E-Book 431-440 - Toni Waidacher - E-Book

E-Book 431-440 E-Book

Toni Waidacher

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Beschreibung

Mit dem Bergpfarrer hat der bekannte Heimatromanautor Toni Waidacher einen wahrhaft unverwechselbaren Charakter geschaffen. Die Romanserie läuft seit über 13 Jahren, hat sich in ihren Themen stets weiterentwickelt und ist interessant für Jung und Alt! Toni Waidacher versteht es meisterhaft, die Welt um seinen Bergpfarrer herum lebendig, eben lebenswirklich zu gestalten. Er vermittelt heimatliche Gefühle, Sinn, Orientierung, Bodenständigkeit. Zugleich ist er ein Genie der Vielseitigkeit, wovon seine bereits weit über 400 Romane zeugen. Diese Serie enthält alles, was die Leserinnen und Leser von Heimatromanen interessiert. E-Book 1: Eine wirklich sympathische Frau E-Book 2: Wettstreit der Sennerinnen E-Book 3: Hauptgewinn - Liebe! E-Book 4: Wie ein heller Sonnenstrahl E-Book 5: Was wird aus dem Sonnleitner-Hof? E-Book 6: Musik ist unser Leben E-Book 7: Verliebt in die schöne Münchnerin E-Book 8: Wo viel Licht ist, ist auch Schatten ... E-Book 9: Skandal auf dem Bartlhof E-Book 10: Wie buchstabiert man Liebe?

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Inhalt

Eine wirklich sympathische Frau

Wettstreit der Sennerinnen

Hauptgewinn - Liebe!

Wie ein heller Sonnenstrahl

Was wird aus dem Sonnleitner-Hof?

Musik ist unser Leben

Verliebt in die schöne Münchnerin

Wo viel Licht ist, ist auch Schatten ...

Skandal auf dem Bartlhof

Wie buchstabiert man Liebe?

Der Bergpfarrer – Staffel 44 –

E-Book 431-440

Toni Waidacher

Eine wirklich sympathische Frau

… doch sie hat ein Geheimnis

Roman von Waidacher, Toni

»Das darf doch net wahr sein! So was gibt’s doch einfach net! Dass ein Mercedes eine eingebaute Vorfahrt hat, ist ja allgemein bekannt. Aber dann auch gleich noch einen eingebauten Parkplatz …« Wütend drückte Nelly Sonntag zwei Mal kräftig auf die Hupe.

Der Fahrer des weißen Sportwagens, der ihr die Parklücke vor der St. Johanner Einkaufspassage soeben vor der Nase weggeschnappt hatte, ließ sich davon jedoch nicht beeindrucken. Mit strahlendem Lächeln auf den Lippen stieg er aus, wandte sich mit einer angedeuteten Verbeugung zu Nelly um und warf ihr frech eine Kusshand zu.

Nelly entfuhr ein Zischen, das einer Schlange alle Ehre gemacht hätte. Sie ließ das Fenster herunter, um dem Fahrer gehörig ihre Meinung zu geigen, doch der junge Mann war schon in der Passage verschwunden.

»Ein Österreicher. Und noch dazu ein Wiener«, fauchte Nelly mit einem Blick auf das Nummernschild. Und setzte notgedrungen den Blinker, um sich wieder in den Verkehr einzureihen. Vielleicht hatte sie ja Glück, und es wurde doch noch ein anderer Parkplatz frei.

Nelly seufzte. Sie musste doch unbedingt noch ein Geschenk für ihre Oma besorgen. Sie konnte doch nicht ihre Sommerferien bei Oma Agnes in St. Johann verbringen und mit leeren Händen ankommen!

Als sie im Winter zusammen mit Günther hier gewesen war …

»Jaaa! Mach mir Platz! Was für ein super Zufall!«, jubelte Nelly unvermittelt, als plötzlich schräg vor ihr einer der geparkten Wägen ausscherte.

Keine zwei Minuten später stand Nellys roter Kleinwagen mitten in der geräumigen Parklücke. »Na, siehst du, Herr Frechdachs aus Wien«, grinste Nelly, warf sich ihre Handtasche über die Schulter und knallte die Fahrertür zu. »Unverhofft kommt oft!«

Mit beschwingten Schritten betrat sie die Einkaufspassage. Worüber sich Oma Agnes wohl freuen würde? Allzu teuer sollte das Geschenk natürlich nicht sein, schließlich war Nelly als Kindergärtnerin keine Großverdienerin, aber … Gleich vor dem ersten Modegeschäft blieb Nelly stehen, weil ihr ein farbenfroher Seidenschal ins Auge stach. Er passte perfekt zum Trachtenkostüm, das Oma Agnes so gerne trug. Nelly betrat den Laden und kam kurze Zeit später mit dem sorgfältig als Geschenk verpackten Seidenschal wieder heraus. Er war weniger teuer gewesen als befürchtet, sodass das Budget sogar noch für einen schönen Blumenstrauß reichte.

Zufrieden mit ihren Einkäufen trug Nelly die Sachen zu ihrem Auto.

Oma Agnes würde sich über die beiden Mitbringsel riesig freuen, da war Nelly sich ganz sicher. Ob sie zur Feier des Abends noch eine Flasche Wein besorgen sollte? Noch ehe Nelly eine Entscheidung hätte treffen können, blieb sie wie angewurzelt stehen. Was war denn das? Ein Polizist, der sich an ihrem Auto zu schaffen machte? Was wollte er? Nelly stellte zu ihrem Entsetzen fest, dass der Ordnungshüter im Begriff war, ein Strafmandat hinter ihren Scheibenwischer zu klemmen. Mit ein paar Riesenschritten stand Nelly neben dem Polizisten. »Was machen S’ denn da?«, fauchte sie. »Sie werden mir doch net einen Strafzettel verpassen wollen! Wofür denn überhaupt?«

Verdattert zog der Polizist den Strafzettel wieder hinter dem Scheibenwischer hervor und wandte sich Nelly zu.

Er war noch jung, vielleicht Ende zwanzig. Jedenfalls kaum älter als sie selbst. Und er sah verdammt gut aus mit seinen wuscheligen dunklen Haaren, die unter seiner Polizeikappe hervorquollen, mit seinen rehbraunen Augen und seinem markanten Kinn. Dazu ein schlanker, durchtrainierter Körper …

Trotzdem warf Nelly angriffslustig ihren Kopf in den Nacken. »Geben S’ gefälligst das Knöllchen her!«, schimpfte sie weiter. »Ich hab nichts angestellt. Sie können mir doch net einfach ein Knöllchen verpassen, nur weil Sie net wissen, womit Sie sonst Ihre Zeit totschlagen sollen!«

Der junge Polizist schluckte, aber er schwieg. Mit einem fast bekümmerten Ausdruck wanderte sein Blick zu dem Halteverbotsschild am Straßenrand.

Nelly biss sich auf die Unterlippe. In ihrer Magengrube breitete sich ein flaues Gefühl aus, aber sie war wild entschlossen, nicht so schnell klein bei zu geben. »Ich hab bloß Geschenke gekauft. Für meine Oma«, erklärte sie trotzig und hielt dem verdutzten Polizisten das Päckchen aus dem Trachtengeschäft und den Blumenstrauß vors Gesicht. »Ich war net länger als eine Viertelstunde fort. Wenn’s denn überhaupt eine Viertelstunde war. Wird man jetzt schon von der Polizei dafür bestraft, dass man seiner Oma eine Freude machen will? Das wäre ja noch schöner.«

Der junge Ordnungshüter schob den Blumenstrauß sanft, aber bestimmt zur Seite und sah Nelly eindringlich an. »Es geht net um die Geschenke für Ihre Oma. Und das wissen Sie auch«, rechtfertigte er sich. »Es geht einzig und allein um das Halteverbot. Das Halteverbot ist uneingeschränkt, wie Sie sehen. Deshalb darf man hier net einmal fünf Minuten parken, geschweige denn eine Viertelstunde.«

Wütend stampfte Nelly mit dem Fuß auf. Dieser Polizist schien der gleiche rechthaberische Sturkopf zu sein wie Günther. Der hatte auch immer alles besser gewusst und sie an allen Ecken und Enden geschulmeistert und für sich selbst alle Freiheiten herausgenommen, auch die, anderen Frauen hinterher zuscharwenzeln …

»An der gleichen Stelle ist vor mir schon ein Auto gestanden. Und den Fahrer dieses Autos haben Sie net aufgeschrieben. Wenn Sie schon so supergenau sein wollen, müssen Sie allen, die hier in St. Johann falsch parken, ein Knöllchen ausstellen. Ohne Ausnahme! Rund um die Uhr. Oder gar niemandem. Weil vor dem Gesetz alle Bürger gleich …«

Der junge Polizist unterbrach Nelly mit einer abwehrenden Handbewegung. Er wollte ihr erklären, dass sie den Gleichheitsgrundsatz vollkommen falsch auslegte, aber es kam kein Laut aus seiner Kehle. Stattdessen sah er mit zusammen gepressten Lippen abwechselnd das Knöllchen und Nelly an.

Warum war er nicht ein paar Minuten später an dem Halteverbotsschild vorbeigekommen? Dann wäre ihm die ganze Angelegenheit erspart geblieben. Andererseits wäre er dann auch der jungen Frau – wie sie wohl hieß? – nicht begegnet. Ihre blonden, glatten Haare gefielen ihm. Ihre himmelblauen Augen noch viel mehr. Ganz zu schweigen von der feinen Nase und den schön gezeichneten vollen Lippen. Die Tatsache, dass sie in St. Johann ihre Oma besuchte und der älteren Dame auch noch Geschenke mitbrachte, machte sie ihm erst recht sympathisch.

