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Autonomes und lebenslanges Lernen, sind die beiden pädagogischen Grundprinzipien der Juden schlechthin. Sie haben im Judentum einen mindestens zweitausendjährigen erfolgreichen Praxistest hinter sich. Obwohl heute in der pädagogischen Literatur oft gefordert, werden sie noch immer viel zu selten und wenig effizient umgesetzt. Hier könnte viel in kurzer Zeit bewegt werden, würde man die bewährte Methode übernehmen. Dabei gäbe es allerdings ein Problem: Diese beiden Grundwerte werden den jüdischen Kindern von ihren Müttern bereits mit der Muttermilch verabreicht. Man müsste also zuerst die Eltern erziehen. (Goethe in Zahme Xenien: "Man könnt' erzogene Kinder gebären, wenn die Eltern erzogen wären.") Ergänzt werden die Ausführungen noch durch die Rollenfunde vom Toten Meer, die uns Einblicke in das jüdische Leben in der Zeit um Christi Geburt geben, die 2000 Jahre unverändert erhalten geblieben sind und daher keinerlei Zensur oder "Verschlimmbesserung" unterworfen waren.
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Seitenzahl: 263
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Ich danke allen Menschen,
die dazu beigetragen haben,
dass dieses Buch erscheinen konnte.
Ich widme dieses Buch allen Menschen,
die sich nicht vorschreiben lassen wollen,
was sie glauben sollen.
Vorwort zur 3. Auflage
Vorbemerkungen
1.
Einleitung
2.
Grundlagen der Erziehung
2.1 Historische Grundlagen
2.2 Sozio-kulturelle Grundlagen
2.3 Das Wertsystem
2.4 Das politische System
2.5 Das wirtschaftliche System
2.6 Das soziale System
3.
Die Schüler
3.1 Altersgliederung
3.2 Kleinkindalter
3.3 Schulalter
3.4 Jugendalter
3.5 Erwachsenenalter
3.6 Greisenalter
3.7 Mädchen- und Frauenbildung
4.
Die Lehrer
4.1 Die Mutter als Lehrerin
4.2 Der Vater als Lehrer
4.3 Der Kinderlehrer (Chasan)
4.4 Der Schriftgelehrte (Tanna, Rabbi)
4.5 Der Prophet (Nabi)
5.
Die Schule
5.1 Die Synagoge als Ort des Lernens
5.2 Die Vorschule (Bet ha sefer)
5.3 Die Primarstufe (Bet ha midrasch)
5.4 Die Sekundarstufe (Bet ha talmud)
5.5 Die Hochschule (Jeschivah)
5.6 Die Fernschule (Kallah)
6.
Bedeutende Pädagogen
6.1 Der Lehrer der Gerechtigkeit (Gründer der Essener)
6.2 Simon b. Schetach (Oberschulwesen)
6.3 Hillel I., "der Alte" (Schriftgelehrter)
6.4 Schammaj "der Alte" (Schriftgelehrter)
6.5 Johannes der Täufer
6.6 Jesus von Nazareth
6.7 Philo von Alexandria
6.8 Paulus von Tarsus
6.9 Gamaliel I., der Alte (Schriftgelehrter)
6.10 Josua b. Gamaliel (allgem. Grundschulen)
6.11 R. Johannan b. Sakkai (Gründer der Akademie von Jabne)
6.12 Rabbi Akiba (Schriftgelehrter)
6.13 Rabbi Meir (Schriftgelehrter)
6.14 R. Juda ha-Nasi (Begründer der Mischna)
7.
Die Bildungsinhalte
7.1 Allgemeines
7.2 Die Bücher und Schriftrollen
7.3 Der Talmud (Lehre)
7.4 Gesellschaftlicher Bereich
7.5 Ökonomischer Bereich
7.6 Wissenschaftlich-philosophischer Bereich
7.7 Kunst und Kultur
7.8 Medizin
8.
Die Methoden
8.1 Allgemeines
8.2 Spezielle Methoden
8.3 Erfolgskontrolle
8.4 Disziplinarische Mittel
9.
Sonderformen der jüdischen Pädagogik
9.1 Allgemeines
9.2 Samaritanische Pädagogik
9.3 Sadduzäische Pädagogik
9.4 Pharisäische Pädagogik
9.5 Nomadische Pädagogik
9.6 Alexandrinische Pädagogik
10.
Die Essener
10.1 Entstehung und Verbreitung
10.2 Die Schriftfunde vom Toten Meer
10.3 Die Organisation der Essener
10.4 Die Besonderheiten der Essener
11.
Zusammenfassung
Glossarium
Abkürzungen
Die 1. Auflage dieses Buch ist Anfang der neunziger Jahre in einer kleinen Auflage erschienen. Aufgrund der heutigen neuen Publikationsmöglichkeiten habe ich mich dazu entschlossen, diesen Text einem größeren Publikum zugänglich zu machen. Abgesehen von ein paar Korrekturen, und erweitert um einige Ergänzungen, entspricht diese 3. Auflage weitgehend den beiden bisherigen Auflagen. Ursprünglich hatte das Buch noch den Untertitel „Jüdische Erziehung und Unterricht in der Zeit um Christi Geburt unter besonderer Berücksichtigung der essenischen Schriftfunde vom Toten Meer“. Ich habe in der Neuauflage darauf verzichtet, da dies offensichtlich den Fokus zu sehr auf die damalige Zeit lenkte und die absolute Aktualität des Inhaltes in den Hintergrund rückte. Die Arbeit vereint einen historischen, einen theologischen und einen erziehungswissenschaftlichen Aspekt. Sie behandelt die Zeit des Übergangs vom Spätjudentum zum frühen Christentum und die damals begründete jüdische Pädagogik. Dies scheint auf den ersten Blick nur von historischem Interesse, stellt sich jedoch bei genauerer Betrachtung in zweifacher Weise als top aktuell heraus:
1. Aufgrund der Rollenfunde vom Toten Meer haben wir Einblicke in das jüdische Leben in der Zeit um Christi Geburt erhalten, die 2000 Jahre unverändert erhalten geblieben sind. Daher waren sie auch keinerlei Zensur oder „Verschlimmbesserung“ durch eine sich dem Judentum überlegen fühlende katholische Kirche unterworfen.
