Eine kritische Betrachtung der Theorien von Karl Raimund Popper - Erhard Zauner - E-Book

Eine kritische Betrachtung der Theorien von Karl Raimund Popper E-Book

Erhard Zauner

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Beschreibung

Der Autor stellt die Theorien von Karl Popper dar und unterzieht diese selbst einer kritischen Prüfung. Bei der praktischen Anwendung der Falsifikation ergeben sich immer wieder Probleme, daher entwickelt der Autor ein komplettes System aller möglichen Fälle der Aussage-Logik, wobei Poppers Falsifikation nur einen, wenn auch wichtigen und im wissenschaftlichen Forschen häufig auftretenden, Fall darstellt. Anhand des Vierklee-Dilemmas zeigt er auf, dass mit Poppers Vorgehen der Modifikation einer falsifizierten Theorie zwar eine immer wahrheitsähnlichere Aussage erreicht werden kann, diese aber dadurch immer weniger anwendbar wird. Auf der komplexen Struktur der Realität, die im Einzelnen untersucht und dargestellt wird, entwickelt er den »holistischen Realismus«, und darauf aufbauend erweitert der Autor den kritischen zum toleranten Rationalismus, der jenem seine zu große Restriktion nimmt und den realen Gegebenheiten eine besser entsprechende, breitere Gültigkeit gibt. An Poppers Gesellschaftstheorie kritisiert er die statische Betrachtungsweise von »offen und geschlossen«, und erweitert sie hin zu den dynamischen Prozessen des »Öffnens und Schließens«, und zeigt, welche Faktoren dafür verantwortlich sind. Der Gegenpol der »geschlossenen Gesellschaft« ist nicht die »offene«, sondern die Anarchie, während die »offene Gesellschaft« in einem labilen Gleichgewicht oszilliert, immer in Gefahr auf die eine oder andere Seite zu kippen. Er erweitert sie zur offenen toleranten Gesellschaft. Abschließend zeigt er auf, wie die Impuls-Resonanz-Theorie die Bedeutung von (Gedanken-) Impulsen für die Gestaltung der gesellschaftlichen Realität erklären kann.

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Ich widme dieses Buch allen Menschen, die sich nicht vorschreiben lassen wollen, was sie glauben sollen.

Inhalt

Vorwort

Wissenschafts- und Erkenntnistheorie

Der kritische Rationalismus

2.1 Die Induktion als untaugliche Methode der Wahrheitsfindung

2.2 Es gibt keine Bestätigung von Wahrheit, nur eine Widerlegung von Irrtümern

2.3 Erkenntnisgewinn durch »Trial and Error«

2.4 Das Abgrenzungsproblem

2.5 Der Gehalt einer Theorie

2.6 Das 3–Welten–Modell

Kritik am kritischen Rationalismus

3.1 Induktion am Beginn der Theoriebildung

3.2 Probleme der Falsifikation

3.3 Falsifikation als Sonderfall der Aussagelogik

3.4 Das Vierklee-Dilemma

3.5 Es gibt keinen einzigen weißen Schwan

3.6 Kritik am 3–Welten–Modell

3.7 Kritik an der Wissenschaftstheorie

3.8 Kritischer Rationalismus und Dialektik

Gesellschaftstheorie

Platons Staatstheorie

5.1 Platon als erster philosophischer Begründer geschlossener Systeme

5.2 Platon als Soziologe

5.3 Platons idealer Staat

5.4 Die »Deklaration von Wahrheiten« als Ausgangspunkt geschlossener Systeme

Poppers offene Gesellschaft

6.1 Popper als Kritiker geschlossener Systeme

6.2 Der Historizismus als Transportmittel für Ideologien

6.3 Falsche Propheten und Trendforschung

6.4 Alles Leben ist Problemlösen

6.5 Kritik an der Theorie der offenen Gesellschaft

Die offene Gesellschaft ist kein Ziel, sondern ein Weg – allerdings nicht der einzige

7.1 Die Prozesse »Öffnen und Schließen« im Gegensatz zu den Zuständen »offen und geschlossen« einer Gesellschaft

7.2 Die Zeit als schließender Faktor

7.3 Gesetze als schließende Faktoren

7.4 Demokratie als »Diktatur der 51 %« ist keine offene Gesellschaft

7.5 Die Gesellschaft ist kein homogenes, sondern ein heterogenes Gebilde

7.6 Das Individuum als kleinste gesellschaftliche Einheit

Der »holistische Realismus« und seine Merkmale

8.1 Die holistische Struktur der Realität

8.2 Die fraktale Struktur der Realität

8.3 Die Dynamik der Realität

8.4 Die kybernetische Struktur der Realität

8.5 Die polare Struktur der Realität

8.6 Die Kontinuität der Realität

8.7 Die singularistische Struktur der Realität

8.8 Das Kausalitätsparadoxon

Der tolerante Rationalismus als Weiterentwicklung des kritischen Rationalismus

9.1 Das Generalitätsaxiom

9.2 Das Spezialitätsaxiom

9.3 Das Approximationsaxiom

9.4 Das Praktikabilitätsaxiom

9.5 Zusammenfassung des toleranten Rationalismus

Die offene tolerante Gesellschaft als Weiterentwicklung der offenen Gesellschaft

10.1 Der Mensch strebt beim Problemlösen nach Sicherheit und nicht nach Wahrheit

10.2 Wahrheit und Wirklichkeit oder: Wir gestalten die Zukunft mit unseren Gedanken in der Gegenwart

10.3 Der Faktor Zeit in der gesellschaftlichen Entwicklung

10.4 Der Faktor Zufriedenheit in der gesellschaftlichen Entwicklung

10.5 Zusammenfassung der offenen toleranten Gesellschaft

Die Impuls–Resonanz–Theorie

11.1 Elemente, Struktur und Inhalt

11.2 Impuls und Resonanz

11.3 Reaktanz und Intervention

11.4 Persistenz

12. Zusammenfassung

Literatur

Vorwort

Kurz nach Karl Raimund Poppers Tod (17.09.1994), als in einem Nachruf eine seiner Hauptaussagen aus seiner Philosophie sinngemäß wiedergegeben wurde: „Jede Ideologie, die den Menschen das Himmelreich auf Erden versprochen hat, hat ihnen noch die Hölle beschert.“1 begann ich mit meinen Studien zur Philosophie von Karl Popper. Sie wurden erstmals im Jahr 1998 in einer kleinen Auflage als Privatdruck veröffentlicht und umfassten damals vierhundert Seiten. In den letzten gut zwanzig Jahren habe ich diese immer wieder überarbeitet und ausgebaut, sodass sie inzwischen auf über tausend Seiten angewachsen sind. Ich bringe diese Studien zur Philosophie von Karl Popper in einer erweiterten Neuauflage als dreibändiges Werk wieder heraus. So haben die drei Hauptgebiete jeweils genügend Raum, um halbwegs erschöpfend behandelt zu werden.

