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Die Familie prägt in hohem Maße die kognitiven, emotionalen und sozialen Kompetenzen sowie das Verhalten von Kindern und Jugendlichen. Jedoch verringert sich ihr Einfluss aufgrund der zunehmenden Ganztagsbetreuung. Außerdem delegieren Eltern immer mehr Erziehungsverantwortung an Lehrer. Vor diesem Hintergrund sind frühere Konzeptionen der Elternarbeit nicht mehr zeitgemäß. So wird heute eine Erziehungs- und Bildungspartnerschaft zwischen Schule und Familie angestrebt. Diese lässt sich durch eine Vielzahl von Formen der Elternarbeit realisieren, die im Hauptteil des Buches detailliert beschrieben werden. Das wichtigste Angebot für Familien sind Elterngespräche. Deshalb werden Grundsätze und Praxistipps für Termin-, Beratungs- und Konfliktgespräche ausführlich erörtert. Abschließend wird auf die Zusammenarbeit mit Familien mit Migrationshintergrund eingegangen.
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Seitenzahl: 94
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Elternarbeit – ein spannungsreiches Tätigkeitsfeld
Die Bedeutung der Familie
Die Bildungsmacht von Familien
Die Erziehungsmacht von Familien
Den Einfluss der Familie berücksichtigen
Ganztagsbetreuung von Kindern
Immer weniger Zeit für die Familienerziehung
Die Delegation von Erziehungsverantwortung
Wenn Lehrer zu Erziehenden werden
Erziehungs- und Bildungspartnerschaft
Formen der Elternarbeit
Der erste Kontakt
Eine Willkommenskultur schaffen
Bildungs- und Erziehungsverträge
Elternabende
Elternvertretung
Tag der offenen Tür
Elterninformation
Hospitation im Unterricht
Elternmitarbeit
Die Re-Delegation von Erziehungsverantwortung
Beeinflussung von Bildungsprozessen in der Familie
Familienbildung
Planung und Organisation von Angeboten der Elternarbeit
Das Gespräch – wichtigste Form der Elternarbeit
Grundsätze der Gesprächsführung
Allgemeine Elterngespräche
Elternberatung und Vermittlung von Hilfsangeboten
Konfliktgespräche
Elternarbeit bei Familien mit Migrationshintergrund
Schlusswort
Literatur
Autor
Buchhinweis
„Schule braucht die Erziehungsgemeinschaft von Elternhaus und Schule. Wenn Lehrkräfte und Eltern abgestimmt an einem Strang ziehen, profitieren vor allem – aber nicht nur – die Schülerinnen und Schüler davon“. So beginnt das Vorwort von Riecke-Baulecke in dem Buch „Elternarbeit“ (Doppke/Gisch 2005, S. 6). Und das Motto des Handbuches „Wie Eltern Schule mitgestalten können“ von Frie (2006) lautet: „Nutzen Sie als Lehrer das Potential der Eltern, die sich mitnehmen lassen! Und nutzen Sie als Eltern Ihre Möglichkeiten der aktiven Mitarbeit und Mitbestimmung in der Schule!“ (S. 6).
Beide Aussagen verdeutlichen, für wie wichtig heute eine intensive Zusammenarbeit zwischen Schule und Familie gehalten wird. Allerdings sieht die Realität anders aus. Beispielsweise zeigte eine Repräsentativbefragung an 574 Schulen im Freistaat Bayern, dass mit zunehmendem Alter der Schüler/innen und mit wachsender Bedeutung des Fachlehrerprinzips die Atmosphäre zwischen Elternhaus und Schule schlechter wird (Sacher 2005). So ist die Elternarbeit weniger erfolgreich an Realschulen und Gymnasien als an Hauptschulen, und diese ist weniger gut als an Grundschulen. Laut der Studie hat nur etwas mehr als ein Zehntel der Eltern einen „intensiven und vielfältigen Kontakt zur Schule“ (S. 149).
