E-Book: 393 - 398 - Toni Waidacher - E-Book

E-Book: 393 - 398 E-Book

Toni Waidacher

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Beschreibung

Mit dem Bergpfarrer hat der bekannte Heimatromanautor Toni Waidacher einen wahrhaft unverwechselbaren Charakter geschaffen. Die Romanserie läuft seit über 13 Jahren, hat sich in ihren Themen stets weiterentwickelt und ist interessant für Jung und Alt! Toni Waidacher versteht es meisterhaft, die Welt um seinen Bergpfarrer herum lebendig, eben lebenswirklich zu gestalten. Er vermittelt heimatliche Gefühle, Sinn, Orientierung, Bodenständigkeit. Zugleich ist er ein Genie der Vielseitigkeit, wovon seine bereits weit über 400 Romane zeugen. Diese Serie enthält alles, was die Leserinnen und Leser von Heimatromanen interessiert. E-Book 393: Die Ruhe vor dem Sturm E-Book 394: Ich bin`s - deine Nichte Beatrice! E-Book 395: Der Zufall bringt es an den Tag E-Book 396: Liebe ist nicht nur ein Wort E-Book 397: Schicksalhafte Begegnung E-Book 398: Neue Heimat, neues Glück? E-Book 1: Die Ruhe vor dem Sturm E-Book 2: Ich bin`s - deine Nichte Beatrice! E-Book 3: Der Zufall bringt es an den Tag E-Book 4: Liebe ist nicht nur ein Wort E-Book 5: Schicksalhafte Begegnung E-Book 6: Neue Heimat, neues Glück?

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Inhalt

Die Ruhe vor dem Sturm

Ich bin`s - deine Nichte Beatrice!

Der Zufall bringt es an den Tag

Liebe ist nicht nur ein Wort

Schicksalhafte Begegnung

Neue Heimat, neues Glück?

Der Bergpfarrer – Jubiläumsbox 4–

E-Book: 393 - 398

Toni Waidacher

Die Ruhe vor dem Sturm

Roman von Toni Waidacher

Der Altknecht vom Birknerhof klopfte an die Tür der Kammer, in der sein junger Kollege schlief. »Tobias, aufsteh’n!« Xaver Gerlach wartete eine halbe Minute ab, ehe er erneut anklopfte, diesmal härter, lauter. »Bist’ schwerhörig?«, rief er ungeduldig. »Jetzt aber raus aus den Federn, die Küh’ warten!«

»Ja, ich komm ja gleich«, antwortete Tobias Bachmann endlich.

Xaver wartete noch einen Moment, bis er es hinter der Tür rumoren hörte – ein sicheres Zeichen dafür, dass der junge Knecht tatsächlich aufgestanden war – dann schlurfte er nach draußen.

Dunst hing noch über dem Gesindehaus, in den frühen Stunden des anbrechenden Tages hatte es überraschender Weise ein heftiges Gewitter gegeben, riesige Pfützen auf dem Hof zeugten noch davon. Jetzt war die Feuchtigkeit noch deutlich zu spüren, und erst langsam setzen sich die Sonnenstrahlen gegen den Nebel durch, der über diesem Teil des Wachnertales lag.

Der Birknerhof stand an der Wetterscheide, während es hier regnete, herrschte in St. Johann und zum ›Höllenbruch‹ hin strahlender Sonnenschein, oder umgekehrt.

Xaver schob die Tür zum Stall auf, die Kühe muhten, ihre Euter waren prallgefüllt, und warteten darauf, gemolken zu werden.

Tobias kam endlich auch herein, er sah übernächtigt aus.

»Was ist denn mit dir los?«, fragte der ältere Kollege.

Der junge Knecht winkte ab. »Hab die halbe Nacht kein Auge zugetan«, antwortete er. »Erst am Morgen bin ich eingeschlafen.«

Xaver blickte ihn an. »Bist deswegen noch mal mit dem Motorradel los?«, wollte er wissen.

Tobias schrak zusammen. Hatte Xaver ihn etwa beobachtet? Und wenn ja, was wusste er?

»Hm«, brummte er. »Danach hab ich mich wieder hingelegt, und dann ging’s.« Was Besseres war ihm auf die Schnelle nicht eingefallen.

Der Altknecht gab sich mit dieser Antwort zufrieden und schloss die Melkschläuche an. Schweigend arbeiteten die beiden Männer nebeneinander. Sie waren ein eingespieltes Team, jeder Handgriff saß.

Indes war Tobias Bachmann an diesem Morgen doch nicht so ganz bei der Sache – das schlechte Gewissen plagte ihn. War er zu weit gegangen? Er redete sich ein, dass er es für Katja getan hätte, damit dieser Kerl endlich wieder von hier, und damit aus ihrem Leben, verschwinden würde.

Doch im Nachhinein fragte er sich, ob er wirklich die Konsequenzen seines Handelns bedacht hatte?

Brandstiftung, darauf stand Gefängnis!

Angstvoll und mit klopfendem Herzen hatte der junge Knecht nach seinem nächtlichen Ausflug im Bett gelegen und darauf gewartet, dass die Feuersirene erklingen würde. Als der Alarm ausblieb, war Tobias dann irgendwann doch eingeschlafen. Der Lindnerhof war unbewohnt und lag ein Stück von der Bergstraße entfernt.

Wer also hätte das Feuer entdecken sollen?

Während Tobias die Milchbehälter zur Hofeinfahrt schob, fütterte Xaver die Kühe. Dabei machte er sich so seine Gedanken. Er hatte nicht schlafen können und war gegen Morgen aufgestanden und hatte das Fenster öffnen wollen, um frische Luft hereinzulassen. Überrascht hatte er dabei gesehen, wie Tobias sein Motorrad über den Hof schob, ganz so, als ob niemand mitbekommen sollte, dass er davonfuhr. Erst nachdem er ein Stück die Bergstraße hinunter war, musste er die Maschine angelassen haben, denn es war kein Motorengeräusch zu hören gewesen.

Was mochte er vorhaben? Wohin wollte er? Dass der junge Knecht keine heimliche Liebschaft hatte, davon war Xaver Gerlach überzeugt. Zum einen wusste er, dass Tobias in Katja verliebt war, die Tochter ihres Bauern, also schied ein anderes Madel wohl aus. Und selbst, wenn – dann wäre es für ein Stelldichein viel zu spät gewesen. Nein, der Bursche hatte etwas vor, von dem niemand etwas wissen sollte, davon war der Altknecht überzeugt. Doch was?

Xaver hatte noch lange am Fenster gestanden und darüber nachgegrübelt, was diese nächtliche Aktion seines jungen Kollegen zu bedeuten hatte, und so sah er auch, wie Tobias, genauso heimlichtuerisch, still und leise, auf den Hof zurückkehrte, wie er ihn verlassen hatte.

Irgendetwas stimmte da nicht! Xaver fragte sich, ob er jemals in Erfahrung bringen würde, was es war.

Im Westen zuckte es hell am Horizont, und dann ging wenig später ein Unwetter über dem Birknerhof nieder, wie es der Altknecht ewig nicht mehr erlebt hatte, mit Sturm, Regen und sogar Hagel. Blitze zuckten und Donner krachte, als sollte das Ende der Welt eingeläutet werden. Es dauerte eine Weile, bis an Schlaf überhaupt zu denken war.

*

Und noch jemandem saß diese unruhige Nacht noch schwer in den Knochen.

»Na, das sieht ja nach einem Riesenkater aus«, spottete der ältere Kollege am Frühstückstisch.

Der junge Bauarbeiter brummte nur und setzte sich kommentarlos dazu.

Der Vorarbeiter blickte ihn an. »Warst du gestern in der Kreisstadt, oder wo hast du dir die Nacht um die Ohren geschlagen?«, wollte er wissen.

Der junge Mann schrak zusammen. Hatte man ihn etwa beobachtet? »Hm«, brummte er nur ausweichend. »War mit 'm Madel unterwegs.«

»Pass bloß auf, dass dich die Burschen hier nicht vermöbeln, die verstehen da keinen Spaß«, sorgte sich der Ältere. »Ich will keinen Ärger auf der Baustelle!«

Der Jüngere biss sich auf die Lippen. ›Wenn du wüsstest‹, dachte er, ›wär ich gestern nicht ›auf Abwegen‹ gewesen, hätt'st du heut keine Baustelle mehr ...‹ Aber der junge Bauarbeiter hielt schön den Mund – schließlich konnte er schlecht rechtfertigen, dass er sich nachts in fremden Scheunen herumtrieb. War auch eine Schnapsidee gewesen, mit dem Madel ausgerechnet auf den Hof, den er gerade renovierte, zu fahren. Aber etwas Gutes hatte es ja doch gehabt ... Scheinbar zerknirscht, schüttelte er den Kopf. »Kommt nicht wieder vor ...«

*

Nach der morgendlichen Arbeit gingen die beiden Knechte ins Bauernhaus, wo bereits das Frühstück auf sie wartete.

›Die Burgl schaut krank aus‹, überlegte Tobias, ›und schuld daran, war nur dieser Kerl, der einfach daherkam und den alten, jahrelang verwaisten Lindnerhof renovieren ließ. Aber das war es nicht allein, was der Bäuerin solchen Kummer machte, dass sie kaum noch schlafen konnte, schwerer wog die Tatsache, dass der Bursche Katja den Kopf so verdreht hatte, dass sie sich mit den Eltern überworfen hatte und ausgezogen war!‹

»Jemand muss rauf, zum Bergwald«, erklärte Franz Birkner, »schau’n, ob das Unwetter heut Nacht großen Schaden angerichtet hat.«

Tobias nickte schnell. »Mach’ ich«, erklärte er. »Ich fahr gleich nach dem Frühstück los. Einverstanden?« Die Frage war an Xaver gerichtet.