2. Die beiden pädagogischen Prinzipien der Juden schlechthin, nämlich die Anleitung zum selbständigen Lernen und das lebenslange Lernen – heute in der pädagogischen Literatur oft gefordert, aber noch viel zu selten und wenig effizient umgesetzt – haben im Judentum einen mindestens zweitausendjährigen erfolgreichen Praxistest hinter sich und könnten damit unverändert übernommen werden.
Es könnte viel in kurzer Zeit bewegt werden, würde man die bewährten Methoden übernehmen. Dabei gäbe es allerdings ein Problem: Diese beiden Grundwerte werden den jüdischen Kindern von ihren Müttern bereits mit der Muttermilch verabreicht. Man müsste also bei uns zuerst die Eltern erziehen.1
Wenn ich die Einschränkung "in der Zeit um Christi Geburt" meinem Thema beigefügt habe, so deshalb, weil dies effektiv ein Wendepunkt in der Weltgeschichte und in der Pädagogik ist. Hier wendet sich einerseits das Christentum vom Judentum ab und andererseits wendet sich das (rabbinische) Judentum nach der Zerstörung des Tempels in Jerusalem zwangsweise vom Tempelkult ab und der Institutionalisierung des lebenslangen und selbständigen Lernens zu. Damit wird dem Judentum das Überleben – speziell in der Diaspora – gesichert, gegen alle Widerwärtigkeiten und Verfolgungen in der Geschichte, besonders durch das Christentum. Dass diese Art des Lernens auch noch im 20. und 21. Jahrhundert der westlichen Bildung griechischrömischer Prägung weit überlegen ist, lässt sich am leichtesten daran ermessen, dass das jüdische Volk, gemessen an seiner Größe, den höchsten Anteil an Nobelpreisträgern hervorgebracht hat.
Ich möchte aber auch diesen Ausdruck "in der Zeit um Christi Geburt" nicht zu eng verstehen. Daher werde ich bei meinen Ausführungen einerseits teilweise über den engeren Bereich, also die Zeit des ersten Jahrhunderts vor und nach Christus, hinausgehen und zurückgreifen bis zu den Anfängen des Judentums, da dort teilweise schon entscheidende Weichenstellungen stattgefunden haben. Andererseits werde ich aber auch vorgreifen bis ins Mittelalter und die Neuzeit, da, wie schon oben erwähnt, die jüdischen pädagogischen Prinzipien von ungebrochener Aktualität sind.
Um die wichtigsten Ereignisse aus 4000 Jahren jüdischer Geschichte schnell zuordnen zu können, habe ich die folgende kurze Zusammenstellung beigefügt. Da sich nicht einmal die Fachleute einig sind, führe ich hier sowohl die sogenannte Frühals auch die Spätdatierung des Auszugs an.2
Eine ausführliche Abhandlung der Exodus-Frage findet sich in meinem Buch: „EXODUS – Der mehrfache Auszug der Juden aus Ägypten nach biblischen, außerbiblischen und altägyptischen Quellen“, welches im selben Verlag erschienen ist.
Frühdatierung
Spätdatierung
2165–1990 v.Z.
3
1990–1815 v.Z. Abraham
2005–1858 v.Z.
1830–1683 v.Z. Jakob (Israel)
1914–1804 v.Z.
1739–1629 v.Z. Joseph
1875 v.Z.
1700 v.Z. Zug nach Ägypten
bis 1445 v.Z.
bis 1270 v.Z. Ägyptische Zeit
1445 v.Z.
1270 v.Z. Auszug aus Ägypten
1405 v.Z.
1190 v.Z. Landnahme
bis 1050 v.Z.
bis 1010 v.Z. Richterzeit
1008–965 v.Z.
1008–965 v.Z. David König beider Reiche
965–926 v.Z.
965–926 v.Z. Salomo König beider Reiche
960 v.Z.
960 v.Z. 1. Salomonischer Tempel
Israel und Juda
926 v.Z.
Trennung von Israel und Juda
723 v.Z.
Fall Samarias – Ende Israels
597 v.Z.
Nebukadnezar nimmt Jerusalem ein
586 v.Z.
Zerstörung des Tempels
537 v.Z.
Rückkehr und Bau des 2. Tempels
332 v.Z.
Alexander d. Gr. in Jerusalem
301–198 v.Z.
Palästina unter ägyptischer Herrschaft
198 v.Z.
Palästina wird syrisch (Seleukiden)
167 v.Z.
Aufstand der Makkabäer
≈ 150 v.Z.
Lehrer der Gerechtigkeit
63 v.Z.
Pompeius erobert Jerusalem
40–4 v.Z.
Herodes d. Große König von Judäa
≈ 7 v.Z.
Geburt Jesu
6 n.Z.
Judäa wird römische Provinz
≈ 30 n.Z.
Kreuzigung Jesu
70 n.Z.
