekanntschaft mit diesem jungen Polizisten nichts anderes werden würde als eine nette Freundschaft, war es, so fand Selma, auf alle Fälle zu begrüßen, dass Angela sich durch die Begegnung mit ihm wieder dem Leben öffnete und vielleicht sogar wieder Anschluss an Menschen ihrer Altersgruppe fand.

Auf Selmas Lippen trat ein nachsichtiges Lächeln.

»Ich freu mich für dich über den Ausflug zur Kandereralm«, sagte Selma, wobei sie Angela mit beinahe sehnsüchtig in die Ferne blickenden Augen zunickte. »Es ist ein schönes Fleckerl Erde da droben, ein wunderschönes. Ich bin ein paar Mal mit meinem verstorbenen Mann dort gewesen und war jedes Mal ganz begeistert. Wenn meine Knie im letzten Jahr net gar so viel schlechter geworden wären, würde ich mich liebend gern noch einmal auf den Weg hinauf über die Hohe Riest machen. Bloß wird das, fürchte ich, nix mehr. Es sei denn, unser Bürgermeister Markus Bruck­­ner baut noch zu meinen Lebzeiten eine Seilbahn hinauf.«

Selma seufzte.

Doch schon im nächsten Moment siegte ihre gute Laune wieder über ihre kurzfristige Anwandlung von Wehmut.

»Was ist jetzt eigentlich aus der Geschichte mit deinem Unfall gleich am Ankunftstag geworden, Angela?«, sprangen ihre Gedanken plötzlich in eine andere Richtung. »Hat dieser jähzornige Mann seine Anzeige inzwischen zurückgezogen? Oder will er sie weiter aufrechterhalten?«

Angela verdrehte die Augen und stieß dabei geräuschvoll die Luft aus.

»Was den cholerischen Cabriolet-Fahrer betrifft, hab’ ich, so wie es aussieht, mehr Glück als Verstand gehabt«, sagte sie, wobei ihrer Stimme die Erleichterung deutlich anzuhören war. »Der Wolfgang … also der Herr Falk hat allerdings schon gehörig nachgeholfen und den Mann tüchtig eingeschüchtert. Was vielleicht net ganz recht ist, so einem Hitzkopf aber auch net viel schaden kann. Möglicherweise ist der Mann auch wirklich ein bissel zu schnell gefahren, und hat schließlich Angst gekriegt, bei einer gerichtlichen Untersuchung und einem Prozess könnte auch sein Fehler aufgedeckt werden. Ich für meinen Teil bin jedenfalls froh, dass alles noch einmal so glimpflich abgegangen ist. Und habe mir hoch und heilig geschworen, in Zukunft am Steuer immer konzentriert zu sein.«

»Das ist ein löblicher Vorsatz«, meinte Selma Waldner schmunzelnd. »Aber jetzt etwas anderes: Hast du eigentlich für heute schon etwas vor?«

Angela schüttelte den Kopf.

»Net, dass ich wüsste«, erwiderte sie.

»Das trifft sich gut«, schlug Selma vor. »Dann machen wir am bes­ten einen kleinen Einkaufsbummel durch St. Johann. Wir schau­en uns nach einer flotten Bergausrüstung für dich um. Damit du auf der Kandereralm eine gute Figur machst. Und ein richtig fesches Dirndlkleid besorgen wir auch für dich. Wer kann wissen, ob du net doch in absehbarer Zeit beim samstäglichen Tanzvergnügen im ›Löwen‹ das Tanzbein schwingst? Wenn der junge Polizist dich einlädt, wirst du doch net nein sagen, hoffe ich.«

Angela machte ein unglückliches Gesicht.

»Ach, Tante Selma«, blockte sie die Pläne der Tante ab. »Was du da sagst, ist zwar lieb gemeint, aber im Grunde geht das doch gar net. Der Papa ist schließlich noch net lang tot. Da kann ich net einfach zum Tanzen gehen. Und so tun, als würde mir sein Tod gar nix ausmachen. Das würde er mir, wenn er es sehen könnte, bestimmt übelnehmen.«

Selma Waldner stutzte einen Moment, dann runzelte sie die Stirn.

