Ein anderer trug seinen Namen - Patricia Vandenberg - E-Book

Ein anderer trug seinen Namen E-Book

Patricia Vandenberg

5,0

Beschreibung

Für Dr. Norden ist kein Mensch nur ein 'Fall', er sieht immer den ganzen Menschen in seinem Patienten. Er gibt nicht auf, wenn er auf schwierige Fälle stößt, bei denen kein sichtbarer Erfolg der Heilung zu erkennen ist. Immer an seiner Seite ist seine Frau Fee, selbst eine großartige Ärztin, die ihn mit feinem, häufig detektivischem Spürsinn unterstützt. Dr. Norden ist die erfolgreichste Arztromanserie Deutschlands, und das schon seit Jahrzehnten. Mehr als 1.000 Romane wurden bereits geschrieben. Die Serie von Patricia Vandenberg befindet sich inzwischen in der zweiten Autoren- und auch Arztgeneration. Mit einem zärtlichen Kuss verabschiedete sich Bernd Schmitt von seiner Frau Ute. Er musste für vier Tage geschäftlich nach England fliegen, und diesmal fiel es ihm besonders schwer, weil der dreijährige Tino fieberte. »Komm bald wieder, Papilein«, flüsterte der Kleine heiser. »So schnell ich kann, mein Butzibärle«, sagte Bernd. »Ich würde lieber bei dir bleiben, das kannst du mir glauben.« »Das Taxi ist schon da«, sagte Ute, und es war auch höchste Zeit für den Aufbruch, denn während des Berufsverkehrs dauerte es manchmal doch lange bis zum Flughafen. Sie begleitete ihren Mann zur Tür. »Rufe besser gleich Dr. Norden an«, sagte Bernd besorgt. »Das wollte ich sowieso tun. Pass auf dich auf, Liebster, und komm gesund zurück.« »Vielleicht schaffe ich es in vier Tagen«, sagte er und gab ihr schnell noch einen Kuss. Ute ging zu dem Kleinen. »Mein Hals tut weh, Mami«, flüsterte er. Zuerst hatte Ute es nicht so ernst genommen, weil Tino immer Wehwehchen hatte, wenn sein Papi geschäftlich verreisen musste, aber diesmal hatte er tatsächlich Fieber. Ute rief Dr. Norden an und bat um seinen Besuch. Ob es sehr dringend sei, fragte Loni, da das Wartezimmer voll besetzt war. »Ich hoffe es nicht«, erwiderte Ute. »Tino hat Halsschmerzen und fast neununddreißig Fieber.« »Die Masern greifen um sich«, erklärte Loni, Dr. Nordens langjährige rechte Hand. Auch das noch, dachte Ute besorgt. Hoffentlich hat Bernd sich nicht angesteckt, denn er hatte schon einmal gesagt, dass er seines Wissens nach die Masern nicht gehabt hätte. Tino war schon eingeschlafen. Vielleicht hat er sich doch nur wieder aufgeregt, weil Bernd fortmusste, dachte Ute.

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Dr. Norden Bestseller – 204 –

Ein anderer trug seinen Namen

Patricia Vandenberg

Mit einem zärtlichen Kuss verabschiedete sich Bernd Schmitt von seiner Frau Ute. Er musste für vier Tage geschäftlich nach England fliegen, und diesmal fiel es ihm besonders schwer, weil der dreijährige Tino fieberte.

»Komm bald wieder, Papilein«, flüsterte der Kleine heiser.

»So schnell ich kann, mein Butzibärle«, sagte Bernd. »Ich würde lieber bei dir bleiben, das kannst du mir glauben.«

»Das Taxi ist schon da«, sagte Ute, und es war auch höchste Zeit für den Aufbruch, denn während des Berufsverkehrs dauerte es manchmal doch lange bis zum Flughafen.

Sie begleitete ihren Mann zur Tür. »Rufe besser gleich Dr. Norden an«, sagte Bernd besorgt.