Der Altknecht nickte.

»Gut«, sagte der Bauer zu ihm, »dann könntest du dich ja um den Zaun an der oberen Weide kümmern.«

Wieder nickte Xaver Gerlach und schaute dann nachdenklich zu Tobias, der ihm gegenüber saß.

Was hatte der Bursche bloß angestellt?

Dass etwas geschehen war, das sogar die Polizei auf den Plan rief, wusste Xaver, als Max Trenker am Vormittag auf den Hof gefahren kam…

*

Während in den frühen Morgenstunden ein Unwetter über dem westlichen Teil des Wachnertals niederging, war Sebastian Trenker, mit Katja Birkner und Stefan Lindner, zu einer Bergtour aufgebrochen.

Hier, im Osten des Wachnertals, merkte man nichts von dem, was sich auf der anderen Seite abspielte, lediglich an dem fernen Leuchten am Horizont, war zu erkennen, dass es dort ein Gewitter gab.

Der gute Hirte von St. Johann und das Madel hatten Stefan Lindner an der Pension Stubler abgeholt und waren zunächst durch den ›Höllenbruch‹ zur ›Hohen Riest‹ gewandert, von wo aus die einzelnen Wege zu den Almen abzweigten. Für die meisten geführten Gruppen, war die Kandereralm das Ziel, weil dort oben noch Sennenwirtschaft betrieben wurde. Die Wanderer wurden mit Essen und Trinken bewirtet, und Franz Thurecker stellte einen Bergkäse her, der weit über die Grenzen des Wachnertals hinaus berühmt war.

Auch für Sebastian und seine beiden Begleiter war die Alm das Ziel gewesen, doch anders, als die professionellen Bergführer, ging der Geistliche eine andere Tour, die zwar nicht ganz so bequem war, wie Sebastian immer wieder erklärte, auf der man aber viel mehr zu sehen bekam und hübschere Motive zum Fotografieren fand.

Pünktlich zur Mittagszeit waren sie den Hügel hinuntergestiegen, in dessen Grund die Almhütte lag.

Die Bauerntochter war ganz begeistert gewesen, dass sich hier oben kaum etwas verändert hatte, seit sie die Kandererhütte das letzte Mal besucht hatte, und sie begrüßte Franz Thurecker herzlich.

Sebastian war aufgefallen, dass der alte Senn Stefan aufmerksam gemustert hatte, als er ihm seinen Begleiter vorstellte. Indes dachte sich der Bergpfarrer nichts weiter dabei. Es kamen jedes Jahr unzählige Wanderer herauf, und da konnte es schon mal vorkommen, dass Franz glaubte, ein bekanntes Gesicht zu entdecken.

Sie hatten auf der Terrasse Platz genommen und sich, unter den großen, bunten Sonnenschirmen sitzend, schmecken lassen, was der Senner ihnen auftischte.

Von den Käs'spatzen war Stefan Lindner ganz begeistert gewesen und erklärte, dass sie genauso lecker waren wie in seiner Heimat – dem Allgäu.

Nach dem Essen machten Katja und der junge Mann einen Spaziergang über die Alm und bewunderten die herrliche Aussicht, während der Geistliche sitzen blieb und sich mit einem Bergführer unterhielt, dessen Gruppe sich zerstreut hatte, um noch ein paar Schnappschüsse zu machen, bevor es zurück ins Tal ging.

Überrascht blickte Sebastian auf, als Franz an die Terrasse kam und ihm zuwinkte.

»Hochwürden, Telefon! Max!«, rief er herauf.

Der Bergpfarrer stieg hinunter und folgte ihm in die Hütte. Vermutlich hatte sein Bruder gar nicht erst versucht, ihn auf dem Handy zu erreichen, weil er wusste, dass Mobiltelefone hier oben nur sehr schlechten oder gar keinen Empfang hatten. Indes war er alarmiert, Max würde ihn kaum während einer Bergtour angerufen haben, wenn er dazu nicht einen gewichtigen Grund hatte.

Das Telefon befand sich im Schankraum der Hütte, gleich am Tresen, der Hörer lag daneben.

Sebastian nahm ihn auf. »Max, was ist passiert?«, fragte er, voller dunkler Ahnung.

»Ich komm grad vom Lindnerhof«, antwortete der Polizist. »Dort hat’s heut Nacht ein Feuer gegeben.«

»Was sagst’ da? Ein Feuer?«

»Ganz richtig.«

»Aber wie konnte das gescheh’n?«, hakte der Geistliche nach. »Der Hof ist doch noch unbewohnt.«

Er hörte seinen Bruder tief Luft holen.

»Wir können eine Brandstiftung net ausschließen«, erklärte Max. »Die Spurensicherung hat entsprechende Hinweise gefunden.«

»Brandstiftung! Ist der Schaden groß?«

»Er hält sich in Grenzen. Offenbar wurde das Feuer an zwei Stellen gelegt, im Haus und in der Scheune. Im Haus sind die Flammen erstickt, das Material, das angezündet worden ist, hat net richtig brennen wollen, und in der Scheune hat vermutlich der Regen das Feuer gelöscht.« Max erzählte weiter, dass der Schaden von den Arbeitern entdeckt worden war, die gerade den Hof renovierten.

»Ich hab mich umgehört, auf dem Birknerhof hat niemand was von dem Feuer mitbekommen«, setzte er hinzu. »Und die andren Nachbarn wohnen zu weit entfernt, als dass sie etwas hätten sehen oder hören können. Aber freilich werd ich sie auch noch befragen.«

»Vielen Dank, dass du Bescheid gesagt hast«, bedankte sich der Bergpfarrer. »ich informiere gleich den Stefan, und dann machen wir uns umgehend auf den Heimweg.«

Nachdenklich verließ er die Hütte und kehrte zur Terrasse zurück. Sebastian war erschüttert, es gehörte schon eine Menge Hass zu solch einer Tat.

Wer mochte wohl dahinterstecken?

In erster Linie waren wohl all jene verdächtig, die davon betroffen waren, dass der junge Lindner den Hof renovieren ließ und wieder bewirtschaften wollte – also Franz Birkner und seine Nachbarn…

Indes war der gute Hirte von St. Johann weit davon entfernt, einen dieser Männer öffentlich zu verdächtigen, solange nicht feststand, wer wirklich für die Tat verantwortlich war.

Katja Birkner und Stefan Lindner saßen bereits wieder am Tisch, der Geistliche setzte sich zu ihnen und berichtete, was geschehen war.

Stefan schaute ihn bestürzt an, während das Madel entsetzt die Hände vor den Mund schlug und in Tränen ausbrach.

»Brandstiftung«, fragte Stefan ungläubig, »ist das sicher? Ich meine, das Feuer kann doch auch durch alle möglichen Umstände ausgebrochen sein. Es gab doch ein Gewitter.«

Sebastian freute sich, dass der Bursche nicht sofort seine Nachbarn verdächtigte, sondern auch andere Möglichkeiten in Betracht zog. Dennoch schüttelte er den Kopf. »Es spricht alles dafür, dass das Feuer net zufällig ausgebrochen ist. Wir können aber von Glück sagen, dass der Schaden sich in Grenzen hält.«

Er schlug vor, ins Tal abzusteigen und sofort zum Lindnerhof zu fahren.

Doch ehe sie aufbrechen konnten, kam Franz Thurecker zu ihnen und schaute den jungen Mann wieder so nachdenklich an, wie bei der Begrüßung.

»Sag mal«, wandte er sich an Stefan, »deinen Nachnamen kenn ich net. Heißt du Lindner oder Angerer?«

»Äh…, Lindner… Meine Mutter war eine geborene Angerer. Warum fragst’?«

Ein Lächeln huschte über das Gesicht des alten Senners. »Weil ich deine Eltern gekannt hab«, antwortete er leise.

Sebastian beugte sich interessiert vor. »Dann ist dein Vater Andreas Lindner, der Bruder von Josef?«

Stefan nickte. »Ja, kannten Sie auch meine Eltern?«

»Flüchtig.« Der Bergpfarrer lehnte sich zurück und ließ nachdenklich seinen Blick schweifen. »Ich war damals Vikar in St. Johann«, erzählte er, »was auf den Höfen, vor allem auf denen, die am andren Ende des Tales steh’n, vorging, davon hab ich nur wenig mitbekommen, aber ich weiß, dass der Hof, der jetzt dir gehört, von zwei Brüdern bewirtschaftet wurde.« Er schüttelte den Kopf über sich selbst, als habe er eine Nachlässigkeit begangen. »Ich hab dich längst schon fragen wollen, wie du an den Hof gekommen bist«, setzte Sebastian hinzu, »ob du ihn geerbt oder gekauft hast, und ob die Namensgleichheit bloß ein Zufall ist?«

»Dein Vater und deine Mutter, sie sind damals fortgegangen, net wahr?«, warf Franz ein und schaute den Geistlichen an. »Sie müssen nämlich wissen, ich war mit dem Sepp Zeit seines Lebens befreundet und hab die ganze Geschichte hautnah miterlebt.«

»Welche Geschichte?«, fragte Sebastian.

»Die Geschichte von der Liebe zweier Brüder, für eine Frau«, antwortete der Senner.

*

»Die Maria Angerer war ein hübsches junges Madel«, erzählte der Thurecker-Franz. »Sie stammte aus einem Dorf in der Nähe von Garmisch und hatte beide Eltern verloren…« Der Alte senkte den Kopf. »Eine traurige Geschichte war’s«, fuhr er fort. »Der Johann Angerer hatte den Hof vom Vater geerbt, aber leider net das Händchen, ihn erfolgreich zu bewirtschaften. Binnen fünf Jahren war er pleite, und der Angererhof wurde zwangsversteigert, heut steht dort eine Wurstfabrik… Johann und seine Frau, sie hieß Magda, verdingten sich als Knecht und Magd bei einem Bauern, und kamen nie mehr auf einen grünen Zweig. Die Zwangsversteigerung hatte längst net genug erbracht, um die ganzen Schulden zu decken, und so zahlten die beiden bis an ihr Lebensende daran ab.