Band 1:

Die offene tolerante Bildungsgesellschaft

und ihre Feinde

Poppers Gesellschaftskritik mit Blick auf das Bildungssystem

Band 2:

Eine kritische Betrachtung der Theorien

von Karl Raimund Popper

Weiterentwicklung des »kritischen« zum »toleranten« Rationalismus

und der »offenen« zur »offenen toleranten« Gesellschaft

Band 3:

Die offene tolerante Gesellschaft mit

humankapitalistischer Marktwirtschaft

Entwurf einer neuen gerechteren Wirtschafts- und

Gesellschaftsordnung basierend auf Volks-Souveränität,

individueller Freiheit und minimaler staatlicher Intervention

Durch den oben zitierten Ausspruch von Popper über die Auswirkungen der oft hehren Ziele von Ideologien wurde mir plötzlich klar, dass seine Anschauungen von offenen und geschlossenen Gesellschaften nicht nur auf die Gesellschaft im Ganzen angewandt werden können, sondern genauso gut auch für Teilbereiche derselben. Und da war es dann nur ein kleiner Schritt zum Bildungs- bzw. Schulbereich bis hin zur univeritären Lehre und Forschung.

So war also der Ausgangspunkt für diese Arbeit die Frage: Ist unser Bildungswesen ein offenes oder geschlossenes System? Es zeigte sich nach kurzer Beschäftigung, dass es weit eher einem geschlossenen System entspricht als einem offenen. Daher formulierte ich damals den Titel angelehnt an Poppers Buch »Die offene tolerante Bildungsgesellschaft und ihre Feinde« (heute Band 1), denn es gibt – so meine Hypothese – Kräfte, die nicht an einer Öffnung der Schule und des Bildungsbereiches interessiert sind, bzw. diese geradezu verhindern. Ich habe sie daher wie Popper als die Feinde des Systems bezeichnet. Persönlich betrachte ich sie nicht als Feinde, weil ich der Überzeugung bin, dass sie ihre Position absolut nicht in schlechter Absicht, sondern ganz im Gegenteil ehrlich in subjektiv bester Absicht vertreten und durchsetzen.

Das Werk »Die offene Gesellschaft und ihre Feinde« ist nun über achtzig Jahre alt (Popper begann es am 13. März 1938 in Neuseeland zu schreiben, an dem Tag, an dem er vom Einmarsch Hitlers in Österreich hörte).2 Es ist eine fundamentale Kritik von geschlossenen Systemen, besonders von totalitären Gesellschaftssystemen. Diese seine Kritik hat in der sogenannten westlichen, freien Welt im Laufe der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts, abgesehen von Marxisten, weitestgehende Anerkennung erlangt und stellt Anfang des einundzwanzigsten Jahrhunderts fast schon eine Selbstverständlichkeit im politischen Alltag dar.

Alle westlichen und nach der Wende im Ostblock im Jahr 1989 auch praktisch alle ehemaligen kommunistischen Staaten betrachten oder bezeichnen sich als offene Gesellschaften im Sinne Poppers. Zugegeben, viele Restriktionen, denen Bürger des ehemaligen Ostblocks ausgesetzt waren, sind dreißig Jahre nach dem Zerfall des Ostblocks für diese nicht mehr vorhanden. Ihre Gesellschaften haben sich merklich geöffnet. Auch nationale Grenzen, welche westliche Bürger in ihrer Freiheit teilweise einschränkten, sind im Zuge der EU-Integration in den letzten Jahren durchlässiger geworden und fallen durch das Schengener Abkommen komplett weg.

Diese Tatsache könnte fast zu der Meinung führen, dass für einen großen Teil der Menschheit bereits kurz nach Poppers Tod seine Vision einer offenen Gesellschaft in vielen Staaten der Erde weitgehend verwirklicht sei. Tatsache ist allerdings, dass gerade in den letzten beiden Jahren der so genannten Corona-Pandemie in fast allen Ländern der Welt eine derart dramatische Einschränkung von Grundrechten aus medizinischepidemiologischen Gründen, allerdings ohne effektive wissenschaftliche Evidenz, verfügt wurde. Diese Maßnahmen sind durchaus in vielen Bereichen bereits vergleichbar mit den Zuständen in China, der Sowjetunion oder den faschistischen Diktaturen in der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts. Daher muss man eigentlich sagen, dass wir aktuell kurz vor einer Eine-Welt-Diktatur stehen, beherrscht von den globalen Konzernen von Big-Tech, Big-Data, Big-Pharma, Big-Media und Big-Finance.

Ein Großteil der weltweiten so genannten politischen und wirtschaftlichen Eliten haben sich von Klaus Schwab und seinem World-Economic-Forum, von Bill Gates und seiner Stiftung, von Zuckerberg, Soros oder der Kommunistischen Partei Chinas kaufen lassen, oder sind mit deren finanzieller Hilfe an die Macht gekommen. Sie dienen nicht mehr ihrem Volk, dem wirklichen Souverän, sondern nur noch der globalen bzw. globalistischen Agenda. Sehr deutlich zeigt sich das spätestens seit der Migrationskrise 2015, der Coronakrise 2020/21 und der gerade gepuschten Klimakrise (Hochwasser im Ahrntal!) und der damit zusammenhängenden fahrlässigen Untätigkeit der Bundesregierung in Berlin. Zu dieser globalen und globalistischen so genannten Elite gehören bzw. gehörten in Deutschland die weitgehend autokratisch regierende Angela Merkel sowie Jens Spahn und die speziell von den Medien gehypte Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock, in Frankreich Emmanuel Macron und Sebastian Kurz in Österreich.

