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Eine friedevolle Weihnachts- und Vorweihnachtszeit ist nur Illusion, denn Mörder und Verbrecher nehmen auf Feiertage keine Rücksicht und auf das Weihnachtsfest, dem Fest der Liebe und Freude, schon gar nicht, auch machen sie zu dieser Zeit keinen Urlaub. Hier in diesen 24 kurzen Krimis gibt es keine schöne Bescherung, werden tödliche Geschenke verteilt und tote Weihnachtsmänner entdeckt. Selbst in der Weihnachtskrippe gibt es frisches Blut. Hier ist der Heiligabend ein Mörderabend, manchmal jedenfalls ...
In diesem Band sind folgende 24 Kurze Krimis enthalten:
1. Dezember: Der Killer von Vitte – von Alea Raboi
2. Dezember: Der Mann im Tresor – von Hans-Jürgen Raben
3. Dezember: (K)eine ach so friedliche Weihnacht – von Stefan Lochner
4. Dezember: Die Tote im Wald – von Wolf G. Rahn
5. Dezember: Last Christmas – von A.F. Morland
6. Dezember: Der »verlorene« Sohn – von Alea Raboi
7. Dezember: Der Fall James Chapman – von Benyamen Cepe
8. Dezember: Der Baum brennt nicht – von Hans-Jürgen Raben
9. Dezember: Weihnachten – von Richard Hey
10. Dezember: Eine etwas andere Weihnachtsüberraschung – von Stefan Lochner
11. Dezember: »Fröhliche« Weihnachten – von Anita Schmitz
12. Dezember: Tote kennen keine Trauer – von Wolf G. Rahn
13. Dezember: Es gab auch gute Tage – von Sanela Egli
14. Dezember: Bertha Nolte und das Weihnachtswunder – von Bernd Teuber
15. Dezember: Der Weihnachtsmann ist tot – von Hans-Jürgen Raben
16. Dezember: Der Lebkuchenmann – von Niklas Quast
17. Dezember: Tod eines Sandlers – von Roland Heller
18. Dezember: Liebe geht durch den Magen – von Alea Raboi
19. Dezember: Geld für einen guten Zweck – von A.F. Morland
20. Dezember: Weihnachtsmarktbesuch mit Folgen – von Stefan Lochner
21. Dezember: Der rätselhafte Herr Saerbeck – von Christian Gallo
22. Dezember: Das verschwundene Geschenk – von Amanda Partz
23. Dezember: Movie Mortis – von Carola Kickers
24. Dezember: Blut in der Krippe – von Hans-Jürgen Raben
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Ein krimineller
Adventskalender
Blut in der Krippe
24 kurze Krimis zum Fest
Herausgegeben von Kerstin Peschel
Copyright © by Author/Bärenklau Exklusiv
Cover: © by Kerstin Peschel, 2022
Korrektorat: Kerstin Peschel
Verlag: Bärenklau Exklusiv. Jörg Martin Munsonius (Verleger), Koalabärweg 2, 16727 Bärenklau. Kerstin Peschel (Verlegerin), Am Wald 67, 14656 Brieselang
Die ausgedachten Personen haben nichts mit tatsächlich lebenden Personen zu tun. Namensgleichheiten sind zufällig und nicht beabsichtigt.
Alle Rechte vorbehalten
Inhaltsverzeichnis
Impressum
Das Buch
In diesem Band sind folgende 24 Kurze Krimis enthalten:
1. Dezember: Der Killer von Vitte
2. Dezember: Der Mann im Tresor
3. Dezember: (K)eine ach so friedliche Weihnacht
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
4. Dezember: Die Tote im Wald
5. Dezember: Last Christmas
6. Dezember: Der »verlorene« Sohn
7. Dezember: Der Fall James Chapman
8. Dezember: Der Baum brennt nicht
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
9. Dezember: Weihnachten
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
10. Dezember: Eine etwas andere Weihnachtsüberraschung
1
2
3
4
5
11. Dezember: »Fröhliche« Weihnachten
12. Dezember: Tote kennen keine Trauer
13. Dezember: Es gab auch gute Tage
14. Dezember: Bertha Nolte und das Weihnachtswunder
15. Dezember: Der Weihnachtsmann ist tot
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
16. Dezember: Der Lebkuchenmann
17. Dezember: Tod eines Sandlers
18. Dezember: Liebe geht durch den Magen
19. Dezember: Geld für einen guten Zweck
20. Dezember: Weihnachtsmarktbesuch mit Folgen
1
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5
21. Dezember: Der rätselhafte Herr Saerbeck
1
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22. Dezember: Das verschwundene Geschenk
23. Dezember: Movie Mortis
24. Dezember: Blut in der Krippe
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
Folgende Weihnahtbände sind ebenfalls erhältlich:
Eine friedevolle Weihnachts- und Vorweihnachtszeit ist nur Illusion, denn Mörder und Verbrecher nehmen auf Feiertage keine Rücksicht und auf das Weihnachtsfest, dem Fest der Liebe und Freude, schon gar nicht, auch machen sie zu dieser Zeit keinen Urlaub. Hier in diesen 24 kurzen Krimis gibt es keine schöne Bescherung, werden tödliche Geschenke verteilt und tote Weihnachtsmänner entdeckt. Selbst in der Weihnachtskrippe gibt es frisches Blut. Hier ist der Heiligabend ein Mörderabend, manchmal jedenfalls ...
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1. Dezember: Der Killer von Vitte – von Alea Raboi
2. Dezember: Der Mann im Tresor – von Hans-Jürgen Raben
3. Dezember: (K)eine ach so friedliche Weihnacht – von Stefan Lochner
4. Dezember: Die Tote im Wald – von Wolf G. Rahn
5. Dezember: Last Christmas – von A.F. Morland
6. Dezember: Der »verlorene« Sohn – von Alea Raboi
7. Dezember: Der Fall James Chapman – von Benyamen Cepe
8. Dezember: Der Baum brennt nicht – von Hans-Jürgen Raben
9. Dezember: Weihnachten – von Richard Hey
10. Dezember: Eine etwas andere Weihnachtsüberraschung – von Stefan Lochner
11. Dezember: »Fröhliche« Weihnachten – von Anita Schmitz
12. Dezember: Tote kennen keine Trauer – von Wolf G. Rahn
13. Dezember: Es gab auch gute Tage – von Sanela Egli
14. Dezember: Bertha Nolte und das Weihnachtswunder – von Bernd Teuber
15. Dezember: Der Weihnachtsmann ist tot – von Hans-Jürgen Raben
16. Dezember: Der Lebkuchenmann – von Niklas Quast
17. Dezember: Tod eines Sandlers – von Roland Heller
18. Dezember: Liebe geht durch den Magen – von Alea Raboi
19. Dezember: Geld für einen guten Zweck – von A.F. Morland
20. Dezember: Weihnachtsmarktbesuch mit Folgen – von Stefan Lochner
21. Dezember: Der rätselhafte Herr Saerbeck – von Christian Gallo
22. Dezember: Das verschwundene Geschenk – von Amanda Partz
23. Dezember: Movie Mortis – von Carola Kickers
24. Dezember: Blut in der Krippe – von Hans-Jürgen Raben
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Ein Krimineller Adventskalender
– Blut in der Krippe –
von Alea Raboi
Die Nebelschwaden, durch die die ersten Sonnenstrahlen des Tages drückten, erhoben sich langsam über dem Vitter Bodden.
Sein Basecap tief in das Gesicht gezogen, den Kopf in den Schultern versenkt, schlenderte er den gepflasterten Weg entlang. Die Rückstände der vergangenen Nacht lagen in Form von Bierdosen und leeren Wodkaflaschen herum, auch Überbleibsel von Zigaretten und sonstigem Zeugs zum Inhalieren. In den Herbst- und Wintermonaten war Vitte sauberer als im Frühling und Sommer, doch zur Weihnachtszeit kehrten die Touristen auf die Insel zurück und hinterließen stets eine Schneise der Verwüstung – na ja, zumindest die Jugendlichen. Vitte war eine idyllische Ortschaft, wo fast jeder jeden kannte, aber doch in Ruhe ließ. Jetzt, da die verwöhnten Teenager, die eine anti-autoritäre Erziehung genossen, freitags und samstags die Nächte am Ufer durchfeierten und überall Feuer schürten, verkam alles. Die Putzkolonnen schoben Überstunden, arbeiteten bei tobendem, eisigem Wind. Dieses Jahr war es besonders schlimm, beides: die unerzogenen Teenager und der Wind, der ihm schmerzlich ins Gesicht peitschte. Laut Wetterprognose müsste es heute sogar noch schneien, Experten sagten einen harten Winter voraus.
Weiter folgte er dem Weg – verflucht, war das kalt heute Morgen! Ein kleines Stück musste er durch den Wald, um zu seinem Ziel zu gelangen. Watend bewegte er seinen vor Kälte schlotternden Körper quer durch das Gehölz. Wobei Wald eigentlich das falsche Wort dafür war, Wiese mit ein paar Bäumen war passender.
