Ein schönes Mädchen in Gefahr - Patricia Vandenberg - E-Book

Ein schönes Mädchen in Gefahr E-Book

Patricia Vandenberg

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Beschreibung

Für Dr. Norden ist kein Mensch nur ein 'Fall', er sieht immer den ganzen Menschen in seinem Patienten. Er gibt nicht auf, wenn er auf schwierige Fälle stößt, bei denen kein sichtbarer Erfolg der Heilung zu erkennen ist. Immer an seiner Seite ist seine Frau Fee, selbst eine großartige Ärztin, die ihn mit feinem, häufig detektivischem Spürsinn unterstützt. Dr. Norden ist die erfolgreichste Arztromanserie Deutschlands, und das schon seit Jahrzehnten. Mehr als 1.000 Romane wurden bereits geschrieben. Die Serie von Patricia Vandenberg befindet sich inzwischen in der zweiten Autoren- und auch Arztgeneration. Sebastian Volkmann kam in Dr. Nordens Praxis gehumpelt. »Jesses, was haben Sie denn wieder angestellt«, rief Loni, Dr. Nordens getreue Helferin, erschrocken aus. »Ungeschickt lässt grüßen«, brummte er. »Ich wollte die Hecke schneiden, und da bin ich von der Leiter gerutscht. Ist ja nicht so schlimm, Loni, hab' mir nur den Fuß verknackst. Ich brauche aber Dr. Nordens gute Salbe, weil ich zur Hütte fahren will.« »Dann setzen Sie sich mal«, sagte Loni. »Es wird nicht lange dauern, bis der Chef mit dem Patienten fertig ist. Wo ist denn Bolko?« »Der sitzt vor der Tür. Er weiß ja, dass er nicht in eine Arztpraxis für Menschen darf. Zum Tierarzt muss ich ihn allerdings mit sanfter Gewalt bringen«, sagte Sebastian schmunzelnd. Für Loni, die sich für Männer nicht interessierte, war Sebastian ein Bild von einem Mann. Groß, kernig, jungenhaft, obgleich er bereits dreiunddreißig Jahre war. Sicher war er nicht jedermanns Geschmack, weil er sein Herz auf der Zunge trug und mit der Wahrheit und seiner Meinung nie hinter dem Berg hielt, was vor allem weibliche Wesen schwer vertragen konnten, aber für Loni war er von rechtem Schrot und Korn, und sie freute sich jedes Mal, wenn er kam. Krank war er eigentlich nie, aber doch so ein Mannsbild, das sich manchmal recht ungeschickt erwies, wenn es Dinge zu tun gab, von denen er nicht viel verstand. Schließlich war er von Berufs wegen nicht dafür prädestiniert, Hecken zu schneiden oder Regenrinnen auszuputzen und den Gartenzaun zu reparieren. Loni kannte seine diversen Verletzungen bereits zur Genüge, und

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Dr. Norden Bestseller – 243–

Ein schönes Mädchen in Gefahr

Kann Janine gerettet werden?

Patricia Vandenberg

Sebastian Volkmann kam in Dr. Nordens Praxis gehumpelt. »Jesses, was haben Sie denn wieder angestellt«, rief Loni, Dr. Nordens getreue Helferin, erschrocken aus.

»Ungeschickt lässt grüßen«, brummte er. »Ich wollte die Hecke schneiden, und da bin ich von der Leiter gerutscht. Ist ja nicht so schlimm, Loni, hab’ mir nur den Fuß verknackst. Ich brauche aber Dr. Nordens gute Salbe, weil ich zur Hütte fahren will.«

»Dann setzen Sie sich mal«, sagte Loni. »Es wird nicht lange dauern, bis der Chef mit dem Patienten fertig ist. Wo ist denn Bolko?«

»Der sitzt vor der Tür. Er weiß ja, dass er nicht in eine Arztpraxis für Menschen darf. Zum Tierarzt muss ich ihn allerdings mit sanfter Gewalt bringen«, sagte Sebastian schmunzelnd.