Wenn es noch einen Beweis bedurfte, dass sich die politische Klasse im Land von der Realität abgekoppelt hat, dann hat diesen die Flutkatastrophe erbracht. Die Eliten sehen ihre Hauptaufgabe offensichtlich nicht darin, dem Land und dem eigentlichen Souverän zu dienen, sondern in der Umerziehung des Bürgers mit allen Möglichkeiten. Gleichzeitig wurde diesem Staat jegliche Kriesentauglichkeit geraubt.3*

Ich bin nun aber grundsätzlich der Ansicht, dass es weder eine absolut geschlossene noch eine absolut offene Gesellschaft gibt, sondern, dass man, den Gegebenheiten besser entsprechend, einerseits von relativ geschlossenen bzw. relativ offenen Gesellschaften und andererseits von Prozessen des Öffnens bzw. des Schließens sprechen müsste. Meiner Meinung nach wäre es sinnvoller, Gesellschaften zu vergleichen und festzustellen, welche von beiden (relativ) offener ist als die andere; oder innerhalb einer Gesellschaft zu untersuchen, welche Bereiche offener und welche geschlossener sind.

Einer jener Bereiche, der in praktisch allen Gesellschaften (oder Staaten) nach wie vor mit zu den geschlossensten zählt, sogar einer der geschlossensten ist, ist der Bereich der Bildung und Erziehung, speziell der Bereich der Schulen. Da ich Österreicher bin, werde ich natürlich bei der konkreten Betrachtung der Problematik besonderes Augenmerk auf die Schul- und Bildungssituation in Österreich werfen. Allerdings ist die Situation in Deutschland in weiten Teilen absolut vergleichbar.

Schon im § 2 (1) des österreichischen Schulorganisationsgesetzes finden wir einen Schlüsselsatz, der auf der einen Seite so selbstverständlich klingt, dass ihn vermutlich jeder Staatsbürger, vor allem aber jeder, der mit Schule und Bildung zu tun hat, sofort vollinhaltlich unterschreiben würde, der aber andererseits praktisch einen Rückgriff auf Platon darstellt, dessen Bestimmung der höchsten Ideen den Schlussstein seiner totalitäre Staatsidee bildet. Dieser Satz lautet:

Die österreichische Schule hat die Aufgabe, an der Entwicklung der Anlagen der Jugend nach den sittlichen, religiösen und sozialen Werten sowie nach den Werten des Wahren, Guten und Schönen durch einen ihrer Entwicklungsstufe und ihrem Bildungsweg entsprechenden Unterricht mitzuwirken.4

In kleinen Sozialsystemen (Familien) gibt es ein typisches Problem einer geschlossenen Gesellschaft. Die Eltern wollen (fast immer) »das Beste« für ihre Kinder. Dass dieses »Beste« diese aber oftmals in ihrer eigenständigen Entwicklung mehr oder weniger behindert, erkennen die Eltern kaum, oder wollen es nicht erkennen. In großen Sozialsystemen (Gemeinden, Länder, Staaten, EU) wollen die Politiker, zumindest in ihren Äußerungen und Stellungnahmen ebenfalls (fast immer) »das Beste« für die Erziehung und Bildung der Jugend, weil es gesellschaftlich absolut unbestritten ist, dass eine bessere Bildung bzw. Ausbildung für das Wohl aller Staatsbürger ausschlaggebend ist. Diese zweifelsohne richtige Diagnose führt leider in der Praxis häufig zu einer kontraproduktiven, nämlich zentralistischen Zwangsbeglückung.5

Kein Lehrer kann jemals einem Schüler etwas beibringen, wenn dieser nicht ein Mindestmaß an Motivation, Interesse und Lernbereitschaft mitbringt. Meiner Meinung nach ist – insofern dies nicht schon vorhanden ist – nur die jeweilige Fachkraft in der Lage aber auch dazu verpflichtet, in den Schülern und Studenten das Interesse und die Begeisterung für ihr Fach zu wecken. Wer das nicht schafft, ist fehl an diesem Platz. Gerade aber dieses Schulsystem, das in vielen Fällen den Schülern Antworten auf nichtgestellte Fragen gibt, dafür aber die Fragen, die sie haben, leider oft unbeantwortet lässt, ist demotivierend und wirkt sich damit wiederum negativ aus im Sinne des Gesetzes der ungewollten Nebenwirkungen in der Erziehung, wie sie Spranger6, in Anknüpfung an Wundt7, beschreibt.

Ich möchte in den vorliegenden Studien zeigen, wie sich Platons Gedanken und Ideen eines idealen Staates auf die heutigen Bildungsgesellschaften im Allgemeinen und auf die Schul- und Bildungssysteme im Besonderen auswirken. Gerade die Coronakrise hat diese autoritäre diktatorische Vorgangsweise in den Schulen und Universitäten wieder eklatant aufgezeigt. Ich erwähne hier nur das gesundheitsschädliche Tragen von Atemschutzmasken, die laut Zulassung keinen Virenschutz bieten, die Verwendung von nicht aussagekräftigen Schnelltests, die teilweise nicht einmal für Kinder und Jugendliche zugelassen sind, Homeschooling und Telelearning, Klassenteilungen und Unterbinden fast aller sozialen Kontakte sowie permanentes Lüften, auch dann, wenn keine einzige Person positiv getestet, geschweige denn wirklich erkrankt ist. Übrigens, es ist wissenschaftlich-medizinisches Grundwissen, dass jede Krankheit mit Symptomen einhergeht, asymptomatische Kranke gibt es ebensowenig, wie die wannenlose Badewanne von Daniel Düsentrieb.

Im Zuge der Beschäftigung mit den Theorien Poppers begann ich eine zunehmend kritischere Haltung einzunehmen, weil ich bemerkte, dass z.B. die Falsifizierung von (wissenschaftlichen) Aussagen nicht der Realität der Forschungspraxis entspricht und andererseits die Rigidität, mit der Popper diese verlangt, diese selbst zu Fall bringen kann. Ich erkannte dies am Vierklee-Dilemma.

Dies führte dazu, dass ich auch den kritischen Rationalismus Poppers selbst einer kritischen Prüfung unterzog. Diese Studien sind jetzt im Band 2 dieser Reihe enthalten. Ich stellte dabei fest, dass die Falsifikation Poppers ein Fall unter mehreren möglichen ist. Daher erstellte ich in einem größeren Rahmen ein logisches System, in welchem und mit welchem klar ist, unter welchen Bedingungen eine Hypothese „sicher falsch“, „sicher wahr“, „vorläufig falsch“ und „vorläufig wahr“ ist.