»Das wollte ich sowieso tun. Pass auf dich auf, Liebster, und komm gesund zurück.«

»Vielleicht schaffe ich es in vier Tagen«, sagte er und gab ihr schnell noch einen Kuss.

Ute ging zu dem Kleinen. »Mein Hals tut weh, Mami«, flüsterte er.

Zuerst hatte Ute es nicht so ernst genommen, weil Tino immer Wehwehchen hatte, wenn sein Papi geschäftlich verreisen musste, aber diesmal hatte er tatsächlich Fieber.

Ute rief Dr. Norden an und bat um seinen Besuch. Ob es sehr dringend sei, fragte Loni, da das Wartezimmer voll besetzt war.

»Ich hoffe es nicht«, erwiderte Ute. »Tino hat Halsschmerzen und fast neununddreißig Fieber.«

»Die Masern greifen um sich«, erklärte Loni, Dr. Nordens langjährige rechte Hand.

Auch das noch, dachte Ute besorgt. Hoffentlich hat Bernd sich nicht angesteckt, denn er hatte schon einmal gesagt, dass er seines Wissens nach die Masern nicht gehabt hätte.

Tino war schon eingeschlafen. Vielleicht hat er sich doch nur wieder aufgeregt, weil Bernd fortmusste, dachte Ute. Der Junge hing sehr an seinem Papi und war überaus sensibel.

Als es läutete, lief Ute rasch zur Tür. Aber es war nicht Dr. Norden, sondern der Postbote. Er brachte ein amtliches Schreiben. Ute musste den Empfang bestätigen. Auch einige andere Briefe nahm sie in Empfang, und erst später überfiel sie eine Beklemmung, weil dieses amtliche Schreiben von einem Vormundschaftsgericht kam. Was mochte das bedeuten?

Sie erledigte alle private Post, und Bernd hatte es generell genehmigt, dass sie auch alle an ihn adressierten Briefe öffnen könne. Sie hatten keine Geheimnisse voreinander, das hatte er immer wieder betont.

Oder gab es doch ein Geheimnis? Ihre Augen weiteten sich, als sie das Schreiben las, dessen Inhalt sie nicht gleich begreifen konnte, obgleich es klar und unmissverständlich abgefasst war.

Am zwölften Januar dieses Jahres verstarb Melanie Sontheim, von Beruf Kunstmalerin. Sie hinterließ unehelich geborene Zwillinge im Alter von fünf Jahren, namens Bernd und Katja, als deren Vater sie Bernd Schmitt benannte. Es wurde um Stellungnahme gebeten, ob er sich zu der Vaterschaft bekenne, damit die rechtliche Lage der Kinder geklärt würde.

Das gibt es nicht, nein, das darf nicht wahr sein, dachte Ute. Fünf Jahre sind die Kinder, und wir sind seit fünf Jahren und drei Monaten verheiratet.

In ihr war plötzlich eine völlige Leere, aber da läutete es wieder. Sie war kaum fähig, sich zu erheben, so schwindelig war ihr, aber als sie Dr. Nordens Stimme vernahm: »Ich bin es, der Doktor«, wankte sie zur Tür.

Dr. Norden wich unwillkürlich einen Schritt zurück, als sie so fahl und zitternd vor ihm stand.

»Ist es so schlimm?«, fragte er bestürzt. »Warum haben Sie das Loni nicht gesagt?«

Der Brief, den sie noch in der Hand hielt, fiel zu Boden, und dann schwankte sie, und er konnte sie gerade noch auffangen.

»Tino schläft«, stammelte sie.

»Sie dürfen sich aber nicht so aufregen«, sagte er beruhigend. »Oder hat es Sie denn auch erwischt? Es grassiert überall ein recht gemeiner Virus.«

»Der Brief«, murmelte sie geistesabwesend.

Er hob den Brief auf. »Hat er Sie erschreckt?«, fragte er.

Sie nickte. Und dann schluchzte sie auf. »Ich kann es nicht glauben.«

Sie war völlig fassungslos und maßlos erregt. Er führte sie zu einem Sessel und drückte sie mit sanfter Gewalt hinein.