Für Loni, die sich für Männer nicht interessierte, war Sebastian ein Bild von einem Mann. Groß, kernig, jungenhaft, obgleich er bereits dreiunddreißig Jahre war. Sicher war er nicht jedermanns Geschmack, weil er sein Herz auf der Zunge trug und mit der Wahrheit und seiner Meinung nie hinter dem Berg hielt, was vor allem weibliche Wesen schwer vertragen konnten, aber für Loni war er von rechtem Schrot und Korn, und sie freute sich jedes Mal, wenn er kam. Krank war er eigentlich nie, aber doch so ein Mannsbild, das sich manchmal recht ungeschickt erwies, wenn es Dinge zu tun gab, von denen er nicht viel verstand. Schließlich war er von Berufs wegen nicht dafür prädestiniert, Hecken zu schneiden oder Regenrinnen auszuputzen und den Gartenzaun zu reparieren. Loni kannte seine diversen Verletzungen bereits zur Genüge, und für einen Psychotherapeuten, der einen ausgezeichneten Ruf genoss, verstand er seine Fähigkeiten in anderen Beziehungen nicht richtig einzuschätzen, wie Daniel Norden dann mit einem hintergründigen Lächeln feststellte, als er Sebastians Fuß untersuchte, mit der guten Salbe einrieb und dann mit einer elastischen Bandage umwickelte.

»Was du nur dauernd anstellst«, meinte er kopfschüttelnd. »Es gibt doch so viele Arbeitslose, Sebastian.«

»Denkste, mein Lieber. Arbeiten, die mit Anstrengung verbunden sind, werden tunlichst gemieden. Da lebt man lieber von der Unterstützung. Und außerdem könnte ich mich ja dumm und dämlich zahlen, wenn so einem Gelegenheitsarbeiter mal was passieren würde. Na, wer sagt es denn, deine Salbe lindert schon, und wenn nichts gebrochen ist, kann ich mit Bolko ja auf die Hütte fahren. Wie wäre es denn, wenn ihr mich mal besuchen würdet?«

»Mit Kind und Kegel?«, fragte Daniel anzüglich.

»Warum nicht? Ich habe Kinder sehr gern, sofern sie nicht mir gehören und ich nicht die Verantwortung tragen muss.«

»Willst du denn keine haben?«, fragte Daniel nachdenklich.

»Dazu würde mal eine Frau gehören, die ich mir als Mutter meiner Kinder vorstellen könnte«, sagte Sebastian, »und so eine wie Fee gibt es denn nicht noch mal. Ich darf das doch feststellen, ohne dass du mir an die Gurgel gehst. Du bist ein beneidenswerter Mann, Daniel.«

»Weiß ich zu schätzen, aber Fee würde jetzt bestimmt sagen, dass du die Augen aufmachen solltest, weil es bestimmt noch mehr liebenswerte Frauen gibt. Wir kennen doch auch einige.«

»Jedenfalls hat Bolko bisher alle abgelehnt, die ich mal in Betracht gezogen habe«, sagte Sebastian, »und er hat einen ganz besonderen Instinkt. Außerdem würde ich keine mögen, die meinen Hund nicht akzeptiert.«

»Das kann ich allerdings verstehen«, sagte Daniel, »aber schließlich könnte es ja auch mal der Fall sein, dass Bolko seine Liebe zu einer Fünfzigjährigen entdeckt, und auf solche Gefühle kannst du auch keine Rücksicht nehmen.«

»Du Scherzbold«, grinste Sebastian. »Also, ab Freitag bin ich auf der Hütte, und den Weg kennst du. Wenn das Wetter entsprechend ist und ihr Lust habt, seid ihr willkommen. Und Hunger leiden müsst ihr bei mir nicht, dafür sorgt die Wally. Siehst du, die liebt der Bolko, aber sie ist schon über sechzig.«

»Die liebt er besonders, weil er saftige Knochen von ihr bekommt«, lachte Daniel. »Auch Hunde sind bestechlich.«

Bolko liebte nicht nur saftige Knochen, er liebte seltsamerweise auch die gute Salbe vom Dr. Norden. Brav hatte er vor der Tür der Praxis gewartet, aber als sein Herrchen herauskam, beschnüffelte er gleich den Fuß und wollte daran herumschlecken.

