Ein Mann kam aus Amerika - Patricia Vandenberg - E-Book

Ein Mann kam aus Amerika E-Book

Patricia Vandenberg

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Beschreibung

Für Dr. Norden ist kein Mensch nur ein 'Fall', er sieht immer den ganzen Menschen in seinem Patienten. Er gibt nicht auf, wenn er auf schwierige Fälle stößt, bei denen kein sichtbarer Erfolg der Heilung zu erkennen ist. Immer an seiner Seite ist seine Frau Fee, selbst eine großartige Ärztin, die ihn mit feinem, häufig detektivischem Spürsinn unterstützt. Dr. Norden ist die erfolgreichste Arztromanserie Deutschlands, und das schon seit Jahrzehnten. Mehr als 1.000 Romane wurden bereits geschrieben. Die Serie von Patricia Vandenberg befindet sich inzwischen in der zweiten Autoren- und auch Arztgeneration. »Gut, dass Sie so schnell kommen, Herr Doktor, ich mache mir solche Sorgen um Omchen«, wurde Dr. Norden von dem jungen Mann schon an der Tür des kleinen Siedlungshäuschens empfangen, das sich von den anderen in dieser Straße nur dadurch unterschied, dass es inmitten eines wunderhübsch angelegten und gepflegten Gartens stand. Der Garten war Kai Benthins liebstes Hobby und auch das seiner Großmutter, die er innigst liebte. »Ja, dann wollen wir mal schauen, was der Oma Benthin fehlt«, sagte Dr. Norden. »So matt war sie noch nie bei einer Grippe«, sagte Kai leise, »und sie will eben nicht im Bett bleiben.« Das wusste Dr. Norden nur zu gut, da er Thea Benthin nun schon fast seit zehn Jahren kannte. »Der Bub soll sich nicht so aufregen«, empfing ihn Thea Benthin auch sogleich mit krächzender Stimme, doch ihr gerötetes Gesicht, das sonst eher blass war, verriet, dass sie auch Fieber hatte und ziemlich hohes sogar, wie Dr. Norden sogleich besorgt feststellen musste. Als er sie untersuchte, was sie sich nur gefallen ließ, weil er eben »ihr« Dr. Norden war, wurde seine Miene noch ernster. »Wenn das nur keine Rippenfellentzündung wird«, sagte er. »Am besten wären Sie wirklich für wenigstens eine Woche in der Klinik aufgehoben, Frau Benthin.« Ein bisschen erstaunt war er schon, dass sie nicht gleich Widerspruch erhob, aber sie war tatsächlich matt. »Aber wenn, dann nur zum Dr. Behnisch«, murmelte sie. »Ins Krankenhaus gehe ich nicht.« Kai sah Dr. Norden flehend an. Der nickte. »Ich bringe Sie da schon unter, Frau Benthin, und da werden Sie schneller

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Dr. Norden Bestseller – 240–

Ein Mann kam aus Amerika

Wer ist John Everett?

Patricia Vandenberg

»Gut, dass Sie so schnell kommen, Herr Doktor, ich mache mir solche Sorgen um Omchen«, wurde Dr. Norden von dem jungen Mann schon an der Tür des kleinen Siedlungshäuschens empfangen, das sich von den anderen in dieser Straße nur dadurch unterschied, dass es inmitten eines wunderhübsch angelegten und gepflegten Gartens stand. Der Garten war Kai Benthins liebstes Hobby und auch das seiner Großmutter, die er innigst liebte.

»Ja, dann wollen wir mal schauen, was der Oma Benthin fehlt«, sagte Dr. Norden.

»So matt war sie noch nie bei einer Grippe«, sagte Kai leise, »und sie will eben nicht im Bett bleiben.«

Das wusste Dr. Norden nur zu gut, da er Thea Benthin nun schon fast seit zehn Jahren kannte.

»Der Bub soll sich nicht so aufregen«, empfing ihn Thea Benthin auch sogleich mit krächzender Stimme, doch ihr gerötetes Gesicht, das sonst eher blass war, verriet, dass sie auch Fieber hatte und ziemlich hohes sogar, wie Dr. Norden sogleich besorgt feststellen musste. Als er sie untersuchte, was sie sich nur gefallen ließ, weil er eben »ihr« Dr. Norden war, wurde seine Miene noch ernster.

»Wenn das nur keine Rippenfellentzündung wird«, sagte er. »Am besten wären Sie wirklich für wenigstens eine Woche in der Klinik aufgehoben, Frau Benthin.«

Ein bisschen erstaunt war er schon, dass sie nicht gleich Widerspruch erhob, aber sie war tatsächlich matt.