Maria, ihre Tochter, tat nach dem Tode der Eltern das einzig richtige und schlug das Erbe aus, anderenfalls hätte sie nämlich auch die restlichen Schulden geerbt. Sie ging dann aus Garmisch fort. Auf dem Lindnerhof fand sie eine Anstellung als Magd.

Andreas und Josef Lindner, er war der Ältere – hatten den Hof gemeinsam geerbt. Ihr Vater hatte bestimmt, dass sie ihn auch zusammen bewirtschaften sollten. Hätte der Josef nämlich den Andreas auszahlen müssen, wär’s der wirtschaftliche Ruin für ihn gewesen.

Kurzum, was der Altbauer verlangt hatte, ließ sich tatsächlich in die Tat umsetzen, die Brüder verstanden sich prächtig und waren ein Herz und eine Seele – zumindest solange, bis die Angerer-Maria auf den Hof kam.

Die Brüder wetteiferten um die Gunst des schönen Madels, und endlich, nach mehr, als einem halben Jahr, gab Maria dem Werben eines der Brüder nach…«

Franz Thurecker ließ seinen Blick über die Berge schweifen, aber Sebastian wusste, dass der Senner in die Vergangenheit schaute.

»Andreas und der Sepp haben ihren ›Wettkampf‹ erst noch sportlich genommen«, erzählte der Senner weiter. »Erst, als es zwischen Maria und dem jüngeren Bruder ernst wurde, verhärteten sich die Fronten. Erst fielen nur böse Worte, dann gingen sie mit Fäusten aufeinander los. Wenn ich drunten im Tal war, nach dem Almabtrieb, hab ich den Sepp hin und wieder besucht. Wir beide hatten ja zusammen die Schulbank gedrückt und waren auch später noch befreundet, daher wusst ich, was auf dem Hof los war. Die Maria hat sich so manches Mal bei mir ausgeweint. Sie hatte ein schlechtes Gewissen, weil sie der Grund für das Zerwürfnis zwischen den Brüdern war – indes kann niemand für seine Gefühle, und sie liebte nun einmal den Andreas. Um es kurz zu machen, die Verliebten sahen keinen anderen Ausweg, als Hof und Heimat zu verlassen und woanders neu zu beginnen. Doch bevor sie gingen, kam es zu einer letzten Auseinandersetzung zwischen Andreas und Sepp, bei der der Jüngere den Älteren zu Boden schlug…« Franz zuckte die Schultern. »Ich weiß net, was es war«, fuhr er fort, »eine innere Stimme vielleicht, oder purer Zufall, jedenfalls hatte ich so eine Ahnung, dass was Schlimmes geschehen sein müsse, und hab hier heroben alles liegen und steh’n gelassen und bin hinunter ins Tal.

Als ich auf dem Hof ankam, lag der Sepp wie tot am Boden, aber er lebte noch, Gott sei Dank. Von Maria und Andreas keine Spur, sie waren und blieben verschwunden, ich hab sie nie wieder geseh’n.«

Stefan Birkner nickte. »Das deckt sich weitgehend mit dem, was mein Vater mir erzählt hat«, sagte er. »Aus Furcht, seinen Bruder getötet zu haben, sind er und meine Mutter ins Allgäu geflohen. Erst später, als nirgendwo etwas über den gewaltsamen Tod zu lesen war, hat Vater meinem Onkel einen Brief geschrieben, auf den er aber keine Antwort erhalten hat.«

»Das stimmt«, warf der Senner ein, »Sepp hat mir den Brief gezeigt, in dem dein Vater ihn um Verzeihung bat…« Der Alte holte tief Luft und schüttelte traurig den Kopf. »Doch die Kränkung saß so tief, dass Sepp dem Andreas net verzeihen konnt«, setzte er hinzu und zuckte erneut die Schultern, »das hat er wohl erst im Alter können und hat deshalb dich, Stefan, als Erben eingesetzt. Heiraten hat der Sepp nie wollen, bis zu seinem Tode hat er nur eine Frau geliebt – deine Mutter.«

Sebastian Trenker sah das Gesicht des alten Bauern vor sich. Grantig war er meistens gewesen und hatte mit seinem Schicksal gehadert. Warum Sepp Lindner Gott gezürnt hatte, wusste der Bergpfarrer nicht, das hatte er erst heute erfahren – und dass der Bauer im Grunde doch eine empfindsame Seele gewesen war, verletzlich und einsam.

»Als die Nachricht vom Tod seines Bruders kam«, erzählte Stefan, »hat es meinen Vater fast umgehauen. Er machte sich Vorwürfe, dass er all die Jahre nicht versucht hatte, sich mit meinem Onkel auszusöhnen.

Der Anwalt, der ihn benachrichtigte, war auch gleichzeitig der Testamentvollstrecker und teilte ihm mit, dass Onkel Josef mich als Erben eingesetzt hatte. Freilich wusste er gar nix von mir, und in seinem Testament stand, dass der älteste Nachkomme seines Bruders den Hof erben sollte. Für den Fall, dass es keine Kinder gäbe, sollte das Erbe an die Gemeinde St. Johann geh’n.« Der junge Bauer lächelte. »Freilich war ich damals noch viel zu klein, um die Erbschaft anzutreten, Vater hat alle notwendigen Schritte unternommen, und ich hab, auf sein Geheiß hin, die Landwirtschaftsschule besucht, um alles zu lernen, was man wissen muss, um einen Bauernhof zu bewirtschaften.«

»Ich vermute, deine Eltern leben net mehr?«, fragte Sebastian.

Stefan schüttelte den Kopf. »Vater starb vor sechs Jahren, Mutter folgte ihm zwei Monate später nach«, antwortete er und biss sich auf die Lippe. »Sie hat es net verwunden, den geliebten Mann zu verlieren. All die Jahre haben s’ als Magd und Knecht auf einem Berghof gelebt und gearbeitet, ohne je die Heimat wiederzusehen. Aber ich sollte, an ihrer Stelle, herkommen und den Lindnerhof bewirtschaften, das war ihr sehnlichster Wunsch.«

»Das kann ich gut versteh’n«, nickte der Bergpfarrer. »Eine Frage hätt ich allerdings noch – ich nehme an, dass deine Eltern dir keine Reichtümer hinterlassen konnten, aber die Renovierung des Hofes, die Anschaffungen, die getätigt werden müssen, das kostet alles Geld…«

Stefan Lindner nickte ebenfalls. »Ich weiß, was Sie meinen, Hochwürden«, erwiderte er. »Onkel Sepp hat mir net nur den Hof hinterlassen, sondern auch ein beträchtliches Vermögen. Zeit seines Lebens muss er sehr sparsam gewesen sein und kaum Geld ausgegeben haben. Vater hat die Summe angelegt, die sich im Laufe der Jahre vermehrt hat, und den Rest finanziere ich durch ein Bankdarlehen.«

»Verstehe.« Sebastian erhob sich. »Wir sollten uns jetzt an den Abstieg machen«, meinte er. »Mal schau’n, ob mein Bruder inzwischen mehr über den Brand herausgefunden hat.«

*

Auf dem Englerhof waren die Vorbereitungen für das große Fest im vollen Gange.

Die Bäuerin und ihre Tochter hatten gebacken und gekocht und alles für ein kaltes Büffet hergerichtet. Martin Engler, ihr Mann, hatte unterdessen, unterstützt von Tobias Hochleitner, seinem zukünftigen Schwiegersohn, für die Getränke gesorgt, die nun im Keller lagerten. Auch Walburga und Johann Hochleitner waren auf den Bauernhof gekommen und hatten mitgeholfen, schließlich sollte alles perfekt sein, wenn Christian mit seiner Braut heimkam.

Dass ihr Sohn nicht in Kiel geblieben war, hatte die Familie dem Bergpfarrer zu verdanken, der eigens aus dem Wachnertal nach Norddeutschland gefahren war, um Christian zur Heimkehr zu bewegen. Der Grund dafür, dass Christian seiner Heimat den Rücken gekehrt hatte, war, wie konnte es anders sein – ein Madel.

Anna Gruber, eine hübsche Studentin aus der Schleswig-Holsteinischen Landeshauptstadt, war in den Semesterferien nach Bayern gefahren, in der Hoffnung, dort noch lebende Verwandte zu finden.

Dass ihre Wurzeln im Wachnertal lagen, hatte Anna erst nach dem Tode der Eltern erfahren, die sich ihr ganzes Leben lang über die Heimat ausgeschwiegen hatten. Ein alter Familienzwist hatte den Ausschlag gegeben, bei dem es um Mord und Totschlag ging. Inzwischen war das über dreißig Jahre alte Verbrechen aufgeklärt, und die unmittelbar Beteiligten lebten längst nicht mehr.

Indes hatte die Tat, bei der ein Mann erschlagen, und für die ein anderer unschuldig verurteilt worden war, bis in die heutige Zeit Kreise gezogen. Noch immer wurde die Familie Gruber als ›Mörderfamilie‹ bezeichnet, und als Martin Engler erfuhr, dass sein Sohn sich in die Enkelin des Mannes verliebt hatte, der als Totschläger im Gefängnis gesessen hatte, drohte er damit, Christian enterben. Der ließ sich allerdings von dieser Drohung nicht einschüchtern, sondern folgte Anna nach Kiel, wohin die Studentin inzwischen zurückgekehrt war.