Zerstörung des 2. Tempels
135 n.Z.
2. Jüdischer Aufstand
≈ 200 n.Z.
Mischnah abgeschlossen
≈ 300 n.Z.
Jerusalemer Talmud abgeschlossen
≈ 400 n.Z.
Abschaffung des Patriarchats
≈ 550 n.Z.
Babylonischer Talmud abgeschlossen
≈ 600 n.Z.
Mohammmeds Bruch mit den Juden
≈ 800 n.Z.
Karäerbewegung
Die Daten von der Geburt und der Kreuzigung Jesu sind umstritten, eine völlig neue Lösung dafür kann ich in meinem Buch „Die Jesus Sensation – Die Entschlüsselung des essenischen Sonnenkalenders von Qumran und der Chronologie der Evangelien – Die Lösung des größten Rätsels der Menschheit“ anbieten, welches demnächst im selben Verlag erscheinen wird.
Da der Talmud und leider auch viele Aussagen der Bibel nur wenigen Menschen wirklich bekannt sind, und da ich nicht davon ausgehen kann, dass jemand, der diese Arbeit liest, auch gleich eine Ausgabe des Talmud zur Hand hat, oder sich auch nur die Mühe macht, jede zitierte Stelle in der Bibel nachzuschlagen, erachte ich es als notwendig und hilfreich, viele Stellen, besonders aus dem Talmud, aber auch aus der Bibel, im Originalwortlaut zu zitieren.
Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang auch die Tatsache, dass die Autoren den Talmud, mit seinen 2720 Blättern, in einer Sprache niedergeschrieben haben, die in äußerst knappen Worten, trotzdem allgemeinverständlich, das Wissen der damaligen Zeit umfasst. Diese Sprache des Talmuds kann, bis auf wenige uns nicht mehr verständliche Fachausdrücke und Situationen, auch heute noch jeder durchschnittlich gebildete und interessierte Leser verstehen.
Bedenkt man weiters, dass der Talmud der Ausfluss von 600 Jahren Gesetzgebung und Rechtsauslegung ist und überdies weitere 1000 bis 1500 Jahre Gültigkeit hatte, und vergleicht dies mit der heutigen Gesetzesproduktion (in Österreich von 1945 bis 1993 immerhin rund 120.000 (!) Seiten, ohne oberstgerichtliche Entscheidungen), so kann man vielleicht die Kürze und Prägnanz der Formulierungen erahnen, von der Lesbarkeit und der Verständlichkeit einmal vollkommen abgesehen.
Ein treffendes Beispiel führt Arye Ben-David im Vorwort zu seiner "Talmudischen Ökonomie" an:4
„Man findet im Munde der Gelehrten volkswirtschaftliche Gesetze in lakonischer Kürze und Präzision der Formulierung. Das soll an einem Beispiel illustriert werden: Rabbi Akiba konnte die Preisbildung am Markte, durch Steigen und Fallen von Angebot und Nachfrage geregelt, in nur fünf Worten ausdrücken: 'Riba venithma' et choser ha-schuk lemekomo' (Talm. bab. Thosphtha Demaj IV-13) das heißt in ausführlicher Übersetzung: 'Die Mengen des zum Markte gebrachten Getreides wurden größer und nahmen wieder ab, so kehrte der Markt (will sagen die Preise am Markte) wieder zu seinem alten Platze/Stand zurück'. Eine geradezu klassische Formulierung in der denkbar kürzesten Form.“
Diesem Vorbild habe auch ich nachgeeifert und versucht, unter Beibehaltung der wissenschaftlichen Genauigkeit, meine Ausführungen über die jüdische Erziehung in einer verständlichen und lesbaren Sprache zu schreiben.
1 Vgl.: J. W. Goethe: Zahme Xenien IV., 1113-1114 „Man könnt' erzogene Kinder gebären, wenn die Eltern erzogen wären.“
2 Zitiert nach: Lexikon zur Bibel (1991) Anhang Zeittafel
4 Ben-David: Talmudische Ökonomie (1974) S.XX
Transkription
Wenn man über jüdische Pädagogik arbeitet, ist es unumgänglich, verschieden hebräische, aramäische, griechische und jüdische (jiddische) Fachausdrücke zu verwenden. Es gibt jedoch bei der Transkription von Autor zu Autor Unterschiede.
Da ich aus verschiedenen Quellen zitiert habe, war es mir nicht möglich, eine einheitliche Transkription zu verwenden. Häufige Unterschiede sind beim hebräischen "Alef" und "h" zu finden, bei "t/th", "ph/f", "s/sch", "b/w/v", "i/j", "k/q" und weiters bei den Vokalen, da ursprünglich nur die Konsonanten geschrieben wurden.
Der masoretische Text der Bibel, also jener mit der durch Punkte kenntlich gemachten Vokalisation, entstand z.B. erst zwischen dem 7. und 11. Jhdt. n.Z. Weitere Differenzen ergeben sich aus hebräischen, griechischen, lateinischen und deutschen Endungen. Einige Beispiele mögen dies veranschaulichen:
Anan – Anani – Ananja – Ananus – Hanan – Hanani – Hananja
Tora – Thora – Torah – Thorah
Synhedrin – Sanhedrin – Synedrion
Aboda-zara – Awoda sara
Agada – Aggada – Hagada – Haggada
Glossarium
Um den Lesefluss nicht zu unterbrechen, andererseits aber die vielen Fachausdrücke zu erklären, habe ich ein Glossarium am Ende beigefügt. Soweit es mir notwendig erschien, habe ich die einzelnen Ausdrücke beim ersten Auftreten, oder im zugehörigen Kapitel genauer erklärt. Ebenso habe ich im Kapitel „Bedeutende Pädagogen“ kurz das Leben und Wirken der wichtigsten pädagogischen Persönlichkeiten dargestellt.
