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Für Dr. Norden ist kein Mensch nur ein 'Fall', er sieht immer den ganzen Menschen in seinem Patienten. Er gibt nicht auf, wenn er auf schwierige Fälle stößt, bei denen kein sichtbarer Erfolg der Heilung zu erkennen ist. Immer an seiner Seite ist seine Frau Fee, selbst eine großartige Ärztin, die ihn mit feinem, häufig detektivischem Spürsinn unterstützt. Dr. Norden ist die erfolgreichste Arztromanserie Deutschlands, und das schon seit Jahrzehnten. Mehr als 1.000 Romane wurden bereits geschrieben. Die Serie von Patricia Vandenberg befindet sich inzwischen in der zweiten Autoren- und auch Arztgeneration. Emily van Holden war einst eine berühmte Schauspielerin gewesen, aber wie sehr sie in Vergessenheit geraten war, bewies die kleine Trauergesellschaft, die an ihrem Grabe stand. Vielleicht hatte sie auch nicht verstanden, Freundschaften zu pflegen. Wie tyrannisch sie sein konnte, hätte am besten Dorothee van Holden, ihre Großnichte, erzählen können, die neben dem Notar Dr. Kustermann direkt vor dem Grab stand.Aber sie hatte nicht die Absicht, über die zehn Jahre zu sprechen, die sie im Hause ihrer Großtante und Patin verbracht hatte, denn an diesem offenen Grab begann sie wieder Hoffnung zu schöpfen, daß das Leben auch schön werden könnte.Ab und zu warf Dr. Kustermann einen Blick auf Dorothee, aber sie stand da mit gesenktem Kopf, bewegungslos, und schien jene, die ihr dann die Hand drücken wollten, gar nicht wahrzunehmen.Sie war etwas mehr als mittelgroß, sehr schlank und feingliedrig, hatte ein Madonnengesicht und war auch in der Kleidung darauf bedacht, ja nicht aufzufallen. Es hätte ihr aber doch ein Lächeln abgerungen, hätte sie geahnt, daß man in ihr nun die reiche Erbin betrachtete.Dr. Kustermann erlaubte sich, seine Hand leicht unter ihren angewinkelten Arm zu schieben, als sie den Friedhof verließen.»Ich darf Sie doch zum Essen einladen, Dorothee?« fragte er freundlich.»Ja, gern«, erwiderte sie. »Sie werden mir ja noch einiges zu erzählen haben. Zum Beispiel, wann ich das Haus verlassen muß.« Sie sagte es ruhig und ohne jede Bitterkeit. Aber er war sehr bestürzt.»Nun, die Testamentseröffnung findet erst am Nachmittag statt«, erklärte er. »Frau van Holden hat alles genau bestimmt.
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Emily van Holden war einst eine berühmte Schauspielerin gewesen, aber wie sehr sie in Vergessenheit geraten war, bewies die kleine Trauergesellschaft, die an ihrem Grabe stand. Vielleicht hatte sie auch nicht verstanden, Freundschaften zu pflegen. Wie tyrannisch sie sein konnte, hätte am besten Dorothee van Holden, ihre Großnichte, erzählen können, die neben dem Notar Dr. Kustermann direkt vor dem Grab stand.
Aber sie hatte nicht die Absicht, über die zehn Jahre zu sprechen, die sie im Hause ihrer Großtante und Patin verbracht hatte, denn an diesem offenen Grab begann sie wieder Hoffnung zu schöpfen, daß das Leben auch schön werden könnte.
Ab und zu warf Dr. Kustermann einen Blick auf Dorothee, aber sie stand da mit gesenktem Kopf, bewegungslos, und schien jene, die ihr dann die Hand drücken wollten, gar nicht wahrzunehmen.
Sie war etwas mehr als mittelgroß, sehr schlank und feingliedrig, hatte ein Madonnengesicht und war auch in der Kleidung darauf bedacht, ja nicht aufzufallen. Es hätte ihr aber doch ein Lächeln abgerungen, hätte sie geahnt, daß man in ihr nun die reiche Erbin betrachtete.