»Eine kleine Meise hast du schon, Bolko«, sagte Sebastian. »Es langt wahrhaftig, dass du scharf auf meine Handcreme bist. Vielleicht verdirbt dir das den Spürsinn.«

Bolko schien zu verstehen, was Sebastian sagte. Er trabte mit hängenden Ohren neben ihm her, und im Auto legte er sich sofort unter den Rücksitz, was bedeutete, dass er beleidigt, aber auch betrübt war.

»Schnauf nicht so empört«, ermahnte ihn Sebastian, »wir fahren ja zur Hütte.«

Für Bolko war das eine Aufmunterung, sich nun auf dem Rücksitz niederzulassen. Da hatte er ja auch seine Decke, und die roch auch nach Herrchens Handcreme und verschiedenen anderen guten Sachen, und Bolko verstand genau, was es bedeutete, wenn Sebastian »Hütte« sagte. Freiheit bedeutete das, aufpassen im Jagdrevier, nicht diese grässliche Stadtluft einatmen. Genüsslich schleckte er sich schon, wenn er an Wallys Knochen dachte, an das gute Fleisch, das sie ihm gönnte. Ja, Wally hätte er auch in Herrchens Haus geduldet, aber sie wollte ja nicht in die Stadt.

Als sie dann eine Stunde später durch den Wald fuhren, wurde Bolko schon seltsam unruhig. »Willst wohl mal dein Revier abgrasen«, sagte Sebastian einsichtig. »Gut, halten wir an und schnaufen erst mal tief durch.«

Er konnte Bolko hier frei laufen lassen. Er war zwar ein Jagdhund, aber er hätte niemals ein Wild angegriffen. Er war perfekt erzogen und abgerichtet, und die Vorliebe für gewisse Cremes und Salben waren nur so kleine Eigenheiten, die man auch einem charakterstarken Hund zubilligen konnte.

Sebastian war dann allerdings sehr überrascht, dass Bolko wie der Wind davonfegte und vorerst keinen Laut gab. Sollten Wilderer im Revier sein? Aber nein, doch nicht am hellichten Tag, dachte Sebastian und pfiff nach Bolko. Ein kurzes, aufgeregtes Bellen gab Antwort.

»Interessiert dich wohl nicht, dass ich einen schlimmen Fuß habe!«, brummte Sebastian vor sich hin, als er diesem Bellen nachging, auf das dann aber ein lauteres folgte.

Es klang sehr aufgeregt. Bolko musste etwas entdeckt haben, was aber auch so wichtig erschien, dass er nicht wankte und wich, um seinem Herrchen entgegenzulaufen.

Sebastian wusste dann auch, woher das Bellen genau kam. Vom Futterplatz, und Sebastian vermutete, dort ein schwaches oder verletztes Reh zu finden.

Was er aber sah, ließ ihn den Herzschlag stocken. Bolko saß mit angelegten Ohren neben einem Mädchen und jaulte leise. Doch auch sein Jaulen schien dieses halbe Kind nicht zu wecken. In Sebastians Augen war es jedenfalls ein halbes Kind, so zierlich, so abgemagert, halb verhungert lag es da.

»O Gott«, sagte Sebastian erschüttert, und er musste sich zwingen, neben diesem Wesen niederzuknien und den Puls zu fühlen. Schwach waren die Zeichen, die Leben verrieten, und Sebastian wusste, dass schnellste Hilfe nötig sein würde. Er mit seinem verknacksten Bein, konnte er es schaffen, dieses Geschöpf zum Wagen zu bringen? Wenn sie sich nun etwas gebrochen hatte, wenn innere Verletzungen vorlagen?