Abkürzungen
Neben den allgemein gebräuchlichen Abkürzungen, inklusive der der biblischen Schriften (siehe Liste am Ende des Buches) habe ich folgende verwendet:
R.
Rabbi, Titel, entspricht in etwa unserem Dr.
b.
ben (hebräisch) oder bar (aramäisch) „Sohn des ...“
Talm. bab.
Babylonischer Talmud, mit der ungekürzten Bezeichnung der Abhandlung und der üblichen Nennung der Traktate
Talm. jer.
Jerusalemer Talmud, mit der ungekürzten Bezeichnung der Abhandlung und der üblichen Nennung der Traktate
v.Z./n.Z.
v.Chr./n.Chr. – die Juden verwenden heute vielfach den gregorianischen Kalender mit dem Zusatz "vor" und "nach" der Zeitrechnung
Über jüdische Pädagogik zu arbeiten und zu schreiben ist allem Anschein nach kein großes Bedürfnis und wurde auch bisher in Österreich von niemandem gemacht.
So ist in der Bibliographie der Dissertationen über Judentum und jüdische Persönlichkeiten, die 1872–1962 an Österreichischen Hochschulen (Wien, Graz, Innsbruck) approbiert wurden5 , die immerhin über 500 Dissertationen auflistet, keine einzige enthalten, die von jüdischer Pädagogik handelt. Lediglich in drei Dissertationen kann man im weitesten Sinne etwas Pädagogisches erkennen:
Freistadt, Benedikt: "Die Ethik der Pirque Aboth als Paradigma einer Ethik des Judentums", Wien: Phil. Diss. 1920 (Exemplar ist allerdings in Wien nicht mehr vorhanden!)
Speigl, Josef: "Die Entfaltung der alttestamentlichen Weisheitslehre im Buche der Weisheit", Graz: Theol. Diss. 1937
Trummer, Emmerich: "Die Lehrweise der Schriftpropheten", Graz: Theol. Diss. 1960
In vielen neueren historisch pädagogischen Werken ist die jüdische Erziehung überhaupt nicht erwähnt. Was die Antike betrifft, so werden dort lediglich die römische und griechische Pädagogik, allenfalls noch die ägyptische und die babylonische angeführt.
Ein etwas breiterer Raum wird ihr in den älteren Werken, die um 1900 oder davor erschienen sind, gewidmet, doch spürt man hier ganz deutlich den katholischen Zensor, wie er dem Autor über die Schulter blickt. Die alttestamentliche Zeit wird hochgelobt, schließlich war sie ja die Vorstufe zum Christentum. Für die Zeit nach Christi Geburt wird dann ein 180-gradiger Schwenk vollzogen und alles Weitere rundweg abgelehnt. Was sich dann etwa so anhört:
"Wir finden kein Volk, in welchem das Band zwischen Eltern und Kindern höher und fester geknüpft wäre, als die Israeliten (...) Daher finden wir auch kein Volk, in welchem das Familienleben heiliger gehalten wurde (...) so finden wir doch in den alttestamentlichen Schriften eine gewaltige Summe von kerngesunden pädagogischen Grundsätzen und Vorschriften, die unvergänglichen Wert behalten (...) man lese nach dieser Richtung hin nur die sogenannten Lehrbücher oder didaktischen Schriften (...) sie sind Weisheitsbücher im wahrsten Sinne des Wortes."6
Eine Lobeshymne, zu der man sich auch als nüchterner Wissenschaftler des 20. Jahrhunderts hinreißen lassen könnte, wenn man sich ausgiebig mit der jüdischen Erziehung befasst. Doch wie sieht die Konklusio aus? – Alle Hervorhebungen in den Zitaten durch Fettschrift von mir.