Er stoppte vor einer Bank, hinter der ein Haus hell erleuchtet war. Rentiere schmückten den Garten, Lichterketten umrahmten das Dach. Unverständlich rollte er mit den Augen. Wie konnte man so einen Kitsch nur gut finden. Schnaufend setzte er sich auf die Sitzbank, sank in die Lehne und warf einen Blick auf seine Uhr. Das war knapp, fast hätte er sich verspätet. Er schloss seine Augen und atmete tief ein. Ein zufriedenes, siegessicheres Lächeln huschte ihm über das Gesicht. Er stand auf, straffte sich und lehnte sich kurz darauf an einen der Bäume, von dem aus er eine bessere Sicht hatte. Eine ältere Frau mit einem Dobermann kam ihm entgegen. Es war offensichtlich, dass der Hund mit dem Frauchen Gassi ging und nicht umgedreht. Auf seiner Höhe grüßten sie sich stumm mit einem Kopfnicken, der Vierbeiner pinkelte, dann setzte die alte Frau ihren Weg fort.
In der Ferne sah er sie kommen. Sein Puls beschleunigte sich und ein erregendes Gefühl schoss in Form eines heißen Blitzes durch seinen Körper, in seine Lenden kam Bewegung. Bei ihr konnte er einfach nicht anders, diese Frau … sie war die schönste, die er je gesehen hatte. Und es war jedes Mal ein aufregendes Abenteuer, einen Mord auszuführen.
Aber bitte keine Vorurteile, der Killer war nicht grundsätzlich böse. Er verdiente sich nur nebenbei etwas dazu – wie zur Hölle sollte er denn sonst über die Runden kommen? Und wie er selbst gern immer sagte; wer früher stirbt, ist länger tot. Also, warum den Leuten nicht ein wenig unter die Arme greifen? Schließlich sollte man alles im Leben von der positiven Seite, nicht wahr?
Da kam sie! Sie machte ein überraschtes Gesicht und begrüßte ihn. Sie freute sich ehrlich, ihn zu sehen. Die beiden kannten sich, zwar nicht gut, aber unbekannt waren sie sich nicht. Nein, ganz und gar nicht.
Der Killer hatte sie am sechzigsten Geburtstag seines Auftraggebers gesehen, das war vor zwei Wochen gewesen. Tags darauf rief der Auftraggeber ihn an, er wüsste, dass seine Frau ihn betröge. Er wüsste zwar nicht mit wem, aber das täte auch nichts zur Sache. Sie müsste weg, hatte er dann gesagt. Trennen könnte er sich von ihr nicht, im Fall einer Scheidung bekäme er keinen müden Cent. Aber im Fall eines tragischen Todesfalls, sähe das anders aus. Dann würde er nämlich die ganzen Millionen einsacken, das Anwesen und die Autos, die seine Frau mit ihrer eigenen Haarprodukte-Marke verdient hatte. Und sein Schicksal würde von den Medien aufgegriffen, was wiederum seinem Geschäft zugutekäme. Es wäre gute, kostenlose Werbung für sein eher mäßig laufendes Café.
Da der Killer auch nur ein Mensch war, der Rechnungen zu bezahlen hatte, hatte er sofort zugesagt.
Die Frau seines Auftraggebers glaubte ihm, als er ihr sagte, dies wäre seine Hausstrecke, die er jeden Morgen joggte, bevor er zur Arbeit fuhr. Nur heute wäre er etwas früher dran als sonst, was für ein schöner Zufall, dass sie sich hier trafen.
Schön war ja so was von gelogen. Herrgott! Er würde Leute, die den Winter liebten, wohl niemals verstehen. Geschweige denn Leute, die Weihnachten liebten. Die Weihnachtsfanatiker, wie er sie nannte. Diese verfluchte Jahreszeit machte ihn nur aggressiver. Aber es war schön, sie zu sehen. An einem anderen Ort, unter anderen Umständen, und es wäre perfekt gewesen.
Sie sagte dasselbe, und er wusste, dass sie im Gegensatz zu ihm die Wahrheit sagte, denn er hatte sie die vergangenen Tage beobachtet und ihr Aufeinandertreffen war alles andere als ein Zufall. In seiner Brust flammte ein stechender Schmerz auf, es fiel ihm nicht leicht, ihr in die Augen zu schauen. Sie hatte etwas Unschuldiges an sich. Er ermahnte sich zur Gelassenheit und Professionalität. Alles würde gut.
»Lass niemals Gefühle zu«, schossen ihm die Worte seines Kumpels in den Sinn. »Niemals!«
Und dann war jener Tag gekommen, an dem sein Kumpel gegen die eigenen Regeln verstoßen hatte – und dafür mit seinem Leben bezahlen musste. Was hätte der Killer denn tun sollen? Das Risiko eingehen, dass sein Kumpel, blind vor Liebe, ihn hintergeht und mit seiner Flamme durchbrennt? Nein! Auf keinen Fall! So sehr er Bennie auch gemocht hatte, aber dieses Risiko hatte er beim besten Willen nicht eingehen können. Der Killer hatte keine andere Wahl.
Allmählich wurde es heller, immer mehr Menschen kämen gleich hier vorbei. Zeit zum Gassi gehen. Jetzt musste er das Ding durchziehen, sonst würde er nicht nur verdammt viel Geld verlieren, sondern, und das wäre viel schlimmer, seinen tadellosen Ruf. Und sein Ruf war ihm verdammt wichtig. Er wollte niemals Mitleid, auch wenn sein Job ihm alles abverlangte. Aber hie und da mal ein bisschen Anerkennung für die harte Arbeit tat seinem Ego einfach gut. Und bis jetzt hatte er einen tadellosen Leumund, was auch bitte schön so bleiben sollte.
Er flirtete mit ihr, zuerst ein wenig zurückhaltend, sie hatte sichtlich Angst, dass sie jemand erwischen konnte. Ihre Angst war aber unberechtigt, schließlich stand sie hier einem Profi gegenüber und der hatte alles im Blick. Er spürte, wie sie sich öffnete, und ihre Lippen trafen aufeinander, leidenschaftlich, so wie bei ihrem ersten Aufeinandertreffen vor zwei Wochen. Es war Anziehung auf den ersten Blick gewesen. Die berühmten ersten drei Sekunden, die bei einer ersten Begegnung zählten, brauchte er nicht, er erkannte in einem Quantum eines Augenblicks in ihren Augen, dass sie etwas ganz Besonderes war. Sie hatte etwas Anziehendes an sich, das sich nicht mit Worten beschreiben ließ. Aber sie hatte auch etwas verdammt Gutgläubiges an sich. Sie bemerkte nicht, wie sie einem Busch immer näher kamen. In einer ausholenden Armbewegung warf er sie zu Boden und drücke ihr mit ganzer Manneskraft die Kehle zu. Ihre kehligen Laute verstummten zu lautlosen Schreien. Sie starrte ihn an, und ihre Augen sahen aus, als würden sie gleich platzen, als würden jeden Moment ihre Augäpfel ihm in sein Gesicht donnern. Das machte ihm nichts, um ehrlich zu sein, es gefiel ihm sogar, das wäre mal ein Weihnachtsgeschenk!
Er erinnerte sich daran, wie es gewesen war, wie es sich anfühlte, als er zum ersten Mal jemanden umarmte, wie Bennie und er es immer nannten. Das war schräg gewesen. Seltsam, aber auch cool. Grausig hatte er es schon damals nicht empfunden.
»Wenn du ein Alkoholproblem hast oder rauchst, dann weißt du, was ich damit meine«, hatte Bennie ihm an seinem ersten Tag erklärt. »Einmal probiert, und man ist den Klauen des Teufels hilflos ausgeliefert. So ist es auch, wenn man das erste Mal jemanden um die Ecke bringt. Obschon man weiß, dass man etwas tut, was man nicht tun sollte, macht man es immer und immer wieder.«
Er dachte an seinen ersten Mord zurück, als wäre es gestern gewesen. Er drückte den Hals der Frau fester zu und schwelgte in Erinnerungen:
Geistesabwesend starrte er auf die Uhr, die seit seinem Einzug in die Wohnung vor einigen Jahren im Regal ihren Stammplatz hatte. Es grenzte schon an ein Wunder, dass man die Ziffern darauf überhaupt noch erkennen konnte, so verstaubt war sie. Mit den Jahren kam einiger Staub zusammen, und putzen war noch nie seine Stärke gewesen. Ohne an irgendwas zu denken, folgte er mit seinen Augen dem Sekundenzeiger. Seine Lider sanken. Als er kurz davor war einzunicken, surrte sein Handy.
Endlich, dachte er bei einem Blick auf das Display. Das Okay seines Auftraggebers. Er schnellte hoch und machte sich auf den Weg. Sein Ziel war ein kleiner See auf dem Festland, wo der Typ, der nicht mehr lange zu leben hatte, samstags morgens immer angelte. Der Killer versteckte sich hinter einen Baum und beobachtete seine Zielperson eine Weile.