Dementsprechend wird das Bild der Eltern von der jeweiligen Schule zumeist nicht durch eigene Erfahrungen geprägt, sondern weitgehend durch die Aussagen ihrer Kinder. Das ist nicht unproblematisch, wie Altuntaş, Kröll und Viertel (2011) betonen: „Gibt es keine besonderen Vorkommnisse, so lässt man sich gegenseitig in Frieden. Kommt es jedoch zu Konflikten, dann sind gegenseitige Schuldzuweisungen schnell zur Hand. Das gibt Kindern leider auch Gelegenheit, Eltern und Lehrkräfte gegeneinander auszuspielen. Schon um dies zu verhindern, sollten Lehrerinnen und Lehrer den regelmäßigen Austausch mit Eltern pflegen...“ (S. 19).
So ist das Verhältnis zwischen Eltern und Lehrer/innen zumeist distanziert: Die Eltern klagen über Lehrkräfte, die entweder zu hohe Leistungserwartungen hätten und Schulstress erzeugen oder die sich zu wenig um den Lernerfolg ihrer Schüler/innen kümmern würden. Auch meinen Eltern, dass Lehrkräfte nur an kognitiven Leistungen interessiert seien und die Persönlichkeitsentwicklung der Kinder und andere Lernbereiche ausklammern würden. Die Lehrer/innen klagen, dass die Eltern ihre Kinder nicht richtig erzogen hätten und sie nicht genug motivieren würden, sodass sie sich mit unaufmerksamen, faulen, aggressiven oder sonst wie verhaltensauffälligen Schülern „herumärgern“ müssten. Auch meinen sie, dass sich viele Eltern zu wenig um die Hausaufgaben ihrer Kinder kümmern würden.
Hinter dieser wechselseitigen Kritik und Distanzierung voneinander stehen verschiedene Faktoren. Beispielsweise verweist Frie (2006) auf negative Erfahrungen der Eltern aus der eigenen Schulzeit, auf zu hohe oder zu unterschiedliche Erwartungshaltungen auf Seiten von Schule und Familie sowie auf das Selbst- und Rollenverständnis von Lehrer/innen und Eltern. Sie stellt fest, dass die Anforderungen an Lehrkräfte und (berufstätige) Eltern in den letzten Jahren immens gestiegen sind, sodass sie sich oft gestresst und hinsichtlich ihrer Bildungs- und Erziehungsaufgaben überfordert fühlen würden. Zugleich würden beide Seiten immer mehr in den Medien und seitens der Politik kritisiert – Stichworte sind hier schlechtere Schulleistungen deutscher Kinder bei internationalen Vergleichsuntersuchungen (z.B. PISA, IGLU), hohes Schulversagen von Kindern mit Migrationshintergrund bzw. aus sozial schwachen Familien, Erziehungsunfähigkeit von Eltern, mangelnde Sprachförderung, (sexuelle) Gewalt in Familien usw. Die Schuld für viele aktuelle Probleme würden sich Schule und Familie gegenseitig zuschieben.
Ein weiterer, zur wechselseitigen Distanzierung beitragender Faktor ist die Angst von Eltern vor Lehrer/innen (z.B. Gefühl der Unterlegenheit, Furcht vor einer „Benotung“ ihrer Erziehungsleistung, Schwellenangst, Sorge, dass kritische Äußerungen über eine Lehrkraft Konsequenzen für ihr Kind haben könnten). Sie kommen nicht zu Elternsprechtagen, weil sie befürchten, Negatives über ihr Kind zu hören. Andere Eltern suchen nicht (mehr) den Kontakt zu Lehrer/innen, interessieren sich nicht für die Schulleistungen ihrer Kinder, haben berufsbedingt keine Zeit für den Besuch von Sprechstunden und Elternveranstaltungen oder können sich mangels Sprachkenntnissen nicht ausreichend verständigen.