"... ganz besonders seit dem 1. vorchristlichen Jahrhundert (...) nahmen alle jüdischen Einrichtungen den Charakter starrer Ausschließlichkeit an, und die religiösen Anschauungen wurden zu einem einseitigen, verknöcherten Systeme ausgebildet. Es entstand eine Richtung, welche in Religion und Moral lediglich das Äußere, die Form beobachtete und in der Erklärung der Schrift den Buchstaben höher stellte als den Geist. Diese Richtung vertraten die Pharisäer; in ihnen hatte 'das entartete, geistlose, an Formen klebende Judentum seinen Körper bekommen, aber einen Körper, der gleich dem in ihm wohnenden Geiste zum Tode reif war.' (...) Wohlthätige Einwirkungen auf das Volks- und Familienleben, auf die Sittlichkeit waren von ihnen nicht mehr zu erwarten."7
"(...) das ganze Alte Testament eigentlich eine Erziehungsinstitution im höchsten Sinne ist und im Leben des zur Heiligung berufenen Volkes die pädagogische Tendenz sich überall von selbst versteht, so gelangen bestimmte pädagogische Grundsätze und Regeln nur gelegentlich zum Ausdruck."8
"Von Natur ist nun das Kind nicht geneigt, den höheren göttlichen und menschlichen Ordnungen sich zu fügen. Darum kommt es vor allem darauf an, dass sein natürlicher sündiger Eigenwille gebrochen und unter den Gehorsam gegen das höhere Gesetz gebeugt werde: 'Torheit steckt dem Knaben im Herzen, aber die Rute der Zucht treibet sie aus' (Sprüche 22,15)."9
"Wenn der Israelit früher sich harmlos dem Genusse des Lebens hingegeben hatte, so war dieser Reiz im Exile geschwunden, und sein Geist beschäftigte sich mit Vorliebe mit abstrakten Problemen, welche ihm der Vergleich zwischen Einst und Jetzt aufdrängte (...) Die zahlreichen Werke, die in der Zeit des Exils entstanden, tragen deutlich den Stempel ihres Ursprungs an sich und verfolgen hauptsächlich das Ziel, das Volk aufzurichten, zu trösten und für eine bessere Zukunft zu erziehen; sie sind größtenteils pädagogische Schriften."10
"Betrachten wir zum Schlusse die Stellung und Bedeutung, welche das Volk Israel in der Geschichte der Pädagogik hat. Vor allem dankt ihm die Menschheit und die Erziehung die Ausbildung der monotheistischen Religion (...) Selbst die wissenschaftliche Forschung stand durch Jahrhunderte lang im Abendlande unter dem Einflusse der Bibel. In ihr suchte man die Quelle alles Wissens, über welches hinauszugehen als ein Frevel gegen Gottes Wort betrachtet wurde."11
"Es gehört zu den merkwürdigen Paradoxien der Weltgeschichte, dass die neueren Kulturnationen das heilige Buch eines Volkes, dessen Angehörige sie verachteten und verfolgten, dennoch andachtsvoll übernahmen (...) Liest man unbefangen heute die Bibel, so rollt sich hier eine düstere, blutige Vorzeit auf, über der die Gestalt Jahwes nur selten als gütiger Vater, zumeist als eifriger und rächender Gott schwebt. (...) und dass Jahwe, der nach der Überlieferung die Welt geschaffen haben soll, selbst die langwierige Schöpfung vieler Generationen von Propheten und Priestern ist, die ihn als einzigen herausgehoben aus buntem Polytheismus und ihn allmählich erst von einem kleinen Gaugott mit beschränkter Machtsphäre zum Weltenherrscher erhoben (…) Im Gegensatz zum Bildungsgut der Ägypter, Babylonier und Griechen hören wir so gut wie nichts von mathematischen, astronomischen, naturwissenschaftlichen Studien. Alles das ließ Jahwe nicht aufkommen, vermutlich darum, weil es im babylonischen Weltbild allzunahe mit dem zu bekämpfenden Götzendienst verquickt war. Lesen und Schreiben wurde gelernt, aber wohl wesentlich – außer zu praktischen Zwecken – zum Studium der heiligen Schriften." 12
Man beachte hierbei die zeitbedingte Ausdrucksweise in der letzten Abhandlung, welche im Jahre 1932 erschienen ist: 'kleiner Gaugott' und weiter oben, im Jahre 1898 von einem Prälaten verfasst: 'das entartete, geistlose, an Formen klebende Judentum seinen Körper bekommen, aber einen Körper, der gleich dem in ihm wohnenden Geiste zum Tode reif war.'
Das einzige umfassende neuere Werk über jüdische Pädagogik ist das als Band 14 der Reihe 'Studien und Dokumentationen zur vergleichenden Bildungsforschung' im Beltz Verlag, Weinheim und Basel, 1980 erschienene Buch 'Die jüdische Tradition und das Konzept des autonomen Lernens' von Kurt Graff, dem Direktor des Zentralen Institutes für Fernstudienforschung an der Fernuniversität Hagen. Wolfgang Mitter, der Herausgeber dieser Reihe, schreibt dazu im Vorwort:
„An einem wichtigen Thema europäischer und universaler Bildungsgeschichte, nämlich dem der jüdischen Tradition, exemplifizierte der Verfasser die aktuelle Bedeutung des Konzepts autonomen Lernens mit seinen sozialen und kulturellen Determinanten und Problemen. Die Studie verbindet historische und interkulturell vergleichende Fragestellungen ebenso wie zwei Ansätze, indem sie einmal nach der Einmaligkeit der 'jüdischen Tradition' und zum anderen nach der systematischen Verallgemeinerbarkeit der ermittelten und interpretierten Besonderheiten fragt."13
Ich habe mich bei den entsprechenden Kapiteln meiner Untersuchung auf diese hervorragende Arbeit gestützt. Wesentlich für das Verständnis, wie es zu dieser Sonderentwicklung der jüdischen Pädagogik gekommen ist, ist die von mir untersuchte Zeit um Christi Geburt. Den Nährboden dafür bildeten die politischen, religiösen und wirtschaftlichen Gegebenheiten der damaligen Zeit.
5 Bihl Bibliographie der Dissertationen über Judentum und jüdische Persönlichkeiten, die 1872–1962 an Österreichischen Hochschulen (Wien, Graz, Innsbruck) approbiert wurden. (1965)
6 Kappes: Lehrbuch der Geschichte der Pädagogik (1898) S.57–65
7 Kappes: Lehrbuch der Geschichte der Pädagogik (1898) S.66
8 Schmid: Geschichte der Erziehung vom Anfang an bis auf unsere Zeit (1884) S.304
9 Schmid: Geschichte der Erziehung vom Anfang an bis auf unsere Zeit (1884) S.313
10 Dr. Karl Schmidt: Geschichte der Pädagogik (1886) S.323
11 Dr. Karl Schmidt: Geschichte der Pädagogik (1886) S.344f
12 Prof. Dr. R. Müller-Freienfels: Bildungs- und Erziehungsgeschichte (1932), S.117ff
13 Graff: Die jüdische Tradition und das Konzept des autonomen Lernens (1980) Vorwort S.V
Betrachtet man die historischen Grundlagen der jüdischen Erziehung, so kommt man unweigerlich auf das Fünfbuch Moses. Moses, der als der Prophet schlechthin bezeichnet wird, ist, obwohl selbst Levit und nicht Jude, der jüdische Gesetzgeber schlechthin, und gilt neben Salomo auch als einer der Begründer der jüdischen Gelehrsamkeit.