Weiters zeige ich auf, dass ich mit Hilfe der Falsifikation einerseits eine Hypothese immer wahrheitsähnlicher formulieren kann, dass ich damit aber ähnlich wie bei der Heisenberg’schen Unschärferelation8 andererseits oft die praktische Anwendbarkeit einbüße. Mit Hilfe des Generalitätsaxioms versuche ich dieses Dilemma zu lösen.

Die weitere Entwicklung ging während der Beschäftigung mit dieser Arbeit dahin, dass es für mich nicht zufriedenstellend war, nur die Theorien Poppers wiederzugeben und zu kritisieren. Meine Gedanken beschäftigten sich immer mehr mit der für mich unbefriedigenden Situation, dass es eine zunehmende Zahl von unterschiedlichen Philosophien gibt, die einander teilweise oder sogar gänzlich widersprechen. Dies alleine müsste bereits ausreichen, um alle (bis auf maximal eine, die Frage ist nur welche?) als falsifiziert zu verwerfen.

Aber selbst der kritische Rationalismus, der eigentlich das Instrument zur Prüfung der Richtigkeit von Theorien sein sollte, erwies sich ebenso wenig praktikabel. Offensichtlich gibt es bei jeder Theorie unzählige Beispiele, die ihre Gültigkeit bestätigen, aber ebenso Beispiele, die sie falsifizieren. So war es mein Bestreben, einen theoretischen Rahmen zu finden, der so weit gespannt und umfassend ist, dass alle Theorien darin Platz haben. Daher habe ich versucht, den kritischen Rationalismus zu einem toleranten Rationalismus auszuweiten.

Da die Realität aus meiner Sicht eine ganzheitliche ist, habe ich diesen holistischen Realismus untersucht. Er macht verständlich, warum auch einander widersprechende Theorien eine Berechtigung haben und warum sogar falsifizierte Theorien nicht nur nicht – wie Popper es verlangt – zu verwerfen, sondern praktikabel sind und auch tatsächlich angewandt werden. Ich zeige weiters, dass die Realität eine fraktale Struktur hat, d.h. dass es eine vielschichtige, mehrdimensionale Vielfalt gibt, bei der sich ähnliche Strukturen im Kleinen wie im Großen finden lassen.

Gerade dieser Ansatz schafft den Rahmen und Platz für die unterschiedlichsten Theorien. Auch hier gilt der Satz: Das Ganze (die Gesamtheit aller Theorien) ist mehr als die Summe seiner Teile.

Ähnlich, wie beim kritischen Rationalismus, ist auch die Situation bei Poppers Theorie der offenen Gesellschaft. Ich habe oben gezeigt, dass die Demokratien, wie sie heute tatsächlich existieren, einerseits oft selbst starke schließende Züge aufweisen und dass sie keineswegs den nicht mehr zu überbietenden Zustand einer offenen Gesellschaft darstellen. Ich habe aber auch andererseits gezeigt, dass dieses permanente Falsifizieren, Modifizieren und Verwerfen Sicherheit und Stabilität untergräbt, und damit selbst zu einem enormen Störfaktor werden können. Daher finde ich, dass es notwendig ist, die offene Gesellschaft von Popper zur offenen toleranten Gesellschaft auszubauen. Diese Studien finden sich jetzt im Band 3.

Jede Gesellschaft benötigt sowohl ein gewisses Maß an Stabilität als auch an Sicherheit in den allgemein anerkannten Grundlagen des Sozialgefüges. Die Toleranz muss sich daher generell auf alle Lebensbereiche erstrecken. Es kann nicht mehr Ziel sein, die „wahre Gesellschaftsordnung“ zu definieren, zu errichten oder zu erhalten. Ziel der offenen toleranten Gesellschaft muss es sein, jegliche Form von Herrschaft zu minimieren und jede Art von Selbstbestimmung bzw. Selbstverantwortung zu maximieren.

Im Laufe der Beschäftigung mit den unterschiedlichen Gesellschaftstheorien bin ich auch zum Schluss gekommen, dass die offenen und die geschlossenen Gesellschaften nicht die zwei Pole oder Extreme aller möglichen Gesellschaftsformen sind, wobei die geschlossene die schlechteste und die offene die beste Variante ist.

Ganz im Gegenteil, aus meiner Sicht ist der Gegenpol zur geschlossenen Gesellschaft die Anarchie. Die offene tolerante Gesellschaft finden wir dann genau in der Mitte zwischen den beiden Extremen. Dabei handelt es sich hier immer um einen absolut fragilen und labilen Gleichgewichtszustand, der jederzeit sowohl in die eine als auch in die andere Richtung abgleiten kann.

Es erfordert eine permanente Aufmerksamkeit, damit ein mögliches Abgleiten schon frühzeitig erkannt und verhindert werden kann. Einerseits gibt es immer Gruppen, die in die eine Richtung ziehen, und gleichzeitig auch immer Gruppen, die in die gegenteilige Richtung ziehen. Den chaotischen anarchistischen Menschen ist die offene tolerante Gesellschaft immer noch viel zu geregelt, den Möchte-gerne-Diktatoren ist diese aus ihrer Sicht noch immer viel zu freizügig und ungeregelt.

Ein wesentlicher Schlüssel dazu ist u.a. eine Änderung des Wahlsystems. Das Volk, also die wahlberechtigten Bürger als Souverän müssen viel mehr in Entscheidungsfindungen eingebunden werden und andererseits viel mehr direkt entscheiden dürfen, statt durch für eine Legislaturperiode gewählte Parteienvertreter repräsentiert zu werden, die zwar offiziell nur ihrem Gewissen und ihren Wählern verpflichtet sind. Tatsächlich zeigt sich aber leider viel zu oft, dass sie die Interessen der Lobbyisten wesentlich häufiger umsetzen als die des Volkes.