Dank der Nachforschungen des guten Hirten von St. Johann, konnte der wahre Täter doch noch ausfindig gemacht werden, und der Engler-Bauer lenkte ein. Er bat Sebastian, zu Christian und Anna zu fahren und in seinem Namen Abbitte zu leisten und das Paar zur Rückkehr zu bewegen.

Freilich ließ sich der Geistliche, der immer für seine Schäfchen da war, wenn sie Hilfe benötigten, nicht lange bitten, und jetzt sollte auf dem Englerhof nicht nur das Wiedersehen, sondern auch die Verlobung von Christian und Anna gefeiert werden.

Zu diesem Fest war auch Wolfgang Gruber eingeladen, Annas Onkel und Bruder ihres Vaters, der den Hof übernommen hatte, nachdem Vincent Gruber damals mit Katrin Hochleitner fortgegangen war. Zwischen Wolfgang Gruber und Johann Hochleitner hatte jahrzehntelang Feindschaft geherrscht, die nun aber endlich aus der Welt geschafft worden war. Dass der Bergpfarrer als Ehrengast an dieser Feier teilnahm, verstand sich von selbst.

Rund fünfzig Gäste, Familienangehörige und Freunde von Christian saßen nun an der auf dem Hof aufgebauten Tafel und warteten auf das Eintreffen des jungen Paares.

Darunter war eine Frau mittleren Alters, die ganz besonders strahlte. Sie saß neben Wolfgang Gruber, der sie als seine Verlobte vorgestellt hatte.

Anna Wiesner arbeitete seit Jahren als Magd auf dem Gruberhof, und fast ebenso lange war sie in den Bauern verliebt. Damit, dass der davon nichts zu merken schien und als eiserner Junggeselle galt, hatte sie lange leben müssen. Seine Nichte indes ahnte sofort, was mit ihrer Namensvetterin los war, und ermunterte Anna, aus ihren Gefühlen für Wolfgang keinen Hehl zu machen. Lange zögerte die Magd, traute sich nicht, diesen Rat in die Tat umzusetzen, bis dann eines Abends eine Kleinigkeit das Fass zum Überlaufen brachte.

Wolfgang Burger war nicht, wie angekündigt, zum Abendessen heimgekommen, sondern hatte sich verspätet, ohne wenigstens daheim anzurufen. Anna war darüber so erbost, dass sie noch in der Nacht den Hof verließ und bei einer Freundin Unterschlupf suchte.

Was für ein Erwachen für den Bauern!

Als Wolfgang Gruber aufstand, suchte er vergeblich nach seiner Magd, und wie sehr sie ihm fehlte, merkte er dann im Laufe des Tages. Wie hatte er so blind sein können? Warum merkte er erst jetzt, was Anna ihm bedeutete? Hanna Bruchthaler, Annas Freundin, zu der sie sich geflüchtet hatte, sorgte dann mit einem Anruf auf dem Gruberhof schließlich dafür, dass Bauer und Magd endlich zueinanderfanden.

»Wo bleiben die denn?« Martin Engler schaute ungeduldig auf die Uhr, er konnte es gar nicht erwarten, seinen Sohn endlich wieder in die Arme zu schließen.

Im selben Moment bog Christians Auto in die Einfahrt und hielt unter dem Scheunenvordach.

Anna und er stiegen aus und waren sofort von Eltern, Verwandten und Gästen umringt.

Nachdem sich der Begrüßungstrubel gelegt hatte, nahm das junge Paar an der rustikal-festlichen Tafel Platz, und dann wurde erst einmal gegessen und getrunken. Freilich mussten sie erzählen, wie die Fahrt verlaufen war, und ob in Kiel alles glatt über die Bühne gegangen war.

»Das Haus habe ich einem Makler übergeben, der es für mich verkauft«, erklärte Anna Gruber. Es ging um ihr Elternhaus, das sie geerbt hatte. »Es kann natürlich eine Weile dauern«, setzte sie hinzu, »aber es eilt ja auch nicht.«

Ansonsten hatte sie ihre Wohnung gekündigt, das Auto und ein paar Möbel bei Freunden untergestellt, und in ein paar Wochen würde sie noch einmal nach Kiel fahren, um Möbel und Wagen zu holen.

Martin Engler hatte sich eine kleine Rede überlegt, in der er Anna erst einmal um Verzeihung dafür bat, was er Schlimmes zu ihr und über sie gesagt hatte. Dann hieß er sie erneut auf dem Hof willkommen und erklärte den Gästen, wie stolz er sei, so ein hübsches Madel als Schwiegertochter zu bekommen.

Schließlich meldete sich Wolfgang Gruber zu Wort. Er hatte einen großen Umschlag in der Hand und lächelte seine Nichte an.

»Liebe Anna«, begann er, »bis vor ein paar Wochen wussten wir zwei noch nix voneinander. Dann bist du hergekommen, um auf den Spuren deiner Eltern zu wandeln, und als wir uns kennenlernten – ich geb’s zu – da hatte ich zunächst einmal Furcht, du würdest irgendwelche Ansprüche auf das Erbteil deines Vaters stellen wollen. Doch du hast von Anfang an klar gestellt, dass das net deine Absicht sei. Ich hab dich als meine Nichte anerkannt und dir ein Wohnrecht auf dem Hof eingeräumt…« Er schaute Anna und Christian an. »Wenn bei euch einmal der Haussegen schief hängen sollt«, setzte er grinsend hinzu, »was der liebe Gott verhüten möge, dann weißt` aber immer, wo du einen Unterschlupf find’st.«

Die Anwesenden lachten und klatschten.

Er hob die Hand mit dem Umschlag. »Jede Braut sollt von ihrem Vater eine Mitgift erhalten, die sie in die Ehe einbringt«, fuhr Wolfgang Gruber fort, »indes lebt dein Vater net mehr. Als sein Bruder ist es mir aber eine Pflicht und eine Freude, an seine Stelle zu treten und dafür zu sorgen, dass du eine Mitgift erhältst. Hier, in diesem Umschlag, ist eine notariell beglaubigte Urkunde, in der ich dir, liebe Anna, die Marner-Alm abtrete. Vielleicht schafft ihr zwei, der Christian und du, sie wieder zum Leben zu erwecken. Über Generationen hat unsre Familie ihre Kühe dort oben geweidet und eine Sennenwirtschaft betrieben. Es wär schön, wenn’s wieder so sein könnt.«

Unter dem Applaus der Gäste überreichte Wolfgang seiner Nichte die Urkunde und umarmte sie.

Anna wischte sich die Tränen aus den Augen, als sie sich bedankte, und Christian versprach, alles dafür zu tun, dass die Alm tatsächlich aus ihrem Dornröschenschlaf geweckt wurde.

Auch Sebastian reichte dem Bauern die Hand und gratulierte ihm zu der Größe, die er mit diesem Geschenk gezeigt hatte.

Und dann wurde Verlobung gefeiert!

Im Laufe des Abends musste der Bergpfarrer dann noch einmal die Geschichte erzählen, wie er den alten Brandhuber-Loisl damit konfrontiert hatte, dass dessen inzwischen verstorbener Bruder, Korbinian, der Täter war, der damals den Bauern getötet hatte, als dieser schon bewusstlos auf dem Boden lag.

»Lüge!«, keifte der selbsternannte Wunderheiler von St. Johann. »Davon ist kein Wort wahr. Mein Bruder ist kein Mörder!«

Um zu verhindern, dass die Wahrheit an den Tag kam, hatte der Alte die Dörfler, die vielleicht etwas wissen konnten, eingeschüchtert und damit gedroht, sie mit Flüchen aus seinem angeblichen Zauberbuch zu belegen. Tatsächlich schwiegen daraufhin die meisten der älteren Leute, die der Bergpfarrer befragte.

Nur eine ließ sich von Loisls Drohung nicht beeindrucken, Josepha Burgsmüller, die mit Korbinian so gut wie verlobt gewesen war. Die ehemalige Krankenschwester erzählte Sebastian, was sich damals abgespielt hatte und stellte somit die Ehre der Familie Gruber wieder her.

So erfreut der gute Hirte von St. Johann auch darüber war, wie gut die Geschichte ausgegangen war, und sich mit Christian und Anna über deren Glück freute, umso nachdenklicher wurde Sebastian, wenn er an Stefan Lindner dachte.

Zwar hatte das Feuer auf dem Hof keinen großen Schaden angerichtet, dennoch war der Geistliche sicher, dass dieses Drama noch längst nicht vorüber war.

*

In St. Johann, auf dem Saal des Hotels ›Zum Löwen‹, herrschte das übliche samstagabendliche Treiben.

Von nah und fern waren Leute herangekommen, um bei Musik und Gaudi für ein paar Stunden ihre Sorgen und den Alltag zu vergessen.

Stefan Lindner betrat an Katjas Seite den Eingang. Der junge Mann hatte, auf Anraten seiner fürsorglichen Pensionswirtin, schon am Nachmittag zwei Eintrittskarten gekauft, sodass er und seine Begleiterin nicht erst anstehen mussten. Draußen standen die Leute, die ihre Karten erst kaufen mussten, auf der Straße und warteten geduldig darauf, eingelassen zu werden.

Eine Saaltochter führte das Paar an einen Tisch. Er stand in der Nähe der Empore, auf der die Musiker ihre Plätze hatten, und es saßen vorwiegend junge Leute daran.

Katja und Stefan bestellten etwas zu Trinken und waren gleich so ins Gespräch vertieft, dass sie den Knecht nicht bemerkten, der zwei Tische weiter saß und mit Hass erfüllten Blick zu ihnen herüberschaute.