Hellenistische Juden stellen ihn sogar als Vater aller Wissenschaft und Bildung dar. Nach Eupolemos14 ist Moses der Erfinder der Buchstabenschrift, welche von ihm erst zu den Phöniciern und von diesen zu den Hellenen gelangt ist.15
Gerade da im mosaischen Glauben, als einer Offenbarungsreligion, eben diese göttlichen Offenbarungen erst gesprochen und dann niedergeschrieben, also in Wortform übermittelt wurden, und da alle gegenständlichen Götterbildnisse verboten sind16, nimmt das Wort17 eine zentrale Stellung im Leben der Israeliten ein.
Es ist inzwischen hinlänglich bekannt, dass das Fünfbuch Moses, also der Pentateuch so wie dieser auf uns gekommen ist, nicht von Moses selbst stammt, sondern das Werk vieler Generationen von Priestern und Schriftgelehrten ist. Diese Bücher wurden mehreren Redaktionen und Kompilationen unterworfen, bis sie die heute bekannte Form bekamen.
Lässt man vorerst beide Schöpfungsberichte beiseite, da aus babylonisch-sumerischen Quellen, so ist es durchaus glaubhaft, dass der historische Moses Traditionsgut der vergangenen 400 Jahre, seit Abraham, zusammengefasst und adaptiert hatte.
So gehen die ersten Elemente des Dekalogs und des Bundesbuches zurück auf die Zeit des Auszuges aus Ägypten, der der älteren Chronologien zufolge auf die Zeit um 1335 v.Z. datiert wurde, nach den neuesten Datierungen der 19. ägyptischen Dynastie aber während der Regierungszeit Pharao Merenptahs zwischen 1224–1211 v.Z. erfolgt sein muss. Einen völlig neuen Ansatz der Datierung des Auszugs aus Ägypten habe ich in meinem Buch „EXODUS – Der mehrfache Auszug der Juden aus Ägypten nach biblischen, außerbiblischen und altägyptischen Quellen“, welches im selben Verlag erschienen ist, herausgearbeitet.
Die erste Redaktion der Bücher Genesis und Exodus erfolgte unter den Nachfolgern König Salomos (Jerobeam und Omri im Nordreich, Rehabeam im Südreich) in der Zeit um 900 v.Z.; Kurz danach entstand die erste Fassung eines Teiles der historischen Bücher der Bibel.
Das Deuteronomium, als letztes der fünf Bücher Moses, wurde erst im 7. Jahrhundert verfasst. Die letzte Redaktion der Thora und das Ordnen der geschichtlichen und prophetischen Bücher wurden dann zur Zeit der zweiten Restauration unter Esra und Nehemia in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts durchgeführt.
Das Buch Daniel wurde als letztes der kanonischen Bücher geschrieben und stammt aus der Zeit der Bedrängnis unter dem Seleukidenherrscher Antiochos IV. Epiphanes (175 – 164 v.Z.). Aufgebaut ist es so, dass der Leser meint, dass ein Jude im babylonischen Exil, also rund 400 Jahre früher, eine – scheinbar sehr exakte – prophetische Schau auf die nächsten Jahrhunderte hatte.
"Die von ihm verfaßten Schriften werden noch heute bei uns gelesen und beweisen, dass Daniel im Verkehr mit Gott gestanden hat. Denn er sagt nicht bloß, wie andere Seher, die zukünftigen Ereignisse voraus, sondern bestimmt auch die Zeit, wann sie eintreffen werden (...) Und wirklich ist das alles unter Antiochus Epiphanes über unser Volk hereingebrochen, wie Daniel es vorausgesehen und viele Jahre vorher schon aufgezeichnet hatte."18
Nun wissen wir aber aufgrund der modernen Textkritik, dass diese Schrift die Geschichte der damals vergangenen 400 Jahre in Form von Prophezeihungen dargestellt hatte, die ja alle eingetroffen waren, um für die damalige Zukunft mittels (Pseudo-) Prophezeiungen Politik zu machen und den Widerstand gegen die Seleukiden anzufeuern.
Genau diese gefälschte Abfassungszeit hat auch Porphyrios 19 exakt erkannt und den Christen vorgeworfen. Dieses Danielbuch ist ein wunderbares Beispiel für die Verquickung und Untrennbarkeit von Religion, Politik, Propaganda und psychologischer Kriegsführung bei den alten Juden.
Alle heiligen Schriften wurden zu allen Zeiten eingesetzt in der Erziehung der Kinder und der Erwachsenen, sowie zur Beeinflussung der Volksmassen. Und diese waren damals die Grundlage der geistigen Landesverteidigung. In der hebräischen Bibel werden insgesamt hundert Kriegen berichtet 20 . Siehe auch mein Buch „Die unheilige Schrift – Die Kriminalgeschichte von Jahwe und seinem auserwählten Volk – oder – Was wirklich in der Bibel steht: Von der Schöpfung bis zum Auszug aus Ägypten“, welches im selben Verlag erschienen ist.