So sehr es ihr gefiel, dass Angela ganz unbewusst wieder den Wachnertaler Dialekt benutzt hatte wie in ihrer Kindheit, so wenig konnte sie sich für den Inhalt dessen begeis­tern, was die Nichte gesagt hatte.

»Nein, Angela«, widersprach sie deshalb mit Entschiedenheit. »Dein Vater wäre, wenn er dich aus dem Jenseits sehen könnte, höchstens traurig darüber, dass du dich in ein Schneckenhaus verkriechst. Und die schwarzen Sachen, die du trägst, würden ihm sowieso net gefallen. Er würde dich in fröhlichen, leuchtenden Farben sehen wollen, glaub mir. Und er würde sich für dich von ganzem Herzen einen Mann wünschen, der dich an seiner Stelle beschützt und durchs Leben geleitet.«

Angela schluckte, wurde mit einem Mal puterrot im Gesicht und senkte ihren Blick.

Warum nur tauchte bei den Worten der Tante plötzlich Wolfgang Falks Bild vor ihrem geistigen Auge auf? Sie kannte den jungen Polizeibeamten doch kaum. Und dass er ihr aus der Patsche geholfen hatte, verlangte zwar Dankbarkeit, war aber noch lange kein Grund …

Selma Waldner musterte ihre Nichte von der Seite.

Wie hübsch sie war mit ihren über schulterlangen blonden Lo­cken, ihren blauen Augen und ihrem fein gezeichneten Mund!

Selma fand, dass das Dirndlkleid, das sie vor ein paar Tagen im Schaufenster eines der St. Johanner Trachtengeschäfte gesehen hatte, Angela wirklich ausgezeichnet stehen musste. Wenn sie sich ihre Nichte darin mit dem jungen Polizeibeamten auf dem Tanzboden vorstellte …

Unwillkürlich dachte Selma an die Zeit zurück, in der Angela noch ein Schulmädchen und auf Ferien bei ihr und ihrem Mann in St. Johann gewesen war.

Schon damals hatte sich abgezeichnet, dass aus ihr einmal eine Schönheit werden würde. Abgesehen davon, dass Angela in ihren und Alberts Augen sowieso immer etwas ganz Besonderes gewesen war.

Wie oft hatten sie und ihr Mann, wenn Angela schon geschlafen hatte, bei einem Gläschen Wein darüber nachgedacht, was einmal aus dem Madl werden würde, und sich dabei an abenteuerlichen Ideen regelrecht überboten.

Filmstar hatte Albert prophezeit. Oder vielleicht Tänzerin. Oder Sängerin. Irgendetwas Künstlerisches auf jeden Fall.

Und sie selbst?

Selma musste schmunzeln.

Sie, die an Alberts Seite ihr Leben lang Hausfrau gewesen war, hatte sich immer darin gefallen, in Gedanken schon einmal einen geeigneten Mann für Angela auszusuchen.

Gut aussehend musste er sein, so viel stand schon einmal von vorneherein fest. Aber Schönheit allein genügte ihren Ansprüchen für Angela natürlich nicht. Auch reich sollte der Auserwählte nach Möglichkeit sein. Schließlich würde es später einmal seine vornehmste Aufgabe werden, Angela jeden Wunsch von den Augen abzulesen. Und selbstverständlich feinsinnig, liebevoll und gebildet. Damit er dem Madl ein rücksichtsvoller und zartfühlender Ehemann wäre. Mit einigem Glück, so hatte Selma sich ausgemalt, würde Angela sich vielleicht sogar einen Grafen oder eine Berühmtheit angeln. Und dann würde sie irgendwann über ihre Nichte in einem der Hochglanzmagazine lesen, die sie sich abends vor dem Einschlafen oft noch zu Gemüte führte. Und den Artikel anderntags in ganz St. Johann herumzeigen.

Wieder wanderten Selmas Blicke verstohlen zu Angela.