»Ein Glück«, bemerkte der Bauerntochter, »dass die Umbauarbeiten auf deinem Hof durch das Feuer nicht zurückgeworfen sind.«

Stefan nickte. »Ja, da kann man wirklich von Glück reden«, stimmte er ihr zu. »In spätestens vierzehn Tagen kann ich in das Haus ziehen, und dann geht alles seinen Gang.«

Das durch Brandstiftung verursachte Feuer war wahrscheinlich, mangels Sauerstoffzufuhr, von selbst erstickt. So hatten es zumindest die Experten der Kriminalpolizei vermutet. Von weiteren nächtlichen Besuchern hatten sie keine Spuren gefunden ...

Max Trenker, der für die Aufklärung des Falles zuständig war, suchte bislang vergeblich nach dem Übeltäter.

»Ich kann mir einfach net vorstellen, dass es der Franz Birkner gewesen sein soll oder einer seiner Nachbarn«, meinte Sebastian, als sein Bruder mit ihm über die Angelegenheit sprach.

Freilich hatte Max die umliegenden Nachbarn des Lindnerhofes verhört, schließlich waren sie bislang die Nutznießer gewesen, die jahrelang ihr Vieh auf Weiden getrieben hatten, die ihnen nicht gehörten, ebenso wenig wie die Felder, die sie beackerten oder der Bergwald, in dem sie reichlich abgeholzt hatten.

Katjas Vater war empört gewesen, als der Polizist von ihm wissen wollte, wo er sich zur Tatzeit aufgehalten habe.

»Verdächtigst du mich etwa?«, rief er aufgebracht. »Das ist ja wohl die Höhe! Was glaubst’ wohl, wo ich gewesen bin? Geschlafen hab ich, in meinem Bett, und wenn du mir nicht glauben willst, dann frag halt meine Frau, die kann’s bezeugen.«

In der Tat, versicherte die Bäuerin, habe ihr Mann neben ihr im Bett gelegen und tief und fest geschlummert. Erst am frühen Morgen, zur üblichen Zeit, sei er aufgewacht und aufgestanden.

»Ich vermute, dass die anderen sich net anders geäußert haben, oder?«, sagte Sebastian schaute seinen Bruder fragend an.

Der nickte. »Alle haben ein Alibi«, antwortete Max, »ihre Frauen haben bestätigt, dass die Männer, zu der Zeit, als das Feuer gelegt wurde, in ihren Betten lagen.«

»Was ist mit dem Gesinde?«, wollte der Bergpfarrer wissen.

»Da ist’s net anders«, erwiderte der Polizeibeamte. »Keiner weiß was, keiner hat was geseh’n.«

Und so schien der Fall nicht aufzuklären zu sein und wurde erst einmal zu den Akten gelegt.

Die Saaltochter hatte die Getränke serviert, und jetzt wollte Katja endlich tanzen. Glücklich lag sie in Stefans Armen und schwebte über das Parkett.

Nicht nur Tobias Bachmann beobachtete das junge Paar, sondern auch Katjas Eltern, die in der Nähe der Tanzfläche saßen. Es war das erste Mal, seit sie von zu Hause ausgezogen war, dass das Ehepaar seine Tochter wieder sah.

Walburga Birkner tat es im Herzen weh, anzuschauen, wie glücklich Katja war. Seit das Madel nicht mehr im Haus war, wartete die Bäuerin sehnsüchtig darauf, dass ihr einziges Kind reumütig heimkehren und sich mit den Eltern aussöhnen würde.

»Du bleibst sitzen!«, sagte Franz im Befehlston, als er bemerkte, dass seine Frau aufstehen wollte.

Der Bauer wusste ganz genau, was sie vorhatte.

»Franz«, bat Burgl, »lass mich mit ihr reden. Bestimmt nimmt sie Vernunft an, und alles wird wieder gut.«

»Nix wird wieder gut!«, sagte eine Stimme hinter ihnen.

Sie wandten die Köpfe und sahen ihren Knecht, der von seinem Platz aufgestanden und zu ihnen gekommen war.

Mit brennender Eifersucht im Herzen hatte Tobias das junge Paar auf der Tanzfläche beobachtet und schließlich den wehmütigen Blick bemerkt, den die Mutter auf die Tochter geworfen hatte.

»Lasst mich das mal machen«, setzte der Bursche hinzu und hieb grinsend seine zur Faust geballte rechte Hand in die Handfläche seiner linken.

»Was hast du vor?«, wollte der Bauer wissen.

Sein Knecht lachte verhalten. »Dem Burschen eine Tracht Prügel verabreichen, die sich gewaschen hat«, antwortete Tobias. »Danach wird er schauen, dass er schnellstens Land gewinnt.«

»Keinen Streit, keine Rauferei!«, stieß Walburga Birkner hervor und packte ihren Mann am Arm. »Franz, das darfst du net zulassen!«

Der Birkner-Franz schürzte die Lippen und zuckte die Schultern. »Warum net? Ein bissel ›gut zureden‹ hat noch keinem geschadet«, entgegnete er augenzwinkernd.

So betont, wie er es sagte, war dem Knecht klar, dass er den Segen des Bauern, für das, was er vorhatte, bekommen hatte. »Lasst mich nur machen«, grinste er und wandte sich ab.

Schmunzelnd schaute Franz zu, wie Tobias sich durch die Menge zum Tresen schob, während seine Frau dem Knecht mit bangem Gesicht nachschaute.

Vermutlich würde er sich jetzt ein paar Spezi suchen, und dann wollte der Birknerbauer nicht in der Haut dieses Dahergelaufenen stecken…

*

Stefan Lindner machte sich arglos auf den Weg zur Pension. Zuvor hatte er Katja zum Pfarrhaus gebracht, und es hatte seine Zeit gebraucht, bis die beiden frisch Verliebten sich endlich voneinander trennen konnten.

Es war schon kurz nach Mitternacht gewesen, als sie den Saal verließen. Zwar ging es dort immer noch hoch her, und es war noch längst nicht ›Feierabend‹, aber sie wollten am nächsten Tag einen Ausflug in den Ainringer Wald machen und deshalb ausgeschlafen sein.

Die Straßenlaternen waren längst erloschen, als der junge Bauer den Kiesweg herunterkam. Er wollte gerade die Straße überqueren, als er sich unvermutet drei Gestalten gegenübersah, die in der Dunkelheit wie aus dem Nichts auftauchten und ihm den Weg versperrten.

»Na, Bursche«, höhnte einer, »warst’ in der Kirche, deine Sünden beichten?«

Noch vor wenigen Augenblicken hatte das Licht des Mondes die Straße erhellt, doch jetzt hatte sich eine mächtige, dunkle Wolke vor den Himmelskörper geschoben, sodass es wirklich eine rabenschwarze Nacht war, und Stefan niemanden erkennen konnte. Instinktiv ahnte er, dass die Burschen nichts Gutes im Schilde führten, und richtete sich innerlich darauf ein, sich gleich verteidigen zu müssen. »Was wollt ihr von mir?«, fragte er dennoch, in gleichmütigem Ton, und wollte sich an den drei Gestalten vorbeischieben.

Doch im nächsten Moment wurde er gepackt und festgehalten.

»Die Frage ist doch wohl eher, was du hier willst«, sagte der Sprecher. »Solltest schleunigst sehen, dass du von hier fort kommst, wir mögen hier nämlich keine Dahergelaufen wie dich!«

Während der eine sprach, hielten ihn die beiden anderen Typen, wie mit eisernen Klammern, an den Armen fest.

Stefan versuchte, sich losreißen, doch es gelang ihm nicht.

»Also schön«, versuchte er es im Guten, »ihr habt eure Gaudi gehabt und mich erschreckt, aber jetzt soll’s genug sein. Geht einfach heim und wir vergessen das alles hier.«

Statt einer Antwort spürte er einen Hieb in die Magengrube und sackte zusammen. Hätten die beiden anderen ihn nicht festgehalten, wäre er wohl zu Boden gestürzt.

Der Schmerz verlieh ihm neue Kräfte. Mit aller Macht bäumte Stefan Lindner sich auf, und es gelang ihm, seinen rechten Arm aus dem Griff des einen Burschen zu befreien. Sofort schlug er zu und traf den, der ihn noch festhielt, am Kinn.

Sein Gegner ächzte auf und ließ ihn los.

Der dritte Kerl hatte nicht mit dieser Gegenwehr gerechnet, er war so perplex, dass er nicht fähig war, sich überhaupt zu rühren.

Stefan stürzte sich auf ihn und schlug zu. Offenbar hatte er das Jochbein des anderen getroffen, denn der schrie auf und fiel rücklings auf die Straße.

Im selben Moment war die dunkle Wolke über dem Mond hinweggeschwebt, und sein Licht erhellte die Szenerie.

Der Kerl, den Stefan zu Boden geschlagen hatte, versuchte, sich aufzurappeln, was ihm allerdings sichtlich schwerfiel. ›Im Boxring würde man sagen, der Gegner war angezählt‹, dachte der junge Bauer, mit einem Anflug von Galgenhumor. Dann musste er sich auch schon wieder gegen die beiden Anderen zur Wehr setzen, die sich nun gemeinsam auf ihn stürzen wollten.

Allerdings hatten sie ihr Opfer weit unterschätzt, denn Stefan verteidigte sich und teilte so heftig aus, dass etwaige Zuschauer ihre wahre Freude gehabt hätten.

Nun konnten die Angreifer nicht wissen, dass er nicht nur sportlich und durchtrainiert war, sondern auch ein erfahrener Judoka. Seit seinem zehnten Lebensjahr hatte er diese Kunst der japanischen Selbstverteidigung trainiert und besaß längst den braunen Gürtel, der ihn als Meister auszeichnete. Zu dritt, hatten die Kerle ahnungslos vermutet, würde es ein Leichtes sein, ihm eine Abreibung zu verpassen. Nun ja ...