Abschließend noch ein Zitat und eine Bemerkung zu meiner Grundhaltung der Arbeitsweise:

Er [Kant] hat ein Buch geschrieben, das großartige Ideen enthält, aber ein Problem angreift, das nicht lösbar ist, das auf einem Mißverständnis beruht. Er wollte zeigen, warum Newtons Theorie wahr ist… Das Ganze war eine unglückliche Situation, aus der ein zum Teil unverständliches oder sehr schwer verständliches Buch entstanden ist: die Kritik der reinen Vernunft. Durch und durch ehrlich, ein wunderbares Buch, aber sehr schwer verständlich. Er hat sein Problem nicht gelöst und auch nicht lösen können. Dadurch ist aber in Deutschland die Identifikation von Schwerverständlichkeit und Tiefe entstanden. Wenn etwas verständlich ist, dann hat es keine Tiefe – das ist die direkte, mißverständliche Folgerung aus diesem historischen Unglück.9

Als Konsequenz dieser Aussage habe ich versucht, diese Arbeit so zu schreiben, dass sie verständlich ist und Tiefe hat, denn Philosophie soll den Menschen helfen, das Leben zu verstehen und Probleme zu lösen, und soll nicht selbst das unverständliche und unlösbare Problem darstellen. Es soll für den interessierten Laien verständlich sein, aber auch den Fachleuten neue Einsichten, Ideen und Verbesserungsvorschläge vermitteln.

1 Popper: Das Elend des Historizismus, S. VIII: …[denn] die Hybris, die uns versuchen lässt, das Himmelreich auf Erden zu verwirklichen, verführt uns dazu, unsere gute Erde in eine Hölle zu verwandeln – eine Hölle, wie sie nur Menschen für ihre Mitmenschen verwirklichen können.

2 Erste Veröffentlichung des englischen Originals in London 1945, erste Veröffentlichung in Deutsch in Bern: Band I 1957, Band II 1958

3https://kopp-report.de/migration-corona-flut-die-politik-versagt-in-jeder-krise/ Stefan Schubert: Migration, Corona, Flut: Die Politik versagt in jeder Krise. 2021-07-23 * Zitate sind immer in Kursivschrift wiedergegeben

4 Bundesgesetz vom 25. 07 1962, BGBl. Nr. 242, über die Schulorganisation (Schulorganisationsgesetz) * Hervorhebungen von mir

5 Band 1

6 Spranger: Das Gesetz der ungewollten Nebenwirkungen in der Erziehung, Heidelberg, 1962

7 Wundt: Grundriß der Psychologie. Achte, verbesserte Auflage. Mit 23 Figuren im Text. Leipzig, 81907

8 Entweder ist der Impuls eines Elektrons bekannt, dann ist sein Ort ungenau bestimmt, oder umgekehrt

9 Popper; Lorenz: Die Zukunft ist offen. S. 104

1. Wissenschafts- und Erkenntnistheorie

Popper machte schon sehr früh Erfahrungen – positive und negative – die ihn in seiner geistigen Entwicklung prägten. Bereits als Achtjähriger beschäftigte ihn das Problem der Unendlichkeit, das ihm sein Onkel nicht gerade überzeugend durch einen nie enden wollenden Stapel Ziegel zu veranschaulichen versucht hatte.

Ein weiteres Problem wurde ihm mit etwa fünfzehn Jahren bewusst, was er selbst als seinen ersten philosophischen Misserfolg bezeichnet:

Das Problem des Essentialismus (…) Es war ein Versuch [Strindbergs in seiner Autobiographie], etwas Wichtiges aus der »wahren« Bedeutung von gewissen Worten abzuleiten. Aber ich erinnere mich, wie es mich störte, ja wie betroffen ich war, dass mein Vater meinen Standpunkt nicht verstand. Das Problem schien mir klar zu sein, je länger unsere Diskussion dauerte. Und als wir spät am Abend unsere Diskussion abbrachen, musste ich mir eingestehen, dass ich keinen Erfolg gehabt hatte. Eine wirkliche Kluft hatte sich über dieser wichtigen Frage zwischen uns aufgetan. Ich erinnere mich, dass ich nach der Diskussion versuchte, mir die Richtlinie, die Maxime, einzuprägen, niemals über Worte und ihre »wahre« Bedeutung zu argumentieren; denn solche Diskussionen sind irreführend und unwichtig. Ich erinnere mich auch, dass ich nicht daran zweifelte, dass diese einfache Richtlinie oder Maxime wohlbekannt und weithin akzeptiert sein müsse: Ich hatte den Verdacht, dass sowohl Strindberg als auch mein Vater in diesen Dingen etwas rückständig waren.

Viele Jahre später fand ich heraus, dass ich ihnen Unrecht getan hatte und dass der Glaube an die Wichtigkeit von Worten und besonders von Definitionen fast universell war. Die Einstellung, die ich später »Essentialismus« nannte, ist noch immer weit verbreitet…10

Weiters schildert Popper, wie er als Universitätsstudent und gleichzeitig als Tischlerlehrling seine ersten prägenden Erfahrungen mit der Erkenntnistheorie hatte:

Es war einmal ein Tischlermeister, der hieß Adalbert Pösch. Als ich zwanzig Jahre alt war, wurde ich sein Lehrling… Nachdem ich sein Vertrauen gewonnen hatte, teilte er oft, wenn wir allein in der Werkstatt waren, seinen wahrhaft unerschöpflichen Schatz an Wissen mit mir. Einmal erzählte er mir, dass er viele Jahre lang an verschiedenen Modellen für ein Perpetuum mobile gearbeitet habe. Nachdenklich setzte er hinzu: »Da sag’n ‘s, dass ma’ so was net mach’n kann; aber wann amal eina ein’s g’macht hat, dann wer’n s’ schon anders red’n!«… Ich vermute, dass ich über Erkenntnistheorie mehr von meinem lieben, allwissenden Meister Pösch gelernt habe als von irgend einem anderen Lehrer. Keiner hat so viel dazu beigetragen, mich zu einem Jünger Sokrates zu machen. Denn mein Meister lehrte mich nicht nur, dass ich nichts wußte, sondern auch, dass die einzige Weisheit, die zu erwerben ich hoffen konnte, das sokratische Wissen von der Unendlichkeit meines Nichtwissens war.11

Diese Erlebnisse führten dazu, dass sich Popper praktisch sein ganzes Leben lang mit Fragen der Erkenntnis, der Abgrenzung, der Induktion, der Sicherheit von Aussagen, der Wissenschaftstheorie und der Gesellschaftstheorie beschäftigte. Seine Philosophie wird als kritischer Rationalismus bezeichnet.