Wenn nur das verfluchte Strafmandat nicht wäre! Allmählich brannte es in seiner Hand wie Feuer. Am liebsten hätte er es zerknüllt und in den nächsten Papierkorb geworfen, aber das wagte er nicht. Wenn Max Trenker, sein Vorgesetzter, davon erfuhr, dass er ein amtliches Dokument aus rein privaten Gründen vernichtet hatte, würde es bestimmt Ärger geben. Max Trenker war zwar sehr nett, machte andererseits aber nicht den Eindruck, als ob er solche Unregelmäßigkeiten dulden würde.

Was sollte er also machen? »Ich … ich hab da eine Idee«, kam ihm mit einem Mal ein Geistesblitz. »Ich kann den Strafzettel zwar nimmer zurücknehmen, aber vielleicht … vielleicht könnte ich Sie ein bissel für ihren Ärger entschädigen. Indem ich Sie zum Beispiel für heute Abend zum Tanzen einlade. Weil doch Samstag ist. Also der Tag, an dem jede Woche der berühmte Tanzabend im ›Löwen‹ steigt. Wenn … wenn Sie Ihre Oma mitnehmen wollen, damit Sie sie net schon gleich an Ihrem Ankunftsabend wieder alleinlassen müssen, würde mich das im Übrigen net stören. Die ältere Dame könnte sich ja, während wir tanzen, zu Pfarrer Trenker und den anderen Honoratioren setzen. Dann hat sie ein bissel Unterhaltung.« Der junge Polizeibeamte holte erst einmal Luft, dann setzte er hinzu: »Ich bin übrigens der Wolfgang Grönenbach. Für ein so hübsches und nettes Madel wie Sie natürlich der Wolfgang.«

Nelly hatte mit unbewegter Miene zugehört. Als Wolfgang Grönenbach nun erwartungsvoll schwieg, stemmte sie ihre Hände in ihre Hüften. »Ihr ›hübsches und nettes Madel‹ können Sie sich an den Hut stecken«, legte sie los. »Und ob Sie für mich der Wolfgang oder der Herr Grönenbach sein wollen, ist mir sowas von egal, dass Sie sich das gar net vorstellen können.« Nelly kniff ihre Augen zusammen und musterte den jungen Mann provozierend. »Auf den Tanzabend möchten S’ mich einladen. Als Entschädigung für das Knöllchen. Wie galant.« Sie ließ ein spöttisches Lachen hören. »Machen Sie das mit jeder Frau? So eine freche Masche! Geht’s eigentlich noch? «

Mit einer schwungvollen Bewegung riss sie dem jungen Polizisten den Strafzettel aus der Hand. Sie formte ihn zu einer kleinen Papierkugel, die sie gekonnt in einen immerhin etliche Meter entfernt stehenden Papierkorb schnippte. »Und jetzt hoffentlich auf Nimmerwiedersehen, Herr Grönenbach. Und noch viel Erfolg bei der Falschparkerjagd. Vielleicht haben Sie, wenn Sie weiterhin so tüchtig sind, ja bald einen Stern mehr auf den Achselklappen.«

Mit diesen Worten wandte Nelly sich ab, warf ihre Geschenke in den Kofferraum ihres Autos und fuhr los, ohne Wolfgang Grönenbach noch eines einzigen Blickes zu würdigen.

Der junge Polizeibeamte stand da wie ein begossener Pudel. Immer wieder schüttelte er entgeistert den Kopf. So eine Kratzbürste!

Fast war es Wolfgang Grönenbach peinlich, dass ihm die junge Frau immer noch gefiel. Und dass er nach wie vor große Lust hatte, sie näher kennen zu lernen. War er eigentlich noch zu retten?

Wäre er sich nicht sicher gewesen, dass es so etwas wie die berühmte ›Liebe auf den ersten Blick‹ nur in Liebesromanen gab, hätte er doch tatsächlich glauben müssen, dass es ihn gerade erwischt hatte! Und dabei hatte er nach wie vor keine Ahnung, wie die junge Frau hieß. Nicht einmal die Autonummer hatte er sich gemerkt!

Mit einem tiefen, schweren Atemzug steckte Wolfgang Grönenbach seine Hände in die Hosentaschen seiner Uniform.

Vielleicht brachte es ja der Zufall mit sich, dass ihm die junge Frau, sollte sie länger in St. Johann bleiben, noch einmal über den Weg lief. Vielleicht war sie bei dieser Gelegenheit sogar besserer Laune. Und wenn nicht, dann war es eben Schicksal. Dagegen konnte man nichts machen.

Mit enttäuschter Miene machte Wolfgang sich auf den Rückweg zum Polizeirevier. Selbst die Lust auf den Tanzabend, den er sonst so gern besuchte, war ihm gründlich vergangen.

*

»Grüß dich Gott, Oma! Ich kann dir gar net sagen, wie ich mich schon seit Wochen auf meine Ferien gefreut hab! Auf das Wachnertal und auf St. Johann! Und vor allem natürlich auf dich, Oma! Diesmal bleib ich viel länger als im Winter, das verspreche ich dir. Bevor Ende August die Kindergartenferien zu Ende gehen, wirst du mich nimmer los.« Nelly umarmte ihre Oma stürmisch und drückte sie temperamentvoll an sich.

»Madl, du erwürgst mich ja vor lauter Liebe«, keuchte Agnes Sonntag. Sie musterte Nelly von oben bis unten und war richtig stolz auf ihre hübsche Enkelin. »Und der Günther?«, fragte sie. »Hast du den Günther net dabei? Kommt er noch nach, oder …«

»Oder«, erwiderte Nelly knapp.

Oma Agnes runzelte die Stirn. »Was soll das heißen?«, hakte sie nach. »Habt ihr euch gestritten?«

Nelly zuckte die Schultern. »Das auch. Und noch ein bissel mehr«, kam ziemlich einsilbig die Auskunft.

Agnes Sonntag war angesichts der wortkargen Antworten ihrer Enkeltochter alles andere als zufrieden. »Jetzt lass dir doch net jedes Wort aus der Nase ziehen, Madl! Seid ihr nimmer zusammen, du und der Günther? Habt ihr euch getrennt?«

»Erraten«, nickte Nelly.

Oma Agnes entfuhr ein tiefer Seufzer. »Ach, Madl!« Ein weiterer Seufzer folgte auf den Fuß. »Net, dass ich diesen Günther so toll gefunden hätte, aber …«

Nelly verdrehte die Augen. »Da gibt’s kein Aber, Oma. Der Günther war alles andere als der Richtige«, stellte sie klar. »So ist es nun einmal. Ich kann’s net ändern, auch wenn es sich erst relativ spät herausgestellt hat.«

Agnes Sonntag bedachte ihre Enkelin mit einem zweifelnden Blick. »Das mit dem Richtigen … also, ich weiß net so recht. Wie stellst du dir den Richtigen denn eigentlich vor, Nelly?«

Nelly legte den Kopf schief und setzte eine nachdenkliche Miene auf. »Schlank, groß, dunkle Haare, am liebsten lockig, braune Augen, ein markantes, männliches Gesicht, schmale, aber kräftige Hände … Soweit das Äußere. Und die inneren Werte: einfühlsam, zärtlich, aber trotzdem temperamentvoll und leidenschaftlich, intelligent, ohne siebengescheit zu sein, mutig und tapfer, romantisch, verantwortungsbewusst und ernsthaft, bloß net überkorrekt, und absolut treu sowieso. Kavalier muss er natürlich auch sein. Und wenn er handwerklich net ungeschickt ist und vielleicht auch noch schnitzen oder musizieren könnte …«

Nelly unterbrach sich überrascht, als sie sah, wie ihre Oma wieder und wieder den Kopf schüttelte. »Was hast du denn, Oma?«, fragte sie unschuldig.

Agnes Sonntag musste lachen. »Soll dein Traummann vielleicht auch noch Millionär sein?«

Nelly zuckte die Schultern. »Sagen wir mal, es würde mich net stören. Aber Bedingung ist es natürlich net. Weil ich im Grunde gar net wüsste, was ich mit so viel Geld anfangen sollte. Aber ein sicheres Einkommen wäre net schlecht. Weil ich ja schließlich eine große Familie möchte. Und wenn ich erst Kinder hab und mich später, wenn du einmal alt bist, um dich kümmere, kann ich ja nimmer Vollzeit arbeiten gehen.«

Nellys Oma konnte ein Schmunzeln kaum unterdrücken. »Klingt absolut einleuchtend«, meinte sie amüsiert. »Wie viele Kinder stellst du dir denn vor?«

»Vier oder fünf, mindestens.« Sie blinzelte Oma Sonntag neckisch zu. »Du wünschst dir doch auch ein halbes Dutzend Urenkel und Urenkelinnen, oder?«

Jetzt musste Oma Agnes wirklich lachen. »Wie man’s nimmt. Aber ich fürchte, darüber brauche ich ohnehin gar net weiter nachzudenken. Denn wenn du so hohe Ansprüche an deinen Traummann stellst, werde ich sowieso keinen einzigen Urenkel bekommen. Weil du dann Single bleibst bis in alle Ewigkeit.«

»Von wegen«, konterte Nelly. »Der Richtige kommt. Und zwar schon bald. Das hab ich irgendwie im Gefühl.«

»Ach Madl«, winkte Oma Agnes ab. »Wo soll dir so ein Supermann, wie du ihn dir ausgedacht hast, denn begegnen? In einem Liebesroman? Oder in einem Kinofilm?« Sie seufzte. »Wenn dir in München oder hier in St. Johann ein ganz passabler Typ über den Weg laufen würde, fehlt ihm ja doch wieder die eine oder andere deiner unabdingbaren Wunscheigenschaften …«

Auch diesmal ließ Nelly ihre Oma den Satz gar nicht erst zu Ende führen. »Ich warte nimmer, bis mir der Richtige zufällig über den Weg läuft, Oma. Das ist altmodisch und funktioniert heutzutage nimmer. Lieber nehme ich mein Schicksal selbst in die Hand und suche mir einen Mann übers Internet. Das hat den Vorteil, dass ich ein Profil erstellen kann, in das ich alle Eigenschaften, die mein Zukünftiger haben soll, eingebe. Auf diese Weise kann überhaupt nichts schiefgehen.«