»Tino«, murmelte sie. »Sehen Sie nach Tino.«

Dr. Norden kannte sich in den Räumlichkeiten aus, aber Ute war in einem Zustand, in dem er sie jetzt nicht allein lassen wollte.

»Es geht schon wieder«, flüsterte sie. »Tino ist wichtiger.«

Dr. Norden war nicht immer gleich mit Beruhigungsspritzen zur Hand, aber in diesem Fall schien ihm doch eine angebracht, denn Utes Puls raste. Sie ließ es auch widerspruchslos über sich ergehen.

»Wir reden nachher, ich sehe nach Tino«, sagte er.

Der Junge schlief, das Fieber war schon zurückgegangen. Der Kleine bereitete ihm nicht so viel Sorge wie seine Mutter. Er wollte ihn auch nicht aus dem Schlaf reißen, um ihm in den Hals zu schauen.

Er ging zu Ute zurück. Sie starrte ihn blicklos an.

»Es wird nur eine Erkältung sein«, sagte Dr. Norden beruhigend. »Tino schläft so fest, dass ich ihn nicht wecken will. Aber welcher Kummer bedrückt Sie, Frau Schmitt?«

»Mein Mann ist verreist, geschäftlich, und heute kam dieser Brief. Was soll ich davon halten?«

»Darf ich ihn lesen?«

Sie nickte. »Aber Sie dürfen niemandem etwas sagen.«

»Das ist doch selbstverständlich.«

Er las das Schreiben, und seine Augenbrauen schoben sich zusammen. »Das muss doch erst bewiesen werden«, sagte er ruhig. »Es wird einige Bernd Schmitts geben, die an diesem Tag geboren sind. Und es kann doch sein, dass auch einige das gleiche Schreiben bekommen haben. Sie dürfen sich jetzt nicht so aufregen, Frau Schmitt. Es ist doch wohl so, dass Sie wieder ein Kind erwarten.«

»Ich habe es Bernd noch nicht gesagt«, murmelte sie. »Er steht vor einer wichtigen beruflichen Entscheidung, und ganz sicher ist es doch sowieso noch nicht.«

»Ich denke doch. Der Test war positiv«, sagte Dr. Norden. »Ich war nur besorgt, dass Tino möglicherweise die Röteln bekommen haben könnte, aber dem ist nicht so. Jetzt bleiben Sie mal ganz ruhig. Ich kenne doch Ihren Mann. Es kann da ein Irrtum vorliegen. Sie sollten ganz vernünftig mit ihm darüber sprechen.«

»Und wenn es stimmt?«, fragte sie bebend.

Er dachte nach. »Dann verstehe ich nicht, dass diese Frau sich nicht schon früher gemeldet hat, wenn sie den Namen und sogar das Geburtsdatum wusste. Das muss doch geklärt werden.«

Utes Gesicht entspannte sich. »Ich kenne Bernd seit sieben Jahren«, sagte sie jetzt gedankenvoll. »Er war einunddreißig, als wir uns kennenlernten, und kein dummer Junge mehr, sondern ein Mann, der schon seine Erfahrungen gemacht hatte. Darüber hat er auch gesprochen. Er hat es nicht leicht gehabt im Leben. Er musste sich alles selbst erkämpfen, aber er ist alles andere als skrupellos.« Sie war jetzt ruhiger geworden. »Nein, ich kann nicht glauben, dass er in dieser Zeit eine Affäre mit einer anderen Frau gehabt hat, und schon gar nicht, dass er sich um eine Verantwortung gedrückt hat. Sie haben recht, Herr Dr. Norden, ich werde ganz vernünftig mit ihm darüber sprechen, wenn er zurück ist. Es war nur der erste Schock, der mich bald umgeworfen hat.«

Dr. Norden war beruhigt, und nun schaute er nochmals nach Tino. Diesmal blinzelte der Junge ein bisschen.