Von all den Träumen, die sie für ihre Nichte gehegt hatte, war leider bis jetzt nichts, aber auch gar nichts wahr geworden!

Und dabei hatte sich das Madl doch wirklich sauber heraus­gewachsen!

Dieser Polizeibeamte allerdings, den Angela durch den Unfall an ihrem Ankunftstag kennengelernt hatte …

Ohne sich dessen bewusst zu werden, zuckte Selma die Schultern.

Mit Wolfgang Falk würde Angela ein Leben beschert werden, wie sie selbst es geführt hatte.

Sie war mit Albert sehr glücklich gewesen, aber das Madl … Warum sollte Angela nicht das ganz große Los ziehen? Schließlich konnte man auch mit etwas mehr Geld und Ruhm, als ihr selbst zuteil geworden war, glücklich sein. Das eine muss­te ja das andere nicht ausschließen. Ganz im Gegenteil. Wenn Angela zum Beispiel …

»Tante Selma, woran denkst du denn die ganze Zeit?«, riss Angelas Stimme die Tante in diesem Moment aus ihren Gedankenspielen.

Unwillkürlich fuhr Selma zusammen, als fühlte sie sich auf Abwegen ertappt.

»Ich? Eigentlich … eigentlich nix. Ich … ich hab’ mir gar nix gedacht. Das ist zwar net sonderlich intelligent, aber …«, begann sie zu stammeln und hoffte, sie würde nicht auch noch rot werden.

Doch Angela lachte. Und Selma lachte erleichtert mit, wenn es auch ein wenig gekünstelt klang.

»Ich für meinen Teil hab’ mir schon etwas gedacht«, redete Angela nach einer Weile weiter. Sie blinzelte Selma zu. »Und zwar, dass du vielleicht gar net so Unrecht haben könntest, Tante. Ich meine, mit den schwarzen Sachen.« Sie hüstelte leicht verlegen. »Es ist ja net allein wegen der Farbe, weißt du. Aber besonders praktisch für eine Bergtour ist mein Outfit gerade net. Das sehe ich durchaus ein. Ich will dem Wolfgang … also dem Herrn Falk ja schließlich kein Klotz am Bein sein.«

Selma Waldner fühlte wieder festen Boden unter den Füßen. Es hätte nicht viel gefehlt, und sie hätte sich zufrieden die Hände gerieben.

Angela schien es nicht zu bemerken.

»Und der Einfall mit dem Dirn­dl­kleid war eigentlich auch gar net so schlecht, wie ich am Anfang gedacht hab’«, gab sie zu. »Mit dem Gedanken an einen Tanzabend kann ich mich zwar immer noch net recht anfreunden, aber wenn ich mir beim Pfingst­gottesdienst eure Krönungsmesse anhöre, möchte ich doch so angezogen sein, wie es in die Berge passt. Damit man mir meine Berliner Jahre net gleich ansieht. So hast du es wahrscheinlich auch gemeint, Tante. Stimmt’s oder hab’ ich Recht?«

Selma Waldner schmunzelte in sich hinein.

»Freilich. So und net anders hab’ ich es gemeint«, bestätigte sie. »Und ich bin froh, dass du mich jetzt endlich verstanden hast und mir zustimmst. Wollen wir also heute Nachmittag losziehen?«

Angela nickte.

»Meinetwegen gern. Aber ich möchte auf keinen Fall, dass du für mich Geld ausgibst, Tante Selma«, stellte sie klar. »Wenn du von deinem Albert auch eine schöne Pension bekommst, so sollst du sie doch für dich selbst verwenden. Summen in einer Größenordnung, dass du damit zusätzlich noch für mich sorgen könntest, kriegst du schließlich auch wieder net. Und überhaupt hab’ ich ja noch das Geld, das mir mein Papa hinterlassen hat. Und kann deshalb leicht für mich selber einstehen.«

Selma Waldner zog die Augenbrauen hoch.