Immerhin hatte er ja auch Medizin studiert, bevor er sich für die eigene Richtung entschieden hatte. Aber lange Überlegungen konnten diesem jungen Menschenkind auch nichts mehr nützen. Sebastian musste das Risiko eingehen, das Mädchen zum Wagen zu tragen. Seltsamerweise spürte er dann überhaupt keinen Schmerz mehr in seinem Fuß. Obgleich das Mädchen bewusstlos war, lag es federleicht in seinen Armen. Bolko lief nebenher. Er hatte etwas in der Schnauze, aber Sebastian konnte nicht erkennen, was es war. Wichtiger war es ihm, so schnell wie möglich zu seiner Hütte zu kommen, denn dort gab es ein Telefon, und dort wartete auch Wally.

Er musste schon höllisch aufpassen, um nicht über Baumwurzeln zu stolpern, aber diesmal schien ihm ein Schutzengel zur Seite zu stehen, denn er brachte das Mädchen und sich selbst ohne weitere Komplikationen zum Auto.

Bolko sprang sofort hinein und legte sich unter den Rücksitz, aber vorher hatte er noch etwas auf diesen gelegt, das von Sebastian als ein durchweichter Pass erkannt wurde, nachdem er das Mädchen sanft auf den Rücksitz gebettet hatte.

»Bist ein sehr braver Hund, Bolko«, lobte er, und Bolko legte seine Schnauze auf die kleine schmutzige Hand des Mädchens. Weit hatten sie es nicht mehr bis zur Hütte. Den Umweg hatte Sebastian ja nur Bolko zuliebe gemacht, und nun wusste er, warum der Hund so unruhig gewesen war. Bolko war eben ein besonderer Hund mit einem siebten Sinn.

Wally, rund und munter, stand schon in der Tür, aber sie schlug die Hände über dem Kopf zusammen, als Sebastian das Mädchen aus dem Wagen hob und Bolko gar nicht so lebhaft wie sonst auf sie zukam.

»Herr im Himmel, heilige Mutter Gottes«, murmelte Wally, »Sie werden doch keinen Unfall gehabt haben?«

»Bolko hat sie im Wald gefunden, Wally. Reden können wir später. Ich muss sie gründlich untersuchen, und ich werde Medikamente brauchen.«

»Erst müssen wir sie waschen. O Gott, das arme Dingelchen scheint sich verirrt zu haben.«

Dann muss sie aber schon ziemlich lange unterwegs gewesen sein, ging es Sebastian durch den Sinn, denn dieses Mädchen war zu Tode erschöpft und tatsächlich halb verhungert, und er stellte dann auch noch fest, dass sie zwei Einstiche an beiden Armen hatte. Ein Rauschgiftopfer, das sich umbringen wollte vielleicht? Sebastian erschien das zu merkwürdig. Da suchte man sich doch nicht einen Platz im tiefsten Wald aus, da hatte man nicht schmutzige Schuhe, die davon zeugten, dass man auch im Morast gewandert war, und eine Injektionsspritze war auch nicht gefunden worden, denn die hätte Bolko ganz gewiss verbellt.

Er konnte an diesem abgemagerten Körper auch keine schwerwiegenden Verletzungen feststellen, und Wally erklärte resolut, dass er den Kreislauf in Gang bringen solle.

Wally wusste mehr als so mancher Heilpraktiker. Da nannten sich auch manche so, ohne viel Ahnung zu haben, aber Wally wusste manchmal sogar mehr als ein Arzt, der nur was auf die chemischen Medikamente gab. Sie machte alles mit Tees und Umschlägen und rührte auch Salben selber an. Aber damit allein war es in diesem Fall gewiss nicht getan, und weil Sebastian nicht wusste, welcher Arzt in der Umgebung, nahe war ja keiner, einen Rat geben könnte, rief er Daniel Norden an.