»Tino, Dr. Norden ist da«, sagte Ute. »Er will mal in deinen Hals schauen.«

»Tut schon nicht mehr weh«, murmelte Tino schläfrig. »Bin bloß müde, und Durst habe ich.«

»Du bekommst auch etwas zu trinken, Tino«, sagte Dr. Norden, »aber mach deinen Mund mal auf. Es ist immer besser, wenn man vorbeugen kann, bevor es schlimm wird.«

»Papi wäre bestimmt sauer, wenn du richtig krank bist, wenn er zurückkommt«, sagte Ute. »Wir wollten dann doch ein paar Tage wegfahren.«

Tino merkte nichts davon, dass seine Mami eben noch fast einem Nervenzusammenbruch nahe gewesen war, so beruhigend wirkte sich Dr. Nordens Anwesenheit auf sie aus.

Tino machte dann auch den Mund ganz weit auf und sagte gedehnt ­Aaahh.

»Leicht gerötet, aber nicht schlimm«, erklärte Dr. Norden. »Tino soll heute besser noch im Bett bleiben. Masern oder Röteln sind nicht zu befürchten. Mit Antibiotika brauchen wir da nicht gleich zu kommen. Haben Sie noch Brausetabletten da?«

»Immer«, erwiderte Ute. »Da meckert er wenigstens nicht, aber wenn was nicht gut schmeckt, nützt alles Zureden nicht.«

»Wie bei den meisten Kindern. Sollte das Fieber nochmals ansteigen, geben Sie am Abend ein Zäpfchen. Ihnen lasse ich zwei Kapseln da. Ein leichtes Beruhigungsmittel auf Naturbasis. Da brauchen Sie nichts zu befürchten, aber Sie sollen auch nicht die ganze Nacht wachliegen und grübeln. Meiner Ansicht nach handelt es sich da bestimmt um einen Irrtum.«

Er konnte gut zureden, aber er fragte sich, was es nach sich ziehen würde, wenn es doch stimmte. Warum musste dieses Schreiben auch ausgerechnet kommen, da Bernd Schmitt einige Tage abwesend war. Da hatte wohl wieder mal der Teufel seine Hand im Spiel!

*

Weit entfernt von München, in einem Vorort von Bremen, lief eine junge Frau aufgeregt in einem sehr geschmackvoll eingerichteten Wohnraum hin und her.

Plötzlich jedoch blieb sie abrupt vor einem Mann stehen, der lässig in einem Sessel lehnte und aus schmalen Augen zu ihr emporblickte.

»Kannst du oder willst du mich nicht verstehen, Torsten?«, fragte sie gereizt. »Ich bin es doch Melanie schuldig, dass ich mich um die Kinder kümmere.«

»Was bist du ihr schuldig?«, fragte er kühl. »Es war doch wohl immer umgekehrt.«

»Weil ich einen reichen Vater hatte und ihrer im Krieg umgekommen ist?«, fragte Henrike Sontheim heftig.

»Ich möchte dich bitten, das alles einmal ganz nüchtern zu sehen, Ricky«, sagte Torsten Sörensen. »Wir wollen heiraten, und ich habe nicht die Absicht, zwei fremde Kinder aufzuziehen. Du musst dich schon entscheiden, was dir wichtiger ist.«

»Du bist herzlos«, stieß sie hervor.

»Du wirst mich jetzt mal ganz ruhig anhören, Ricky. Melanie war kein dummes unbedarftes Gör, als sie die Kinder in die Welt setzte. Sie war vierunddreißig und hatte schon einige Erfahrung mit Männern. Gut, sie war eine emanzipierte Frau und letztlich auch in der Lage, ein Kind allein aufzuziehen. Dass es gleich zwei wurden, hat sie wohl doch nicht einkalkuliert, worauf du dich bemüßigt gefühlt hast, Kinderschwester zu spielen, als weiterhin Medizin zu studieren. Ich kenne ihre Sprüche. Sie braucht keinen Vater für ihr Kind, sie sucht sich nur einen Mann aus, der ihren Vorstellungen entspricht.«