Die Makkabäerbücher sind von den später siegreichen Pharisäern verständlicherweise nicht in den Kanon aufgenommen worden, waren doch die damals siegreichen Hasmonäer (Makkabäer) in der Zeit des Kampfes gegen die Seleukidenherrschaft und in dem darauf folgenden Jahrhundert die unmittelbaren und heftig bekämpften Gegner der Pharisäer.
Nach einem Putschversuch der Pharisäer (um 88 v.Z.) kam es zu einer Schlacht mit den Truppen des verhassten Hasmonäerkönigs Alexander Jannäus. Der siegreiche Alexander rächte sich dann fürchterlich an jenen.
"... wo er eine ganz unmenschliche Freveltat ersann. Als er nämlich mit seinen Buhldirnen an einem in die Augen fallenden Orte schmauste, ließ er gegen achthundert dieser Gefangenen kreuzigen und, während sie noch lebten, ihre Frauen und Kinder vor ihren Augen niedermetzeln."21
Dieses Horrorszenario hat auch die sowohl mit den Pharisäern als auch mit den Hasmonäern in Opposition stehenden Essener erschüttert. Einen Eindruck davon bekommt man im Nahum-Kommentar, der in Höhle 4 in Qumran gefunden wurde.
"Seine Deutung geht auf den 'Löwen des Zorns' (...) Tod(?) durch (unter denen?) diejenigen, 'die nach glatten (Lehren) suchen', welcher Menschen lebend aufhängt (oder: die er als lebendige Menschen aufgehängt hat) (... was man nicht getan hat) in Israel vorher."22
Speziell in den Qumranschriften finden sich viele Belege dafür, dass die biblischen Schriften häufig zu Propagandazwecken auf die damaligen akuten Probleme umgemünzt wurden. Eine genauere Behandlung würde allerdings den Rahmen dieser Arbeit sprengen.
Und hiemit sind wir auch schon bei einem der wichtigsten Probleme der historischen Grundlagen der Erziehung angelangt: Die heiligen Schriften im Allgemeinen und die fünf Bücher Moses im Besonderen, waren unantastbar. Die Thora, das (göttliche) Gesetz, hatte – zumindest theoretisch – absolute, unverrückbare Gültigkeit. Aber – und jetzt kommt das große 'Aber' – wie das Gesetz ausgelegt wird, das war Gegenstand heftigster Diskussionen und Auseinandersetzungen.
Da aber die Schriften praktisch das ganze Leben der Juden regelten, war eben diese Auslegung von eminenter Bedeutung für die Machthaber, die Lehrer, die Väter und die Söhne. Mit Hilfe der Auslegung wurde Politik gemacht.
"Ein so herrliches Zeugnis der Vollkommenheit gaben ihnen (den Pharisäern) die Gemeinden, weil man glaubte, dass sie in Wort und Tat nur das Beste wollten. (...) Übrigens richten sie (die Sadduzäer) nichts Bedeutendes aus, und wenn sie einmal dazu genötigt sind, ein Amt zu bekleiden, so halten sie es mit den Pharisäern, weil das Volk sie sonst nicht dulden würde. (...) Die Essener dagegen lehren, man müsse alles dem Willen Gottes anheimgeben. (...) Außer diesen drei (philosophischen) Schulen nun gründete jener Galiläer Judas eine vierte, deren Anhänger in allen anderen Stücken mit den Pharisäern übereinstimmen, dabei aber mit großer Zähigkeit an der Freiheit hängen und Gott allein als ihren Herrn und König anerkennen."23
Nicht nur die vier Hauptströmungen des Judentums bekämpften einander, sondern sogar innerhalb von ihnen gab es noch die vielfältigsten Meinungen, was sich noch in den überlieferten Texten deutlich widerspiegelt.
So sind die Unterschiede in den Auslegungen der beiden großen Schulen des Hillel und des Schammaj so bedeutend, dass es im Talmud eigene Kapitel gibt für all jene Bereiche, wo die Schule des Hillel die strengere Auslegung hat als die des Schammaj und umgekehrt.
Interessant ist, und das ist meines Wissens unter allen Gesetzeswerken der Welt einmalig, dass im Talmud nicht nur die Mehrheitsmeinung angeführt ist, sondern jeweils auch (teils mehrere) Minderheitsmeinungen niedergeschrieben sind. Und all diesen Meinungen kam Gesetzeskraft zu, d.h. berief sich jemand in einer Angelegenheit vor Gericht auf irgendeine Minderheitenposition, die im Talmud angeführt war, so bekam er recht, auch wenn ein anderer Rabbi aufgrund anderer Bibelstellen zu einer anderen (ebenfalls als richtig gewerteten Meinung) kam. Es gab also für viele Situationen mehr als eine Möglichkeit, richtig zu handeln.
(Gen 1,22) Seid fruchtbar und mehret euch!
Treu diesem Motto haben sich die Nachkommen Abrahams verhalten, doch nicht jeder Sohn (Nachkomme) Abrahams ist auch ein Jude. Denn neben Isaak, dem Sohn der Sarah gab es auch noch Ismael, den Sohn der Hagar, der eigentlich Abrahams Erstgeborener war. Isaak zeugte Esau und Jakob, und dieser zwölf Söhne mit vier Frauen. Die Nachkommen dieser zwölf Söhne Israels, wie sich Jakob später nennt, sind ebenfalls Söhne Abrahams. Aber nur die Nachkommen von Jakobs viertem Sohn Juda sind Söhne Judas, also Juden im strengen Sinne. Darüberhinaus hatte Abraham noch mindestens eine Nebenfrau mit Namen Ketura. Mit dieser zeugte er weitere sechs Söhne, unter ihnen Midian, den Stammvater der Midianiter. Moses heiratet dann vierhundert Jahre später die Midianiterin Zippora.