Zu dem distanzierter Verhältnis trägt auf Seiten der Lehrer/innen ihre Angst vor Eltern bei (z.B. vor der Konfrontation mit einer ganzen Gruppe von Eltern beim Elternabend, vor Gesprächen mit Eltern über die schlechten Schulleistungen oder die Verhaltensauffälligkeiten ihrer Kinder, vor Eltern, die bessere Noten für ihre Kinder fordern, vor Eltern, die gleich mit dem Schulamt oder einem Rechtsanwalt drohen). Ferner definieren viele Lehrkräfte ihre Rolle weiterhin als Unterrichtende, nicht aber (auch) als Erziehende. Sie haben kaum Zeit für Elternkontakte, da Unterrichtsvorbereitung, Korrekturen und Verwaltungsarbeit immer mehr Zeit beanspruchen. Zudem haben Lehrer/innen häufig eine ambivalente Haltung Familien gegenüber, die oft sogar zum negativen Pol hin tendiert: Sie fokussieren Erziehungsfehler und problematische Erziehungsstile der Eltern, Überforderung und Vernachlässigung, Verhaltensauffälligkeiten und Lernstörungen, Familienprobleme und -belastungen, mangelnde Sprachförderung in Familien mit Migrationshintergrund und unzureichende Kontrolle der Hausaufgaben in sozial schwachen Familien.
Eine ambivalente oder gar negative Haltung Familien gegenüber belastet aber die Lehrer-Eltern-Beziehung. Zum einen lässt sie sich nicht verheimlichen; sie schimmert bei Elterngesprächen und -veranstaltungen immer wieder durch, wird erspürt und führt bei Eltern zu einer kritischen und oft auch ablehnenden Haltung den Lehrer/innen gegenüber. Zum anderen demotiviert sie die Lehrkraft; diese bemüht sich nicht mehr um eine Verbesserung ihrer Elternarbeit, schottet sich vielleicht sogar gegenüber den Eltern ab. Die Arbeit mit den Kindern macht doch viel mehr Freude und ist so viel lohnender!
Aber dieses Verhalten führt nicht weiter – es gibt einfach zu viele Situationen, bei der die Lehrkraft auf den Kontakt zu Eltern angewiesen ist. Deshalb sollten sich Lehrer/innen von dem Defizitmodell distanzieren und in den Eltern Experten für ihr Kind sehen. Speck (1996) verweist darauf, dass Eltern über pädagogisch-psychologische Alltagstheorien verfügen, die durchaus komplex und ausdifferenziert sein können. Er schreibt: „Ihre Schlüsselposition und ihre volle Verantwortung für das Leben ihres Kindes dürfen prinzipiell nicht in Frage gestellt werden“ (S. 496).
Offensichtlich ist, dass in der Familie viel gelernt wird – vor allem Kompetenzen und Einstellungen, die für das ganze Leben wichtig sind. Dazu gehören Sprachfertigkeiten, Grob- und Feinmotorik, Lernmotivation, Neugier, Leistungsbereitschaft, Selbstbild, Interessen, Werte, Gefühlskontrolle, Selbstbewusstsein, soziale Fertigkeiten usw. Die Eltern verbringen ein Vielfaches an Zeit mit ihrem Kind, als die Lehrkraft einem einzelnen Schüler in ihrer Klasse widmen kann. Auch sind Eltern wichtigere „Liebesobjekte“ als Lehrer/innen, wobei solche positiven Gefühle Modelllernen bzw. Nachahmung fördern. Die Familie prägt somit die kindliche Entwicklung in entscheidendem Maße.