»Du hast sie sehr gut gekannt«, sagte Henrike anzüglich, »aber verstanden hast du sie nicht.«

»Du hast immer etwas in sie hineingeheimnist, und jetzt glaube ich fast, du wolltest genauso leben wie sie. Du bist elf Jahre jünger und leidest anscheinend an verdrängten Mutterkomplexen. Warum, weiß ich nicht. Wir könnten längst verheiratet sein.«

»Nicht ohne die Kinder«, schleuderte sie ihm ins Gesicht. Sie war schön, wenn sie wütend war, und Torsten wurde jetzt wütend, weil er nicht den ersten Platz in ihrem Leben einzunehmen schien.

»Jetzt will ich dir mal was sagen, Ricky. Ich mache dieses Spiel nicht mit. Ich habe das Vormundschaftsgericht informiert, dass ein Mann namens Bernd Schmitt der Vater der Kinder ist, und nun wird er zu entscheiden haben, was mit den Kindern geschieht.«

Sie starrte ihn an. Ihr Gesicht war ganz weiß und starr, und ihre grauen Augen flammten.

»Solch einen Vertrauensbruch hast du begangen? Das konntest du tun?«, sagte sie tonlos. »Geh, verlass dieses Haus, und ich will dich nie wieder hier sehen, nie wieder! Du stöberst in Melanies Sachen herum, die dich überhaupt nichts angehen. Jetzt habe ich dich durchschaut. Vielleicht bist du gar der Vater und hast dich nur an mich herangemacht, weil ich eben mehr Geld habe, als Melanie je hatte.«

In ihrer Wut wusste sie nicht mehr, was sie redete, aber sie hatte ihn an einer sehr empfindlichen Stelle getroffen, wenn er das auch nie zugegeben hätte.

»Du wirst mich eines Tages dafür um Entschuldigung bitten«, sagte er mit mühsamer Beherrschung. »Du wirst ja sehen, was nun geschieht.«

Henrike war plötzlich eiskalt. »Ich habe gesagt, du sollst gehen, und du wirst nicht erleben, dass ich dich um Entschuldigung bitte.«

Torsten Sörensen ging, aber an der Tür blieb er noch einmal stehen.

»Du bist Melanie sehr ähnlich«, zischte er. »Hoffentlich rast du auch nicht mal gegen einen Baum!«

*

Henrike sank auf das Sofa und bedeckte ihr Gesicht mit den Händen. O Gott, dachte sie, und ich wollte ihn heiraten. Wie konnte ich nur so blind und taub sein. Aber dann nahm sie sich rasch zusammen und eilte zum oberen Stockwerk.

In einem großen hellen Zimmer saßen die Zwillinge ganz vertieft in ein Memory-Spiel, zumindest schien es so.

»Na, wie läuft es?«, fragte Henrike mit gekünstelter Ruhe. »Wer gewinnt diesmal?«

»Wir stehen gleich«, erwiderte Bernd. »Hast du mit Sörensen gestritten?«

»Wie kommst du darauf?«, fragte sie tonlos.

»Es war ziemlich laut.«

»Er kann uns nicht leiden«, sagte Katja. »Müssen wir nun doch in ein Heim?«

Henrike unterdrückte ein heftiges Schluchzen. »Nein, niemals«, erwiderte sie. »Ich muss jetzt nur schnell mal telefonieren, dann spiele ich mit euch.«

»Melli hat immer gesagt, du bist der beste Mensch auf der Welt, Ricky. Das bist du ganz sicher«, sagte Bernd.

Sie hatten ihre Mutter Melli genannt. Nicht, weil sie es so wollte, sondern weil Ricky sie so nannte. Sie waren reizende und intelligente Kinder. Es hatte ihnen an nichts gemangelt, und es sollte ihnen auch in Zukunft an nichts fehlen. So empfand es Henrike als eine absolute Gemeinheit von Torsten, dass er ihr in den Rücken gefallen war. An so etwas hatte sie überhaupt nicht gedacht.