Dr. Kustermann erlaubte sich, seine Hand leicht unter ihren angewinkelten Arm zu schieben, als sie den Friedhof verließen.
»Ich darf Sie doch zum Essen einladen, Dorothee?« fragte er freundlich.
»Ja, gern«, erwiderte sie. »Sie werden mir ja noch einiges zu erzählen haben. Zum Beispiel, wann ich das Haus verlassen muß.« Sie sagte es ruhig und ohne jede Bitterkeit. Aber er war sehr bestürzt.
»Nun, die Testamentseröffnung findet erst am Nachmittag statt«, erklärte er. »Frau van Holden hat alles genau bestimmt.«
Dorothee gestattete sich ein flüchtiges Lächeln, das sogar ein wenig ironisch wirkte, und das entging ihm nicht, aber es gefiel ihm. Er war schon ein alter Herr, aber er mochte Dorothee, und wenn er jünger gewesen wäre, hätte er nicht gezögert, ihr einen Heiratsantrag zu machen. Dafür hätte es auch andere Gründe gegeben, die Dorothee noch an diesem Tag erfahren sollte.
Sie aßen in einem sehr guten Restaurant, und Dorothee ließ es sich schmecken. Sie hatte schon drei Tage kein warmes Essen mehr bekommen, da sie rund um die Uhr damit beschäftigt gewesen war, alle Wünsche der Verstorbenen auch nach deren Tod noch zu erfüllen, und vorher hatte sie fast ständig an ihrem Sterbebett gesessen. Einen leichten Tod hatte Emily van Holden nicht gehabt, aber im Leben hatte sie es meist anderen sehr schwer gemacht.
Wenn Dorothee nicht Dr. Norden gehabt hätte, wäre sie manches Mal verzweifelt und auch drauf und dran gewesen, die Flucht zu ergreifen.
»Ich habe noch nie so gut gegessen«, sagte Dorothee mit einem sehr anmutigen Lächeln, »vielen Dank, Herr Dr. Kustermann.«
Er fühlte sich etwas beschämt, denn eigentlich war das in seinem Honorar inbegriffen, das er von dem Nachlaß absetzen konnte. In diesem Moment aber beschloß er, in die eigene Tasche zu greifen, um vor sich selbst geradestehen zu können.
Zwölf Jahre ihres Lebens hatte Dorothee einer egoistischen, rechthaberischen und geizigen alten Frau gewidmet. Zuerst mochte sie dankbar gewesen sein, als Emily sie nach dem tragischen Unfalltod ihrer Eltern zu sich genommen hatte. Aber aus Herzensgüte hatte es Emily van Holden nicht getan. Sie hatte nur ihren Vorteil gesehen, jemanden um sich zu haben, der völlig abhängig von ihr sein würde, und den sie nicht hoch bezahlen mußte.
Dorothee war achtzehn gewesen.
Die Schule hatte sie gerade abgeschlossen. Sie war ein intelligentes und vielseitig interessiertes Mädchen und sie hatte sich das Leben in dem Hause der großen Schauspielerin sogar schön vorgestellt.
Ihre Eltern hatten ihr nicht viel hinterlassen. Tilmann van Holden hatte als Schauspieler keine großen Lorbeeren ernten können und seine überaus zarte, kränkliche Frau konnte nicht viel zum Lebensunterhalt beitragen mit ihren gewiß hübschen Illustrationen. Dorothee hatte das in zwölf Jahren oft genug von der Tante Emily zu hören bekommen, und immer wurde hinzugefügt, welches Glück sie deshalb hätte, bei ihr sein zu können und sich um nichts sorgen zu müssen.
Dr. Kustermann hatte nur eine vage Ahnung, wie Dorothees Leben bisher verlaufen war, da er Emily van Holden sehr gut gekannt hatte, ja, er hatte sie als noch junger Mann einmal sogar sehr verehrt, der sich von der um zwanzig Jahre älteren in eine Affäre verstricken ließ. Die Marschallin und ihr Rosenkavalier, hatte sie dieses Verhältnis, das jetzt noch als Alptraum auf ihm lastete, kokett bezeichnet. Das war schuld gewesen, daß er nie geheiratet hatte.