Aber sogar die Vorrangstellung unter den zwölf Stämmen wechselte mehrmals. So war zuerst Joseph der Auserwählte, obwohl insgesamt nur das 11. Kind Jakobs, war er aber der Erstgeborene von Jakobs Frau Rahel, der Tochter Labans. Im Jakobssegen klingt noch viel dieser Bevorzugung nach:
(Gen 49,22) Ein junger Fruchtbaum ist Josef, ein junger Fruchtbaum am Quell, ein junger Zweig an der Mauer. (23) Man erbittert und reizt ihn, die Schützen stellen ihm nach. (24) Sein Bogen sitzt sicher; gelenkig sind Arme und Hände. Das kommt vom Starken Jakobs, von dort kommt der Hirt (=Herrscher), Israels Fels, (25) vom Gott deines Vaters, er wird dir helfen. Gott, der Allmächtige, er wird dich segnen mit Segen des Himmels von droben, mit Segen tief lagernder Urflut, mit Segen von Brust und Schoß. (26) Deines Vaters Segen übertrifft den Segen der uralten Berge, den man von den ewigen Hügeln ersehnt. Er komme auf Josefs Haupt, auf das Haupt des Geweihten der Brüder.
Als Vizekönig in Ägypten ist er dann auch nach außen der absolute Primus unter den zwölf Stämmen. Beim Auszug aus Ägypten übernahmen die Leviten Moses und Aaron die Oberherrschaft. Die Leviten und die von Aaron abstammende Priesterschaft hat es scheinbar nie gestört, dass ihr Stammvater Levi im Jakobssegen reichlich schlecht davongekommen ist.
(Gen 49,5) Simeon und Levi, die Brüder, Werkzeuge der Gewalt sind ihre Messer. (6) Zu ihrem Kreis mag ich nicht gehören, mit ihrer Rotte vereinige sich nicht mein Herz. Denn in ihrem Zorn brachten sie Männer um, mutwillig lähmten sie Stiere.
Und schließlich gelang es David, aus dem Stamm Juda, eine 400-jährige Dynastie zu begründen. Da die erste Redaktion der Genesis in das erste Jahrhundert der Herrschaft der Davididen fällt, ist es leicht zu verstehen, dass Juda beim Jakobssegen bevorzugt dargestellt wird.
(Gen 49,8) Juda, dir jubeln die Brüder zu, deine Hand hast du am Genick deiner Feinde. Deines Vaters Söhne fallen vor dir nieder. (9) Ein junger Löwe ist Juda. Vom Raub, mein Sohn, wurdest du groß. Er kauert, liegt da wie ein Löwe, wie eine Löwin. Wer wagt, sie zu scheuchen? (10) Nie weicht von Juda das Zepter, der Herrscherstab von seinen Füßen, bis der kommt (silu/siloah), dem er gehört, dem der Gehorsam der Völker gebührt. (11) Er bindet am Weinstock sein Reittier fest, seinen Esel am Rebstock. Er wäscht in Wein sein Kleid, in Traubenblut sein Gewand. (12) Feurig von Wein funkeln die Augen, seine Zähne sind weißer als Milch.
Eisler weist nach, dass mit 'Löwe' der Stern α-leonis, der Königsstern 'Regulus' gemeint ist, und, dass es nach der Herrschaft der Davididen eine Umstellung der Verse gegeben hat:
"Die überlieferte Umstellung von Vers 10 ist erst erfolgt, als man in 'silu' den 'siloah' "qui mittendus est", d.h. den Messias erblickte. Denn natürlich sind die lobpreisenden Verse 11 und 12 auf Juda gemünzt und nicht auf den, der seiner Herrschaft ein Ende bereitet.“24
Lebten die einzelnen Stämme in der Anfangszeit auch noch in relativ geschlossenen Stammesverbänden, so kam es durch die großen schicksalhaften Eingriffe (ägyptische Periode und babylonische Gefangenschaft) fast zwangsläufig zu einer gewissen Vermischung.
Beweise finden sich vorallem in der Übernahme fremden Gedankengutes in ihre religiösen Vorstellungen. Parallelen mit dem Eingottglauben des Echnaton finden sich z.B. im Sonnengebet des Echnaton und der Sonnenanbetung der Essener. Durch Moses' Schwiegervater, der midianitisch-kenitischer Priester war, kamen wiederum neue Elemente in den alten Jahwekult. Einflüsse des babylonischen Tempelkultes finden wir bei der Rückkehr aus dem Exil, ebenso wie den persischen Dualismus und seine Engelslehre mitsamt dem Dämonenglaube. In dieser Zeit sind es Vermischungen mit anderen hebräischen Völkern, Midianitern, Kanaaniter, Ägyptern und Persern.
Noch zur Zeit der Seleukidenherrschaft (332–140 v.Z.) waren die Juden ein relativ kleines Volk in der Gegend um Jerusalem. Erst zur Zeit der Makkabäerherrschaft (140–63 v.Z.) mit ihrer expansiven Eroberungspolitik werden viele Nichtjuden in den benachbarten Idumäa (Siedlungsgebiet von Jakobs älterem Bruder Esau, Edom [Idum] genannt) und Galiläa usw. zwangsjudaisiert. Außerhalb von Palästina hatte es zu dieser Zeit schon jüdische Gemeinden gegeben, diese waren jedoch relativ klein.