10 Popper: Ausgangspunkte, S. 17–18

11 Popper: Ausgangspunkte, S. 1–2

2. Der kritische Rationalismus

2.1 Die Induktion als untaugliche Methode der Wahrheitsfindung

Die Induktion ist seit Aristoteles neben der Deduktion (logischer Schluss von einer allgemeinen, bereits gesicherten Aussage auf eine besondere) eine anerkannte und auch angewandte Methode der philosophischen Forschung. Darunter ist die Gewinnung allgemeiner Sätze oder Theorien aus Erfahrung, die Verdichtung einzelner Erkenntnisse zu einem gesamten Erkenntniszusammenhang, dem erkenntnismäßigen Übergang vom Einzelnen zum Allgemeinen und damit die Umkehrung der Deduktion zu verstehen.

Vereinfacht ausgedrückt kann man – mit dem bekannten Beispiel Poppers – sagen: Wenn ich 10, 100 oder 1000 weiße Schwäne sehe, so komme ich durch die Induktion zu dem Schluss, dass alle Schwäne weiß sind.

Jeder weitere weiße Schwan, und sei es der millionste, stützt nur scheinbar meine Hypothese, tatsächlich aber geht sie am Grundproblem vorbei. Solange ich nur nach denjenigen Fällen suche, die meine Hypothese stützen, werde ich natürlich nur solche Fälle finden, oder, wie Popper es ausdrückt:

Die Induktion sagt doch im Wesentlichen: Es gibt nichts Neues. Wenn ich eine Million weißer Schwäne gesehen habe, dann kann ich mich darauf verlassen, dass alle Schwäne weiß sind. Induktion sagt: Alles ist Wiederholung.12

Popper lehnt die Induktion als eine gültige logische Form der Wahrheitsfindung ab:

P: Es gibt keine Theorie der Induktion, die auch nur einigermaßen haltbar ist. Es gibt vor allem keine Theorie, die klar sagt, was induktive Formen des Schlusses sind. Was ist ein induktiver Schluß? Es gibt ihn überhaupt nicht, und anscheinend induktive Schlüsse stellen sich als ungültig heraus. Die Philosophen haben darauf seit Wittgenstein, aber auch schon vorher, ungefähr folgendermaßen reagiert: Sie haben gesagt, es gibt deduktive Gültigkeit und induktive Gültigkeit, und meine Kritik ist nicht mehr, als dass ich sage, dass induktive Gültigkeit nicht deduktive Gültigkeit ist. Ich nehme sozusagen die deduktive Gültigkeit als Muster und zeige dann, dass die induktive Gültigkeit diesem Muster nicht entspricht… Die Leute, die diese Theorie aufrechterhalten, sagen, es gibt eine spezifisch induktive Gültigkeit und eine spezifisch deduktive Gültigkeit; es sei aber falsch zu sagen, die Induktion sei ungültig, denn das bedeute ja nichts anderes als den Versuch, Kriterien der Gültigkeit, die für die Deduktion gelten, auf die Induktion zu übertragen. Das wird mir im Wesentlichen vorgeworfen. Aber dazu müsste man erst Regeln des induktiven Schließens haben. So etwas gibt es aber nicht: Ich habe bewiesen, dass die Wahrscheinlichkeitsrechnung der Induktionstheorie widerspricht.

K[reuzer]: Also reduziert sich das, was man als Induktion bezeichnet, auf ein Herumprobieren. Auf ein Herumprobieren unseres Geistes.

P: Das ist natürlich meine Theorie. Und sie zeigt, dass das, was viele für Induktion halten, einfach ein Mißverständnis der Deduktion und Selektion ist. Probieren ist selbstverständlich der Typus des deduktivistischen selektiven Vorgehens. Man erfindet etwas und probiert es aus. Das heißt: Man setzt es der Selektion aus.13

12 Popper; Kreuzer: Offene Gesellschaft – offenes Universum, S. 63

13 Popper; Kreuzer: Offene Gesellschaft – offenes Universum, S. 55–56

2.2 Es gibt keine Bestätigung von Wahrheit, nur eine Widerlegung von Irrtümern

Popper bietet als Lösung dafür eine Form der Deduktion, nämlich die Falsifikation an. Er betrachtet die Aussage, z.B. »Alle Schwäne sind weiß«, als vorläufige Theorie und geht einmal davon aus, dass diese, wenn sie richtig ist, ja für alle Schwäne gelten müsse. Er macht sich jetzt aber nicht auf die Suche nach einer Million weißer Schwäne, sondern sagt, wenn ich auch nur einen einzigen Schwan gefunden habe, der nicht weiß, also z.B. scharz ist, so habe ich damit die Sicherheit, dass diese vorläufige Theorie falsch ist, denn es sind ja nicht alle Schwäne weiß.

Als weitere Vorgangsweise schlägt er vor, die vorläufige Theorie insoweit abzuändern, dass sie auch das falsifizierende Beispiel mit einschließt, in obigem Fall also: »Alle Schwäne sind schwarz oder weiß«. Mit dieser modifizierten Theorie verfahre man analog, man suche nach einem Beispiel, das auch diese wieder falsifiziert, man modifiziere die Theorie dahingehend und fahre mit diesem Verfahren fort, bis es einem nicht mehr gelingt, die inzwischen mehrmals modifizierte Theorie zu falsifizieren.

2.3 Erkenntnisgewinn durch »Trial and Error«

Das bedeutet, dass wir weder von einem sicheren Ausgangspunkt ausgehen können, noch dass wir jemals eine Sicherheit bezüglich unserer Aussage oder Theorie bekommen können. Wir müssen uns einerseits dieser permanenten Unsicherheit bewusst sein, und uns mit Kreativität an die Formulierung neuer Hypothesen heranmachen, und andererseits diese sofort einer kritischen Prüfung unterziehen.

Was man dann erhält, ist aber nie und nimmer eine wahre Theorie, sondern nur eine »wahrheitsähnliche Theorie«, denn es könnte ja morgen oder in 200 Jahren ein Beispiel gefunden werden, das auch diese widerlegt. Diese Methode des »Trial and Error«, also das Wechselspiel von Theorie – Prüfung – Falsifikation – Modifikation bezeichnet Popper als evolutionäre Erkenntnistheorie, bei der die Theorie immer wahrheitsähnlicher wird.