Fahrig war er, nervös und freudig erregt. Gleich würde er seinen ersten Mord begehen. Auf leisen Sohlen kam er der Zielperson näher, diese bemerkte ihn nicht, so vertieft war der Mann ins Angeln. Mit einem Satz stürzte der Killer sich auf die Zielperson und warf ihn zu Boden. Erschrocken riss der Kerl die Augen auf. Es geschah alles so schnell, dass er nicht reagieren konnte. Er hatte keine Chance, sich zu wehren. Der Killer war nicht mehr Herr seiner Sinne. Es war, als wäre er jemand anderes. Er konnte es sich selbst nicht erklären, es war einfach so. Zuerst dachte er noch: Scheiße, was mache ich hier überhaupt, doch schnell setzte die Vernunft aus, und er funktionierte nur noch.
Dem Killer huschte ein Lächeln über die Lippen. Das war ein geiles Gefühl gewesen.
Die Sonne gewann langsam den Kampf gegen den dichten Nebel, der sich wie eine schwere Decke über den Vitter Bodden gelegt hatte. Ihn fröstelte es, und er wollte die Sache endlich hinter sich bringen.
Allmählich löste sich die Anspannung in ihrem Gesicht. Er wusste auch warum: Die Frau hatte sich soeben in die Hose gemacht.
Jetzt müsste es gleich vorbei sein.
In der Tat dauerte es nicht lange, dann hörte sie auf zu zappeln.
Zufrieden über die getane Arbeit, gleichzeitig aber völlig ermattet, wie nach einem extatischen Orgasmus, verzog er sich und joggte mit leicht gesenktem Blick unauffällig aus dem Wald zu seinem Wagen. Prustend ließ er sich in den Fahrersitz sinken, als ihn der schrille Klingelton seines Handys aufschreckte. Verdammt, den muss ich dringend ändern!, fauchte er in sich hinein.
»Ja.«
»Erledigt?«
»Ja.«
»Beim großen Baumstumpf. Du weißt wo.« Der Auftraggeber legte auf.
Ja, ich weiß wo die Geldübergabe stattfinden soll. Dort, wo wir uns zur Besprechung getroffen haben, ein paar Autominuten entfernt. Der sogenannte neutrale Ort. Sehr idyllisch.
Er schob den Schlüssel ins Zündschloss, der Motor heulte auf, und er brettere zum Treffpunkt. Heute war es hier alles andere als idyllisch.
Ein wenig beunruhigt wartete der Killer auf seinen Auftraggeber. Vor ihm die Lagune. Das Wasser glitzerte in der Sonne, starr ruhte es, fast schon gespenstisch. Die Ruhe vor dem Sturm, fuhr ihm durch den Sinn. Er wurde das ungute Gefühl nicht los, dass hier etwas im Busch war. Ein bleischwerer Klumpen nistete sich in seiner Magengrube ein. Sein Bauchgefühl sagte ihm, er sollte verschwinden, bevor es zu spät war.
Warum zum Teufel hatte er so ein ungutes Gefühl? Bestimmt wegen der Kohle. Dieser Job war der bestbezahlte bisher. Bei zweihunderttausend Euro konnte man schon mal wackelige Knie bekommen. Dieser Auftrag war das Tor in eine andere Liga. In die Liga der ehrenwerten Gentlemen. So nannte man unter den Auftragskillern die Oberschicht. Es war unfassbar, wie viel Blut an den Händen der Reichen klebte. Also genaugenommen war bei denen nicht wirklich etwas Ehrenwertes zu erkennen, zumindest nicht auf den ersten Blick. Aber sie ließen sich die Aufträge ordentlich was kosten, und alles andere hatte ihn nicht zu interessieren.
Er schloss seine Augen und konzentrierte sich auf seine Atmung. Wie ging das noch gleich? Bauch entspannen. Durch die Nase einatmen, mit verengter Stimmritze langsam durch die Nase ausatmen. Den Atem fließen lassen. Nicht verändern, nicht urteilen. Einfach fließen lassen.
Sofort spürte er, wie er sich beruhigte, wie sein Geist sich entspannte. Die Verkrampfung in seiner Magengrube löste sich. Da staunte jeder: Ein Auftragskiller, der Yoga praktizierte. In seinem Job war es unerlässlich, sich auf das Hier und Jetzt konzentrieren zu können, ganz bei sich zu sein.
Eines Abends, der Killer war gerade auf dem Weg zum Kiosk, um eine Packung Glimmstängel zu kaufen, war er an einem Yogastudio vorbeigefahren. Das Schaufenster zierte die Aufschrift »In der Ruhe liegt die Kraft«. Dieser eine Satz, für die meisten wohl unbedeutend, hatte ihn aus unerklärlichen Gründen sofort berührt. Wie von einer fremden Macht gesteuert parkte er seine Karre und trat durch die Pforten in eine ihm fremde Welt. Er wurde herzlich begrüßt und fühlte sich gleich wohl. Ohne zu wissen, was auf ihn zukam, setzte er sich auf eine der bereitgelegten Matten. Die Yogalehrerin erklärte, dass sie für diese Stunde eine Klangschalenmeditation geplant hätte.
Ach du Scheiße, schoss es ihm durch den Kopf.
Er und Meditieren? Was für ein Schwachsinn! Doch er wollte nicht unhöflich sein, deshalb blieb er. Die Stunde begann, und der Killer bemerkte schnell, dass etwas mit ihm geschah. Etwas Gutes. Nach der Stunde verließ er das Studio als neuer Mensch.
Seit jenem Abend war der Yogaraum sein zweites Zuhause. Natürlich fluchte, rauchte und trank er weiterhin, von seinem Job nicht zu reden, aber mental war er ein neuer Mensch geworden. Seitdem war er nicht mehr so schnell aufgebracht wie früher und hatte gelernt, geduldig zu sein, sich auf sich selbst zu fokussieren, was seinem Job nur zugutekam.
Jäh verspürte er einen unsäglichen Schmerz in den Kniekehlen, der ihn zu Boden zwang. Bevor er sich wieder fangen konnte und realisierte, was hier geschah, wuchtete ihn jemand auf den Rücken.
Jetzt sah der Killer ihn. Er konnte es kaum fassen, es war sein Auftraggeber. Noch bevor der Killer fragen konnte, was der ganze Scheiß sollte, drückte der Auftraggeber ihm mit ganzer Manneskraft die Kehle zu. Herrgott, er stank ungeheuerlich nach Fisch und Knoblauch.
»Hast du wirklich geglaubt, du könntest meine Frau vögeln und würdest ungestraft davonkommen?« Sein Gesicht verzog sich zu einer wutentbrannten Fratze.
Verdammt, dachte der Killer, das ist es also. Dieser Mistkerl! Er hatte sich nie Gedanken darüber gemacht, wie es war, gewürgt zu werden. Nun wusste er es, es war beschissen. Seine Gedanken schweiften ab. Er dachte an Bennie.
Shit! Lass niemals Gefühle zu.
Verdammter Besserwisser, Bennie! Nie hätte der Killer gedacht, selbst einmal umarmt zu werden.
Unwillkürlich zuckten seine Gliedmaßen, doch schnell spürte er, wie sein Körper aufgab. Und dann hörte er auf zu zappeln.
*
Am Anfang ist alles schwarz. Doch plötzlich befinde ich mich an einem Ort, der mir bestens bekannt ist: In meinem Elternhaus. Ein sechs Jahre alter Knirps war ich, als unsere neuen Nachbarn eines Abends bei uns zu Besuch waren. Fred, der Nachbar, war ein sehr netter Mann, besonders zu meiner Mutter. Offenkundig genoss sie seine Aufmerksamkeit, denn von meinem Vater bekam sie die nie. Fred umarmte meine Mutter, und Vater verzog missmutig das Gesicht. Er umgarnte sie, scheute nicht einmal den Ehegatten seiner Begierde, nicht einmal seine eigene Frau. Beim Essen saß er meiner Mutter gegenüber und starrte sie die ganze Zeit an. Ihr gefiel das, offenkundig, sie schmunzelte ständig. Ich weiß das, ich habe sie genau beobachtet, und ich war schon als kleines Kind ein guter Beobachter. Meinem Vater passte das gar nicht, er wurde richtig sauer. Eigentlich war er immer sauer. Wütend auf seinen Chef, der ihn nicht anständig entlohnte; wütend auf Mutter, die ihn nicht lecker genug bekochte; wütend auf die Regierung, die immer mehr Saisonarbeiter ins Land ließ. »Die glauben doch selbst nicht, dass die Saisoniers wieder weggehen. Die werden hierbleiben. Für immer. Du wirst sehen, mein Junge«, sagte er immerzu.
Damals hatte ich kein Wort von dem verstanden, was er damit meinte. Er redete ständig in einem Schwall, sagte aber nichts. Zumindest meinte das meine Mutter einmal zur Nachbarin. Ich weiß das, ich habe sie belauscht.