Er erreichte ihn gerade noch in der Praxis. Daniel dachte, dass Sebastians Bein schlimmer geworden sei und war völlig überrascht, als der ihm erzählte, was passiert sei.

»Ferndiagnosen kann ich wirklich nicht stellen, Sebastian. Wenn es nur ein Erschöpfungszustand ist, wobei ich das ›nur‹ in Anführungszeichen setzen möchte, wäre es gut, ein kreislaufbelebendes Mittel zu geben. Die Wally weiß doch Bescheid. Sie soll eine warme Kognakmilch zubereiten. Aber die Patientin müsste erst bei Bewusstsein sein. Vorerst eine Kochsalzlösung injizieren, aber das kannst du selbst beurteilen. Sollte der Zustand allerdings bedenklich sein, würde ich doch empfehlen, die Patientin baldmöglichst ins Krankenhaus zu bringen.«

»Du weißt doch, wie die da sind. Hunderte von Fragen werden gestellt, und ich weiß ja nicht mal, wie sie heißt.«

»Keine Papiere vorhanden?«, fragte Daniel.

»Moment mal, Bolko hatte da wohl so eine Art Ausweis gefunden. Ich habe noch gar nicht hineingeschaut.«

»Dann tu es und gib mir wieder Bescheid. Wenn sie transportfähig ist, kannst du sie ja zu Dieter in die Klinik bringen. Der ist schon gewohnt, dass durch mich Findlinge zu ihm kommen.«

»Danke inzwischen, Daniel. Ich hoffe, dass die Kleine durchkommt.«

»Wie alt ist sie denn?«

»Ich schätze siebzehn oder so in der Drehe, aber ich schaue jetzt mal, ob der Ausweis lesbar ist.«

Der war zwar aufgeweicht und sah recht mitgenommen aus, aber man konnte doch herauslesen, dass die Fremde Marcella Dufort hieß, dass sie bereits zwanzig Jahre alt war und geboren in Nancy. Eine Französin also, ein Meter sechzig groß, braune Augen, keine besonderen Kennzeichen.

Aber wie kam sie ausgerechnet hierher, nach Oberbayern, und wie war sie hergekommen?

Sebastian betrachtete die Kleidung, während er Wally Anweisungen für die Kognakmilch gab, aber wie man die zubereitete, wusste Wally besser als er.

»Auf leeren Magen wird das kaum bekömmlich sein«, stellte sie fest. »Ich werde erst einen Wickel machen.« Ein Nachtgewand von sich hatte sie auch schon gebracht. Darin konnte man die zierliche, um nicht zu sagen magere Marcella wohl dreimal einwickeln, aber Wally meinte, dass es vor allem wichtig sei, dass sie aus dem feuchten schmutzigen Zeug herauskäme. Und tatsächlich war sie ja bis auf die Haut durchgeweicht.

Es war zwar noch kein Frost, aber Sebastian gab es doch zu denken, wie lange sie wohl schon dort gelegen haben mochte. Die ganze Nacht? Nein, das konnte er sich kaum vorstellen. In ihrem Zustand hätte sie eine Nacht im Freien kaum überlebt. Sollte sie eine Anhalterin sein, die einem aufdringlichen Autofahrer vielleicht mit Müh und Not entronnen war? Das konnte man auch in Betracht ziehen. Eine Tasche und Geld hatte sie nicht bei sich. Er untersuchte die Kleidung, während Wally das Mädchen wusch und in warme Wickel hüllte.

Vor der Tür gab Bolko Laut, was bedeutete, dass er hinaus wollte.

Sebastian ließ ihn ins Freie. »Dass du mir aber nicht lange ausbleibst«, sagte er streng. Bolko gab ein Wau von sich, das für Sebastian eine Einverständniserklärung war. Er kannte seinen Hund.