Interessant in diesem Zusammenhang ist die Tatsache, dass Popper als vehementer Kritiker Platons auftritt und ihm vorwirft, dass er ein geschlossenes Gedankengebäude geschaffen habe, auf dem andere später ihre geschlossenen, totalitären Gesellschaftssysteme aufbauten. Dabei kann man doch die Dialoge, deren Platon sich bedient, durchaus auch im Sinne Poppers deuten. So ist es zumeist Sokrates, der die Zuverlässigkeit der Aussage kritisch hinterfragt:

Da sah sie [Kebes und Simmias] Sokrates an und fragte: Wie? Euch dünkt doch nicht etwa das Gesagte noch mangelhaft gesagt zu sein? Denn es gibt wohl noch viel Bedenken und Einwendungen dabei, wenn einer es ganz genau durchnehmen will.14

Sehr schön, sagte Simmias; also will ich dir sagen, was für Zweifel ich habe, und dann auch dieser, wiefern er das Gesagte nicht annimmt. Denn ich denke über diese Dinge, o Sokrates, ungefähr wie du, dass etwas Sicheres davon zu wissen in diesem Leben entweder unmöglich ist oder doch gar schwer; aber was darüber gesagt wird, nicht auf alle Weise zu prüfen, ohne eher abzulassen, bis einer ganz ermüdet wäre vom Untersuchen nach allen Seiten, dass das einen gar weichlichen Menschen verrät. Denn eines muss man doch in diesen Dingen erreichen, entweder, wie es damit steht, lernen oder finden oder, wenn dies unmöglich ist, die beste und unwiderleglichste der menschlichen Meinungen darüber nehmen und darauf wie auf einem Notkahn versuchen durch das Leben zu schwimmen, wenn einer nicht sicherer und gefahrloser auf einem festeren Fahrzeuge, einer göttlichen Rede, reisen kann.15

Das, was bei Platon Meinung heißt, könnte auch mit vorläufiger Hypothese übersetzt werden, die zu einer bestimmten Zeit die unwiderleglichste Interpretation ausmacht. Dem Notkahn, der für die zweitbeste Fahrt steht, entspricht nicht die absolute Wahrheit, sondern die Wahrheit im Prozeß ihrer Ausgestaltung. Die Dialogform dient Platon der ständigen Wahrheitssuche, oder besser gesagt, der ständig weiteren Annäherung an die Wahrheit.

So gesehen besteht zwar ein Unterschied zwischen Platon und Popper in der Wahl der Worte und Begriffe, der Beispiele und Fragestellungen; davon abgesehen gibt es eine weitgehende Methodenübereinstimmung. Daher ist es für mich nur schwer verständlich, wie ein so belesener und kritischer Geist, wie Popper es war, diese offensichtliche Parallele übersehen hatte können. Möglicherweise paßte sie ihm nicht in sein Konzept, mit seinem Buch den antifaschistischen Kampf zu unterstützen. Dies wäre zwar aus der damaligen weltpolitischen Situation heraus verständlich, aber danach nur schwer zu rechtfertigen.

Vielleicht löst sich der (scheinbare) Widerspruch in den Theorien Platons und Poppers im Hegel’schen Sinne auf: Dann wäre der Dialektiker Platon ein kritischer Rationalist und Popper ein Dialektiker, was auch Döring als Frage aufwirft:

Ob Marx selbst ein real existierender Marxist gewesen wäre oder Hegel als ein Vorbild des linken oder rechten Hegelianismus hätte bezeichnet werden können, ist jedenfalls eine Streitfrage, mit der man sich genauso beschäftigen kann wie mit der Frage, ob vielleicht Popper ein Dialektiker gewesen sei, der dies nur nicht bemerkt habe.16

14 Platon: Phaidon, 84c

15 Platon: Phaidon, 85b–d. – Hervorhebung von mir

16 Döring: Karl R. Popper: »Die offene Gesellschaft und ihre Feinde«, S. 100 – Hervorhebung von mir

2.4 Das Abgrenzungsproblem

Für Popper wird damit auch das sogenannte Abgrenzungsproblem gelöst. Die Naturwissenschaft wird von der Metaphysik dadurch abgegrenzt, dass es bei naturwissenschaftlichen Aussagen prinzipiell möglich ist, sie einer empirischen Falsifikation zu unterwerfen, was bei metaphysischen Aussagen nicht möglich ist.

Interessanterweise ist aber offensichtlich diese Grenze bei weitem nicht so starr, wie es Popper vermutet. Die Astrologie zählt seit jeher weder zu den Natur- noch zu den Sozialwissenschaften, dennoch konnte Sachs in seinem Buch den wissenschaftlichen Nachweis eines Zusammenhanges von Sternzeichen und menschlichem Verhalten nachweisen.17

17 Siehe Gunter Sachs: Die Akte Astrologie. Wissenschaftlicher Nachweis eines Zusammenhanges zwischen den Sternzeichen und dem menschlichen Verhalten. München 31997

2.5 Der Gehalt einer Theorie

Laut Popper wird der Gehalt einer Theorie doppelt bestimmt: der »logische« Gehalt ist die Menge aller Sätze, die aus einer Theorie ableitbar sind; ihr »informativer« Gehalt ist die Menge der Sätze, die mit der Theorie unvereinbar sind. Damit ist eine Theorie umso reicher, je mehr Möglichkeiten zu Kritik und Falsifizierung sie bietet.

Somit gibt es zwischen dem empirischen Gehalt und der Falsifizierbarkeit einer wissenschaftlichen Aussage eine positive Korrelation: Je gehaltvoller eine Aussage ist, desto leichter ist sie falsifizierbar.18 Dabei ist streng zwischen der Falsifizierbarkeit als logischer Eigenschaft einer Aussage und ihrer tatsächlichen Falsifikation zu unterscheiden.19

18 Siehe Popper: Logik der Forschung. 1935

19https://wirtschaftslexikon.gabler.de/definition/informationsg ehalt-38322 2021-10-25

2.6 Das 3–Welten–Modell

In der abendländischen Philosophie herrschen dualistische Weltbilder vor, also die Auffassung, dass die Realität durch zwei entgegengesetzte, aber jeweils für sich selbständige Prinzipien aufgebaut wird (Gut und Böse, Mensch und Natur, Geist und Materie, Gott und Welt, etc.). Im Dualismus wird die Unvereinbarkeit der Gegensätze gegenüber ihrem Zusammenfallen, ihrer Identität verabsolutiert. Es kann daher keine durchgehende Theorie der Realität geben, weil diese in zwei unvereinbare Teile zerfällt.