Doch davon hatte Dorothee keine Ahnung, und wenn sie eine gehabt hätte, wäre Dr. Kustermann ihres Mitgefühls sicher gewesen.
Das Essen wurde mit einem ausgezeichneten Mokka beendet, und dann fuhren sie zu Dr. Kustermanns Kanzlei.
Irgendwie war es Dorothee unheimlich, daß wegen dieser Testamentseröffnung eine Zeremonie stattfinden sollte, aber das war ja Emilys Stil gewesen.
Es erwartete sie aber doch eine Überraschung, denn zwei Herrn saßen bereits im Warteraum. Dorothees Augen weiteten sich, als sie Roman Nicolitsch erkannte, der Emilie von Zeit zu Zeit besucht hatte. Dann war noch der andere da, ein ältlicher Lebemann, so stufte ihn Dorothee jedenfalls nach einem forschenden Blick ein, ein Rumäne, wie sie dann erfuhr. Sein Name war Igor Raskovic.
Dr. Kustermann begrüßte beide sehr reserviert, Roman Nicolitsch versuchte es vertraulicher bei Dorothee, aber die setzte eine eisig-abweisende Miene auf.
Was dann geschah, gefiel Dorothee überhaupt nicht, denn Dr. Kustermann sagte, daß die beiden Herren eigentlich schon zur Trauerfeier erwartet worden wären.
»Unsere Maschine ist zu spät gelandet«, erklärte Roman Nicolitsch hastig. »Wir bedauern das sehr.«
Dr. Kustermann äußerte sich dazu nicht mehr. Er forderte die beiden mit einer Handbewegung auf, in sein Arbeitszimmer einzutreten und Platz zu nehmen. Dorothee führte er zu einem Sessel, der ihm am nächsten war.
Dann begann die Verlesung des Testaments, das so boshaft war wie Emily zeitlebens.
Universalerbin sollte Dorothee sein, aber die ahnte schon gleich, daß da einige Fußangeln eingebaut waren.
Verfügen könnte sie über das Erbe erst, wenn sie bereits ein Jahr verheiratet wäre.
Dorothee blieb gelassen. Sie lächelte sarkastisch. Sie betrachtete jetzt aber die beiden Männer wachsam unter halbgeschlossenen Lidern, und sie merkte, wie gespannt und erregt diese waren.
Emily van Holden war eine skurrile Frau gewesen mit Sinn für makabre Scherze. Das sollten nun Roman Nicolitsch und Igor Raskovic zu spüren bekommen.
Roman sollte fünfzigtausend Mark erben, aber nur, wenn er an der Trauerfeier teilnehmen würde oder teilgenommen hätte, was nicht zutraf. Ebenso Igor Raskovic, der allerdings nur zwanzigtausend bekommen hätte, aber dazu die Liebesbriefe, die er Emily einst geschrieben hatte, und die Schuldscheine über eben auch zwanzigtausend Mark, die er mit seinem Erbteil hätte einlösen können.
»Das alles ist doch infam«, stieß Roman hervor, »sie war verrückt, anders ist doch das nicht möglich.«
»Das Testament wurde bereits vor drei Jahren gemacht, und es gab keinen Zweifel, daß Frau van Holden im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte war« erklärte Dr. Kustermann.
»Und Sie, was bekommen Sie? Sie waren doch auch Ihr Liebhaber!« fuhr ihn Roman an, während Igor Raskovic mit versteinertem Gesicht dasaß.
Dorothee schrak zusammen.
Dr. Kustermann lächelte schief. »Was immer Sie auch denken mögen, Herr Nicolitsch, erben werde ich nichts. Und keiner von Ihnen beiden könnte mir vorwerfen, daß ich verhindert habe, daß Sie bei der Trauerfeier anwesend sind. Sie sind schriftlich benachrichtigt worden, und ich habe mit Ihnen beiden auch nochmals telefoniert und mir bestätigen lassen, daß Sie über den Termin der Beerdigung genau Bescheid wissen.«
»Das Flugzeug kam nicht rechtzeitig an«, sagte Roman erregt.