Auf Oma Agnes’ Stirn bildeten sich Sorgenfalten. »Ihr jungen Leute mit eurem Internet«, bemerkte sie ein wenig verächtlich. »Und was ist, wenn der, der sich meldet, die ganzen tollen Eigenschaften nur vortäuscht? Und in Wirklichkeit ein Krimineller ist? Ein Heiratsschwindler zum Beispiel? Oder ein Raubmörder? Oder ein Triebverbrecher?«

Nelly legte beschwichtigend ihre Hand auf den Arm ihrer Oma. »Das glaubst du doch selber net, dass Verbrecher sich ihre Opfer über Partnerschaftsvermittlungen im Internet suchen, oder?« Sie lachte. »Bei deiner Fantasie solltest du Krimis schreiben, Oma. Zeit hättest du ja, jetzt, wo du in Rente bist.«

Oma Agnes zog ihren Arm weg. »Ich find das gar net lustig, Nelly, weißt du«, ereiferte sie sich. »Hab ich dir, wie du im Winter da warst, net erzählt, was der Erbling-Maria passiert ist? Mit dieser jungen Frau, die sich als ihre Nichte ausgegeben hat und die Maria um ihr sauer erspartes Geld bringen wollte?«

Nelly winkte ungeduldig ab. »Das ist doch etwas ganz Anderes, Oma«, erklärte sie. »Oder hat die Erbling-Maria etwa im Internet nach einer Nichte gesucht?«

»Nein, natürlich net«, räumte Oma Agnes ein. »Aber darum geht es auch gar net. Ich wollte dir doch nur klarmachen, wie viele Kriminelle es auf der Welt gibt. Und wie sehr man aufpassen muss.«

Nelly nickte. »Vor allem, wenn man derart naiv wie die Erbling-Maria ist. Mit der wirst du mich doch net vergleichen wollen, Oma. Oder?«

»Nein, natürlich net, Madl. Obwohl – so dumm und arglos –, wie du glaubst, ist sie nun auch wieder net. Immerhin ist sie misstrauisch geworden und hat unseren Pfarrer Trenker und seinen Bruder eingeschaltet.« Oma Agnes griff nach Nellys Hand. »Was das Internet betrifft, hab ich einfach ein ungutes Gefühl. Muss das denn sein, diese Online-Sucherei? Wenn man bildsauber ist wie du? Ich meine, sich einen Partner fürs Leben suchen, ist schließlich net wie Mensch-ärgere-dich-nicht oder Halma spielen. Und so ein Online-Partnerprofil …«

»Das verstehst du net, Oma. Für das Internet hast du dich doch noch nie interessiert. Immerhin bist du ja vorzeitig in Rente gegangen, weil dich die neuen Computerprogramme im Büro so genervt haben«, fuhr Nelly Oma Sonntag in die Parade.

Die ältere Dame wollte gerade einen Einwand erheben und sich rechtfertigen, als Nelly versöhnlich auf das Päckchen und den Blumenstrauß zeigte. »Jetzt geb ich erst einmal den Blumen Wasser«, sagte sie. »Sonst verdursten sie noch. Und du wickelst in der Zwischenzeit dein Geschenk aus. Ich will endlich wissen, ob es dir gefällt. Ich bin schon richtig gespannt, was du dazu sagst.«

»Na gut, ich bin ja auch schon mächtig neugierig«, gab Nellys Oma zu und begann, das Päckchen auszuwickeln, wobei sie Schleife und Einwickelpapier sorgsam glättete, um beides später wieder verwenden zu können. Als sie den Schal sah, entfuhr ihr ein lauter Freudenschrei. »Nelly, du bist doch wirklich ein Schatz«, jubelte sie. »Besser hättest du es gar net treffen können. Der Schal passt sowohl zu meinem Trachtenkostüm als auch zu dem neuen Dirndl, das ich mir dieses Frühjahr gekauft hab. Weißt du, vielleicht ziehe ich das Dirndl samt Schal an, wenn wir in den nächsten Wochen einmal miteinander in den ›Löwen‹ zum Tanzabend gehen.«

»Du willst das Tanzbein schwingen, Oma?«

»Nein, tanzen will ich net. Ich setz mich an den Honoratiorentisch und plaudere ein bissel mit Pfarrer Trenker. Das Tanzen ist für junge Leute wie dich. Damit du vielleicht deine Internet-Partnersuche gar net erst brauchst. Aber wenn du natürlich lieber allein gehen möchtest, statt in Begleitung deiner Oma …«

Nelly schüttelte den Kopf. »Nein, Oma, das möchte ich net.« Dann musste sie plötzlich laut lachen. »Entschuldige, Omi, mein Heiterkeitsausbruch hat nichts mit dir zu tun«, beschwichtigte sie mit erhobenen Händen, als Oma Agnes vorwurfsvoll die Stirn runzelte. »Aber mir sind heute in St. Johann zwei Sachen passiert … Also eigentlich hab ich mich furchtbar geärgert, aber jetzt, wo du den Tanzabend erwähnst, find ich die zweite schon fast lustig.«

Ausführlich berichtete Nelly vom frechen Wiener Autofahrer, der ihr den letzten Parkplatz vor der Nase weggeschnappt hatte, und von Wolfgang Grönenbach, der ihr erst hartherzig ein Knöllchen verpasst und sie anschließend zum Tanzabend eingeladen hatte.

»Und weißt du, was ich im Nachhinein so komisch finde? Dass er dich auch mitnehmen und an den Honoratiorentisch zu Pfarrer Trenker setzen wollte. Damit du net am Abend meiner Ankunft schon gleich wieder allein bist. Er hat fast das Gleiche gesagt wie du.«

Oma Agnes zeigte sich sichtlich gerührt. »So ein netter junger Polizist«, sagte sie. »Aber was daran so komisch sein soll, begreif ich beim besten Willen net. Freundlich und verständnisvoll ist das. Dass junge Leute Familiensinn haben und auch die Alten mitkommen lassen, findet man heute nimmer so oft. Außer natürlich bei dir, Nelly.«

Nelly wurde rot. »Trotzdem … der Typ war alles andere als nett«, beharrte sie. »Er war schlichtweg unmöglich, Oma. Jedenfalls war es eine Frechheit, dass er mir einen Strafzettel verpassen wollte, obwohl ich doch nur kurz …«

Oma Agnes schüttelte tadelnd den Kopf. »Aber das war doch seine Pflicht«, verteidigte sie den jungen Ordnungshüter. »Grad hast du selber zugegeben, dass du im Halteverbot gestanden bist. Du kannst doch net einfach parken, wo es verboten ist, nur weil der Fahrer vor dir das auch gemacht hat. Schließlich ist doch jeder für sich selbst verantwortlich.«

Nelly verdrehte die Augen. »Also wirklich, Oma. Ich hab doch nur den Schal und die Blumen gekauft. Zu wem hältst du jetzt eigentlich? Zu mir oder zu diesem Wolfgang Dingsda?«

Liebevoll streichelte Nellys Oma über Nellys seidiges langes Haar. »Zu dir natürlich, mein Schatz. Und deine Strafe bezahle selbstverständlich ich. Wo ist denn das Knöllchen? Wie teuer ist es dich denn zu stehen gekommen?«

Nelly zuckte die Schultern. »Das Knöllchen hab ich dem Polizisten weggenommen, eine Papierkugel draus gemacht und …«

»Was hast du getan?« Diesmal war Oma Agnes ehrlich entsetzt.

»Ich hab den Strafzettel zusammengeknüllt und in den nächsten Papierkorb geschmissen. Das war's.«

»Und … und der Polizist? Was der dazu gesagt?«

»Nichts. Was hätte er auch sagen sollen. Er hat zugeschaut.«

»Und sich deine Autonummer aufgeschrieben, damit er eine Anzeige machen kann.«

»Kann ich mir net vorstellen. So belämmert wie der mir mit seinen braunen Rehaugen nachgeguckt hat …«

Oma Agnes runzelte die Stirn. Ein junger Polizist mit rehbraunen Augen … »Hat er auch dunkelbraune Haare gehabt? Mit Locken?«

Nelly schaute ihre Oma verblüfft an. »Ja, hat er gehabt. Aber wie … wie kommst du denn darauf? Kennst du diesen Wolfgang Grönenbach etwa?«

Oma Agnes nickte bedeutungsvoll. »Ich glaub schon«, erwiderte sie. »Vor ein paar Wochen, als ich mit meiner schweren Einkaufstasche auf dem Nachhauseweg vom Supermarkt war, bin ich nämlich beim Überqueren der Hauptstraße am Bordstein umgeknickt und hab mir den Knöchel verstaucht. Und da hat sich ein sehr, sehr netter junger Polizist um mich gekümmert, auf den deine Beschreibung haargenau passt. So ein freundlicher Mensch wie dieser Polizist ist mir – unser Herr Pfarrer Trenker einmal ausgenommen – noch selten begegnet. Er hat sofort den Verkehr aufgehalten und meine Einkäufe, die alle auf der Straße verstreut lagen, wieder eingesammelt. Dann hat er mir in den Streifenwagen geholfen und mich zu Dr. Wiesinger gefahren. Dort hat er auf mich gewartet, bis ich wieder aus dem Behandlungszimmer gekommen bin. Und dann hat er mich sogar noch nach Hause gebracht. Ich hab mich bedankt, war aber so durcheinander, dass ich vollkommen vergessen hab, ihn nach seinem Namen zu fragen. Wie hast du gesagt? Wolfgang Grönenbach?«

Nelly nestelte ein wenig verlegen an ihrem T-Shirt herum. »Jedenfalls ist dieser Grönenbach schuld, dass ich keinen Wein mehr besorgt hab für heute Abend«, versuchte sie, das letzte Wort zu behalten.