Und mein Vater nuschelte. Ihn zu verstehen war nie leicht, für niemanden. Er nuschelte und lispelte ein wenig. Und wenn dann noch Alkohol ins Spiel kam, waren Hopfen und Malz verloren. Jedenfalls war er an jenem Abend mal wieder mächtig sauer: auf meine Mutter und auf Fred, der immerzu lächelte.
Nach dem Abendessen räumte meine Mutter den Tisch ab. Als sie den Teller von Fred in die Hand nahm, gab er ihr einen kleinen Klaps auf den Hintern, ich habe es genau gesehen; mein Vater glaube ich auch. Auf alle Fälle schob er seinen Stuhl zurück und ging ins Wohnzimmer, um zu rauchen.
Warum dachten meine Eltern, ich bekäme davon nichts mit? Nur weil ich noch ein Kind war? Sehr wohl bemerkte ich, was sich hier anbahnte: Der neue Kerl in unserem Wohnblock machte meine Mutter an. Was gab es da nicht zu verstehen? Um zwanzig Uhr musste ich ins Bett, da nutzten auch meine Bettelei und mein Hundeblick nichts. Meine Mutter begleitete mich in das obere Stockwerk, wo sich die Schlafzimmer und das Bad befanden. Nicht, weil sie überaus liebevoll war, vor allem in letzter Zeit nicht, vielmehr, um sicher zu gehen, dass ich auch wirklich meine Zähne putzte und mir das Gesicht wusch. Ich legte mich ins Bett, und sie trat in mein Zimmer, setzte sich zu mir und schlang lautlos ihre Arme um mich.
Wie ich diese seltenen Augenblicke liebte. In den vergangenen Monaten waren sie noch seltener geworden als sie es sonst schon waren, umso mehr nahm ich die Momente bewusst wahr. Ich sog ihre Wärme mit allen Sinnen auf, um so lange wie möglich davon zu zehren. Ein dumpfer Knall ließ uns beide aufschrecken. Mutter schnellte hoch, fuhr herum, befahl mir im Bett zu bleiben und eilte hinaus. Ich hörte sie die Stufen hinunterrennen, es machte einen seltsamen Lärm. Sie flitzte oft die Treppe nach unten, aber jetzt klang es anders: irgendwie bedrohlich, gefährlich. Mutter kreischte, dann polterte es im Wohnzimmer. Obwohl ich Mutter zu gehorchen hatte, schlich ich zur Treppe und spähte zwischen den Holzstäben direkt in unser Wohnzimmer. Mein Vater legte seine klobigen Hände um Mutters Hals. Sie röchelte und zappelte, dann war Stille. Wie von einer Tarantel gestochen rannte ich in mein Zimmer zurück und schmetterte die Tür zu, warf mich auf das Bett, verkroch mich unter die Decke und wartete auf meinen Vater.
Gott, hatte ich Angst.
Davor, was mit Mutter passiert war und davor, was Vater mit mir anstellen würde. Augenblicke süpäter schnellte ich hoch und packte in Rekordzeit meine wenigen Habseligkeiten zusammen. Ich musste fliehen! Ich stürmte hinunter, wo mein Vater bereits ungeduldig auf mich wartete.
»Los, steig ins Auto«, kommandierte er.
Eingeschüchtert tat ich wie geheißen, ich hatte Angst, ihm zu widersprechen oder zu fragen, was mit Mutter passiert war. Obgleich ich das sehr gern getan hätte.
Auf der Rückbank sitzend wandte ich mich um und starrte zur Heckscheibe hinaus. Wir würden umziehen, meinte Vater, als unser Haus immer kleiner wurde. Ich weinte in mich hinein. Umarmte innig meine Tasche, als wäre sie meine Mutter.
Schweigend fuhren wir quer durch Deutschland, vom Süden in den Norden. Wir waren verdammt lange unterwegs, ich befürchtete schon, niemals anzukommen. Wo auch immer unser Ziel wäre, ich hätte ihn gern gefragt, wohin wir fuhren, traute mich aber nicht. Nicht, dass er daraufhin seine Hände auch um meinen Hals legte. Also schwieg ich die ganze Fahrt über. Sogar das Pinkeln konnte ich mir lange verkneifen. Ich war dann aber doch sehr froh, als er an einer Raststätte anhielt und ich mich endlich erleichtern konnte. Vom Norden aus drehten wir wieder Richtung Süden, dann nach Berlin, dann waren wir plötzlich in Köln. Das ging einige Wochen so weiter, geschlafen haben wir ausschließlich im Wagen. Nun, irgendwann, nach einer gefühlten Ewigkeit des schweigenden Fahrens und der vielen offenen Fragen meinerseits, rollten wir von einer Fähre.
»Ab jetzt, mein Junge«, sagte mein Vater voller Pathos, »sind wir Insulaner.«
Damals war es mir natürlich noch nicht klar, doch jetzt weiß ich, dass er so den Polizisten die Suche erschweren wollte. Was ihm auch gelang, denn mein Vater genoss sein Leben in Freiheit: mit viel Alkohol und noch mehr Frauen.
Ich habe ihn nie gefragt, wo Mama war und was überhaupt an jenem Abend passiert war. Heute muss ich ihn nicht mehr fragen, heute weiß ich es. Er hatte Mutter umarmt. Verdammt! Ich vermisse sie so sehr. Nach all den Jahren fehlt sie mir immer noch. Auch wenn sie mir ihre Liebe nur sehr selten zeigen konnte, liebte sie mich, das weiß ich. Das konnte ich jedes Mal spüren, wenn sie ihre dürren Ärmchen um mich schlang. Bis mein Vater sie umgebracht hat.
War er das? War dieses, ich nenne es mal Ereignis, der Grund, weshalb ich zum Mörder wurde? Weil ich zusehen musste, wie mein Vater meine Mutter umgebracht hat? Ich habe mich oft gefragt, was der Auslöser, der ausschlaggebende Punkt war. Jetzt weiß ich es: der Mord an meiner Mutter. Und dafür musste ich verdammt noch mal zuerst sterben. Es ist doch ganz schön traurig, wie man am Ende seines Lebens zurückblickt und feststellen muss, dass es einfach nur beschissen war.
Ich hätte gern etwas anderes gemacht, glauben Sie mir. Denn ich bin kein Unmensch. Aber so wollte es das Schicksal, und dem Scheißkerl kann man nicht entrinnen. Ich denke nur noch an meine Mutter. Wie sie Tag ein Tag aus für mich da war, obwohl sie mit sich selbst nicht klarkam. Na ja, vielleicht wäre sie das, wenn mein Vater nicht gewesen wäre. Manchmal, da trug sie im Haus eine Sonnenbrille. Einmal wollte ich in das Badezimmer und öffnete die Tür, als ich sie vor dem Spiegel stehen sah. Sie war nackt. Sie weinte. Ihre Oberarme waren übersät mit dunklen, blauen Flecken, ihr rechtes Auge war blutunterlaufen. Ich hätte sie gern in den Arm genommen, lehnte die Tür aber wieder an und kehrte in mein Zimmer zurück.
Plötzlich ist mir alles egal. Alles ist okay, so wie es ist. Ich spüre keine Schmerzen mehr, keine Trauer. Ich sehe keine Bilder mehr, so sehr ich mich auch anstrenge, verspüre auch meinem Vater gegenüber keinen Hass mehr. Ich denke an nichts, und doch weiß ich, dass es mir gut geht. Fühlt sich so der Tod an? Das Sterben selbst ist die Hölle, aber wenn dieses Gefühl, das ich gerade habe, der Tod ist, dann bin ich gern tot. Alles ist gut. Mama, ich sehe dich …
ENDE
von Hans-Jürgen Raben
Jochen Sawatzke, von seinen wenigen Freunden Joschi genannt, war ein kleiner Mann. In jeder Hinsicht. Nicht nur, was die Körpergröße betraf, sondern auch im Hinblick auf seine Bildung und seine Karriere als Krimineller.
Jochen saß in einem Imbiss mitten in einem Einkaufszentrum und starrte trübsinnig auf seine Tasse Kaffee, die vor ihm auf dem Tisch stand.
Er war jetzt fast dreißig und hatte noch nichts erreicht. Was er jetzt vorhatte, würde seine letzte Chance sein. Wenn er es diesmal versaute, würde er keine weitere Gelegenheit bekommen, sein Schicksal doch noch zu wenden. Diesmal musste es klappen!
Nervös blickte er auf seine Uhr. Es war noch zu früh. Bezahlt hatte er schon, doch der Kaffee blieb unberührt stehen. Er war zu aufgeregt, um jetzt etwas herunterzubekommen.
Die vielen Menschen um ihn herum nahm er kaum wahr. Alle hatten es eilig, die letzten Einkäufe für Weihnachten zu erledigen. Das blieb ihm erspart, denn er hätte nicht gewusst, wem er etwa schenken sollte. Nein, er war nur für sich selbst verantwortlich. Das war schon immer so gewesen.
Joschi konnte nichts für sein Schicksal. Seine Eltern waren schuld. Ganz klar! Was hätte aus ihm werden können, wenn er andere Eltern gehabt hätte?