»Sie hätten bereits gestern kommen können«, erklärte Dr. Kustermann ruhig.
»Sie wollte uns nur verhöhnen«, warf Igor Raskovic in gebrochenem Deutsch ein. »Sie war rachsüchtig.«
»Nun, wenn Sie zur Trauerfeier anwesend gewesen wären, sähe es anders aus«, stellte Dr. Kustermann fest. »Und wenn man erben will, muß man auch Zugeständnisse machen.«
»Und welche macht Dorothee?« fragte Roman.
»Ich mache gar keine«, erwiderte sie, »und ich gestatte Ihnen auch nicht, mich beim Vornamen zu nennen.«
Ihre Stimme klang eisig, und Dr. Kustermann konnte nur staunen.
»Aber Sie wissen, daß Emily uns verheiraten wollte«, sagte Roman mit schriller Stimme. »Vor fünf Jahren hatte sie die Hochzeit bereits geplant.«
»Um mich auf die Probe zu stellen«, erwiderte Dorothee eisig. »Aber sie war sehr bestürzt, als ich ihr erklärte, daß ich sofort das Haus verlassen würde. Daraufhin bekam sie einen Herzanfall. Jedenfalls glaubte ich das, und sie erreichte wieder, daß ich blieb.«
»Was hätten Sie sonst auch anfangen sollen«, höhnte Roman jetzt. »Aber nun werden Sie wohl auch mal was verdienen müssen, falls Sie nicht gleich den Erstbesten heiraten wollen.«
Dorothee warf Dr. Kustermann einen kurzen Blick zu, und dann erhob sie sich.
»Ich darf mich verabschieden«, sagte sie, »ich verzichte auf dieses Erbe und auf die Gesellschaft dieser beiden Herren. Sie verstehen das bitte, Herr Dr. Kustermann.«
Der war nun doch konsterniert. »Ich denke, daß sich die beiden Herren verabschieden können, da nichts mehr zu sagen ist. Die Reisekosten werden ihnen erstattet, aber mit Ihnen muß ich noch sprechen, Fräulein van Holden.«
»Sie wissen ja, wo Sie mich erreichen können, denn über das Haus wird meine Großtante ja auch verfügt haben.«
Sie ging, ohne zu zögern. »Ja, was ist mit dem Haus?« fragte Roman Nicolitsch, »wer bekommt es?«
»Ich bin nicht verpflichtet, Ihnen darüber Auskunft zu geben«, erwiderte Dr. Kustermann kühl. »Und Sie können mir keinen Vorwurf machen. Ich weiß, daß Sie bereits in München waren, als die Trauerfeier stattfand. Sie schauten sich lieber in Emily van Holdens Haus um und schätzten ab, was das Inventar bringen würde. Sie wußten ja, daß niemand dort sein würde, aber es waren zwei Privatdetektive in der Nähe, die Sie beide mehrmals fotografiert haben.
Ich könnte Sie wegen Hausfriedensbruchs anzeigen, aber wozu soll dies alles aufgebauscht werden! Sie bekommen gar nichts, und was für den Fall geschieht, daß auch Dorothee van Holden verzichtet, muß ein anderer als ich entscheiden. Für diese Möglichkeit hat Frau Emily van Holden auch Vorsorge getroffen, wie auch für den Fall, daß Dorothee überhaupt nicht heiratet.«
»Und wie sieht diese Vorsorge aus?« fragte Igor Raskovic stockend.