Oma Agnes warf ihrer Enkelin einen vielsagenden Blick zu. »Wir brauchen keinen Wein«, sagte sie. »Ich hab nämlich heute Nachmittag Himbeerbowle gemacht.«

»Himbeerbowle? Du hast deine sagenhafte Himbeerbowle … Das … das ist ja phänomenal! Du bist wirklich die liebste, beste Oma der Welt! Ich trinke mindestens fünf Gläser. Oder auch sechs.«

»Meinetwegen sieben … Schnapsgläser«, grinste Oma Sonntag.

»Von wegen Schnapsgläser«, konterte Nelly und gab ihrer Oma einen zärtlichen Rippenstoß. »Aber, weil du so eine supermegatolle Oma bist, zeig ich dir beim Bowle trinken, wie die Internet-Partnersuche funktioniert. Die Seite, die mir am meisten zusagt, heißt ›Network of Love‹. Das ist Englisch und bedeutet ›Netzwerk der Liebe‹.«

»So viel Englisch bring ich grad selber noch auf die Reihe«, erklärte Oma Agnes. »Aber meinetwegen, zeig's mir halt. Ich will ja keine Spielverderberin sein.« Seufzend stellte sie die Bowlengläser auf den Tisch und setzte sich dann neben Nelly, die ihr Laptop hochfuhr. »Also schau ich mir dein ›Netzwerk der Liebe‹ und was es zu bieten hat, halt einmal an.«

*

»Ein herzliches Grüß Gott, Frau Sonntag.« Sophie Tappert machte die Haustür des Pfarrhofs zur Gän­ze­ auf. »Was führt Sie denn her? Haben Sie ein besonderes Anliegen, oder …«

Agnes Sonntag schüttelte Frau Tapperts Hand und erwiderte ihren Gruß. »Ein besonderes Anliegen … ja, so könnte man es nennen«, seufzte sie schließlich. »Ich hätte gern den Herrn Pfarrer gesprochen, wenn er Zeit hat. Wenn net, schau ich halt ein anderes Mal wieder vorbei. So dringlich ist die Sache dann auch wieder net. Obgleich sie mir, wenn ich ehrlich bin, schon ein wenig auf den Nägeln brennt.«

Sophie Tappert überlegte einen Moment. »Daheim ist der Herr Pfarrer schon«, sagte sie dann. »Allerdings arbeitet er gerade an seiner Predigt, und ich weiß net, ob ich ihn stören darf. Wenn Sie möchten, Frau Sonntag …«

»Natürlich darf man mich stören«, unterbrach Pfarrer Trenker seine Haushälterin.

Er war, von den beiden Frauen unbemerkt, herangekommen und nickte Agnes Sonntag freundlich zu. »Wo drückt denn der Schuh?«, fragte er hilfsbereit, während Sophie Tappert diskret zur Seite trat und sich zurückzog.

Oma Agnes entfuhr ein weiterer Seufzer. »Es geht um meine Enkelin, die Nelly«, sagte sie. »Sie ist zwar ein recht liebes und braves Madl, aber in manchen Dingen sind die jungen Leute heutzutage einfach dermaßen uneinsichtig, dass man ihnen wirklich nur schwer beikommen kann. Egal was für Argumente man auffährt.«

Der Bergpfarrer lächelte. »Das stimmt schon«, meinte er. »Bloß glaube ich, dass wir in unserer Jugend auch net viel anders waren. Es waren lediglich andere Sachen, auf die wir ›abgefahren‹ sind, wie man heute so sagt.«

Agnes Sonntag unterdrückte den nächsten Seufzer und erwiderte stattdessen tapfer Sebastian Trenkers Lächeln. »Da mögen Sie durchaus Recht haben«, pflichtete sie dem Geistlichen bei, »bloß hab ich manchmal das Gefühl, dass die Welt gefährlicher geworden ist.«

»Wirklich? Vielleicht empfinden wir es auch nur so, weil wir älter geworden sind«, schlug Pfarrer Trenker vor und setzte hinzu: »Aber kommen S’ doch erst einmal richtig herein, Frau Sonntag. Zwischen Tür und Angel ist bestimmt net der richtige Ort, um sich zu unterhalten. Wollen wir uns net zusammen auf die Terrasse setzen, eine Tasse Kaffee trinken und uns ein Stück Kuchen schmecken lassen? Frau Tappert hat eine Heidelbeer-Sahnetorte gebacken, die ihresgleichen sucht. Die dürfen Sie sich auf keinen Fall entgehen lassen.«

»Wenn Sie meinen, Herr Pfarrer.« Dankbar trat Agnes Sonntag durch die Tür und ließ sich von Sebastian auf die Terrasse geleiten.

»Ich … ich will Sie aber auf gar keinen Fall von Ihrer Arbeit auf­halten. Und dass sich Ihre ohnehin so fleißige Haushälterin meinetwegen noch zusätzlich Mühe machen muss …«

Pfarrer Trenker winkte ab. »Sie wissen doch, wie sehr sich meine gute Frau Tappert immer über Gäste freut«, bemerkte er. »Und was mich betrifft, gehört net nur das Predigen zu meinen Pflichten, sondern auch, dass ich mich um die Sorgen meiner Pfarrkinder kümmere. Sie brauchen also wirklich kein schlechtes Gewissen zu haben, Frau Sonntag.«

»Danke, Herr Pfarrer. Wenn wir Sie net hätten hier in St. Johann …« Oma Agnes ließ sich auf einem der Gartenstühle nieder und genoss die sommerlich-friedliche Atmosphäre, die sie umgab.

»Und jetzt schießen Sie los«, forderte der Bergpfarrer die ältere Dame auf, als Sophie Tappert Kaffee und Kuchen gebracht hatte.

»Also … es geht, wie schon gesagt, um die Nelly«, begann Agnes Sonntag. »Ihr Freund, der Günther, hat sie sitzengelassen, und jetzt will sie sich einen neuen Partner suchen. Was ich ja durchaus verstehen kann. Sie ist doch so ein Familienmensch. Und möchte so gerne heiraten und eigene Kinder haben. Net bloß die, die sie im Kindergarten betreut.«

»Zu so einer Enkelin kann man Ihnen doch nur gratulieren«, warf Sebastian Trenker ein.

»Ja, schon. Aber … aber das Problem ist die Art und Weise, wie sie das Ganze angeht. Sie sucht sich nämlich einen neuen Freund übers Internet. Stundenlang sitzt sie jeden Tag an ihrem Laptop anstatt ins Freie zu gehen und ihre Ferien zu genießen. Aber was mich vor allem beunruhigt ist, dass sie bei ihrer Internet-Partnersuche an den Falschen geraten könnte. Es ist doch alles furchtbar anonym in dieser künstlichen Welt, und hinter so einem Persönlichkeitsprofil und einem möglicherweise stark bearbeiteten Foto kann sich doch sonstwer verbergen.«

Pfarrer Trenker schob Oma Agnes Kaffee und Kuchen in Reichweite und nahm selbst einen großen Schluck aus seiner Tasse.

»Schwarze Schafe gibt es überall«, meinte er beschwichtigend. »Net bloß im Internet. Gibt es denn einen konkreten Anlass zur Sorge?«

Agnes Sonntag nickte. »Leider ja. Weil … weil die Nelly, also die ist ein absolut ehrliches Madl. Sie zeigt mir nach ihren Sitzungen am Laptop sogar die Männer, für die sie sich interessiert und mit denen sie beabsichtigt, ein Date – eine Verabredung – zu vereinbaren. Und da ist einer – Jens Winter heißt er – der mir besonders unsympathisch ist.«

»Und warum?«, wollte der Bergpfarrer wissen.

Oma Agnes verrührte indessen emsig den Zucker in ihrer Kaffeetasse, sie wusste nicht so recht, wie sie sich verständlich machen sollte, erinnerte sie sich doch nur allzu deutlich daran, wie sie Pfarrer Trenker vor einem halben Jahr erzählt hatte, dass Nellys Freund, Günther, ihr unsympathisch sei. Außerdem würde er auch nie in die Kirche gehen.

Der Bergpfarrer hatte sie damals beschwichtigt und ihr ein wenig spaßhaft erklärt, dass ein schlechter Kirchgänger durchaus ein guter Mensch sein könne. Bestimmt würde er nun denken, sie hätte an jedem Mann, der ihrer Enkelin gefiel, etwas auszusetzen …

»Geht dieser Jens Winter am Ende auch net in die Kirche?«, erkundigte sich der Bergpfarrer dann auch mit einem Augenzwinkern.

Agnes Sonntag ließ noch ein weiteres Zuckerstück in ihren Kaffee fallen. »Das … das weiß ich net«, gab sie zu. »Es ist etwas Anderes, das mich stört. Er ist … so … so aufdringlich. Und ich werde das Gefühl net los, dass mit ihm irgendetwas net stimmt.«

»Und wie äußert sich das? Ich meine, wie kommen Sie zu der Annahme, dass mit dem Mann womöglich … irgendetwas net stimmt?«, erkundigte sich Sebastian.

Agnes Sonntag griff nach der Serviette und knetete sie nervös zwischen ihren Händen. »Erstens ist er zu Anfang gar net unter seinem richtigen Namen aufgetreten, sondern unter einem … Decknamen, oder wie man das nennt. Was ist denn das für eine Art? Und dann auch noch unter einem Namen, den kein Mensch je gehört hat: Aragon oder Aragorn oder so ähnlich. Meine Enkelin hat behauptet, das sei ein Name aus einem Fantasy-Film, den sie selber auch gesehen und toll gefunden hat, aber …« Oma Agnes verstummte und schaute Pfarrer Trenker hilfesuchend an.