Stefan packte den vor ihm stehenden Angreifer bei den Aufschlägen seiner Jacke und ließ sich nach hinten fallen, gleichzeitig gelang es ihm, das rechte Bein zwischen die Beine des Gegners zu schieben und den Burschen mit einem Ruck über sich zu werfen. Den Zweiten hebelte er mit einem Wurf aus, der den Kerl in die Büsche am Straßenrand beförderte.

Der dritte Mann schließlich, der sich immer noch benommen das Gesicht hielt, wich vor ihm zurück, als er sich ihm näherte.

»Los, verschwind!«, herrschte Stefan ihn an. »Oder hast immer noch net genug?«

Er machte noch ein paar Schritte auf ihn zu, dann gab der Bursche Fersengeld. Hinter Stefan erklang Fußgetrappel, als auch die beiden anderen Kerle sich aus dem Staub machten.

Der junge Bauer klopfte sich den Schmutz von Jacke und Hose und setzte seinen Weg fort. Er glaubte nicht, dass die drei Burschen ihm noch einmal auflauern würden, die hatte vermutlich genug an ihrer Niederlage zu kauen. Leider hatte er keinen der Angreifer richtig sehen können und konnte sie deshalb auch nicht identifizieren, aber Stefan war fast sicher, dass es sich bei dem einen um den Knecht vom Birknerhof handelte.

Er erinnerte sich nur zu gut an den ersten Tanzabend, den er besucht hatte. In der Sektbar war er mit Katja zusammengestoßen, die dort mit Tobias Bachmann einen Erfrischungstrunk genommen hatte. Deutlich sah Stefan den hasserfüllten Blick, mit dem der ihn angeschaut hatte – vermutlich war er da schon rasend eifersüchtig gewesen.

Ein schlimmer Verdacht stieg in ihm auf.

War der Knecht möglicherweise auch für das Feuer auf dem Lindnerhof verantwortlich?

Freilich hatte er keine Beweise dafür, und Max Trenker hatte alle Leute auf dem Birknerhof vernommen, also auch Tobias Bachmann. Die Befragung hatte indes keinen Anhaltspunkt für einen Verdacht gegen einen von ihnen ergeben.

Stefan erreichte unbehelligt die Pension Stubler und stieg leise zu seinem Zimmer hinauf.

Auch wenn er müde war, so fand er doch erst einmal keinen Schlaf, zu aufgewühlt war er von dem Überfall, und der junge Bauer ahnte, dass die Sache noch lange nicht ausgestanden war.

Solange nicht akzeptiert wurde, dass er der neue Besitzer des Lindnerhofes war, würde er keine Ruhe haben – auch nicht von dem eifersüchtigen Knecht, der ihm immer wieder das Leben schwermachen würde.

*

Auch wenn er erst am Morgen in einen leichten Schlaf gefallen war, so ließ Stefan es sich doch nicht nehmen, früh wieder aufzustehen und nach dem Frühstück zur Kirche zu gehen.

Freilich auch, weil er dort Katja wiedersehen würde, aber er freute sich auch auf die Predigt Pfarrer Trenkers, die stets humorvoll und auf den Punkt gebracht war.

Nach dem Gottesdienst erzählte Stefan von dem nächtlichen Überfall auf ihn. Der Bergpfarrer war nicht weniger entsetzt, als dessen Bruder und Katja Birkner, die danebenstanden.

»Willst’ vielleicht Anzeige erstatten?«, fragte der Polizeibeamte.

Stefan schüttelte den Kopf. »Zwecklos«, antwortete er, »ich hab ja niemanden erkennen können.«

Indes erwähnte er den Verdacht, den er gegen Tobias Bachmann hegte.

Sebastian blickte ihn nachdenklich an. »Du glaubst, am Auge hast du ihn getroffen?«, hakte er nach.

»Oder darunter, am Jochbein. Das war im Eifer des Gefechts, net so genau auszumachen. Jedenfalls hat er sich das Gesicht gehalten.«

Der Geistliche nickte. »Du könntest mit deinem Verdacht tatsächlich recht haben«, meinte er. »Grade, als ich aus dem Saal kam, kam der Tobias mir entgegen. Er hatte ein wunderschönes Veilchen am linken Auge und schaute recht grimmig drein.«

»Soll ich mir den Burschen mal vorknöpfen?«, bot der Bruder des Bergpfarrers an.

Stefan winkte ab. »Wozu? Wenn er’s wirklich war, wird er sich herausreden, er sei gegen einen Laternenpfahl gelaufen oder sonst was.«

»Vermutlich hast du recht«, nickte Sebastian, »aber du wirst in Zukunft aufpassen müssen.«

Katja schaute den guten Hirten von St. Johann entsetzt an. »Glauben S’, die versuchen ’s noch mal?«, fragte sie ängstlich.

Sebastian breitete die Arme aus und ließ sie wieder sinken. »Niemand weiß, was in diesen Köpfen vorgeht«, antwortete er. »Ich denk, es ist uns allen kein Geheimnis mehr, dass Tobias dich liebt und nur allzu gern als seine Frau seh’n würde, und Eifersucht ist ein starkes Motiv, da schaltet der Verstand schon mal ab.«

»Auch ein starkes Motiv für eine ?randstiftung…«, warf Max ein.

Sein Bruder wiegelte ab. »Schon«, sagte er, »aber wir wollen uns net in Spekulationen ergeh’n. Wir haben ja gerade erst geseh’n, wie weit das führen kann, wenn jemand unter falschen Verdacht gerät.« Er schaute auf die Uhr. »So«, setzte der Bergpfarrer hinzu, »jetzt lasst uns hinübergeh’n, die Frau Tappert wartet schon mit dem Mittagessen.«

Gleich nach dem Essen ging es in den Ainringer Wald. Das alte Jagdschloss ›Hubertusbrunn‹, in dem Pfarrer Trenker eine Begegnungsstätte für Jugendliche eingerichtet hatte, war ihr Ziel.

Als der Geistliche hörte, dass Katja und Stefan dorthin wollten, bat er sie, einen Ordner für Franziska und Georg Meyerling mitzunehmen. Die Herbergseltern sorgten nicht nur für das leibliche Wohl der jungen Gäste, sondern führten auch genau Buch über alle Ausgaben.

Einmal im Quartal überprüfte der Bergpfarrer die Eintragungen – doch das war rein routinemäßig, einen Grund zur Beanstandung hatte er noch nie gehabt.

Als der junge Lindner hörte, dass Hochwürden Schlossbesitzer sei, hatte er zunächst recht ungläubig dreingeschaut. Katja erzählte ihm, wie es dazu gekommen war, dass ›Hubertusbrunn‹, nach einem jahrzehntelangen Dornröschenschlaf, wieder entdeckt worden war.

Kein Geringerer, als der Bürgermeister von St. Johann war seinerzeit der ›Entdecker‹ gewesen und plante bereits, etwas Spektakuläres mit dem Schloss anzufangen.

Dass daraus kein Spielcasino wurde, wie Markus Bruckner es vorhatte, war nicht nur Pfarrer Trenker zu verdanken, sondern auch der Tochter des früheren Schlossbesitzers, Freiherr von Maybach, Baroness Michaela. Aus Furcht, man könne ihr Michaela wegnehmen, hatte Maria Engler, die Kinderfrau, die wahre Identität des Madels verschwiegen, und so wuchs die Kleine auf dem Anstetterhof auf, wo Maria sich als Magd verdingt hatte.

Dass sich Michaela in den gleichaltrigen Sohn des Bauern verliebte, konnte eigentlich nicht überraschen, doch als die beiden Maria und dem Bauern ihre Liebe gestanden, stießen sie auf erheblichen Widerstand. Zwar war Maria einverstanden, doch der Vater von Markus war strikt dagegen, dass sein Sohn die Tochter einer Magd heiraten wollte.

In ihrer Not wandten sich die jungen Leute an Pfarrer Trenker und baten um seine Hilfe. Aber Sebastian musste dazu erheblichen Widerstand überwinden, und hätte nicht Maria Engler endlich ihr Schweigen gebrochen und Michaelas wahre Herkunft offengelegt, würde heute möglicherweise doch ein Spielcasino, anstelle einer Jugendbegegnungsstätte, im Ainringer Wald stehen…

Für Michaela stand fest, dass Geld und Titel überhaupt nichts bedeuteten, wenn die Liebe es anders bestimmt hatte. Sie schenkte dem guten Hirten von St. Johann das Schloss, als Dank für seine Hilfe, und zog es vor, als Bäuerin an der Seite des Mannes, den sie liebte, glücklich zu werden.

Und so konnte Sebastian sich, mit diesem großzügigen Geschenk, einen Lebenstraum erfüllen.

Freilich waren die Renovierung des Schlosses und die Einrichtung der Begegnungsstätte mit einem erheblichem finanziellen Aufwand verbunden, doch, zu seiner großen Freude, erhielt der Geistliche nicht nur großzügige Spenden, sondern auch zahlreiche freiwillige Helfer kamen und packten mit an.

Auch Katja Birkner gehörte seinerzeit dazu. Als sechzehnjähriges Madel hatte sie es sich nicht nehmen lassen, nach der Schule und neben der Arbeit auf dem Hof, ihren Teil dazu beizutragen, ›Hubertusbrunn‹ zu dem Schmuckstück zu machen, das es heute war.

Stefan Lindner stand vor dem schmiedeeisernen Tor des Schlosses und schaute begeistert auf die Zinnen und Türme.

Katja drückte auf den Klingelknopf, der neben der Pforte in die Mauer eingelassen war, und nach kurzer Zeit öffnete sich oben, an der breiten Treppe, eine Tür.

Ein junger Bursche schaute heraus, winkte ihnen zu und kam die Stufen heruntergesprungen.