Es hatte keine Schwierigkeiten bereitet, dass sie nach Melanies plötzlichem Tod die Pflege der Kinder übernehmen konnte. Sie lebte in gesicherten Verhältnissen, sie hatte ein geräumiges Haus, und die Kinder waren mit ihr vertraut. Ihr war es zwar nicht entgangen, dass Torsten mit den Kindern überhaupt nichts anzufangen wusste, aber sie hatte gemeint, dass er sich schon daran gewöhnen würde.

Nun jedoch wurde ihr auch bewusst, dass sie nicht erst heute ihre Meinung über ihn in mancher Hinsicht revidieren musste.

Sie rief ihren Anwalt an, der auch Melanies Anwalt gewesen war. Dr. Ortmann versprach ihr, am Abend zu kommen.

Es fiel Henrike nicht leicht, sich auf das Spiel mit den Kindern zu konzentrieren. Immer wieder versank sie in Nachdenken, und da fragte Bernd: »Hast du dich mit Sörensen wegen uns gestritten, Ricky?«

»Ich habe ihm meine Meinung gesagt. Er wird nicht mehr kommen«, erklärte sie.

»Du wirst ihn doch nicht heiraten?«, fragte Katja.

»Nein, ich werde ihn nicht heiraten.«

»Weil er uns nicht leiden kann und weil du uns lieb hast?«, fragte Bernd.

Da wurde sie von beiden stürmisch umarmt. »Wir suchen dir einen viel netteren Mann«, versicherte Bernd.

»Onkel Arnold ist leider schon ein bisschen alt«, flüsterte Katja.

Onkel Arnold, das war Dr. Ortmann, aber den mochten die Kinder, und er brachte ihnen auch etwas mit.

»Ein ganz tolles Spiel«, sagte er. »Beschäftigt euch damit, ich muss etwas mit Henrike besprechen.«

Murren gab es bei den beiden nicht. Wenn Erwachsene miteinander was zu reden hatten, war das nichts für Kinder. Das hatte ihnen schon Melanie beigebracht.

Dr. Ortmann war erst mal völlig konsterniert, als Henrike ihm sagte, worum es ging.

»Was ist Sörensen da eingefallen? Was hat er sich dabei gedacht?«

»Wohl doch das, dass mir die Kinder weggenommen werden«, erklärte Henrike. »Aber das nehme ich nicht hin. Der Mann, dieser Bernd Schmitt, hat überhaupt keine Ahnung, dass es die Zwillinge gibt. Melanie hat es mir ausdrücklich gesagt, und sie wollte auch nicht, dass er es erfährt.«

»Und wie hat es Sörensen erfahren?«, fragte Dr. Ortmann.

»Durch einen dummen Zufall. Er hat mir geholfen, Melanies Sachen zu ordnen. Es waren ja einige wichtige Papiere darunter. Und außerdem auch eine Bleistiftzeichnung von diesem Mann. Sie hatte darauf das Geburtsdatum vermerkt. Warum, weiß ich auch nicht, und dazu den Tag, an dem sie ihn kennenlernte. In einer melancholischen Stimmung hat sie mal mit mir darüber gesprochen.«

»Du solltest mir jetzt alles sagen, was du weißt, Henrike«, bat er. »Du weißt doch, dass du dich auf mich verlassen kannst. Dein Vater war mein bester Freund.«

»Und er hätte es gern gesehen, wenn du Melanie geheiratet hättest«, sagte Henrike.

»Da führte kein Weg hin. Sie war viel zu eigenwillig. Es gab ein paar heiße Affären in ihrem Leben, auch darüber wollen wir nicht hinwegsehen. Sie war so ursprünglich, sie ließ sich nicht in ein Schema pressen, und brauchte keine Anerkennung. Du weißt es ja, dass sie selbst ihre großartigen Illustrationen unter dem nichtssagenden Pseudonym Meta Niemand herausbrachte.«