Als Jochen acht Jahre alt war, hatte er seinen ersten Diebstahl begangen. Drei Comic-Hefte und zwei Packungen Kaugummi. Nichts, was irgendeines Aufhebens wert gewesen wäre. Doch sein Vater hatte ihn nach Strich und Faden verdroschen, ehe er sich wieder seiner Lieblingsbeschäftigung zuwandte: dem Fernsehen und seiner Flasche Bier.
Zum Glück hatte den Alten ein Unfall dahingerafft, als er betrunken über die Straße torkelte. Seine Mutter hatte das Ableben ihres Mannes nicht weiter gestört, erhielt sie doch jetzt eine Witwenrente anstatt der bisherigen Sozialhilfe. Um sich ihre Drogen leisten zu können, arbeitete sie in einem Nachtclub hinter dem Tresen – schwarz natürlich.
Für das Kind hatte sie nur geringes Interesse entwickelt. Er sei ein Unfall gewesen, hatte sie ihm eines Tages eröffnet, und das hätte ihrem Leben eine falsche Richtung gegeben. Daran sei er nun mal schuld. Obendrein hätte sie dadurch ihren Lebensgefährten nicht rausschmeißen können, was das einzig Richtige gewesen wäre.
Jochen hatte währenddessen die Grundschule mit Mühe geschafft. Für die Lehrer war er ein hoffnungsloser Fall gewesen, und so war seine Bildung äußerst rudimentär geblieben.
Nach der Schule genoss er seine Freiheit. Niemand schrieb ihm vor, was er zu tun und zu lassen hatte, am wenigsten seine Mutter. Die mangelnde Erziehung hatte immerhin dazu geführt, dass Jochen sich eine gewisse Selbständigkeit angeeignet hatte. Er versuchte sich also als Nächstes als Hilfsarbeiter beim Bau.
Es ging nicht lange gut, denn man erwischte ihn, als er ein paar wertvolle Werkzeuge mitgehen ließ, die er zu verkaufen gedachte. Die Firmenleitung warf ihn fristlos raus, erstattete aber keine Anzeige. Das verführte Jochen zu der Annahme, dass Strafen kaum zu befürchten waren. Er müsste sich nur ein wenig geschickter anstellen.
Leider gelang ihm dies auch bei seinem nächsten kriminellen Versuch nicht. Seine Fertigkeiten, ein Schloss ohne den passenden Schlüssel zu öffnen, ließen zu wünschen übrig, und so scheiterte er an der Tür zu einer Pfandleihe, wo er sich eine ordentliche Beute erhofft hatte. Während er sich mit dem Sicherheitsschloss beschäftigte, war ihm nicht aufgefallen, dass er minutenlang von einer Infrarotkamera aufgenommen worden war.
Wenige Tage später stand die Polizei vor seiner Tür. Jochen hatte nicht bedacht, dass die Überwachungskamera im Inneren der Pfandleihe ihn aufgenommen hatte, als er das Geschäft unter dem Vorwand, etwas verkaufen zu wollen, ausspioniert hatte.
Es war seine erste Festnahme, und für ihn galt noch das Jugendstrafrecht, also kam er mit einer Bewährungsstrafe davon.
Dann hatte Jochen Sawatzke einen genialen Einfall. Er war noch jung genug, und ging bei einem Schlosser in die Lehre, um alles zu erfahren, was es über Schlösser zu wissen gab. Zwar schloss er die Lehre nicht ab, doch er war begierig darauf, endlich seine neuen Fähigkeiten einsetzen zu können.
Leider ging auch der nächste Versuch gründlich schief. Bei seinem Einbruch in eine Privatvilla sahen ihn die Nachbarn und riefen unauffällig die Polizei. Man erwischte ihn mit der Schmuckkassette in der Hand.
Diesmal wanderte er für ein halbes Jahr hinter Gitter. Sein Zellengenosse trug nicht zu seiner Resozialisierung bei, sondern ermunterte ihn, es eine Nummer größer zu versuchen. Der Ratschlag fiel auf fruchtbaren Boden, und so versuchte Jochen sich als Bankräuber. Mit einer Spielzeugpistole bewaffnet, stürmte er in eine kleine Bankfiliale am Rande der Stadt und knallte dem Kassierer einen Zettel vor die Glasscheibe.
Sovort alles Geld heer! las der Mann.
Er blickte hoch und musterte die Plastikpistole. „Ihr Ernst?“, fragte er und drückte den Alarmknopf.
Sie erwischten ihn zwei Blocks weiter, und diesmal dauerte sein Aufenthalt hinter Gittern deutlich länger.
Im Frühjahr war er entlassen worden. Jetzt stand Weihnachten vor der Tür. Wenn er ehrlich zu sich war, musste er es zugeben: Er war ein Versager.
Doch mit dem heutigen Tag würde alles anders werden!
Sein Plan war perfekt, und er hatte ihn lange vorbereitet. Heute würde die letzte Phase beginnen, und an deren Ende stand eine Belohnung, die alle früheren Misserfolge vergessen lassen würde.
Joschi Sawatzke blickte auf seine Uhr. Es war soweit.
Während er zu der Bankfiliale hinüberschlenderte, ging er in Gedanken alles noch einmal durch. Er hatte eine Menge Vorbereitungen in dieses Projekt gesteckt, um alle Fehler auszuschließen.
Schon die Auswahl der passenden Filiale hatte einige Mühe gekostet. Diese hier besaß das moderne Zugangssystem zu den Schließfächern, bei dem die Anwesenheit eines Bankangestellten mit seinem zweiten Schlüssel nicht mehr nötig war. Der Kunde benutzte seine Bankkarte und die zugehörige PIN, um die innere Tür des Tresorraums zu öffnen. Danach brauchte er für das Schließfach nur noch seinen eigenen Schlüssel.
Jochen Sawatzke hatte schon vor Monaten eines der großen Schließfächer angemietet, in dem er nach und nach alles deponiert hatte, was er für sein Vorhaben brauchte. Ein Konto hatte er natürlich ebenfalls eröffnen müssen. Doch das spielte keine Rolle, denn niemand würde ihn verdächtigen. Er war nur ein ganz normaler Kunde.
Heute war Heiligabend, und das Datum war perfekt. Denn es war ein Donnerstag, und die nächsten drei Tage waren Feiertage, an denen die Bank wie alles andere im Einkaufszentrum geschlossen war. Er würde alle Zeit haben, die nötig war.
Zusätzlich war es von Vorteil, dass die Filiale mitten im Einkaufszentrum lag. Es gab keine Fenster, durch die man von außen hineinsehen oder etwas hören könnte.
Hatte er alles bedacht?
Die Bankfiliale schloss um zwölf Uhr mittags, in einer Viertelstunde. In den vergangenen Tagen hatte er beobachtet, dass kurz vor der Schließung der Andrang der Kunden noch einmal zunahm. Die Läden im Zentrum hatten länger geöffnet, und es gab offensichtlich zahlreiche Menschen, die in letzter Minute noch Geld für ihre Einkäufe brauchten.
Jochen hoffte, dass es heute vor dem Ladenschluss ebenso sein würde. Es war allgemein bekannt, dass viele ihre Weihnachtseinkäufe auf den letzten Drücker erledigten.
Es war wie erhofft. Er ging unbehelligt und unbeachtet die Treppe zum Tresorraum hinunter, eine Reisetasche in der linken Hand, in der er noch einige Dinge verstaut hatte, die er für seinen Aufenthalt dort unten brauchte. Dabei handelte es sich vor allem um belegte Brote und andere Nahrungsmittel, die für drei Tage reichen sollten.
Der Tresorraum dieser Bank war nicht sehr groß, verfügte jedoch über eine beeindruckende Panzertür, die fast einen halben Meter dick war. Das sollte genügen, um jedes Geräusch aus dem Tresor zu unterdrücken, Sicher war sicher, denn Jochen wusste nicht, ob nicht vielleicht doch ein Wachdienst auch an den Feiertagen die Bank überprüfte.
Er lächelte. Sein Plan war genial. Er würde sich im Tresor einschließen lassen, um dann die Schließfächer auszuräumen, und dafür hatte er volle drei Tage Zeit. Wenn dann am Montagmorgen ein Angestellter den Tresor öffnete, würde er als Erstes durch die innere Gittertür sehen, was geschehen war, und wieder nach oben laufen, um Bescheid zu sagen. Diesen Moment würde Jochen nutzen, um unauffällig den Tresorraum zu verlassen.
In diesem Zusammenhang gab es noch einen weiteren Vorteil. Bei seiner Erkundung des Tresors hatte er bemerkt, dass auf der linken Seite zwischen der letzten Reihe der großen Metallschränke mit den Schließfächern, die in den Raum hineinragten, und der Rückwand des Raumes eine schmale Tür zu sehen war. Er hatte sie geöffnet und einen winzigen Raum entdeckt, einen besseren Wandschrank von nicht mehr als einem halben Meter Tiefe.