»Hallo, ihr seid vermutlich Katja und Stefan«, begrüßte er sie. »Pfarrer Trenker hat euch schon angekündigt. Ich bin Lukas.« Er schloss die Pforte auf und ließ sie eintreten. »Herzlich willkommen, auf Schloss ›Hubertusbrunn‹.« Lukas Berger machte eine einladende Handbewegung und deutete die Treppe hinauf. »Ich führe euch herum, und nachher gibt’s Kaffee und Kuchen«, erklärte er und erzählte, während sie die Stufen hinaufstiegen, dass er sich hier im Schloss um die Jugendgruppen kümmerte. Mit ihnen machte er Ausflüge in den Wald, organisierte Spiele und tat alles, damit die Burschen und Madeln sich hier, während ihres Aufenthalts, wohlfühlten.

Die Haushälterin des Bergpfarrers hatte ihnen einen Rucksack mit einer Brotzeit mitgegeben. Darin steckte auch der Ordner, den sie für das Verwalterehepaar mitgebracht hatten.

Lukas Berger nahm ihn entgegen und brachte ihn in das kleine Büro, das in einem Raum neben der Küche untergebracht war. Dann führte er die beiden Besucher herum und zeigte ihnen die Schlafzimmer, Gemeinschaftsräume, die Bibliothek und die beiden Spielzimmer im Keller des Schlosses.

Als sie wieder ins Erdgeschoss kamen, kehrten Franziska und George von einem Verwandtenbesuch zurück. Die meiste Zeit verbrachten sie hier, auf ›Hubertusbrunn‹, und nutzen deshalb meist die Sonntage, um ihre Familien zu besuchen.

Nach dem Kaffeetrinken, das auf der Terrasse stattfand, wobei sie den herrlichen Ausblick auf den Schlosspark genossen, verabschiedeten sich Katja und Stefan und wanderten zurück zum Parkplatz, an dem er seinen Wagen abgestellt hatte.

»Was ist das denn?«, fragte Stefan kopfschüttelnd und deutete auf ein Stück Papier, das unterm Scheibenwischer klemmte. »Ein Strafzettel, hier im Wald…?«

Er nahm das Papier, faltete es auseinander und las es. Er runzelte die Stirn.

Katja schaute ihm über die Schulter. Ihre Augen weiteten sich vor Entsetzen.

Verschwind’ von hier, wenn dir dein Leben lieb ist!, stand auf dem Zettel.

*

Tobias Bachmann wartete, bis das Paar in das Auto gestiegen und losgefahren war, dann schob der Knecht des Birknerhofes sein Motorrad aus dem Dickicht, in dem er sich, samt Maschine, versteckt hatte, und saß auf.

Im sicheren Abstand folgte er dem Wagen des Bauern. Erst, als feststand, dass die beiden nach St. Johann fuhren, bog Tobias ab und jagte die Bergstraße hinauf. Er liebte es, diese kurvenreiche Straße im halsbrecherischen Tempo hinauf und hinab zu jagen, erst kurz vor der Einfahrt zum Lindnerhof nahm er das Gas zurück und wurde langsamer.

Am Schlagbaum, der die direkte Zufahrt auf den Hof verhinderte, hielt der Knecht an und nahm den Helm ab.

Das Jochbein unter dem linken Auge schmerzte immer noch, wenn er es vorsichtig betastete. Es war geschwollen, und die Haut rings herum hatte sich gelb-violett verfärbt, sodass das Auge tatsächlich wie ein Veilchen aussah…

»Na, das mit dem ›Überreden‹ hat wohl net so ganz geklappt, was?«, hatte der Bauer grinsend gefragt, als Tobias am Morgen in die Küche gekommen war.

Burgl Birkner hatte dem Knecht eine Salbe gegeben und ihm gesagt, er solle sie vorsichtig auf die schmerzende Stelle streichen. Tobias war wütend aufgesprungen und gleich wieder hinausgestürmt.

Schon beim Melken hatte Xaver ihn angeglotzt und wollte wissen, gegen welche Tür er gefallen war.

Indes zeigte sein Grinsen, dass der Altknecht sehr wohl wusste, dass es keine Tür, sondern eine Rauferei gewesen war, der Tobias das blaue Auge zu verdanken hatte.

Wut und Eifersucht waren eine gefährliche Mischung. Tobias Bachmann starrte auf das Bauernhaus und die Scheune, und als sein Blick auf den Bulldozer fiel, überlegte er einen Moment, ob er das Baugerät nicht kurzschließen und aus dem Lindnerhof einen einzigen Schrotthaufen machen solle.

Doch er beherrschte sich, wenn auch mühsam, und warf das Motorrad wieder an.

Am Morgen hatte er auf den sonntäglichen Kirchgang verzichtet, nur zu gut erinnerte er sich an die Begegnung mit Pfarrer Trenker, als er auf den Saal zurückkehren wollte, der Blick des Geistlichen hatte Bände gesprochen.

Tobias wartete, bis Hochwürden außer Sichtweite war, dann schlich er wieder nach draußen und verzichtete auf eine Fortsetzung des Tanzabends. Er hatte keine Lust, sich dem Hohn und Spott der anderen auszusetzen – wenn Pfarrer Trenker ihn schon so wegen des Auges angeschaut hatte, würde es den Leuten am Tisch auch nicht verborgen bleiben. Aber es hatte ja auch keiner ahnen können, dass der Kerl asiatische Kampfkünste beherrschte und mit drei Gegnern gleichzeitig fertig werden würde!

Seine beiden Spezi, die ebenfalls Fersengeld gegeben hatten, waren und blieben verschwunden ...

Indes hatte die Salbe, die die Bäuerin ihm gegeben hatte, gut getan, und Tobias verschwand gleich in seiner Kammer und strich sie erneut auf.

Und in der Kammer blieb er vorerst. Tobias hockte am Fenster und starrte hinaus. Dabei überlegte er, was er unternehmen konnte, um den Kerl loszuwerden, der ihm nicht nur Katja streitig machte, sondern auch dem Bauern und den nächsten Nachbarn das Leben schwer machte.

Wenn es ihm gelang, Stefan Lindner zu vertreiben, wäre ihm nicht nur der Dank aller sicher, Franz Birkner würde gewiss nicht ablehnen, wenn er seine Tochter heiraten wollte.

Tobias reagierte nicht, als es an der Tür klopfte. Er wusste, dass es der Xaver war, aber er hatte keine Lust, mit dem Altknecht zu sprechen. Es reichte ihm, wenn er ihn beim Melken sah und seinen bohrenden Fragen ausgesetzt war. Auch als Burgl Birkner zum Kaffee rief, verzichtete der junge Knecht und blieb am Fenster hocken. Doch als ein Wagen auf den Hof fuhr, und Pfarrer Trenker aus dem Auto stieg, richtete sich Tobias neugierig auf.

Was wollte der Geistliche wohl?

Er wartete einen Moment ab, dann schlich er hinaus, über den Hof ins Bauernhaus. Vermutlich saßen der Bauer, seine Frau und Xaver noch in der Küche beim Kaffee. Tobias nahm den Hintereingang und ging auf Zehenspitzen über den Flur, bis zur großen Eingangsdiele, von der aus man in die Küche gelangte. Die Tür stand halboffen, der Knecht blieb dahinter stehen und lauschte.

»Ich weiß net, wer das hier geschrieben hat«, hörte er Pfarrer Trenker sagen, »und ich will auch niemanden zu Unrecht verdächtigen. Aber das ist eine eindeutige Morddrohung!«

Hätte er um die Ecke geschaut, hätte Tobias gesehen, dass die Bäuerin entsetzt die Hände vor das Gesicht schlug.

Franz Birkner schüttelte den Kopf. »Ich hab’s net geschrieben«, erklärte er.

»Das behaupte ich auch net«, erwiderte der Bergpfarrer. »Aber wer auch immer der Verfasser dieser Zeilen ist, er hat nichts erreicht, Stefan Lindner konnte er damit nicht beeindrucken, er wird auf den Hof ziehen und ihn bewirtschaften, ob es nun einigen Leuten passt oder net.«

In der Küche herrschte einen Moment Schweigen.

»Allerdings bin ich hergekommen, um euch Folgendes mitzuteilen«, fuhr der Geistliche fort, »Stefan ist damit einverstanden, dass ihr, bis zum Herbst, weiterhin seine Wiesen benutzt, um eure Kühe darauf zu weiden, und dass diejenigen, die seine Felder beackert und bestellt haben, sie auch abernten. Danach will er mit der Aussaat des Wintergetreides beginnen und sein eigenes Vieh auf die Wiesen treiben. Könnt ihr euch mit diesem Kompromiss zufrieden geben?«

Tobias hielt den Atem an, gespannt darauf, was der Bauer darauf erwidern würde.

Franz Birkner räusperte sich. »Wer sagt denn, dass der Bursche überhaupt der rechtmäßige Eigentümer ist?«, wollte er wissen.

Der junge Knecht konnte regelrecht erahnen, wie der gute Hirte von St. Johann den Kopf schüttelte.

»Lieber Himmel«, rief Sebastian, »du wirst doch wohl net notariell beglaubigte und vom Nachlassgericht anerkannte Dokumente bezweifeln wollen. Nimm es einfach so wie’s ist, Stefan Lindner ist der Besitzer des Hofes, den sein Onkel ihm hinterlassen hat. Daran gibt’s überhaupt nix zu rütteln!«

Walburga Birkner wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und schaute den Bergpfarrer fragend an. »Und Katja«, fragte sie hoffnungsvoll, »kommt sie wieder heim?«

Sebastian zuckte die Schultern. »Das kann ich net sagen«, antwortete er. »Eure Tochter ist alt genug, um zu entscheiden, was sie will.«

Tobias Bachmann hatte genug gehört, und schlich leise zurück, zum Gesindehaus.