»Ich weiß es nicht. Frau van Holden hat auch für den Fall vorgesorgt, daß ich vor ihr sterben würde. Jedenfalls werden Sie und auch Herr Nicolitsch nichts bekommen. Verwandt sind Sie ja nicht, also haben Sie keinen Anspruch auf ein Pflichtteil, und außerdem handelt es sich ja nicht um ein Millionenerbe.«
»Ich war jedenfalls mal mit Emily verlobt«, sagte Raskovic. »Und damals war ich sehr vermögend. Ich habe ihr viele Geschenke gemacht, auf die ich doch Anspruch erheben könnte.«
»Wenn Sie das beweisen können, müßten Sie es herausklagen«, sagte Dr. Kustermann, »aber rechtens ist, was geschenkt ist, darauf besteht später kein Anspruch mehr, falls es nicht zu Lebzeiten zurückgefordert und vom Beschenkten herausgegeben wurde. Frau van Holden hat diesbezüglich auch nichts verfügt.«
»Wir könnten uns doch mit Dorothee einigen, wenn Sie ihr ausreden, auf das Erbe zu verzichten. Das wäre doch töricht«, warf Roman ein.
»Es wird ihr überlassen bleiben«, erklärte Dr. Kustermann.
*
Dorothee war eine Weile herumgelaufen. Dann fand sie sich plötzlich in einem Viertel wieder, das sie gut kannte, und ihr wurde bewußt, wie blindlings sie herumgeirrt war.
Da stand sie vor Dr. Nordens Praxis, und ihr erschien es wie ein Fingerzeig des Schicksals.
Ihn kannte sie, und er hatte Emily gekannt. Er war fast täglich gekommen in den letzten Monaten, aber er hatte sie auch gekannt, als sie noch gesund und bei Kräften und auch noch nicht in Vergessenheit geraten war.
Dorothee fuhr sich mit den Händen durch ihr dichtes, dunkles Haar, das von dem recht kräftigen Wind durcheinandergeweht war.
Tante Emily hatte von ihr immer verlangt, daß ihr Haar streng zurückgekämmt und zusammengehalten war.
Plötzlich stieg ein gewaltiger Groll in Dorothee empor. Nicht auf Emily, sondern auf sich selbst, weil sie immer das getan hatte, was von ihr verlangt wurde.
Langsam stieg sie die Treppe zu Dr. Nordens Praxis empor, den Lift verschmähend. Sie wußte eigentlich auch gar nicht, wie sie ihren Besuch erklären sollte, aber es zog sie hierher, wo sie so manches Mal Trost und Aufmunterung erfahren hatte. Sie ahnte nicht, daß es ihr vom Schicksal wohl bestimmt sein sollte, an diesem Tag und zu dieser Stunde zu Dr. Norden zu kommen.
Sie läutete und die Tür ging auf, es war nur ein leises Summen, dann sah sie Dorthe Harling, die aus dem Wartezimmer kam. Sie hatte sich mit ihr auf Anhieb verstanden, obgleich sie anfangs Loni, die frühere Praxishelferin von Dr. Norden, sehr gemocht und zuerst auch vermißt hatte. Loni hatte spät geheiratet, einen Witwer mit zwei Kindern, die fast erwachsen waren, und damals hatte Dorothee gedacht, daß es ganz hübsch wäre, wenn sie so etwas auch mal finden würde, um den Herbst des Lebens nicht allein verbringen zu müssen.
Bald einmal zu heiraten, daran hatte Dorothee nie gedacht. Der Einfluß von Emily war zu stark gewesen, und Emily hatte an allen Männern etwas auszusetzen. Dorothee hatte gar keine Gelegenheit, einen näher kennenzulernen, als diesen Roman Nicolitsch, sofern man das als solches bezeichnen konnte.
»Fehlt Ihnen etwas, Dorothee?« fragte Dorthe. Sie nannte sie beim Vornamen, weil Dorothee darum gebeten hatte.
»Ich weiß nicht. Ich wollte Dr. Norden fragen«, erwiderte Dorothee stockend.
»Es ist grad noch jemand bei ihm. Wenn Sie warten wollen? Es sitzt nur noch ein kleines Mädchen im Wartezimmer.«
Dorothee nickte und ging hinein. Das kleine Mädchen mochte etwa zehn Jahre alt sein, hatte
ein reizendes Gesicht und Sommersprossen auf Nase und Wangen. Tizianrotes Haar gehörte eigentlich
fast dazu, und die blaugrauen Augen schauten Dorothee kritisch an.