»Aber wenn, dann nur zum Dr. Behnisch«, murmelte sie. »Ins Krankenhaus gehe ich nicht.«

Kai sah Dr. Norden flehend an. Der nickte. »Ich bringe Sie da schon unter, Frau Benthin, und da werden Sie schneller gesund als zu Hause. Hier kann sich ja keiner um Sie kümmern, der Kai ist ja den ganzen Tag weg.«

Den Kai hatte er kennengelernt, als er fünfzehn war, und es war dabei geblieben, dass er auch weiterhin Kai zu ihm sagte, obgleich ein tüchtiger junger Mann aus dem Buben geworden war, der gerade erst vor ein paar Wochen seine erste gute Anstellung als Ingenieur angetreten hatte.

So lieb Kai sein Omchen hatte, er konnte sie nicht pflegen. Ja, diese Liebe war rührend. Immer wieder hatte Dr. Norden das feststellen müssen.

Er rief gleich von hier aus die Behnisch-Klinik an. Dr. Jenny Behnisch seufzte, als er sein Anliegen vorbrachte. »Weil du es bist, Daniel, und weil es die gute Frau Benthin ist. Sie wird ja auch nichts gegen unser Kammerl haben.«

Das Kammerl diente für Notaufnahmen und war ein bescheidener kleiner Raum, der eben nur für Notfälle gedacht war, aber Thea Benthin war zeitlebens auch immer ein bescheidener Mensch gewesen, obwohl sie wahrhaftig ein sorgloseres Leben verdient hätte. Dr. Norden wusste schon viel von diesem bewegten Leben, aber nun lag ihm alles daran, dass dieses auch erhalten werden sollte, denn für Kai war seine Großmutter auch sein Ein und Alles.

Er hatte ja sonst niemanden gehabt, da seine Mutter bei seiner Geburt gestorben war.

Mit dem Krankenwagen wollte sich Thea freilich nicht in die Klinik bringen lassen, da raffte sie alle Kraft zusammen, und nur so im Schlafrock? Das wäre ja noch schöner, meinte sie. Ja, sie bewies auch jetzt mit fast vierzig Grad Fieber, wie zäh sie war und welch starken Willen sie hatte. Aber auch ein starkes Herz hatte sie, und deshalb ließ es Dr. Norden zu, dass sie ihren Willen durchsetzte, weil er wusste, dass es ihr mehr schaden würde, wenn sie nicht mit ihrem Buben fahren konnte. Dr. Norden fuhr voraus. Er wollte mit Jenny Behnisch sprechen und ihr seine Diagnose sagen, damit Thea Benthin sofort richtig behandelt werden konnte.

Es hatte sich immer als gut erwiesen, dass die Ärzte Behnisch und Norden auch Freunde waren. Sie arbeiteten Hand in Hand, nicht gegeneinander, wie so manche andere.

Jenny hatte schnell dafür gesorgt, dass das Kammerl doch nicht ganz so kahl aussah, und ein gutes Bett war auch hineingeschoben worden. Aber Thea Benthin war jetzt so erschöpft, dass sie schon einschlummerte, bevor Jenny Behnisch ihr die Infusion anhängte. Davon merkte sie nichts, aber Kai sah Dr. Norden ängstlich an.

»Sie wird doch gesund werden?«, flüsterte er. »Bitte, tun Sie alles, auch was die Kasse nicht zahlen sollte. Ich komme dafür auf.«

»Ist schon okay, Kai, brauchst dir keine Sorgen zu machen«, sagte Dr. Norden. »Sie hat ein starkes Herz, und sie will auch leben. Der Wille macht viel aus.«

»Sie ist für mich der beste Mensch der Welt, Dr. Norden. Sie wissen das doch. Sie kennen uns nun schon so lange.«

»Und ich weiß, dass du ihr nie Sorgen bereitet hast, Kai«, sagte Dr. Norden voller Wärme. »Du warst immer ein lieber Bub, und ich kann mich halt noch gar nicht daran gewöhnen, dass du nun schon ein gestandener Mann bist, ein Diplomingenieur, aber ich weiß auch, wie stolz deine Groß­mutter auf dich ist.«

»Ich darf doch hierbleiben?«, fragte Kai leise.

»Du musst schlafen. Es würde deinem Omchen gar nicht gefallen, wenn du ihretwegen müde in die Fabrik kommen und dann auch noch Ärger haben würdest. Sie wird bestens versorgt werden, und in ein paar Tagen wird es ihr wieder bessergehen.«

Und so ließ Kai sich überreden, wieder heimzufahren, nachdem er noch ein paar Minuten im Kammerl verharrt und seine Großmutter beobachtet hatte. Aber Jenny Behnisch sagte ihm dann, dass sie gut auf die Infusion ansprechen würde und die Temperatur sinke.