»Das Benutzen eines Decknamens ist im Internet gang und gäbe muss also nichts Schlimmes bedeuten«, tröstete Sebastian die ältere Dame. »Zumal der Mann mittlerweile ja seinen richtigen Namen genannt hat.«

Agnes Sonntag nickte, wirkte aber keineswegs überzeugt. Sie aß einen Bissen von Sophie Tapperts Sahnetorte. »Aber seltsam ist der Mann trotzdem«, beharrte sie und legte die Kuchengabel wieder hin. »Nachdem meine Nelly ihm ein Foto von sich geschickt hat, ist er regelrecht ausgerastet. Er hat ihr beinahe stündlich Mails und SMS geschickt, in denen er ihr beteuert hat, sie sei die Frau, die ihm als Partnerin für den Rest seines Lebens bestimmt sei. Sie sei die einzige Frau auf der ganzen Welt, mit der er glücklich werden könne. Er müsse sie so bald wie möglich treffen. Und so weiter und so fort.«

»Und Ihre Enkeltochter?«, hakte der Bergpfarrer nach. »Was sagt Nelly dazu? Fühlt sie sich bedrängt, oder gefällt es ihr eher, dass ein Mann sie so begehrt?«

Oma Sonntag machte ein unglückliches Gesicht. »Es gefällt ihr. Wenn ich auch net verstehen kann, warum. Ich meine, wenn man nichts weiter als ein Bild von einem Menschen sieht und dann behauptet … also irgendwie ist das doch net ganz normal, Herr Pfarrer. Finden Sie net?« Agnes führte ihre Kaffeetasse zum Mund, stellte sie aber schon im nächsten Augenblick wieder ab. »Um zu wissen, dass man jemand heiraten und mit ihm durch dick und dünn gehen möchte, muss man ihn oder sie doch erst näher kennenlernen. Man muss herausfinden, ob man zueinander passt und sich wirklich versteht. Man muss den anderen erleben und erfühlen. Als Mensch und net bloß als Foto.«

Sebastian Trenker rieb sich nachdenklich das Kinn. »Im Prinzip gebe ich Ihnen schon Recht, Frau Sonntag«, pflichtete er Oma Agnes bei. »Aber junge Leute sind halt noch sehr begeisterungsfähig und überschwänglich. Und manchmal sehr romantisch, was ja net unbedingt ein Nachteil sein muss.«

Agnes Sonntag sah immer noch so unglücklich und besorgt aus, dass sie Sebastian leidtat. Wenn er ihre Bedenken auch nicht ganz teilte, war er doch der Ansicht, dass man negative Gefühle und Ahnungen nicht einfach verdrängen und ignorieren sollte.

»Ich mach Ihnen einen Vorschlag, Frau Sonntag«, versuchte er, der älteren Dame ihre Gemütsruhe zurückzugeben. »Ich lade Ihre Enkeltochter für kommenden Samstag zu einer Tour auf die Kandereralm ein. Bergbegeistert wie sie ist, wird sie da wohl kaum nein sagen. Und dann werde ich ihr in ganz entspannter Atmosphäre erklären, dass man mit Internetbekanntschaften vorsichtig sein muss. Und dass man, wenn man die Augen offenhält, dem Glück vielleicht doch leichter in der echten Welt begegnet als in der virtuellen.«

*

Es war noch fast dunkel, als Nelly in aller Morgenfrühe zum Pfarrhaus kam, doch Pfarrer Trenker stand –wie hätte es auch anders sein können – schon bereit. Er trug feste Bergschuhe, hatte einen großen Rucksack geschultert und war augenscheinlich bester Laune.

Nelly streckte dem Geistlichen die Hand zum Gruß hin.

»Guten Morgen, Herr Pfarrer«, sagte sie und setzte mit einem Blick auf die Kirchturmuhr ein wenig schuldbewusst hinzu: »Warten S’ schon lange?«

Der Bergpfarrer schüttelte den Kopf. »Nein, allerhöchstens zehn Minuten«, gab er zurück. »Und ich hab jede einzelne davon genossen. »Hören S’, wie schön die Vögel singen? Und die Luft ist so rein, dass man meinen könnte, es gäbe keine Autos, keine Flugzeuge und keine Schornsteine mehr auf der Welt.«

Nelly unterdrückte ein Gähnen. »Es hätte net viel gefehlt, und ich hätte verschlafen«, gab sie zu. »Dabei hab ich mich so sehr auf den Samstag gefreut. Wo doch die Tour auf die Kandereralm meine absolute Lieblingswanderung ist! Aber gestern Abend hab ich dann noch ein bissel im Internet gesurft und gechattet und darüber doch glatt die Zeit vergessen. Es war schon fast Mitternacht, wie ich ins Bett gegangen bin. Da ist es kein Wunder, dass ich heute Früh den Wecker überhört hab. Gottseidank hat mich die Oma gerade noch rechtzeitig geweckt.«

Der Bergpfarrer hatte Mühe, sein Schmunzeln zu verbergen. »Na, Hauptsache Sie sind da, Nelly«, meinte er. »Wollen wir uns also auf den Weg machen?«

Nelly nickte, wenn ihr im Moment auch nicht ganz klar war, wie sie es bis auf die Kandereralm schaffen sollte. Ihre Beine fühlten sich an, als wären sie aus Blei. Wenn sie wenigstens noch Zeit für eine Tasse Kaffee gehabt hätte!

»Und? Wie geht’s und wie steht’s in München?«, fragte Pfarrer Trenker, während sie nebeneinander durch das noch schlafende St. Johann in Richtung Ainringer Forst marschierten.

»Beruflich geht es mir prima«, berichtete Nelly. »Die Arbeit im Kindergarten macht mir eine Menge Spaß, weil ich halt Kinder einfach so wahnsinnig gern mag. Und privat … Na ja, das wissen Sie wahrscheinlich sowieso schon von meiner Oma.«

Der Bergpfarrer nickte. »Tut mir leid, dass es mit Ihnen und dem Günther kein gutes Ende genommen hat«, sagte er, wobei in seiner Stimme ehrliches Bedauern mitschwang.

Nelly zuckte die Schultern. »Am Anfang hat es mir schon ziemlich weh getan«, gestand sie, »aber jetzt, mit ein bissel Abstand, denke ich mir, dass ein Ende mit Schrecken allemal noch besser ist als ein Schrecken ohne Ende. Ein Mann, der dauernd alles besser weiß und mich dann auch noch hintergeht und anderen Frauen den Hof macht, kann mir gestohlen bleiben.«

»Da geb ich Ihnen vollkommen Recht, Nelly«, antwortete Sebastian. »Werden S’ sehen, wenn erst der Richtige kommt, ist alles vergessen. Dann gibt’s eine wunderschöne Hochzeit, bei der jeder strahlt vor Glück.«

»Ja«, gab Nelly tapfer lächelnd zurück. »Hier in St. Johann in Ihrer Kirche, Herr Pfarrer. Die Oma sitzt dabei natürlich in der ersten Reihe. Und übers Jahr gibt’s dann eine Kindstaufe. Und dann wieder eine. Und dann nochmal eine. Und so weiter und so fort.«

Nun musste auch Sebastian lachen. »Da haben Sie sich aber viel vorgenommen, Nelly«, bemerkte er mit leiser Ironie.

Nelly entging die kleine Spitze. »Ich möchte doch so gerne eigene Kinder. Einen netten Mann und eine riesengroße Familie. Zu der auch die Oma gehört. Und meine Schwiegereltern. Und … und einfach alle.«

Der Bergpfarrer hätte Nelly am liebsten wie einem Kind über den Kopf gestreichelt, ließ es aber sein.

Zumal Nelly – sie hatten inzwischen den Höllenbruch erreicht – mit einem Seufzer auf eine Stelle ein wenig abseits des Weges wies, wo eine riesige alte Fichte ihre Äste bis fast auf den Boden ausbreitete. »Da sind der Günther und ich im vergangenen Winter zusammen gesessen«, erinnerte sie sich. »Wir haben ein Feuer angezündet und wollten Bratäpfel machen. Bloß hat uns dann leider Förster Ruland dabei erwischt. Er hat uns furchtbar ausgeschimpft. Womit die Romantik auch schon wieder zu Ende war.«

Sebastian schwieg.

Förster Ruland hatte ihm, immer noch voller Entrüstung, ein paar Tage später von der Angelegenheit berichtet. Er war wild entschlossen gewesen, Nelly und Günther anzuzeigen, doch der Bergpfarrer hatte ihn davon überzeugen können, von seinem Vorhaben Abstand zu nehmen …

»Beim nächsten Date hier im Höllenbruch passiert mir so etwas nimmer«, riss Nelly den Geistlichen wieder aus seinen Gedanken. »Weil es jetzt ja Sommer ist. Da brauchen wir kein Feuer, das uns wärmt. Und auch keine Bratäpfel, sondern stattdessen lieber Eis aus der Kühltasche.«

Sebastian, der auf dem schmaler werdenden Pfad inzwischen die Vorhut übernommen hatte, wandte sich unwillkürlich um und bedachte Nelly mit einem fragenden Blick.

»Hat Ihnen meine Oma am Ende noch gar net erzählt, dass ich jetzt im Internet nach einem passenden Mann suche?«, erkundigte Nelly sich verwundert. »Das Portal, bei dem ich mich angemeldet hab, heißt ›Network of Love‹. Es hat lauter gute Bewertungen und viele Erfolgsmeldungen von vermittelten Paaren. Aber die Oma denkt natürlich trotzdem, dass es ein Tummelplatz für Betrüger, Heiratsschwindler und andere Kriminelle ist. Ich war mir ziemlich sicher, dass sie Ihnen schon ihr Leid geklagt und Sie vielleicht sogar gebeten hat, mir die Internet-Partnersuche auszureden.«

Sebastian Trenker, der für Oma Agnes’ Anliegen bisher noch nicht den richtigen Anknüpfungspunkt gefunden hatte, sah nun keine Möglichkeit mehr, so diplomatisch vorzugehen, wie er es sich vorgenommen hatte.

»Ihre Oma hat in der Tat mit mir darüber geredet«, gab er zu.

»Und was haben Sie ihr geantwortet?«, wollte Nelly wissen.