In dem schmalen Raum zwischen der Tür und der Außenwand aus Beton standen zwei alte Eimer, und an einer Reihe Haken hingen ein zerrupfter Besen und ein schmutziger Overall einer Reinigungsfirma. Offenbar wurde der Raum nicht mehr genutzt, seit man die neuen Schließfächer eingebaut hatte.
Für ihn war diese Abstellkammer ein zusätzliches Geschenk. Er konnte sich für die kurze Wartezeit darin verstecken, denn hier würde ihn bestimmt niemand suchen. Es würde nicht sehr bequem sein, doch der Lohn seiner Arbeit würde ihn entschädigen.
Jochen Sawatzke sah sich kurz um, ehe er seine Karte auf das Display legte. Er war allein.
Rasch gab er seine PIN ein, und mit einem leisen Klicken öffnete sich die innere Gittertür. Er schlüpfte in den Tresorraum hinein und drückte das Gitter hinter sich zu.
Jetzt in die Abstellkammer und warten. Nur wenig Licht fiel durch den schmalen Türschlitz.
Jochen blieb bewegungslos stehen. Es konnte immer noch jemand kommen. Doch er blieb allein und atmete erst erleichtert auf, als er das dumpfe Geräusch der sich schließenden Tresortür hörte. Gleichzeitig erlosch das Licht, und er befand sich in völliger Dunkelheit. In der Stille meinte er, das Rauschen seines eigenen Blutes zu hören.
Einer der Nachteile seines selbstgewählten, aber vorübergehenden Gefängnisses war, dass der Lichtschalter leider außerhalb des Raumes lag. Dafür hatte er natürlich vorgesorgt. Er schaltete seine Taschenlampe an und ließ ihren Lichtstrahl über die Gegenstände wandern, die er bei seinen früheren Besuchen mitgebracht hatte. Seine Vermutung war richtig gewesen, niemand hatte in der Zwischenzeit die kleine Abstellkammer betreten,
Da war die Propangasflasche, die er für seinen kleinen Schneidbrenner brauchte, eine zusammen gelegte Luftmatratze, eine Kiste mit Mineralwasser, und eine Tüte Löschkalk für die Eimer, wenn er sein Geschäft verrichten musste. Er war jetzt schließlich für ein paar Tage eingeschlossen. Den Rest seiner Ausrüstung hatte er in seinem eigenen Schließfach verstaut. Dort würde er auch die Beute unterbringen. Nur Bargeld, Gold oder Schmuck, hatte er sich geschworen. Dafür würde das angemietete Schließfach reichen. Niemand würde bei ihm etwas finden können, falls man ihn wider Erwarten verdächtigen sollte.
Er öffnete die Tür und lauschte erneut. Nicht das kleinste Geräusch war zu vernehmen. Er konnte mit seiner Arbeit beginnen.
Als Erstes sortierte er die Dinge aus dem Schließfach auf einem der Tische, so wie er sie benötigte, und schnallte sich die mitgebrachte Stirnlampe um. Danach verteilte er ein paar Kerzen im Raum und zündete sie an, um etwas Hintergrundbeleuchtung zu bekommen.
Als Nächstes schloss er die Gasflasche an den Schneidbrenner an und betätigte die Zündung.
Mit einem leisen Fauchen schoss die heiße Flamme aus der Öffnung. Perfekt! Er regulierte etwas nach und richtete dann entschlossen die Flamme auf das erste Schließfach. Er brauchte den Riegel nicht vollständig zu zerschmelzen, denn er hatte auch zwei Brechstangen in unterschiedlicher Größe dabei. Damit hebelte er die Tür des Faches auf. Die silberfarbene Kassette im Inneren des ersten Schließfachs blitzte ihm verführerisch entgegen.
Jochen Sawatzke legte seine Werkzeuge beiseite, zog die Kassette aus dem Fach und öffnete den Deckel.
Jetzt sollten die Mühen der langen Vorbereitung sich endlich lohnen. Er fühlte sich wie ein Kind, das auf die Bescherung am Weihnachtsbaum wartet. Er musste grinsen – es war ja auch Weihnachten.
Er blickte auf einen Stapel Aktendeckel, und sein Grinsen erstarb.
Schriftstücke, Wertpapiere, Unterlagen, was auch immer. Der ganze Papierkram nützte ihm nichts.
Mit einem wütenden Grunzen schob er die Kassette wieder in ihr Fach. Er hatte sich vorgenommen, jede Kassette nach Prüfung ihres Inhalts zurückzulegen. Denn wenn er erst einen ganzen Stapel vor sich hatte, bestand die Gefahr, dass er die Dinger mehrfach überprüfte, und das kostete Zeit, die er nicht für eine überflüssige Arbeit verschwenden wollte.
Also wieder her mit dem Schneidbrenner. Die Flamme ist ganz schön heiß, dachte er. Beim ersten Hebelversuch rutschte ihm die Brechstange aus der schweißnassen Hand und fiel ihm fast auf den Fuß.
Er musste vorsichtiger sein. Einen Unfall konnte er sich nicht leisten, denn in den nächsten Tagen war eine Hilfe nicht möglich.
Die zweite Kassette war ebenso enttäuschend wie die erste: zwei großformatige alte Bücher!
Er stieß einen Fluch aus und blätterte durch das oben liegende. Es schien sehr alt zu sein. Einige der farbigen Bilder sahen aus wie Illustrationen aus seinem Schulbuch für Geschichte. Mittelalter oder so …
Sie waren sicher wertvoll, doch das half ihm wenig. Er konnte sie bei seinem Rückzug nicht mitnehmen, und im Schließfach würden sie zu viel Platz einnehmen. Also auch wieder zurück.
Es war anstrengend, den Schneidbrenner in Kopfhöhe zu halten, doch er wollte sich Fach für Fach vornehmen, immer schön der Reihe nach.
In der dritten Kassette wurde er endlich fündig. In einer ausziehbaren Schublade lagen ein Dutzend Goldmünzen in kleinen Vertiefungen auf rotem Samt. Zusätzlich waren sie noch durch kleine Plastikkapseln geschützt. Ohne sie im Einzelnen anzusehen, schüttete er sie in sein eigenes Schließfach.
Die Öffnung der Schließfächer ging allmählich schneller. Seine Bewegungen wurden routinierter. Er hielt sich auch nicht damit auf, die erbeuteten Schätze im Einzelnen zu überprüfen, dafür würde später genügend Zeit sein. Immerhin sah er mit Genugtuung, dass der Bargeldstapel wuchs.
Das wird ein schönes Weihnachtsfest, dachte er befriedigt.
Jochen Sawatzke begann, fröhlich vor sich hin zu pfeifen. Die Arbeit machte Spaß, denn die Bezahlung war außerordentlich hoch.
Sein Plan war einfach perfekt, und er kam sich ziemlich genial vor.
*
Kriminalhauptkommissar Leo Wenzel starrte durch die Gitterstäbe des Tresors auf eine Szene, wie er sie noch nie gesehen hatte.
Zahlreiche Türen der Schließfächer standen offen oder hingen lose in ihren Angeln. Auf dem Boden waren verschiedene Gegenstände verstreut, darunter auch ein Schneidbrenner. Auf den großen Metallschränken, in denen die Schließfächer untergebracht waren, standen heruntergebrannte Kerzenstummel.
Vor allem aber lag ein regloser Mann auf einer Luftmatratze mitten im Raum auf dem Boden.
Leo Wenzel richtete seinen Blich auf den rechts neben ihm stehenden Mann im weißen Kittel, der ein Stethoskop um den Hals trug.
„Sie sind sicher, dass der Mann tot ist?“, fragte er.
„Absolut. Der Mann ist tot. Darauf können Sie sich verlassen.“
„Nach meiner Erfahrung kann man sich in solchen Fällen auf gar nichts verlassen“, knurrte der Hauptkommissar.
Er wandte seinen Blick nach links. Dort stand ein zweiter Mann in einem dunkelblauen Anzug mit Weste und einem hochroten Kopf. Er schnappte nach Luft wie ein Fisch auf dem Trockenen.
„Und Sie haben den Toten entdeckt?“
Der Mann verschluckte sich fast vor Aufregung. „Ich habe wie an jedem Morgen die Tresortür geöffnet, damit die Kunden an ihre Schließfächer gelangen können, als ich sah, was passiert war.“
„Sie können allein den Tresor öffnen?“, fragte Wenzel erstaunt.