*

Als er heimkam, hörte er das Telefon läuten, aber er war noch so auf seine Großmutter fixiert, dass er den Hörer herzklopfend abnahm. Es war eine junge Stimme, die ein bisschen beleidigt fragte, was mit ihm los sei.

Es war seine Freundin Gaby, und er war mit ihr verabredet gewesen.

»Ach, du bist es«, hatte er hastig gesagt, und vielleicht hatte sie das in die falsche Kehle bekommen. Aber als er ihr erklärte, dass seine Großmutter in die Klinik gebracht werden musste, war sie schnell versöhnt.

»Kann ich was für dich tun, Kai?«, fragte sie. »Weißt du, ich komme schnell rüber und bringe dir was zu essen, bei uns gibt es heute nämlich Kohlrouladen, die magst du doch.«

»Ich habe gar keinen Appetit«, erwiderte er. »Und zu essen haben wir auch im Haus. Aber wenn du kommen willst – es ist so schrecklich leer im Haus.«

Er kannte Gaby Bachmann schon seit der Schulzeit, und sie wohnte auch nicht weit entfernt bei ihren Eltern. Sie war drei Jahre jünger als Kai und hatte eine gute Stellung als Disponentin in einer Werbeagentur.

Kai wollte schnell noch ein bisschen Ordnung schaffen im Wohnzimmer, denn dazu hatte sein Omchen wirklich nicht mehr die Kraft gehabt, und so lagen auch ein paar Briefe und Zeitungen herum, und da war vor allem ein Briefumschlag, der seinen Blick auf sich zog, denn er kam aus Amerika.

Aber es war nur der Umschlag, den Brief selbst fand er dann auf dem So­fa. Doch da läutete es schon, er raffte alles zusammen und brachte es in die Küche, bevor er die Tür öffnete.

Gaby stand vor ihm, ein bildhübsches Mädchen mit krausem Blondhaar und großen hellen Augen. Sie drückte ihm einen Kuss auf die Wange und sagte: »Das war ein Schreck in der Abendstunde, Kai. Entschuldige, dass ich beleidigt war. Wird nicht wieder vorkommen. Aber nun an den Tisch, das Essen ist noch warm. Du musst jetzt an deine Gesundheit denken. Du hilfst Omchen nicht, wenn du aus den Latschen kippst. Meine Eltern hüsteln und niesen auch vor sich hin. Aber sie sind viel wehleidiger als dein Omchen.«

Sie mochte Kais Großmutter auch sehr gern, und das beruhte auf Gegenseitigkeit, denn Gaby ging schon lange in diesem Haus aus und ein. Zwei sehr zielbewusste junge Menschen waren sich über die Jahre hinaus freundschaftlich eng verbunden, aber an eine Heirat wollten beide noch nicht denken. Davon wurde auch gar nicht gesprochen, wenn auch Gabys Eltern schon manchmal anzüglich darauf anspielten.

Gaby kam auch nicht auf den Gedanken, Kais innige Liebe für die Großmutter zu belächeln oder gar darüber zu spotten, und eifersüchtig war sie schon gar nicht. Wenn ein Kind nur eine Großmutter hatte, und diese wirklich alles tat und so viel Liebe schenkte, durfte es eigentlich nicht anders sein, aber Gaby wusste sehr gut, wie undankbar gerade Buben sich dann zeigten, wenn sie Männer geworden waren. Sie hatte einen solchen Kusin, der sich um seine Eltern überhaupt nicht mehr kümmerte, seit er eine gute Stellung hatte und eine anspruchsvolle Freundin. Gaby war froh, dass Kai so ganz anders war.

Jetzt freute sie sich, dass Kai aß und es ihm schmeckte.

»Ich werde schon dafür sorgen, dass du nicht verhungerst, Kai«, sagte sie aufmunternd. »Aber ich bin sicher, dass Omchen bald wieder gesund ist. Ich werde sie morgen besuchen.«

Sie blieb nicht lange. Geschmust wurde zwischen den beiden auch nicht, und die Küsse, die sie tauschten, konnte man eher als geschwisterlich bezeichnen. Sie hatten das gleiche Naturell, sie waren gewiss nicht gefühllos, aber eine seelische Bindung bedeutete ihnen mehr als Sex.