»Ich hab ihr gesagt, dass wir, die wir ja schon zur etwas älteren Generation gehören, in die Computer-Welt vielleicht allzu viele Gefahren hineinsehen. Weil man nun einmal dazu neigt, Dinge, die einem weniger vertraut sind, für gefährlicher zu halten, als Dinge, die man sozusagen aus dem Effeff kennt.«

Als sich bei diesen Worten auf Nellys Zügen ein breites Grinsen einnistete, runzelte der Bergpfarrer verwundert die Stirn.

»Dass Sie sich zur ›eher älteren Generation‹ rechnen, find ich schon ein bissel komisch, Herr Pfarrer«, erklärte Nelly, als sie Sebastian Trenkers Reaktion bemerkte. »Weil, wenn jemand so fit und weltoffen ist, wie sie, bleibt er ewig jung. Glaub ich zumindest.« Mit einem Augenzwinkern setzte sie hinzu: »Und Sie haben meiner Oma wirklich mit keiner Silbe versprochen, dass Sie sich auf dieser Bergtour bemühen werden, mich von meiner Internet-Partnersuche abzubringen?«

Sebastian Trenker hielt Nellys prüfendem Blick stand. »Ich hab Ihrer Oma versprochen, Sie vor den Gefahren der Internet-Partnersuche zu warnen. Man sollte dort mindestens so vorsichtig sein, wie man es im echten Leben ist.«

»Das ist mir durchaus bewusst«, pflichtete Nelly Pfarrer Trenker bei.

Als er sich wieder nach vorwärts wandte und weiterging, bemühte sie sich, mit ihm Schritt zu halten und dicht zu ihm aufzuschließen.

»Aber ich finde«, fuhr sie fort, »dass die positiven Möglichkeiten des Internets die negativen bei weitem überwiegen. Bei einer Partnersuche im Internet – das hab ich meiner Oma auch schon erklärt – kann ich ganz genau die Eigenschaften und Vorlieben angeben, die ich selber habe. Das Gleiche gilt für die Persönlichkeitsmerkmale, die mein Partner haben muss, damit er der Richtige für mich ist. Eine todsichere Methode also. Wenn man auf diese Weise net den Mann fürs Leben findet, dann findet man ihn nie.«

Es hätte nicht viel gefehlt, und Pfarrer Trenker hätte laut losgelacht. Er dachte daran, wie in früheren Zeiten die St. Johanner Bauern für ihren Sohn oder ihre Tochter die in ihren Augen bestmögliche Partie ausgewählt hatten. Übernahm diese Aufgabe inzwischen der Computer? War er treffsicherer? Schweigend stieg Sebastian weiter bergan.

Hatte er seine Pflicht gegenüber Oma Agnes und Nelly erfüllt?

Oder sollte er später doch noch einmal versuchen, Nelly zu erklären, dass das Herz und die Gefühle in den meisten Fällen klarer sahen, als die rationale Intelligenz, sei sie nun natürlich oder künstlich?

Sebastian nahm sich vor, später auf der Kandereralm, in entspannter Atmosphäre, noch einmal mit Nelly über das Thema Partnersuche zu sprechen. Jetzt würde er die Sache auf sich bewenden lassen, zumal das Rauschen der Kachlach immer lauter wurde und eine Unterhaltung ohnehin schon bald unmöglich machen würde.

Ruhigen Schrittes ging Nelly hinter dem Bergpfarrer weiter und freute sich auf das Überqueren der Kachlach, das sie schon immer ganz besonders genossen und geliebt hatte.

Als es endlich soweit war, blieb sie mitten auf der Brücke stehen und schaute, wie jedes Mal, fasziniert in das wild schäumende, tosende Wasser. Sie bewunderte die kleinen Regenbogen, die die Gischt im Licht der durch die Baumwipfel brechenden Sonnenstrahlen warf.

Schon als Zwölfjährige war sie hier zusammen mit dem Bergpfarrer gestanden und hatte das Naturschauspiel auf sich wirken lassen. Genau wie Oma Agnes, die damals fast immer mit von der Partie gewesen war.

Inzwischen war ihre liebe Oma leider nicht mehr ganz so gut zu Fuß und musste ihre Liebe zu den Bergen auf solche Gipfel beschränken, die sie mit Hilfe einer Seilbahn besteigen konnte.

Unter dem amüsierten Blick des Bergpfarrers zog Nelly ihr Smartphone aus der Gesäßtasche ihrer Jeans und filmte die sich in die Tiefe stürzenden Wassermassen. Anschließend schoss sie noch ein Foto von sich und Sebastian Trenker auf auch die hölzerne, überdachte Brücke über die Kachlach gut zu erkennen war.

»Den Film und das Foto bring ich meiner Oma mit, Herr Pfarrer«, schrie sie gegen das Zischen und Gurgeln des Wassers an. »Damit sie das alles net nur durch das Fenster ihrer Erinnerung sehen kann, sondern noch einmal in echt. Sogar den Ton hab ich aufgenommen, damit sie auch das Rauschen des Wassers hört.«

»Da wird sie sich bestimmt freuen«, lächelte Sebastian, bevor er zum Aufbruch drängte.

Eine Weile begleitete die beiden Wanderer noch das brausende Lied der Kachlach, bis es schließlich zu einem leisen Raunen wurde und dann ganz verstummte. Fast gleichzeitig lichtete sich der Wald, und nach weiteren zehn Minuten Gehzeit war die Hohe Riest erreicht.

Wie immer hielt der Bergpfarrer hier Rast. Er setzte sich auf einen der Felsen, von denen aus man einen weiten Blick über St. Johann und das ganze Wachnertal genießen konnte, und Nelly tat es ihm nach.

Sie verschränkte die Hände hinter dem Kopf und lehnte sich zurück, den oberen Teil des sonnengewärmten Felsens als Stütze im Rücken. Mit einem Mal fühlte sie sich müde und schläfrig. Sowohl die Anstrengung des strammen Aufstiegs als auch der fehlende Schlaf machten sich bemerkbar, und es hätte nicht viel gefehlt, und Nelly wäre eingenickt.

Nur der Duft der mit Schinken, Käse, Leberkäs und Salami belegten Brote, die der Bergpfarrer auswickelte, hinderte sie am Einschlafen und bewirkte, dass der Hunger die Müdigkeit verdrängte. Nelly langte herzhaft zu.

Auch die Äpfel und Birnen und die Schokoriegel, die ihr Sebastian Trenker anbot, verschmähte sie nicht, teilte aber ihren eigenen Proviant, einen von Oma Agnes selbst gebackenen Hefezopf, ebenfalls mit dem Bergpfarrer.

Als Pfarrer Trenker dann auch noch den letzten Tropfen Kaffee aus der großen Thermoskanne ausgeschenkt hatte, fühlte sie sich rundum satt, zufrieden und glücklich.

»Schauen S’ einmal Herr Pfarrer, wie klein Ihre Kirche von hier heroben aussieht«, sagte sie und wies mit dem ausgestreckten Finger auf den Zwiebelturm des Gotteshauses. »Und da – das muss das Häusl von meiner Oma sein! Das wirkt so winzig, als ob es für Ameisen gebaut wär.«

Sebastian schmunzelte. Auch er hatte seinen Spaß daran, St. Johann im Miniaturformat zu betrachten und sich auszumalen, es wäre ein Spielzeugdorf. »Jetzt sind wir wie die Riesenkinder aus dem Märchen«, sagte er und blinzelte Nelly zu. »Sollen wir den Streifenwagen, der gerade von der Polizeistation wegfährt, aufhalten, in der Luft umdrehen und dann in die andere Richtung sausen lassen?«

Nelly schaute auf den Streifenwagen, der aus luftiger Höhe in der Tat wie eines der kleinen Autos aussah, mit denen sie als Kind so gerne gespielt hatte. Sie lachte hell auf, verstummte dann aber abrupt, schluckte und wandte sich dem Bergpfarrer zu. »Wie lang kann das eigentlich dauern, bis so eine polizeiliche Anzeige durch ist?«, erkundigte sie sich unvermittelt.

Sebastian verstand überhaupt nichts. »Eine polizeiliche Anzeige? Wie … wie kommen S’ jetzt auf so etwas?«, fragte er zurück.

Ein wenig kleinlaut berichtete Nelly ihm von dem Vorfall vor dem St. Johanner Einkaufszentrum.

Mit einigen Tagen Abstand sah sie die Angelegenheit allerdings in einem etwas anderen Licht und fing an, sich für ihr Verhalten zu schämen. Immerhin war sie eindeutig im Unrecht gewesen. Trotzdem hatte sie, statt sich zu entschuldigen und ihre Strafe zu akzeptieren, frech und aufmüpfig reagiert und zu allem Überfluss auch noch den Strafzettel …

»Ich glaub net, dass da noch etwas nachkommt«, beruhigte Sebastian Trenker sie. »Zum einen, weil bestimmt net vierzehn Tage vergangen wären, bis man Ihnen die Anzeige zugestellt hätte. Und zum anderen … weil ich mir, was den Wolfgang betrifft, beim besten Willen net vorstellen kann, dass er überhaupt eine Anzeige gemacht hat.«

Nelly musste schon wieder schlucken. »Kennen Sie diesen Wolfgang Grönenbach denn, Herr Pfarrer?«, fragte sie peinlich berührt.

Der Bergpfarrer zuckte die Schultern. »Kennen ist zuviel gesagt«, meinte er. »Ich hab zwei oder drei Mal ganz kurz mit ihm geredet. Und sonst weiß ich halt, was mein Bruder, der Max, mir von ihm erzählt.«

»Ach so«, bemerkte Nelly.

»Mein Bruder findet übrigens, dass dieser Herr Grönenbach ein ausgesprochen netter Mensch ist. Er nimmt den Spruch ›Die Polizei, dein Freund und Helfer‹ ziemlich wörtlich. Sein größter Fehler ist, dass er net streng sein kann.« Der Bergpfarrer schmunzelte. »Sie haben Glück gehabt, dass Sie net an einen anderen Polizisten gekommen sind.«

Nelly stieß erleichtert die Luft aus und richtete ihren Blick zum Himmel, in dessen strahlendem Hochsommerblau ein paar weiße Wölkchen schwammen. Vielleicht hätte sie Wolfgang Grönenbachs Einladung zum Tanzabend doch annehmen sollen. Immerhin hatte er sich sogar darum gekümmert, wo ihre Oma bleiben würde. Und wenn er so gut tanzte, wie er aussah …

»Sie sollten sich eincremen, Nelly«, riss der Bergpfarrer Nelly Sonntag aus ihren Gedanken.