So, wie es ausschaute, wollte Lindner es tatsächlich darauf ankommen lassen. Jetzt muss er sich wirklich etwas einfallen lassen, um diesen Burschen für immer zu vertreiben.

*

In der Tat zeigte sich der junge Bauer von dem Drohbrief, den er unterm Scheibenwischer seines Wagens gefunden hatte, eher unbeeindruckt. Und es gab in den nächsten Tagen genug zu tun, das ihn von diesen unerfreulichen Dingen ablenkte.

Mehrmals fuhren Katja und Stefan in die Stadt und suchten in verschiedenen Geschäften Möbel und Gerätschaften aus.

Der junge Bauer stand ja quasi vor einem Neuanfang, und es fehlte an allem; ein Bett zum Schlafen, ja, die komplette Wohnungseinrichtung! Angefangen bei Geschirr und Kochtöpfen, über Bett- und Tischwäsche, mussten sie alles besorgen, von Hand- und Geschirrtüchern ganz zu schweigen. Es machte ihnen viel Spaß, stundenlang herumzustöbern und das Richtige auszusuchen.

Allerdings stand dabei auch immer der finanzielle Aspekt im Vordergrund. Bei der Finanzierung hatten Stefan Lindner und der Bankberater eine genaue Rechnung aufgestellt und freilich auch den Posten ›Einrichtung‹ berücksichtigt. Geld war deshalb da, dennoch achtete das junge Paar darauf, wirklich nur das Notwendigste und Günstigste einzukaufen.

Gut anderthalb Wochen später, war es dann soweit, Stefan Lindner und sein Architekt nahmen den Umbau und die Renovierung ab, und die Arbeiter wurden mit einem kleinen Umtrunk verabschiedet.

Als sie alleine waren, gingen Stefan und Katja durch das Haus und schauten sich um. Noch sah es recht chaotisch aus, denn in sämtlichen Räumen stapelten sich irgendwelche Pakete, die noch nicht ausgepackt, und Möbel, die noch nicht zusammengebaut waren.

Mit Feuereifer machten sie sich an die Arbeit. Die Küche wurde zuerst eingerichtet, Herd und Spülmaschine waren bereits installiert, und – dank der neuen Heizungsanlage – gab es auch warmes Wasser.

Katja Birkner hatte das neue Geschirr in die Spülmaschine geräumt und gewaschen, während Stefan im Wohnzimmer Möbel rückte und letzte Hand an den Schrank legte, an dem noch die Türen montiert werden mussten. Bis zum Abend arbeiteten sie und hatten dabei, trotz aller Anstrengungen, doch ihre Gaudi.

Arm in Arm saßen sie später am Abend vor dem Bauernhaus ließ ihren Blick über den Hof schweifen, der von der untergehenden Sonne in einen goldenen Schein getaucht wurde.

Katja hatte ihren Kopf an Stefans Schulter gelehnt und träumte mit offenen Augen. Sie stellte sich vor, wie schön es werden würde, wenn sie hier zusammenlebten, eine Familie gegründet hatten, und die Kinder aufwuchsen.

Würden sie hier alle glücklich werden können, trotz des Streits mit den Nachbarn? Und wie würde es mit den Eltern weitergehen? Gab es Aussicht auf Versöhnung, oder würden sie nie erleben, wie glücklich ihre Tochter war, wie ihre Enkelkinder zur Welt kamen?

Stefan legte seinen Arm um sie und drückte sie an sich. »Sag mal, was ist mit deinen Eltern?«, fragte er, als habe er ihre Gedanken erraten können. »Glaubst’ net, dass es ein guter Zeitpunkt wär, mit ihnen zu reden?«

Katja zuckte die Schultern. So gerne sie es gewollt und den Eltern die Hand zur Versöhnung gereicht hätte, so sicher war sie auch, dass zumindest ihr Vater nicht über seinen Schatten würde springen können.

Auf Stefans Angebot, das Pfarrer Trenker ihm übermittelt hatte, hatte Franz Birkner kaum reagiert und dann nur gemeint, dass er zuerst einmal mit den Nachbarn darüber reden müsse. Seitdem hatten sie nie wieder etwas von ihm gehört.

»Wirst schon sehen«, sagte Stefan tröstend, »irgendwann renkt sich alles wieder ein. Spätestens, wenn sie die Einladung zu unserer Hochzeit erhalten haben, müssen sie reagieren, ich bin aber sicher, dass ihr euch, bis dahin, längst wieder ausgesöhnt habt.« Er rieb sich mit der flachen Hand über den Bauch. »Und jetzt hab ich Hunger«, stellte Stefan grinsend fest. »Es ist bloß nix im Haus.«

In all dem Trubel hatte niemand von ihnen daran gedacht, dass zu einem Haushalt auch Essen und Trinken gehört. Zwar standen im Keller ein paar Bier- und Mineralwasserkisten, doch die Getränke alleine machten noch nicht satt.

»Komm, lass uns nach St. Johann fahren«, schlug Stefan vor, »und im ›Fontana‹ eine Pizza essen.«

Er liebte die einfache italienische Küche, die in der Pizzeria ›Fontana‹ serviert wurde, egal, ob es sich dabei um den belegten Teigfladen handelte oder eines der leckeren Pastagerichte.

Sie sperrten sorgfältig die Haustür zu und machten sich auf den Weg.

Im Innenhof der Pizzeria waren zahlreiche Tische besetzt, das Lokal erfreute sich bei Einheimischen und Urlaubern großer Beliebtheit. Ein junger Kellner führte das Paar an einen Tisch, der gerade freigeworden war, und reichte ihnen die Speisekarte.

Stefan bestellte zwei Gläser von dem offenen Rotwein und, weil er noch wieder zurückfahren musste, eine Flasche vom italienischen Mineralwasser, das er auch sehr gerne mochte.

Im ›Fontana‹ wurde die Pizza in einem mit Holz befeuerten Ofen gebacken, was ihr einen unnachahmlichen Geschmack verlieh. Der dünne Teig war locker und kross zugleich, und die Köche sparten nicht bei dem Belag.

Während Stefan eine Pizza mit Meeresfrüchten verzehrte, hatte Katja für sich eine ›Vier-Jahreszeiten-Pizza‹ bestellt, die mit verschiedenem Gemüse und Käse belegt war. Wie immer schmeckte es köstlich, wenn sie von der Arbeit nicht so müde gewesen wären, hätten sie noch länger am Tisch sitzen und plaudern können.

Letztendlich siegte allerdings die Vernunft, und Stefan verlangte nach der Rechnung.

Als er sich am Pfarrhaus von Katja verabschiedete, versprach sie, am nächsten Morgen, mit frischen Semmeln und allem, was zu einem ordentlichen Frühstück gehörte, zum Lindner Hof zu kommen, damit sie weiterarbeiten konnten.

Auf dem Lindner-Hof angekommen, schaltete der junge Bauer die Außenbeleuchtung ein und schaute sich zufrieden um.

Schon mehrmals war er auf den Friedhof gegangen und hatte das Grab des ihm unbekannten Onkels besucht. Ewig würde er Josef Lindner dankbar sein, dass er ihn in seinem Testament bedacht hatte. Eine kleine Fotografie war alles, was er von dem Altbauern kannte, sie lag bei den Unterlagen, die Stefans Vater seinerzeit vom Nachlassverwalter zugeschickt worden waren. Onkel Sepp hatte große Ähnlichkeit mit seinem Bruder gehabt.

Stefan beschloss, das Foto zu vergrößern und ihm in der Diele einen Ehrenplatz zu geben, neben den Bildern seiner Eltern. Schließlich war durch die Erbschaft ja auch irgendwie Andreas auf den Hof zurückgekehrt, auf dem er geboren und aufgewachsen war.

Als der junge Mann ins Haus ging, krachte irgendwo ein Schuss. Stefan blieb überrascht stehen und lauschte.

Wer jagte denn um diese Zeit?

Der Schuss kam aber eindeutig aus der Richtung des Ainringer Waldes, überlegte Stefan, während er die Tür hinter sich schloss. Es war rätselhaft, abgesehen davon, dass die Saison noch gar nicht eröffnet war, ging zu dieser Stunde kein Mensch auf die Pirsch.

Es sei denn, er war ein Wilderer…

*

In der Landklinik Schirmerhof standen die Zeichen auf Abschied. Melanie Burmeister, die als ›Frau ohne Gedächtnis‹ in die Geschichte des Wachnertals eingegangen war, wollte endgültig nach Gera heimkehren.

Nachdem ihre Erinnerungen zurückgekehrt waren, hatte Melanie noch einige Therapiestunden in der Landklinik bekommen und galt nun als geheilt.

Auf der Terrasse des Austragshäusels, in dem Lena Brock ihre homöopathische Praxis betrieb, saßen sie und tranken ein letztes Mal zusammen Kaffee.

Neben Dr. Adrian Keller, dem Gründer und Leiter der Traumaklinik, hatten auch Yvonne und Pascal Metzler am Tisch Platz genommen. Der junge Franzose hielt Melanies Hand, die ihn lächelnd anschaute und den sanften Druck seiner Finger erwiderte.

»Morgen ist also der große Tag«, stellte Adrian fest, »ich bin froh, dass Hochwürden euch begleitet und in den ersten Tagen zur Seite steht.«

Yvonne blickte ihren Bruder an. Fast zwei Stunden lang hatte sie noch einmal mit ihm darüber gesprochen, was er erlebt und hinter sich hatte, in Bezug auf Nathalie Baumann, seine frühere Verlobte, die die Bank, in der sie beide gearbeitet hatten, um einen Millionenbetrag betrogen hatte und spurlos verschwunden war.