»Ich muss morgen ganz früh raus«, erklärte Gaby. »Wir bekommen wichtigen Geschäftsbesuch aus Australien, und da muss ich dolmetschen. Und natürlich muss ich auch entsprechend auftreten.«

»Pass nur auf, dass dich nicht gleich einer mitnehmen will«, sagte Kai.

»Kommt doch gar nicht infrage. Bleibe im Lande und nähre dich redlich«, lachte Gaby. »Und außerdem werde ich dir doch nicht untreu.«

»Das wird auch gut sein«, murmelte er.

*

Als er dann in der Küche Ordnung machte, denn da hatte er Gaby nicht hineingelassen, fiel ihm der Brief aus Amerika in die Hände. Er war nicht lang und in englischer Sprache abgefasst.

Kai beherrschte englisch perfekt. Während er mit anderen Sprachen, obgleich er sich bemühte, mit Gaby Schritt zu halten, Schwierigkeiten hatte, hatte er die englische Sprache spielend gelernt. Allerdings hatte auch Thea Benthin damit keine Schwierigkeiten. Sie war Lehrerin gewesen bis zu ihrer Pensionierung, aber an universellem Wissen hatte sie manch anderen viel voraus. Für Kai war sie jedenfalls die beste Lehrerin gewesen.

Was er aber nun las, ließ ihn erschrecken, und ihm ging es blitzschnell durch den Sinn, dass auch seine Großmutter erschrocken gewesen war, obwohl sie den Sinn besser begriffen hatte, als er ihn jetzt begreifen konnte.

Dear Mrs Benthin, lautete die Überschrift, und übersetzt hieß es dann weiter: Ich muss Ihnen zu meinem Schmerz und großem Bedauern mitteilen, dass meine geliebte Mary vor zwei Wochen verstorben ist. Durch ihren Nachlass, der in den nächsten Tagen Ronny übergeben wird, wird er die Wahrheit erfahren. Ich möchte Sie darauf vorbereiten, obgleich ich noch nicht weiß, wie er sich verhalten wird. Und da unser aller Leben in Gottes Hand liegt, könnte mir ja auch ein schneller Tod beschieden sein, obgleich ich Sie gern noch einmal wiedersehen würde, um Ihnen für all das zu danken, was Sie uns an Glück schenkten.

Vielleicht sollten Sie doch mit Kai sprechen, aber die Entscheidung möchte ich Ihnen überlassen. Sollte ich die kommenden Wochen, in denen mich tiefe Trauer um Mary bewegen wird, gut überstehen, werde ich Sie aufsuchen. Sie hören vorher noch von mir. Ich bin mit den besten Grüßen Ihr Ihnen immer dankbarer

John Everett.

Was sollte das bedeuten? Worüber sollte Omchen mit ihm sprechen? Und wer war dieser Everett, diese Mary, dieser Ronny, von denen Omchen nie gesprochen hatte?

Es tat ihm weh, dass es da ein Geheimnis gab, über das sie mit ihm anscheinend nicht hatte sprechen wollen, etwas vielleicht, was ihre Vergangenheit betraf, oder die seiner Mutter?

Er wusste ja, dass seine Mutter nicht verheiratet gewesen war. Auch, dass sein Vater ein amerikanischer Offizier gewesen war, der bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen war, bevor er seine Mutter heiraten konnte, hatte ihm Omchen erzählt. Aber Everett hatte der nicht geheißen, sondern Howard.

Ganz mechanisch räumte Kai auf, sogar den Brief schob er in den Umschlag.

Es gab also etwas, was Omchen ihm verheimlicht hatte, aber wenn ihm das auch weh tat, seine Liebe für sie konnte es nicht erschüttern, und er wünschte nur, dass sie bald gesund werden würde, damit er mit ihr über diesen Brief sprechen konnte.

Es war Mitternacht, als er sich niederlegte. Viele tausend Meilen entfernt, in Kalifornien, war es noch früher Abend, und dort, in einem prachtvollen Haus, saß Ronny Everett seinem Vater gegenüber.

Ronny erhob sich. »Du wirst verstehen, dass ich das alles genau wissen will, Dad, von der einen wie auch von der anderen Seite. Ich werde nach München fliegen und dort alles klären.«

»Ich werde mitkommen, Ronny«, sagte John.