„Nein, mein Stellvertreter muss auch dabei sein.“
„Sie sind der Leiter dieser Filiale?“
„Ja, Hansen ist mein Name. Jedenfalls habe ich sofort gesehen, dass der Tresor ausgeraubt werden sollte, und ich …“
„Wo steckt denn Ihr Kollege?“
„Der ist oben. Einer muss sich ja um die Geschäfte kümmern. Sie können sich ja nicht vorstellen, was jetzt …“
Der Hauptkommissar hob die Hand. „Bitte eins nach dem anderen. Was haben Sie gemacht, als Sie das Chaos hier entdeckten?“
„Mein Mitarbeiter hat mich darauf aufmerksam gemacht, dass ein Mann auf dem Boden liegt. Den hatte ich noch gar nicht bemerkt. Ich wusste ja nicht, was mit ihm los war und habe deshalb die innere Gittertür nicht geöffnet. Wir haben beide gerufen, doch der Mann hat sich nicht gerührt. Dann habe ich die Polizei und meinen Hausarzt angerufen, der hier im Zentrum seine Praxis hat.“
Wenzel drehte sich wieder zur anderen Seite. „Das sind dann Sie, nehme ich an.“
Der Arzt nickte. „Ich bin sofort heruntergekommen. Wir haben kurz überlegt, ob wir auf die Polizei warten sollen, doch ich war der Meinung, dass wir erst nach dem Mann dort drinnen sehen müssten.“
„Ich habe dann das Gitter geöffnet“, fuhr der Filialleiter fort, und Doktor Seelmann hat den Einbrecher untersucht.“
„Und festgestellt, dass er tot ist“, schlussfolgerte Wenzel. Er wandte sich wieder an den Mann von der Bank.
„Warum haben Sie das Gitter wieder geschlossen, wenn der Eindringling bereits tot war?“
Der Mann plusterte sich empört auf. „Die Bank ist beraubt worden!“
„Soweit ich sehen kann, befindet sich alles noch im Inneren des Tresors“, entgegnete Wenzel ruhig. „Machen Sie jetzt bitte auf. Ich möchte mir den Tatort ansehen.“
„Ich weiß nicht, ob ich das kann“, stellte sich der Filialleiter bockig.
„Wollen Sie mir unterstellen, dass ich etwas mitgehen lasse.“
„Natürlich nicht“, sagte der Mann mit der nötigen Zerknirschung. Er hantierte mit einem Schlüsselbund, und das Gitter schwang geräuschlos auf.
Inzwischen war auch das Team der Spurensicherung angekommen. Zwei Männer und eine Frau in weißen Kitteln, jeder mit einem Koffer in der Hand.
Hauptkommissar Wenzel betrat den Tresorraum und winkte dem Arzt zu. „Kommen Sie mit, Herr Doktor. Alle anderen warten noch draußen.“
Er beugte sich zu dem Mann nieder, der auf dem Schlafsack lag. Mit seinem geschulten Auge erkannte auch er, dass er einen Toten vor sich hatte. Der Mann sah fast friedlich aus.
„Wie ist er gestorben?“, fragte er den Arzt.
„An seiner Dummheit“, erwiderte Doktor Seelmann ungerührt. „Sehen Sie sich um. Überall Kerzen – und dann der Schneidbrenner. Der Tresor ist hermetisch abgeschlossen. Es wurde viel zu viel Sauerstoff verbraucht, nicht zuletzt durch den Täter selbst.“
„Sie meinen, er hatte eine Vergiftung durch Kohlenmonoxid?“
Seelmann nickte. „Ganz genau. Zum Schlafen hat er sich überdies eine Luftmatratze mitgebracht und schlief demzufolge dicht über dem Fußboden.“
„Und Kohlenmonoxid ist schwerer als Luft und sammelt sich deshalb immer unten“, ergänzte Wenzel die Überlegung. „Außerdem ist das Gas unsichtbar und geruchlos, aber leider äußerst tödlich.“
Wieder nickte der Arzt. „Hätte er ein Feldbett genommen, wäre er vermutlich nicht gestorben. Aber auf der Luftmatratze lag er zu tief und hat deshalb die Nacht nicht überlebt.“
„Da sieht man mal wieder, dass man durch gute Bildung bessere Chancen hat“, murmelte Hauptkommissar Wenzel nachdenklich.
ENDE
von Stefan Lochner
»Achtzehn Euro siebzig.« Die blonde Bedienung lächelte Holger an, der sich schon von dem Barhocker erhoben hatte. Als dieser in seinen Geldbeutel starrte, wich ihm alles Blut aus dem Gesicht, er musste sich an dem Tresen festhalten. Er entdeckte nur noch einen Schein. Zum Glück war es ein Zwanziger. Nach kurzem Zögern reichte er ihn Laura, die ihn nachlässig entgegennahm.
»Stimmt so«, knurrte er, aus Angst, sich zu blamieren.
»Danke!« Ihre Stimme zeigte, dass sie enttäuscht war, aber Holger war pleite. Er streckte Laura die Hand entgegen, diese griff stattdessen das leere Bierglas. Beleidigt drehte Holger sich um doch als er Richtung Eingang schwankte, hörte er Lauras Stimme.
»Guten Abend. Kommst du morgen?«
Holger wendete sich um, Laura war schon eine Wucht. »Weiß noch nicht. Muss vielleicht arbeiten.«
»Würde mich wirklich freuen!«
Das glaubte Holger gerne, aber es lag nicht an ihm. An einem Dienstag war in der Altstadt nicht viel los, da war sie froh über jeden zahlenden Gast. Ein letzter Blick auf den kleinen Weihnachtsbaum auf dem Tresen, danach schlug Holger die frische Luft entgegen. Wie so oft, hatte er zu viel Geld in der Altstadt gelassen. Zuerst die Spielhalle und später musste er auch noch Laura einladen, wie jeder daher gelaufene Proll aus der Provinz!
So oft er sich vorgenommen hatte, abends daheim zu bleiben, jedes Mal fiel ihm abends die Decke auf den Kopf, und es zog es ihn in Düsseldorfs Altstadt. Jetzt war es knapp zweiundzwanzig Uhr und er total blank. Dass in wenigen Tagen Weihnachten war und er ohne eine Freundin, heiterte ihn auch nicht gerade auf.
Gemütlich zuckelte Holger in der Straßenbahn nach Hause. Erneut kam ihm das Gespräch mit Sören vom vorherigen Abend in den Sinn. Der arbeitete nebenher als Escort. Zuerst hatte Holger ja gedacht, dass sein Bekannter aufschnitt, aber es hörte sich schließlich doch stimmig an. Gegen Geld verbrachte Sören die Abende mit Frauen, die sich zumeist geschäftlich in Düsseldorf aufhielten. Nach dessen Aussagen war es ein einfacher Job, er hatte Spaß und es gab ordentliches Geld. Ob er allerdings auch Dienste darüber hinaus anbot, darüber schwieg sein Bekannter sich aus. Holger schrak hoch, beinahe hätte er die Haltestelle verpasst. Rasch sprang er auf und konnte die Straßenbahn gerade noch rechtzeitig verlassen.
Was für ein Blödsinn! Warum sollte eine Frau für ihn bezahlen, sie wollten ja nicht einmal mit ihm zu tun haben, wenn er sie einlud. Noch dazu musste er zuvor bei einer Agentur ankommen. Und die siebten sicherlich gnadenlos aus.
In seinem winzigen Wohnzimmer strich er sich durch die aktuellen Posts. Nach Haustieren, besonderem Essen und stark modifizierten Selfies, stach ihm eine kleine Anzeige ins Auge.
Suche Alibi-Freund für Weihnachten
damit meine idiotische Familie mich nicht weiter nervt. Du bist zwischen 35 und 50 Jahren alt, solltest Heiligabend Zeit haben, bereit sein, meine tollen Freunde und die »liebe« Familie kennenzulernen. Bezahlung erfolgt per Weihnachtsessen und sicher auch mit einem Geschenk, sowie, bei einer erfolgreichen Veranstaltung, einer kleinen Summe.
Bei erfolgreicher Ausführung und Sympathie winkt Zweitbestellung für Silvester und eventuell auch für die nächsten Weihnachten. Bewerbungen werden über PN entgegengenommen.
Was für ein Schwachsinn, wer meldete sich denn auf so etwas? Holger scrollte weiter, doch er bekam diesen Gedanken nicht aus dem Kopf. Seine Eltern urlaubten in Südfrankreich, er hatte weder Lust noch Geld dorthin zu fahren und seit vor drei Jahren seiner Freundin das Weite gesucht hatte, war er solo. Auf das Geld kam es ihm weniger an, er brauchte in dieser Zeit nichts für Essen und Getränke ausgeben. Und soff nicht allein in der Altstadt.
Das Foto war nur ein Avatar. Klar, das Mädel wollte natürlich nicht erkannt werden, nicht, dass es ihrer Familie gleich auffiel. Susi Que hieß sie natürlich auch nicht wirklich, vielleicht hatte sie erst für diese Anzeige ihren Account eröffnet. Egal, er musste es versuchen. Vielleicht wollte sie ihn auch nicht. Holger tippte eine Persönliche Nachricht, dass er Interesse an dem Job hätte. Natürlich bekam er erst einmal keine Reaktion. Sicherlich wurde die Frau von Angeboten überschüttet, obwohl sie kein Foto von sich zeigte. Hoffentlich konnte er sie von seiner Seriosität überzeugen.