Sie schob das Frühstücksgeschirr zusammen und erhob sich. »Nix da«, sagte sie dennoch entschlossen, während sie das Tablett mit dem Geschirr mit einem Ruck aufnahm, um es in die Küche zu tragen. »Die neuen Sachen für dich gehen auf meine Rechnung, Madl. Und damit basta. Du weißt schließlich net, wie du das geerbte Geld noch einmal brauchen kannst. Vielleicht dauert es eine Zeitlang, bis du einen Job findest. Vielleicht möchtest oder musst du noch eine zusätzliche Ausbildung absolvieren. Und ein Mann, der dich so gut versorgt, dass du dich nur noch zurücklehnen und Däumchen drehen brauchst, ist schließ­lich bis jetzt auch noch net in Sicht.«

*

Der Pfingstsonntag war so strahlend schön, wie ein Pfingstsonntag Anfang Juni nur sein konnte.

Die Sonne lachte von einem tiefblauen Himmel, über den nur ganz vereinzelt weiße Kumuluswolken segelten und den Zwillingsgipfeln der Himmelsspitz und der Wintermaid, für die St. Johann berühmt war, für ein paar Augenblicke festtägliche Häubchen verpassten.

Angela fühlte sich, als sie unter dem jubelnden Brausen der Orgel nach dem Pfingstgottesdienst die Kirche verließ, fast geblendet von so viel frühsommerlichem Licht und Glanz.

Vor der Kirchentür stand wie immer nach der Messe Pfarrer Trenker, um seine Schäflein mit einem Händedruck und ein paar freundlichen Worten zu verabschieden.

»Schön, dass Sie sich unseren Pfingstgottesdienst mit der Krönungsmesse von Mozart net haben entgehen lassen, Frau Waldner. Ich hoffe, es gefällt Ihnen in unserem schmucken St. Johann«, wandte er sich an Angela, als sie an der Reihe war. »Oder haben Sie am Ende schon wieder Sehnsucht nach Berlin?«

»Nein, Sehnsucht nach Berlin hab’ ich bestimmt net«, erwiderte Angela. »Mit jedem Tag, den ich hier bin, begeistern mich die Berge noch ein bissel mehr. St. Johann ist wirklich ein Ort, an dem man sich wohlfühlen kann.«

»Das hört man gern«, lachte Pfarrer Trenker.

»Und nachdem Sie obendrein noch eine so nette, liebenswürdige Tante haben, bei der Sie wohnen können, steht einem gelungenen Ferienaufenthalt ja wirklich nix im Wege.«

»Das stimmt, Herr Pfarrer«, entgegnete Angela und trat auf den freien Platz vor der Kirche hinaus, um dort auf Selma Wald­­ner zu warten.

Wieder und wieder sah sie sich nach allen Seiten um, doch die Tante wollte einfach nicht kommen.

Angela seufzte und zupfte nervös an ihrem Mieder herum.

Eigentlich gab es außer der Tante noch jemand anderen, nachdem sie sehnsüchtig Ausschau hielt. Obwohl sie es sich nicht eingestehen wollte, hatte sie bereits während des Got­tes­dienstes immer wieder ihre Augen umherschweifen lassen, ob nicht irgendwo Wolfgang Falk zu entdecken wäre. Aber jedes Mal war sie von Neuem enttäuscht worden.

Während Angela so dastand, dachte sie unwillkürlich wieder an den Ausflug zur Kandereralm, den sie vor einer guten Woche zusammen mit Wolfgang unter­nommen hatte.

Er war wunderschön gewesen.

So herrlich hatte Angela die Bergwelt rings um St. Johann nicht in Erinnerung gehabt.

Oder war es das Beisammensein mit Wolfgang gewesen, das sie alles noch viel intensiver hatte erleben lassen? Das sie Wunder und Schönheiten hatte sehen lassen, an denen sie früher achtlos vorübergegangen war?

Angela grub ihre Schneidezähne in ihre Unterlippe.

Sie schaute an sich hinunter und strich den Rock ihres neuen weiß und blau karierten Dirndls glatt.

Schade, dass Wolfgang es nicht sehen konnte. Es stand ihr so gut, und sie hatte sich schon ausgemalt, wie Wolfgang sie und ihr Kleid mit bewundernden Blicken mustern würde.