Er zog eine Tube Sonnencreme aus seinem Rucksack und hielt sie ihr hin. »Die Sonne ist nämlich jetzt im Hochsommer in dieser Höhe ziemlich stark und kann einem, ehe man es sich versieht, die Haut verbrennen.«

Nelly bedankte sich für den Rat und begann, Creme auf ihrem Gesicht, ihrem Hals und ihren Armen zu verteilen, während Sebastian sich daranmachte, seinen Rucksack wieder einzupacken.

Sorgfältig verstaute er die Thermosflasche und das Einwickelpapier, in dem die belegten Brote gesteckt waren.

»Und auf welchem Weg gehen wir jetzt weiter?«, fragte er, als Nelly ihm die Sonnencreme zurückgab. »Nehmen wir den ganz normalen Wanderweg zur Kandereralm, oder wollen Sie lieber ein bisschen klettern?«

Nelly brauchte nicht lange zu überlegen. Sophie Tapperts kräftiger Kaffee hatte ihre Müdigkeit gründlich vertrieben. Im Moment fühlte Nelly sich, als wäre die Besteigung selbst der Wintermaid kein Problem für sie. »Ich hab Lust zum Klettern«, entschied sie und fügte mit einem Augenzwinkern hinzu: »Und außerdem muss ich doch den Murmeltieren und den Gämsen sagen, dass ich wieder da bin.«

*

»Blacky! Hierher! Lass die Dohlen in Frieden!«

Als der schwarze Schäferhund den Ruf seines Herrn vernahm, hob er den Kopf, schaute scheinbar bedauernd den Dohlen hinterher, die laut kreischend aufflogen, und kehrte dann mit hängender Rute zurück zu seinem Herrn. Folgsam legte er sich zu dessen Füßen.

»Braver Hund!«, lobte Wolfgang Grönenbach und kraulte seinen Diensthund zwischen den Ohren. »Ich glaub, hier hat vor uns schon jemand Rast gemacht, und die Dohlen holen sich jetzt die Brotkrumen, die auf den Boden gefallen sind.« Er überlegte einen Moment und fuhr sich mit gespreizten Fingern durch seine Locken. »Wir werden sie net bei ihrer Mahlzeit stören«, schlug er vor. »Wir gehen noch ein kleines Stück und machen erst beim Bergbach halt. Dort kannst du dann auch deinen Durst stillen.«

Als hätte er die Worte seines Herrn verstanden, ließ Blacky die Zunge aus dem Maul hängen und hechelte zum Gotterbarmen.

»Komm, alter Junge, gehen wir«, forderte Wolfgang ihn auf.

Der schwarze Hund erhob sich sofort und stürmte los.

»Schau einer an, wie gut du dich hier auskennst«, lachte der Polizist und folgte seinem Hund. »Obwohl wir verdammt selten hierherkommen, weil ich einfach viel zu wenig Zeit hab. Hätte net viel gefehlt, und es hätte heute wieder net geklappt, weil ein Kollege krank geworden ist. Ein Glück, dass Max Trenker, unser Chef, ein Einsehen gehabt hat und uns hat ziehen lassen.« Obwohl Wolfgang Schritte machte, als hätte er Siebenmeilenstiefel an den Füßen, stand Blacky bereits eifrig schlabbernd bis zum Bauch im Wasser des Bergbachs, als Wolfgang ihn einholte.

»Du willst mir wohl gar nichts mehr übriglassen«, grinste der Polizist, schöpfte mit den hohlen Händen Wasser. Dann ließ er sich am Bachrand ins Gras fallen, wo Blacky ihm, als er endlich aus dem Wasser sprang und sich schüttelte, eine kräftige Dusche verpasste.

Wolfgang lachte. Er ließ es sich gerne gefallen, konnte er die Abkühlung nach dem Aufstieg doch ganz gut gebrauchen. Kopf und Arme auf die angewinkelten Beine gestützt, schaute er schließlich in das plätschernde Wasser, das so klar und sauber war, wie nur ein Bergquell sein konnte.

Doch bald schon verschwamm der Bergbach vor seinen Augen und machte einem anderen Bild Platz: dem Bild einer jungen Frau.

Sie hatte lange blonde Haare, die glatt und glänzend waren wie Seide, und blauen Auge, deren Farbton so intensiv war, wie er es noch nie an einem Menschen gesehen hatte. »Eine Schönheit ist sie, Blacky«, seufzte er. »Eine wahre Schönheit. Wenn sie nur net gar so kratzbürstig wäre. Und wenn ich wenigstens wüsste, wie sie heißt.«

Blacky gab ein leises Jaulen von sich.

»Du weißt es also net. Woher sollst du es denn wissen?«, seufzte er. »Aber wahrscheinlich wäre sowieso wieder nichts draus geworden. Selbst wenn ich das schöne blonde Madl unter günstigeren Umständen kennengelernt hätte. Welche Frau mag schon einen Polizisten, der nie Zeit hat? Und dich müsste sie ja auch noch mitheiraten. Also vergiss es.«

Diesmal knurrte Blacky verhalten.

»Sag bloß, du bist jetzt beleidigt«, wunderte sich Wolfgang Grönenbach, bis ein schriller warnender Pfiff ihm klarmachte, dass Blacky sich wohl eher mit einem Murmeltier unterhalten hatte.

Der junge Polizeibeamte erhob sich. »Ich schätze, wir packen’s wieder. Blacky«, sagte er, worauf der Hund sofort startbereit auf den Pfoten war. »Bis zur Kandereralm ist es noch ein schönes Stück Weg, und ich krieg allmählich Hunger.«

Zügig kehrten Hund und Herr zur Hohen Riest zurück, wo Wolfgang Grönenbach vor den Wegweisern innehielt, die in die Richtung der verschiedenen Almen zeigten.

»Wenn unser Bergpfarrer dabei wäre, würde er mit Sicherheit net den ausgeschilderten Weg wählen, sondern den Umweg, auf dem man klettern muss. Weil er einfach schöner ist«, wandte Wolfgang sich wieder an seinen Hund. »Aber weil du trotz deiner vier stämmigen Pfoten net kraxeln kannst, bleiben wir auf dem Wanderweg. Da siehst du einmal mehr, wie rücksichtsvoll ich bin und was ich alles für dich tu.« Bei diesen Worten musterte er Blacky mit einem fragenden Seitenblick.

Der Hund zeigte allerdings keinerlei Dankbarkeit. Stattdessen lief er so eilig voran, als könnte er es kaum mehr erwarten, die Kandereralm zu erreichen, wo auch für ihn regelmäßig ein paar leckere Brocken abfielen.

Es dauerte denn auch nicht lange, bis Hund und Herr die Alm erreicht hatten.

Der Mittagsbetrieb war schon in vollem Gange, sodass auf der Sonnenterrasse kaum mehr ein freies Plätzchen zu finden war.

Bei genauerem Hinsehen zeigte sich dann aber, dass doch noch ein Tisch leer war, fast als hätte er auf Wolfgang und seinen vierbeinigen Begleiter gewartet.

Er setzte sich mit dem Rücken zur Hüttenwand, sodass er die imposante Felskulisse der Wintermaid im Blick hatte, und Blacky ließ sich unter dem Tisch nieder, wo er sich erschöpft auf die Seite fallen ließ und laut ausschnaufend alle Viere von sich streckte.

Schon kam auch Franz Thurecker, begrüßte den jungen Polizisten aufs Herzlichste und nahm die Getränkebestellung entgegen. »Die Speisekarte bring ich, wenn ich mit der kalten Milch komm, gleich mit«, sagte er und wuselte wieder davon.

Wolfgang lehnte sich zurück und wartete. Er ließ seine Gedanken schweifen. Alles, was er über die blonde junge Frau wusste, war, dass sie nicht dauerhaft in St. Johann lebte, aber dort eine Oma hatte, die sie besuchte und der sie Geschenke mitbrachte. Wenig genug, aber immerhin eine erste Spur. Wenn er seinen kriminalistischen Spürsinn einschaltete … Hatte nicht die ältere Dame, der er vor einiger Zeit geholfen hatte, irgendetwas von einer Enkelin in München erzählt? Konnte es sein, dass zufällig die blonde junge Frau diese Enkelin war? War da nicht sogar eine gewisse Ähnlichkeit gewesen? Oder bildete er sich das nur ein?

Wolfgang war plötzlich so aufgeregt, dass er seinen Hunger völlig vergaß.

Er merkte auch nicht, dass Franz ihm Speisekarte und das Glas Milch auf den Tisch stellte. Seine ganze Konzentration galt der heißen Spur, die er verfolgte. Er hatte die ältere Dame nach Hause gebracht, wusste also, wo sie wohnte. Sobald er wieder zurück in St. Johann war, würde er das betreffende Haus aufsuchen und herausfinden, ob der rote Kleinwagen der langhaarigen Blondine dort parkte …

Unwillkürlich schüttelte Wolfgang Grönenbach den Kopf, er wunderte sich, wieso er nicht schon längst auf die Idee gekommen war. Aber ein paar Mußestunden in den Bergen machten einfach den Kopf frei und brachten gute Gedanken. Voller Vorfreude rieb Wolfgang sich die Hände.