Daneben gab und gibt es aber auch monistische Systeme, die behaupten, die Welt sei auf einen einzigen Urstoff oder ein einziges Prinzip zurückzuführen. Dazu gehören Vertreter der milesischen Naturphilosophen, wie Thales von Milet, der das Wasser als Urstoff, Anaximander, der das Apeiron (Unendliche) als Urprinzip und Anaximenes, der die Luft als Urstoff betrachtete. Andererseits kann es auch die Psyche, der Geist, Gott oder die Materie sein, wie z.B. beim Deutschen Monistenbund, der sich seit Anfang des 20. Jahrhunderts die Pflege eines wissenschaftlich-monistisch-materialistischen Weltbildes zum Ziel gesetzt hat.

Popper hat diesem Dualismus und Monismus die Anschauung einer dreigeteilten Welt entgegengesetzt. Diese Drei-Welten-Lehre ist ansatzweise auch schon bei Platon zu finden, dessen Welt der Formen und Ideen eine objektive, unabhängige dritte Welt ist, die neben der physikalischen Welt und der Welt des Bewusstseins existiert. Popper beschreibt seine drei Welten folgend:

Welt 1 nenne ich die Welt der Körper im physischen Sinn, also die Welt, die die Physik beschreibt und die Astronomie, die Chemie, die Biologie. Welt 2 nenne ich die Welt unserer persönlichen, subjektiven Erlebnisse und unserer Hoffnungen, Zielsetzungen, unserer Leiden und Freuden, unserer Gedanken im subjektiven Sinn. Welt 3 nenne ich die Welt der Ergebnisse unserer Gedankenarbeit, die Welt vor allem der sprachlich oder schriftlich formulierten Gedanken und die Welt der Technik und die der Kunst.

Welt 3 ist also die Welt der Produkte des menschlichen Geistes. Das ist nichts als eine Terminologie, die ich eingeführt habe, und sie ist nicht einmal neu. Neu ist die These, dass unsere Psyche, unser Denken, unser Fühlen, also unsere Welt 2, unsere psychische Welt sich in Wechselwirkung mit den beiden anderen Welten entwickelt, also insbesondere in Wechselwirkung mit der von uns selbst erschaffenen Welt 3, der Welt der Sprache, der Welt der Schrift und vor allem der Welt der Denkinhalte; der Welt des Buches, aber auch der Welt der Kunst, der Welt der Kultur.20

Diese Welt 3, die den Menschen vorbehalten ist, entwickelt sich analog der Entwicklung des Bewusstseins der Menschen. Stellt sich die natürliche Auslese und der Selektionsdruck bei den Pflanzen und Tieren teilweise als recht gewaltsamer Kampf ums Dasein dar, so …

… ändert sich [das] mit der Emergenz des Bewusstseins, der Welt 3 und der Theorien. Wir können jetzt unsere Theorien den Kampf ausfechten lassen – wir können unsere Theorien sterben lassen, an unserer Stelle. Vom Standpunkt der natürlichen Auslese aus besteht die Hauptfunktion des Bewusstseins, der Welt 3 und der Theorien darin, dass sie die Anwendung der Methode von Versuch und Irrtumsausschaltung ohne die gewaltsame Beseitigung unserer selbst ermöglichen: Darin liegt der große Überlebenswert des Bewusstseins und der Welt 3. Mit der Emergenz des Bewusstseins und der Welt 3 überwindet die natürliche Auslese und ihr ursprünglich gewaltsamer Charakter sich selbst. Mit der Emergenz von Welt 3 braucht die Auslese nicht mehr länger gewaltsam zu sein: Wir können falsche Theorien durch gewaltlose Kritik beseitigen. Gewaltlose kulturelle Evolution ist nicht nur ein utopischer Traum; sie ist vielmehr ein mögliches Ergebnis der Emergenz des Geistes durch die natürliche Auslese.21

Darüber hinaus können in der menschlichen Evolution nicht nur unbrauchbare Theorien anstelle von unbrauchbaren Lebensformen sterben. Es können auch praktikable Theorien (Lösungsansätze) von einem anderen Menschen übernommen werden, ohne dass sie genetische Nachkommen dieses einen Menschen sind. Andererseits müssen gute, bessere, leichtere oder neue Theorien auch nicht aufgenommen werden. Es gibt genügend Beispiele, dass z.B. Entdeckungen und Erfindungen, die groß gefeiert wurden, oft schon viele Jahre, ja sogar Jahrhunderte und Jahrtausende vorher gemacht wurden. Zum Zeitpunkt ihrer Entdeckung blieben einige erfolglos, da niemand einen Wert oder einen Vorteil darin gesehen hatte, oder andere wurden nach einer gewissen Zeit der Anwendung und des Erfolges einfach wieder vergessen. Hier eine kurze Zusammenstellung ein paar eindrucksvoller Beispiele:22

Den zündenden Funken für unsere technologische Zivilisation gab die Dampfmaschine. Von ihrer primitiven Vorstufe im Jahr 1690 bis zur bemannten Mondlandung vergingen gerade 279 Jahre… Unbegreiflich ist, dass der Funke nicht schon bei den Römern des Altertums zündete. Im Grundwissen dem Jahr 1690 teilweise voraus, kannten auch sie schon eine Dampfmaschine.

Diese allererste Dampfmaschine wurde von dem griechischen Mathematiker Hero in Alexandria konstruiert, komplett, mit mindestens zwei funktionierenden Modellen. Hero lebte unter dem römischen Kaiser Titus (39–81 n.Chr.). Sogar über die Grundzüge ausgereifter Maschinen war sich Hero bereits im Klaren: Dampfkessel, Kolben in Zylindern, Klappventile. Und seine Erfindung war weit bekannt. Er bot an, damit tonnenschwere Tempeltore hochzuziehen und abzusenken… Aber Heros Dampfmaschine wurde in Rom total übersehen. Dabei waren die Römer weitblickende Ingenieure, darauf spezialisiert, Erfindungen anderer Nationen systematisch auszuwerten… Sie [die Römer] vergaßen auch ihre geniale Erfindung namens Beton… Erst 1796 erfand der englische Fabrikant James Parker das graue Pulver von neuem.