Unruhig kratzte Angela mit ihren Schnallenpumps aus schwarzem Lackleder im Kies.

Vielleicht war es doch nicht richtig gewesen, dass sie nach der Rückkehr von der Kandereralm Wolfgangs Einladung zum Tanz­abend im »Löwen« rundweg ausgeschlagen hatte! Und warum nur war sie so ungeschickt gewesen, ihm vorzuschlagen, das nächste Treffen einfach dem Zufall zu überlassen!

Sie hatte natürlich nicht aufdringlich sein wollen. Und vor allem hatte sie Wolfgang nicht allzu deutlich merken lassen wollen, wie sehr er ihr fehlte, wenn sie ihn einmal auch nur für zwei oder drei Tage nicht sehen konnte.

Falls er ihr jetzt allerdings böse war und sich gar nicht mehr um sie bemühte …

»Da bist du ja, Madl«, vernahm Angela in diesem Augenblick Tante Selmas Stimme. »Ich hab’ dich in dem Menschengetümmel zuerst gar net gesehen. Wartest du schon lange auf mich?«

Angela räusperte sich.

»Nein, das ist net der Rede wert, Tante. Und es hat mir auch gar nix ausgemacht«, gab sie höflich zurück.

Sie wandte sich bei diesen Worten der Tante zu. Und sah im selben Moment Wolfgang.

Er stand neben Selma Waldner und hielt eine Klarinette mit silber­glänzenden Klappen in der Hand.

Verblüfft schaute Angela zuerst auf das Instrument und dann auf Wolfgang.

Wolfgang zuckte die Schultern.

»Ich hab’ erst vor ein paar Tagen erfahren, dass ich für den Tobler-Hans, der sich bei einem Sturz vom Fahrrad die rechte Hand verletzt hat, einspringen muss«, sagte er beinahe verlegen. »Wir haben mit dem Orchester geprobt und wieder geprobt, bis endlich alles gesessen ist und der Rückstand aufgeholt war. Sonst … sonst hätte ich mich vielleicht schon einmal wieder gemeldet. Grüß … grüß Gott übrigens. Das Grüß-Gott-Sagen hätte ich jetzt im Eifer des Gefechts beinahe vergessen.«

Ein wenig umständlich ließ Wolfgang seine Klarinette in die linke Hand gleiten und streckte Angela seine rechte hin.

Als Angela sie ergriff, zuckte es wie eine Woge von Wärme und Licht durch ihre Fingerspitzen und durch ihren ganzen Körper.

»Grüß Gott, Wolfgang«, brachte sie schließlich ein wenig gepresst hervor und verstummte wieder.

Eine Weile sagte keiner ein Wort.

Selma Waldner überlegte kurz, dann beschloss sie, die beiden erst einmal ein Weilchen allein zu lassen.

»Ich gehe jetzt für ein paar Minuten hinüber in den Friedhof«, erklärte sie. »Weil ich meinem Albert einen Besuch abstatten möch­te. Ich hoffe, ihr werdet mich net allzu sehr vermissen.«

»Nein, nein. Das heißt, es macht uns natürlich nix aus, wenn du noch an Onkel Alberts Grab willst«, sagte Angela. »Geh nur einstweilen voraus. Ich komme später auch noch.«

Sie winkte Tante Selma launig nach und drehte sich dann wieder zu Wolfgang herum.

»Ich … ich hab’ gar net gewusst, dass du Klarinette spielst«, begann sie, um das Schweigen, das sich zwischen ihnen ausbreiten wollte, zu überbrücken.

Wolfgang zuckte die Schultern.

»So berühmt sind meine Klarinettenkünste auch wieder net«, entgegnete er bescheiden. »Ich spiele im Polizeiorchester mit. Aber weiter als bis zum Klarinettenmuckl als Soloeinlage bei einer Aufnahme für den Bayerischen Rundfunk hab’ ich es bis jetzt noch net gebracht.«

»Das ist doch immerhin schon net schlecht«, meinte Angela anerkennend. »Da bist du ja schon fast ein Künstler.«

Wolfgang lachte auf, dann wurde er wieder ernst und fingerte ein wenig unsicher in seiner Jackentasche herum.