»Nein, du bist nicht in der seelischen und körperlichen Verfassung, Dad. Wir haben Mummy verloren, das hängt uns beiden nach. Und für mich werdet ihr immer meine Eltern bleiben. Du brauchst nicht bange zu sein, Dad, dass zwischen uns etwas anders wird.«

»Eines darfst du aber nicht vergessen, Ronny, Thea Benthin sind wir Dank schuldig. Sie wollte dich nicht hergeben, sie hat ihre Tochter auch geliebt und wollte wenigstens ein Kind behalten. Sie verdient Bewunderung und Verehrung. Sie ist auch deine Großmutter.«

Ronnys Augen verdunkelten sich. »Das ist ein ganz seltsames Gefühl«, sagte er leise. »Ich will ja nicht nach München, um Horror zu veranstalten. Verwandt sind wir ja schließlich, da Mummys Bruder unser Vater ist. Ich meine damit, dass ich für euch ja nicht irgendein fremdes Kind bin.«

»Niemals, Ronny. Und da Mary keine Kinder haben konnte, warst du unser Glück, und ich möchte dich nicht verlieren.«

Ronny sah ihn nachdenklich an. »Sechsundzwanzig Jahre sind eine verdammt lange Zeit, Dad. Die kann trennen, aber sie sollte eigentlich in unserem Fall fest verbinden.«

»Wenn du so denkst, ist es gut, mein Junge«, sagte John Everett leise.

»Ich kann es nicht glauben, Dad«, sagte Ronny leise. »Ich bin sechsundzwanzig Jahre alt und erfahre es erst jetzt.«

»Mary wollte es so. Du solltest es erst erfahren, wenn sie nicht mehr lebt. Sie wollte deine Liebe nicht verlieren. Ich wünschte, du hättest es erst in zwanzig Jahren erfahren müssen, oder wenn ich auch nicht mehr lebe.«

»Aber begreifst du es denn nicht, dass ich euch nicht weniger geliebt hätte, wenn ich es früher erfahren hätte«, sagte Ronny leise.

»Du musst es jetzt wirklich einmal ganz realistisch sehen, mein Junge«, sagte Everett leise. »Du hast ja nicht nur einen Bruder, es ist auch dein Zwillingsbruder, und wie er denken wird, können wir wahrhaftig noch nicht wissen.«

»Wenn wir uns ähnlich sind, wird er auch kein Drama veranstalten«, sagte Ronny. »Aber anscheinend sind wir ja unter ganz verschiedenen Bedingungen aufgewachsen, ich meine auch, was das Finanzielle betrifft.«

»Wir haben so gut wie möglich dafür gesorgt, dass es Kai auch gutgehen sollte, aber seine Großmutter wollte ja nichts weiter von uns annehmen. Es ist ihr sehr schwer gefallen, dich herzugeben, Ronny. Sie hat es für Mary getan, schließlich warst du auch das Kind ihres einzigen Bruders.«

»Der andere Zwilling aber auch, Dad«, sagte Ronny. »Ich weiß nicht, wo mir der Kopf steht. Ich dachte, so etwas gibt es nur in Romanen.«

»Ronald hat dieses Mädchen geliebt«, sagte John dumpf. »Leider haben wir es zu spät erfahren. Wir hätten sie zu uns geholt.«

So wusste Ronny Everett schon bedeutend mehr als Kai Benthin. Er wusste, dass er in München einen Zwillingsbruder hatte, aber er ahnte nicht, wie ähnlich ihm dieser war, und das nicht nur äußerlich.

So schnell wie Kai englisch gelernt hatte, hatte Ronny deutsch gelernt. Seine Eltern, für ihn waren es ja seine Eltern in sechsundzwanzig Jahren, hatten sich darüber schon ein wenig gewundert, aber sie hatten ihn auch nicht daran gehindert.

Und dann gab es noch etwas, was ungefähr gleichgelaufen war wie bei Kai. Ronny war auch Ingenieur geworden, aber die Fabrik der Everetts bot ihm ja auch alle Voraussetzungen für eine erfolgreiche Zukunft. Er hatte sich nicht erst um eine Stellung bemühen müssen.

Und drittens gab es auch noch etwas ganz Lebendiges, was auch ein gewisses Maß an Übereinstimmung versprach. Es war ein bildhübsches blondes Mädchen, das Pamela Ro­berts hieß. Sie war zwar erst einundzwanzig Jahre jung, und ihr Haar war nicht hellblond wie das von Gaby, sondern honigblond, und sie hatte veilchenblaue Augen.

Pamelas Vater, Frank Roberts, war der Kompagnon von John Everett. Ronny und Pamela kannten sich von Kindheit an und waren unzertrennlich. Sie hatten niemals Heimlichkeiten voreinander gehabt, und nun wollte Ronny es Pamela doch nicht sagen, warum er so bald nach München fliegen wollte. Aber sagen musste er es ihr ja.

»Was machst du da?«, fragte sie.

»Es geht um ein Geschäft«, erwiderte er ausweichend.

»Ich komme mit«, erklärte sie prompt.