*

»Uff! Jetzt brauche ich aber wirklich eine ausgiebige Rast«, sagte Nelly keuchend, als endlich die Kandereralm in Sicht kam. »Ich glaub, ich bin, was das Bergsteigen und vor allem das Klettern betrifft, tatsächlich ein bissel aus der Übung. Was ja auch kein Wunder ist. Günther war schließlich alles andere als bergbegeistert. Und wenn ich ohne ihn losziehen wollte, hat er jedes Mal die beleidigte Leberwurst gegeben.«

Der Bergpfarrer nickte. »Gleiche Interessen sind schon net das schlechteste, wenn eine Beziehung gut funktionieren soll. Wenn man nichts gemeinsam hat und jeder von Anfang an seine eigenen Wege geht, kann man schließlich genauso gut allein bleiben.«

»Eben. Und deshalb …« Nelly wollte gerade wieder die Vorzüge einer Internet-Partnersuche preisen, aber der Bergpfarrer winkte ab.

»Ich denke, wir sollten uns über diese Dinge später weiter unterhalten. Beim Essen auf der Kandereralm. Wenn wir nämlich hier Wurzeln schlagen, bekommen wir womöglich auf der Sonnenterrasse der Hütte net einmal mehr einen Platz und müssen warten. Immerhin haben wir Hochsaison und dann ist heute obendrein auch noch Samstag. Sie wissen ja selber, Nelly, was da um die Mittagszeit los ist …«

»Ja, Sie haben natürlich Recht, Herr Pfarrer«, pflichtete Nelly Sebastian bei. Sie bedachte den Geistlichen mit einem vielsagenden Blick. »Und selber freuen Sie sich, während ich hier vor mich hinplappere, wahrscheinlich auch auf eine Pause und auf das leckere Essen vom Thurecker-Franz.«

Sebastian Trenker schmunzelte vielsagend.

Also zogen sie weiter in Richtung Kandereralm. Schon als sie sich der Hütte näherten, winkte ihnen Franz Thurecker zu und ging ihnen sogar ein Stück entgegen.

»Grüß Gott, Herr Pfarrer«, sagte er. »Freut mich, dass Sie wieder einmal heraufschauen zu mir. Und wen haben Sie denn heute dabei?« Franz kniff die Augen zusammen und schien in seiner Erinnerung zu kramen. Dann fiel es ihm wieder ein: »Sie sind Nelly. Nelly Sonntag«, wandte er sich Nelly zu. »Jetzt hätte ich Sie beinahe nimmer erkannt. Ist doch schon eine Zeitlang her, seit Sie das letzte Mal hier heroben waren bei mir.«

Nelly nickte. »Ja, das kann man so sagen«, räumte sie ein. »Aber gerade deshalb freu ich mich umso mehr, dass ich endlich wieder einmal bei Ihnen einkehren und Ihr köstliches Essen genießen darf, Herr Thurecker. Ist denn überhaupt noch ein Platzerl frei für mich und für den Herrn Pfarrer?«

Franz Thurecker, der wie immer eine Lederhose und ein kariertes Hemd trug, wiegte bedenklich den Kopf hin und her. »Heute ist es ein bissel schwierig«, erklärte er. »Aber wir finden schon etwas. Das wäre doch gelacht. Sie … Sie müssen sich halt irgendwo dazusetzen. Vielleicht an den Tisch da drüben zu dem jungen Paar. Oder besser noch …« Franz Thurecker zögerte einen Moment, dann fuhr er fort: »Macht es Ihnen etwas aus, wenn ein Hund dabei ist? Ein lieber, folgsamer schwarzer Schäferhund von der Polizei?«

Nelly schwieg erschrocken, was aber an dem Wort »Polizei« lag und nichts mit dem Hund zu tun hatte.

»Nein, überhaupt net«, erwiderte der Bergpfarrer. »Oder haben Sie Angst vor Schäferhunden, Nelly?«

Nelly schüttelte den Kopf. »Nein, nein«, antwortete sie geistesabwesend. »Ich habe keine Angst vor Schäferhunden und auch sonst vor keinem Tier. Wirklich net.«

Franz Thurecker rieb sich die schwieligen, verarbeiteten Hände. »Dann ist ja alles bestens«, freute er sich. »Dann setzten Sie sich an den Ecktisch zu Herrn Grönenbach. Dem ist es bestimmt ein Vergnügen, wenn er unseren Herrn Pfarrer als Tischnachbarn bekommt. Und ein bildsauberes Madl als Dreingabe noch dazu.«

Nelly traute ihren Ohren nicht. Das konnte doch nicht wahr sein, dass ausgerechnet Wolfgang Grönenbach …

Einen Moment lang hoffte Nelly, es könnte sich um eine zufällige ­Namensgleichheit handeln, vielleicht war es der Vater. Immerhin hatte der Polizist heute Morgen keinen Diensthund dabeigehabt. Vielleicht …

Ein Blick zum Tisch, auf den Franz Thurecker zeigte, ließ ihre Hoffnungen platzen.

Der Mann, der dort die Speisekarte studierte, war unzweifelhaft »ihr« Grönenbach. Nelly erkannte ihn sofort, auch wenn er, statt seiner Uniform, Jeans und T-Shirt trug.

Sie warf dem Bergpfarrer einen hilfesuchenden Blick zu, doch für Trenker schien es die normalste Sache der Welt zu sein, an Wolfgang Grönenbachs Tisch Platz zu nehmen. Jedenfalls steuerte er im Gefolge von Franz Thurecker bereits die entsprechende Richtung an.

Nelly schlug das Herz bis zum Hals. Auch Wolfgang Grönenbach hatte inzwischen Zeit gehabt, über die unliebsame Begegnung nachzudenken. Bestimmt war er zu der Ansicht gekommen, viel zu sanft mit ihr umgegangen zu sein …

»Ich bring Ihnen Gesellschaft, Herr Grönenbach«, hörte sie in diesem Moment Franz Thurecker sagen. »Unser Herr Pfarrer Trenker und die nette junge Dame, die ihn begleitet, bräuchten noch ein Platzerl zum Rasten und Brotzeit machen. Sie haben doch nichts dagegen, wenn die beiden sich zu Ihnen setzen?«

Wolfgang sah von seiner Speisekarte auf, begrüßte Pfarrer Trenker und lud ihn ein, Platz zu nehmen. Dann fiel sein Blick auf Nelly und seine Augen weiteten sich in ungläubiger Verwunderung und wurden noch dunkler als sie ohnehin schon waren.

Nur die Zornesblitze, mit denen Nelly im Stillen gerechnet hatte, zeigten sich nicht. Ganz im Gegenteil. In Wolfgangs Augen glomm ein warmes Leuchten auf …

Vor Verblüffung vergaß Nelly beinahe, Luft zu holen.

»Setzen Sie sich doch«, sagte Wolfgang, als ob sie alte Bekannte wären. »Schön, Sie wiederzusehen. Ich hab schon befürchtet, ich hätte Sie ein für alle Mal aus den Augen verloren. Obwohl St. Johann so klein ist, dass man sich eigentlich immer wieder irgendwo begegnen muss. Möchte man zumindest meinen.«

Nelly wollte etwas antworten. Etwas Witziges oder zumindest etwas Freundliches aber ihr Kopf war wie leergefegt. Beklommen setzte sie sich auf den Stuhl, den Wolfgang ihr wie ein vollendeter Kavalier zurecht zog.

Mit Müh und Not brachte sie ein schüchternes »Danke« zustande.

»Und was darf ich den Herrschaften bringen?«, meldete sich schließlich der Thurecker-Franz wieder zu Wort.

Mit einer Handbewegung bedeutete Wolfgang dem Bergpfarrer, dass er ihm den Vortritt lassen wollte.

»Also erst einmal eine kalte Milch«, bestellte Sebastian. »Und dann … Nein, danke. Die Karte brauch ich net«, lehnte er ab, als Wolfgang ihm die handgeschriebene Speisekarte reichen wollte. »Wir nehmen eine Graupensuppe mit deinem herrlichen, selbst gebackenen Brot, Franz. Anschließend eine Portion Kalbsgeschnetzeltes und als nächsten Gang ein Schwammerlgulasch. Und zur Abrundung hätten wir gern noch einen Kaffee und einen Apfelstrudel.«

Franz Thurecker nickte. »Und Sie, Herr Grönenbach?«, wandte er sich dann an den jungen Polizisten.

»Ich nehme das Gleiche«, entschied Wolfgang spontan. »Mir ist beim Zuhören schon das Wasser im Mund zusammengelaufen. Und für den Hund eine Schale frisches Wasser, wenn’s geht«, fügte er schließlich noch hinzu.

»Kommt sofort«, erwiderte Franz Thurecker und machte sich von dannen.

Auf Nellys Gesicht kehrte langsam das Lächeln zurück. Das war ja tausendmal besser gelaufen als befürchtet! Dieser Grönenbach schien wirklich ein netter Kerl zu sein. Oma Agnes hatte ihn offenbar besser eingeschätzt als sie selbst. Ob sie sich bei ihm entschuldigen sollte? Oder war es besser, das leidige Thema »Strafmandat« überhaupt nicht mehr zu berühren? Noch ehe Nelly eine Entscheidung treffen konnte, spürte sie plötzlich, wie sie etwas unterm Tisch anstupste.

Im ersten Moment zuckte sie erschrocken zurück, dann sah sie eine schwarze Hundeschnauze und dunkle Augen, die sie treuherzig anblickten.

Unwillkürlich glitt Nellys Hand streichelnd über das weiche Fell des Hundekopfs. »Ihr Hund …«, sagte sie, als Grönenbach sie fragend anblickte. »Ich glaube, er mag mich. Wie heißt er denn?«

»Blacky. Der Farbe wegen«, erwiderte Wolfgang. »Das ist zwar net besonders fantasievoll …«

»… passt dafür aber ganz ausgezeichnet«, vollendete Nelly den Satz des jungen Polizisten.

Wolfgang lächelte. »Er ist Fremden gegenüber normalerweise net so aufgeschlossen«, meinte er.

»Tatsächlich? Das kann ich mir gar net vorstellen. Aber ich mag Tiere sehr. Das spürt er wahrscheinlich.«

»Arbeiten Sie mit Tieren? Sind Sie Tierärztin? Oder Tierarzthelferin?«