»Ich hab’ eine Überraschung für dich, Angela«, sagte er endlich.

Es war ihm deutlich anzumerken, dass er nach einer Möglichkeit suchte, diese Überraschung wirkungsvoll zu präsentieren, sich dabei aber nicht so recht zu helfen wusste.

Schließlich trat er die Flucht nach vorn an und hielt Angela ohne viel Federlesens eine Konzertkarte hin.

»Die hab’ ich für dich besorgt, Angela«, sagte er.

»Für Hanno Blaschkes Konzert morgen Abend. Weil du mir bei unserer Tour zur Kandereralm erzählt hast, dass du keine mehr bekommen konntest, Hanno Blaschke aber gern hören würdest. Ich hab’ überall herumtelefoniert. Und als ich mir schon sicher war, keine Karte mehr auftreiben zu können, hat es zu guter Letzt doch noch geklappt.«

Angela griff so vorsichtig nach der Karte, als wäre sie zerbrechlich.

»Danke, Wolfgang«, sagte sie. »Das ist wirklich lieb von dir. Bestimmt hast du eine Unsumme dafür bezahlt.«

Wolfgang schüttelte abwehrend den Kopf.

»Das ist net der Rede wert, Angela«, antwortete er. »Hauptsache, ich kann dir damit eine Freude machen. Ich glaub, für eine Frau wie dich würde ich auch betteln oder stehlen.«

»Und ein bissel schwindeln, wenn es darum geht, einen Unfall­gegner einzuschüchtern«, grinste Angela.

»Unter Umständen, vielleicht«, grinste Wolfgang zurück und wurde ein wenig rot dabei.

»Und da wäre noch etwas«, fügte Wolfgang nach einem Moment des Überlegens hinzu. »Ich kann dich leider net zu dem Konzert begleiten, weil ich Dienst hab’. Aber du bist ja trotzdem net allein. Du hast ja deine Tante. Hinterher allerdings … ich meine, wenn das Konzert zu Ende ist, hab’ auch ich Dienstschluss. Und würde dich gerne noch zu einem Glaserl Wein einladen. Vielleicht net grad in den ›Löwen‹, sondern irgendwohin, wo net gar so viele Leute sind. Hast du Lust?«

Angela nickte so eifrig, dass sie sich im nächsten Moment dafür schämte. Was sollte Wolfgang von ihr denken!

»Ich … ich kann ja gar net nein sagen«, milderte sie ihre allzu heftige Reaktion ab. »Schon aus lauter Dankbarkeit net. Wo ich mich über die Konzertkarte doch so riesig freue! Die Überraschung ist dir wirklich gelungen, Wolfgang.«

In Wolfgangs Augen leuchtete es auf.

»Dann gehen wir also morgen nach dem Konzert miteinander aus?«, vergewisserte er sich.

»Freilich«, erwiderte Angela. »Und wenn der Abend auf seine Art genauso schön wird wie unsere Wanderung neulich, dann …«

»Dann wirst du es in Zukunft nimmer dem Zufall überlassen, ob wir uns wiedersehen oder net«, fiel Wolfgang ihr ins Wort und führte ihren Satz so zu Ende, wie er ihn hören wollte.

Angela sah ihn einen Moment mit gespieltem Vorwurf an, dann zuckte sie die Schultern.

»Warum net?«, gab sie zurück. »Zumal du beinahe klingst, als hättest du dir schon ein neues Ziel für eine Bergwanderung oder einen Ausflug ausgedacht.«

»Hab’ ich auch«, erklärte Wolfgang sofort. »Und zwar sogar mehrere, damit du wählen kannst. Oder die Reihenfolge festlegen. Ganz wie du möchtest.«

Angela musste lachen.

»Und? Lass hören«, gab sie koketter zurück als beabsichtigt.