Wenn es allerdings nicht klappte, so schwor er sich, würde er sich zeitnah bei der Agentur bewerben, die Sören ihm empfohlen hatte. Als kleiner Angestellter in einem Handelsunternehmen, war also kein Penner und stand eigentlich mitten im Leben. Keinesfalls wollte er an Weihnachten allein herumziehen und seine Frustration mit anderen Einsamen im Altbier ertränken. Dass ihm dafür vielleicht auch noch das Geld fehlte, kam erschwerend hinzu. Zerschlagen ließ er sich in das schmale Bett fallen und zog sich die Decke bis zur Nase.
Aufgeregt wusste Holger nicht, wohin er mit seinen Händen sollte. Er rannte im Zimmer auf und ab, noch war es zu früh, um loszufahren. Natürlich hatte er keine Vorstellung, wer diese Agnes war, wie diese Susi Que in Wirklichkeit hieß. Es hatte geschlagene drei Tage gedauert, bis sie sich auf seine Nachricht gemeldet hatte, gerade, als er es schon aufgegeben hatte, an seine Chance zu glauben. Etwas hatte ihn davon abgehalten, es bei der Agentur zu versuchen. Ein Glück, denn jetzt wollte Agnes sich sogar mit ihm treffen. Es war auch nichts anderes als ein Vorstellungsgespräch.
Holger schnappte sich seine beste Jeans und hielt sie gegen das Fenster. Vielleicht hätte er wieder mal waschen sollen, aber dafür war es nun zu spät, es musste auch so gehen. Die zweite, die noch nicht so ausgewaschen war, spannte etwas über seinem Bauch. Um nicht ganz so spießig zu erscheinen, zog er sich eine Weihnachtsmannmütze auf. Doch schon auf dem Weg zur Straßenbahn, wurde sie ihm peinlich, sodass er sich die Mütze in die Jackentasche stopfte.
Kurz darauf betrat er das kleine Café, das Agnes vorgeschlagen hatte und in dem sich hauptsächlich Studenten herumdrückten, die den Tag mit Quatschen totschlugen. Er hingegen musste jeden Tag arbeiten und konnte es sich kaum erlauben, ein wenig zu entspannen.
Holger blickte sich um. Die meisten Tische waren an diesem frühen Nachmittag schon belegt. Gleich neben dem Eingang saß eine junge Frau mit langen schwarz glänzenden Haaren. Wenn dies Agnes war, konnte Holger sich nicht vorstellen, warum sie allein feiern musste. Diese Frau war eine Fotomodel. Doch sie blickte ihn nur kurz an, verdrehte die Augen und wandte sich wieder ihrem Latte Macchiato zu. Schade, seine Blicke schweiften über die anderen Tische. Vielleicht war ja Agnes noch nicht da. Oder jemand wollte ihn ins Bockshorn jagen. Ein dunkelbrauner Pullover hob die Hand. Oh je, die sah ja wirklich nicht so aus, wie seine Idealvorstellung. Holger atmete tief aus und strebte zu dem Tischchen. »Agnes?«
»Die bin ich. Du bist Thomas?«
»Nein, Holger.« Warum nannte sie ihn anders?
»Ach ja, tut mir leid, das habe ich verwechselt. Es geht um ein Weihnachtsfest.«
Eingeschüchtert durch ihre herrische Stimme, nahm er vorsichtig Platz. Wegen des engen Pullovers sah er, wie dürr Agnes war, ihre Nase ähnelte zudem einem Haken. Diese Frau hätte er auch in alkoholisiertem Zustand nicht angesprochen. Dafür musterten ihn die blaugrünen Augen sehr lebhaft. Holger fühlte sich unbehaglich, die Lippen waren zu schmal für seinen Geschmack. Mit dieser Frau sollte er zusammen Weihnachten im Kreise ihrer Familie feiern und so tun, als wären sie ein Paar? Er unterdrückte den Fluchtreflex, zog die Jacke aus und hängte sie über den Stuhl.
»Was darf ich bringen?« Holger sah in die dunklen Augen der Bedienung. Sie hatte dicke Augenbrauen und einen dunklen Teint. Warum konnte denn nicht sie diese Agnes sein? Dafür wäre es ihm schwergefallen, Abstand zu halten. Er räusperte sich.
»Einen Cappuccino bitte.«
»Gerne.« Die Hübsche schaute von Agnes zu Holger und schien zu lächeln. Ganz automatisch schaute er hinter ihr her, wie sie in Richtung des Tresens lief. Ihre Figur zog ihn wie magisch an.
»Ich bin hier!« Verdammt, er hatte Agnes ganz vergessen, den Grund für sein Hiersein.
»Entschuldige bitte. Also, Agnes, du suchst jemanden, der mit dir Weihnachten feiert.«
Sie nickte.
»Wo ist denn das Ziel? Wenn ich mich nicht täusche, hast du das noch nicht erwähnt.«
Sie nahm einen Schluck Mineralwasser. »Mitten in der Eifel. Ich werde mit dem Auto fahren, keine Sorge.«
»Das heißt, wir müssen dort tatsächlich ein paar Tage wohnen, oder?«
Agnes nickte. »Jawohl. Natürlich nur, wenn wir uns einig werden.«
Sie machte eine kleine Pause. »Aber bevor wir das klarmachen können, erzähle zuerst einmal von dir.«
Hm, was sollte er da sagen? In solche einer Situation war er noch nie.
»Also. Als Erstes, ich habe gerade keine Freundin.«
»Dein Cappuccino, bitte!« Holger lächelte die Bedienung an, die sicherlich seinen letzten Satz verstanden hatte. Was mochte sie denn nun von ihm denken? Plötzlich fühlte Holger sich unwohl, als plante er etwas Verbotenes, nicht, dass die Hübsche meinte, er wollte etwas von Agnes.
Gezwungenermaßen musste er sich dieser wieder zuwenden. Schon verdrehte sie die Augen.
»Also, ich habe eine Ausbildung gemacht und arbeite im Büro.«
»Ungekündigt?«
»Ja, Frau Personalerin!«
Endlich lächelte sie etwas, das war ein gutes Zeichen.
»Ich schlage also die Zeit bis zur Rente tot. Was allerdings leider noch ein paar Jahre dauert. Deswegen interessiert mich diese verantwortungsvolle Tätigkeit.«
»Sonst hättest du dich auch nicht gemeldet. Das ist schon klar. Wie siehst du diesen Job? Auf keinen Fall darf etwas schief gehen.«
Er brauchte nicht lange, um zu antworten. »Ich werde so tun, als hätten wir eine echte Beziehung. Dabei werde ich mich entsprechend verhalten. Allerdings unter einer bestimmten Voraussetzung!«
»Und die wäre?« Sie spannte sich an und beugte sich nach vorne.
»Nun, ich brauche alle Informationen. Jedenfalls so weit, wie es für die Tätigkeit entsprechend notwendig ist. Familienangehörige, Dos und Donts…«
So ging es noch eine halbe Stunde, danach bezahlte Agnes, sehr zur Freude Holgers, der sich von der Bedienung verabschiedete.
»Du brauchst nicht hinter ihr her zu starren«, knurrte Agnes zum Abschied.
Auf dem Heimweg überlegte Holger. Er war sich nicht sicher, ob er Agnes überzeugt hatte. So, wie sie sich gab, war er auch nicht richtig scharf darauf. Aber was hatte er denn gedacht, eine halbwegs hübsche Frau brauchte doch keinen Escort! Bisher hatte Agnes sich nicht in die Karten schauen lassen, sie hatte nicht einmal verraten, wie lange ihre letzte Beziehung vergangen war.
Holger drehte sich zur Fahrerin, die sich konzentrierte, sie hatten gerade die A61 verlassen und zuckelten auf den Bundesstraßen weiter. Der VW Polo hatte schon beinahe so viele Jahre auf dem Buckel, wie Holger selbst.
»Agnes. Wir sind doch bald bei deiner Familie. Ich muss jetzt wissen, was ich sagen darf und was nicht.«
Sie stutzte und verlangsamte die Fahrt ein wenig.
»Eigentlich gibt es nichts, was du nicht sagen darfst. Wir sind eine moderne Familie. Nur solltest du dich nicht mit der Tante Amanda anlegen, oder ihr gar widersprechen.«
»Die Erbtante?«, vermutete er, ins Blaue hinein.
»Woher weißt du denn das?« Er musste lächeln.
»Nur eine Vermutung. Ich kenne ja niemanden deiner Familie.«
Stumm fuhr sie weiter, bis sie flüsterte. »Also, wichtiger als ein bestimmtes Thema zu vermeiden ist, dass es so aussieht, als wären wir zusammen. Niemand darf jemals auf die Idee kommen, dass wir nichts miteinander haben. Gerade Tante Amanda erwartet, dass ich unter die Haube komme. Auf keinen Fall soll ich die Männer schneller wechseln als die Unterwäsche.«
Dieses Schauspiel würde Holger schwerfallen, deswegen musste er genau wissen, was er darf und was nicht. »Sollen wir Händchen halten, küssen und alles andere?«
»Was verstehst du darunter?