Er beschäftigte sich nun ganz eingehend mit der Kleidung des fremden Mädchens. Er hatte sich zwar nie viel um Damengarderobe gekümmert, aber er wusste doch, dass es ein sehr guter englischer Stoff war, weil er solche Anzüge trug, und auch der Pullover war gewiss nicht billig gewesen.

Sollte er vielleicht die Polizei benachrichtigen? Auch das überlegte er, aber er wusste auch, dass da Fragen über Fragen gestellt werden würden, und vielleicht würde das diesem armen kleinen Geschöpf eher schaden als nützen. Diesbezüglich dachte Sebastian als Psychotherapeut. Er hoffte, dass er bald mit dem Mädchen sprechen konnte.

Wenn Wally was in die Hände nahm, hatte es Hand und Fuß. Im Dorf wurde sie nicht umsonst die »Doktorsche« genannt, und ganz gewiss wäre sie eine ganz vorzügliche Ärztin geworden, wenn man dem Bauerndirndl solche Chance gegeben hätte. So aber hatte sie immerhin das Glück gehabt, zu Sebastians Vater, dem Landarzt Dr. Heinrich Volkmann, als Haushälterin zu kommen, und da hatte sie viel gelernt. Gehofft hatte sie ja auch, dass Sebastian die Praxis seines Vaters übernehmen würde, aber der hatte doch andere Ambitionen gehabt. Zuerst hatte sie gegrollt, jetzt war sie zufrieden, dass er wenigstens oft zur Hütte kam, die ein sehr gemütliches Berghaus war, und der Wald drumherum gehörte auch zu seinem Besitz, der einen sehr beträchtlichen Wert darstellte.

Auf Geld war Sebastian aber nie aus gewesen. Er liebte das einfache Leben, aber er brauchte dennoch die Kultur und Kunst der Münchener Stadt, die er über alles liebte, und es schmerzte ihn, wenn sie mehr und mehr von ihrer zauberhaften Anmut verlor, wenn immer mehr supermoderne Bauten das schöne Stadtbild zerstörten.

Sebastian überlegte jetzt immer noch, was er bezüglich dieser jungen Französin am besten tun könne, als Wally hereinkam.

»Sie kommt zu sich, aber ich versteh’ ihre Sprach’ nicht, Bastian«, sagte sie.

Nun, jetzt fragte er sich, ob sein Französisch ausreichen würde, sich mit ihr zu verständigen, aber versuchen wollte er es auf jeden Fall.

Als er sich zu ihr ans Bett setzte, musste er noch ein paar Minuten warten, bis sie die Augen aufschlug. Aber dann blickten ihn diese Augen mit angstvollem Entsetzen an.

»Non, non, tout est perdu.« Und abwehrend hob sie die Hände.

»Ich spreche nicht sehr gut französisch, Mademoiselle«, sagte Sebastian, alle Vokabeln zusammensuchend, die ihm jetzt in den Sinn kamen. »Sprechen Sie vielleicht auch ein wenig deutsch?«

»Hier ist Deutschland?«, fragte sie da staunend. »Wo bin ich?«

»In Bayern, und ich heiße Sebastian Volkmann, und Ihrem Pass habe ich entnehmen können, dass Sie Marcella Dufort heißen.«

»Marcella Dufort«, wiederholte sie schleppend. »Es steht in meinem Ausweis? Ich hatte ihn bei mir?«

»Ja, sonst aber nichts. Jetzt sollen Sie auch nicht zu viel sprechen. Sie sind sehr schwach. Ich möchte Sie nur fragen, ob ich die Polizei benachrichtigen soll, falls Sie überfallen worden sind und möglicherweise beraubt.«

»Beraubt? Ich kann mich nicht erinnern. Bitte, keine Polizei, Monsieur. Ich muss mich erinnern. Ich habe Fehler gemacht, ich meine, falschen Weg gegangen, verirrt, verwirrt, Sie verstehen?«