»Als erstes hab’ ich mir gedacht, könnten wir auf die Streusach­hütte gehen, die du wahrscheinlich auch schon von früher kennst. Und dann … Wie wäre es zum Beispiel mit dem Achsteinsee? Ein bissel schwimmen, ein bissel Boot fah­ren …«

Angela strahlte.

Mit einem Mal war sie sich sicher, dass dieser Sommer wunder­schön werden würde. Vielleicht sogar der schönste, den sie bisher erlebt hatte.

Schon wollte sie auf Wolfgangs Vorschläge eingehen und Pläne schmie­den, als mit einem Mal wie aus dem Boden gewachsen Tante Selma wieder neben ihr stand.

Angela konnte im ersten Moment gar nicht begreifen, warum die Tante so schnell wieder von ihrem Grabbesuch zurückgekehrt war. Bis sie um sich schaute und zu ihrer Verblüffung feststellte, dass sich auch der Kirchplatz schon zu einem Gutteil geleert hatte.

Wie in aller Welt konnte nur die Zeit so schnell vergehen, ohne dass man es überhaupt merkte!

Unsicher schaute Angela für einen Moment von Tante Selma zu Wolfgang und von Wolfgang wieder zu Tante Selma.

»Ich glaub, das mit den Ausflügen machen wir dann morgen Abend aus, Wolfgang«, beendete sie fürs Erste das Gespräch. »Und … und nochmals vielen, vielen Dank für die Konzert­karte.«

Einen Sekundenbruchteil zögerte Angela noch, dann stellte sie sich auf die Zehenspitzen, nahm Wolfgang spontan beim Hals und schmiegte aus Dankbarkeit einen winzigen Augenblick lang ihre Wange an seine. Wolfgang legte, einem jähen Impuls folgend, seinen Arm um Angela und versuchte sie festzuhalten, doch sie befreite sich mit einer raschen Windung ihres Körpers.

»Auf Wiedersehen, Wolfgang.

Ich … ich glaub, ich muss jetzt weiter«, verabschiedete sie sich, im Begriff, mit Tante Selma den Heimweg anzutreten.

»Was wolltest du denn mit Wolfgang Falk besprechen?«, erkundigte Selma sich neugierig, als der junge Polizist außer Sicht- und Hörweite war. »Er hat dir, wenn ich dich richtig verstanden hab’, nun doch noch eine Eintrittskarte für morgen Abend besorgen können.«

Angela nickte.

»Ja, das hat er. Ich kann dir

gar net sagen, wie ich mich freue. Und … und für nachher hat er mich zu einem Glaserl Wein eingeladen. Und bei dieser Gelegenheit wollten wir dann ausmachen, was wir in nächster Zeit unternehmen werden.«

Selma rieb ihre Lippen gegeneinander, als müsse sie den Lippenstift verteilen.

»Das hört sich fürs Erste gar net schlecht an«, lobte sie. »Ich bin froh, dass du in St. Johann ein bissel Anschluss ohne mich alte Frau gefunden hast. Bloß die Einladung

für morgen Abend nach dem Konzert …« Sie hakte sich bei ihrer Nichte unter und sah sie bittend an. »Würde es dir sehr viel ausmachen, Angela, wenn ihr die verschieben würdet?«

Angela runzelte die Stirn und sah ihre Tante verblüfft an.

»Warum denn?«, erkundigte sie sich. »Oder hast du am Ende etwas Besseres geplant?«

Selma zuckte die Schultern.

»Ich eigentlich net«, erwiderte sie. »Aber drüben auf dem Friedhof hab’ ich vorhin Herrn Pfarrer Trenker getroffen. Auch er hat uns für morgen Abend nach dem Konzert eingeladen. Und ich hab’ natürlich zugesagt, weil ich ja net hab’ wissen können, dass du bereits anderweitig …«

»Herr Pfarrer Trenker hat uns eingeladen? Für morgen Abend?«, wiederholte Angela verblüfft.