»Ich bin nicht krank«, sagte die Kleine. »Ich muß nur auf meine Tante warten, die hat mal wieder Migräne.« Sie legte den Kopf schief. »Haben Sie auch Migräne?«
»Nein«, erwiderte Dorothee. Sie hatte noch nicht viel mit Kindern zu tun gehabt, wie denn auch, da sie ja immer bei Emily sein mußte, aber sie mochte Kinder sehr.
»Ich wollte nicht aufdringlich sein«, sagte das Kind. »Ich heiße Carolin.«
»Du bist nicht aufdringlich«, erwiderte Dorothee mit einem Lächeln, und so entspann sich ein Gespräch.
Bei Dr. Norden saß Ilona Sassen und jammerte über ihre Migräne, aber auch über andere Sorgen.
»Ich kann mich doch nicht um vier Kinder kümmern, Herr Doktor, das schaffe ich einfach nicht. Ich würde meinem Schwager wirklich gern beistehen, aber seine Mutter ist ja auch nicht gerade nett zu mir, und wie soll ich denn fertig werden ohne ein Kindermädchen! Aber Frau Clement will nicht zwei fremde Frauen im Hause haben, das hat sie klar und deutlich zu verstehen gegeben. Als ob ich fremd wäre. Schließlich war Marina meine Schwester.«
Aber eben ganz anders, dachte Dr. Norden, der sich wieder mal Gedanken machte, wie verschieden Schwestern sein konnten. Ilona Sassen ging ihm langsam auf die Nerven, weil sie kein Ende finden konnte mit ihren Vorwürfen gegen ihren Schwager und seine Mutter. Und dann kam sie auch noch darauf zu sprechen, daß Carolin ein äußerst schwieriges Kind sei und die paar Tage, die sie jetzt in München bei ihr war, auch dazu beitrugen, ihr bewußt zu machen, daß sie den vier Kindern kaum gewachsen sein würde.
Natürlich wäre es anders, wenn sie bei ihrem Schwager einen Beistand hätte, aber er würde sich ja kaum um die Kinder kümmern und sowieso immer unterwegs sein.
»Und vielleicht gibt es in seinem Leben auch schon eine andere Frau«, fügte sie allem mit einem höhnischen Unterton hinzu.
*
Indessen hatte sich Dorothee schon eine Weile mit Carolin unterhalten, oder man sollte es besser umgekehrt sagen.
Und nun fragte die Kleine: »Haben Sie Kinder?«
»Nein. Ich bin nicht verheiratet, Carolin.«
»Ach so. Sie sind so hübsch, daß ich gedacht habe, daß Sie bestimmt einen Mann und Kinder haben. Meine Mama ist leider gestorben, und meine Tante, die jetzt bei Dr. Norden ist, kann ich nicht ausstehen. Aber das dürfte ich eigentlich nicht sagen. Es wäre schrecklich, wenn sie zu uns kommen würde, aber das wird Granny unserm Papi schon ausreden.«
»Wieviel Kinder seid ihr denn, Carolin?« fragte Dorothee beiläufig, da die Kleine so unbefangen redete, nachdem sie anfangs nur über Krankheiten gesprochen hatte.
»Vier sind wir jetzt, aber Bibi hätte eigentlich nicht mehr kommen dürfen, das war zuviel für Mama. Bibi ist jetzt bald zwei Jahre. Wir hatten Schwester Ursula, aber die hat geheiratet, der Verlobte war sauer, weil sie so lange bei uns war. Es ist alles ziemlich schwierig. Ich komme jetzt wohl doch ins Internat, damit es nur noch drei sind und wir vielleicht leichter jemanden kriegen. Bei vier Kindern schrecken sie gleich zurück.«
Dorothee sah Carolin nachdenklich an. Sie war zierlich, aber was sie sagte, klang schon sehr vernünftig. Zehn Jahre, Dorothee konnte sich nicht mehr erinnern, wie sie mit zehn Jahren gewesen war. Sie kam sich plötzlich uralt vor.
»Und möchtest du gern ins Internat?« fragte sie.
»Bestimmt nicht, aber Granny verliert sonst vielleicht auch die Nerven, und die Kleinen müssen ja zusammenbleiben.«