»Ja«, erwiderte Selma. »Zu einem festlichen Abendessen. Und was das Beste ist: Hanno Blaschke höchstpersönlich wird kommen und gemeinsam mit einigen besonders langjährigen Chor­mitgliedern, zu denen auch ich gehöre, den Abend verbringen. Zu seinen Ehren findet das Ganze nämlich statt. Sophie Tappert wird ein wahres Festmahl zaubern. Und du … Herr Pfarrer Trenker hat gemeint, für dich sei das Beisammensein mit Hanno Blaschke bestimmt eine kleine Entschädigung, weil du keine Konzertkarte mehr ergattern konntest. Jetzt allerdings …«

Angela schluckte, und ihre blauen Augen wurden groß und rund wie die eines Kindes.

»Ich … wir sollen tatsächlich Hanno Blaschke persönlich kennenlernen?«, fragte sie, als könne sie kaum glauben, was sie gehört hatte.

»Und mit einem Star wie ihm an einem Tisch sitzen?«

»Ja«, gab Selma zurück. »Wir werden den größten Tenor Deutschlands und vielleicht sogar Europas aus nächster Nähe sehen und erleben. Wir können mit ihm reden, so wie wir zwei uns jetzt unterhalten. Ist das net großartig? Und ist es net furchtbar nett von unserem Herrn Pfarrer, dass er bei dieser festlichen Einladung ausgerechnet auch an uns gedacht hat?«

»Ja, das ist es wirklich«, stieß Angela beinahe atemlos hervor. »Als ich aus Berlin hierhergefahren bin, hätte ich nie und nimmer gedacht, dass ich hier in St. Johann Hanno Blaschke Auge in Auge gegenübersitzen werde. Wenn mir das bei meiner Abreise jemand gesagt hätte …«

An dieser Stelle brach Angela mitten im Satz ab, und über ihre strahlende Miene lief ein Schatten.

»Aber … aber was mach ich denn jetzt mit dem Wolfgang?«, sagte sie unvermittelt und schaute ihre Tante mit der Hilflosigkeit eines kleinen Mädchens an. »Er hat mich doch auch eingeladen. Glaubst du, dass ich ihn einfach ins Pfarrhaus mitbringen darf?«

Selma Waldner zuckte die Schultern.

»Woher soll ich das wissen, Madl?«, gab sie zurück. »Aber, ehrlich gesagt, glaub ich, dass das eher net der Fall ist. So viel Platz, dass jeder Gast nach Belieben jemanden mitbringen könnte, ist im Esszimmer des Pfarrhauses nämlich net. Und außerdem wäre es mir vor unserem Herrn Pfarrer Trenker peinlich, wenn du in männlicher Begleitung auftauchst. Das kannst du doch verstehen, oder? Schließlich bist du mit dem Herrn Falk weder verlobt noch sonst etwas in der Richtung.«

Angela senkte nachdenklich den Kopf.

Sie musste sich eingestehen, dass die Tante Recht hatte.

»Ja, freilich, Tante Selma«, sagte sie schließlich ein wenig kleinlaut.

»Na gut«, meinte Selma Waldner zufrieden. »Du siehst also ein, dass du dich entscheiden musst, Angela. Aber wenn ich dir einen Rat geben darf, würde ich mir das Abendessen mit Hanno Blaschke im Pfarrhaus net entgehen lassen. Hanno Blaschke kannst du schließlich nur an diesem einen Abend sehen, während du für deinen Polizisten noch den ganzen langen Sommer Zeit hast.« Selma machte eine kleine Pause, um Angela Gelegenheit zum Nachdenken zu geben, und fügte dann hinzu: »So wie ich deinen uniformierten Verehrer einschätze, nimmt er es dir bestimmt net übel, wenn du das Glaserl Wein mit ihm auf ein andermal verschiebst. Aufgeschoben ist schließlich net aufgehoben.«

*

»Und? Was gibt’s Neues, Bruderherz?«, fragte der Bergpfarrer gut gelaunt, als er nach dem Pfingstessen mit seinem Bruder Max und dessen Frau Claudia noch bei einer Tasse Kaffee auf der Terrasse des Pfarrhauses saß und auf seinen üppig grünenden und blühenden Garten schaute.