Die Familie ist sogar die wichtigste Bildungsinstanz. Sie ist viel einflussreicher als die Schule. Ja, die Familie kann sogar die Schule ersetzen. So findet in den USA eine in Deutschland kaum bekannte Revolution im Bildungsbereich statt: Immer mehr amerikanische Kinder besuchen nicht mehr die Schule, sondern werden von ihren Eltern gebildet. Während 1999 ca. 850.000 Kinder zwischen fünf und 17 Jahren zu Hause „beschult“ wurden, waren es 2020 bereits rund 2,5 Millionen (Homeschooling 2018; Ray 2020). Kinder bzw. Jugendliche, die von ihren Eltern unterrichtet wurden, schnitten laut mehreren Studien bei Schulleistungstests, hinsichtlich ihres Sozialverhaltens und bezüglich ihres Selbstkonzepts gleich gut oder sogar besser ab als gleichaltrige Schüler/innen (Murphy 2012; Ray 2020).
Aber auch bei Kindern, die eine Regelschule besuchen, ist seit langem wissenschaftlich nachgewiesen, dass die Familie stärker die Bildungslaufbahn eines Kindes prägt als die Schule. Schon in den 1960er Jahren wurden in den damals Aufsehen erregenden Büchern „Equality of Educational Opportunity“ von Coleman et al. (1966) und „Children and Their Primary Schools“ von Plowden (1967) anhand von Untersuchungen aufgezeigt, dass der Anteil der Schule am Schulerfolg von Kindern nur etwa halb so groß wie der Anteil der Familie ist. Diese Erkenntnis wurde inzwischen in Hunderten von empirischen Studien bestätigt, in denen ganz unterschiedliche Merkmale von Familien und Schulen in Bezug zur Schulleistung von Kindern erforscht wurden.
Auch die seit der Jahrhundertwende erschienenen internationalen Vergleichsstudien wie PISA, TIMMS oder IGLU belegten immer wieder, dass die Schulleistungen weitgehend von Familienfaktoren abhängen (Bildungsstand der Eltern, Haushaltseinkommen, Familienkultur usw.). Kinder aus „bildungsmächtigen“ Familien erreichen in der Regel einen höheren Schul- und Berufsabschluss als Kinder aus „bildungsschwachen“ Familien, zu denen vor allem Familien mit Migrationshintergrund, mit niedrigem sozioökonomischem Status und aus sozialen Brennpunkten gehören.
Demnach ist der Einfluss der Familie auf die Schulleistungen größer als der Einfluss der Schule: Die kindliche Entwicklung wird vor allem in den ersten Lebensjahren auf eine so intensive Weise durch die Familie geprägt, dass die Kinder selbst bei gleicher Intelligenzausstattung und Begabung mit unterschiedlichen Voraussetzungen in die Grundschule kommen. Den Lehrer/innen gelingt es dann nicht, die benachteiligten Kinder so zu fördern, dass sie mit den Gleichaltrigen aus „bildungsmächtigen“ Familien mithalten können. Vielmehr öffnet sich die „Leistungsschere“ zwischen den Schülern mit der Zahl der Schuljahre immer mehr: Im Jugendalter sind die Unterschiede im Wissen und Können zwischen Gymnasiasten und Hauptschülern bereits sehr stark ausgeprägt.
Die Familie prägt aber nicht nur die kognitive bzw. intellektuelle Entwicklung von Kindern, sondern auch ihre soziale, emotionale und personale Entwicklung. So ist der Einfluss der Eltern auf das Verhalten und Erleben ihrer Kinder bei weitem größer als der Einfluss von Lehrer/innen. Wie die „Bildungsmacht“ kann sich auch die „Erziehungsmacht“ der Familie eher positiv oder eher negativ auf die Entwicklung eines Kindes auswirken.
Leider wird seit einigen Jahren die Erziehungsfunktion von Familien seitens der Politik, der Medien und der Bildungseinrichtungen zunehmend kritisch gesehen: So wird ein wachsender Bedarf von Eltern an Beratung und Unterstützung bei der Wahrnehmung ihrer Erziehungsaufgaben konstatiert, wird die Erziehung von Kindern aus Migrantenfamilien sowie aus sozial benachteiligten und bildungsfernen Schichten kritisiert, werden Fälle der Vernachlässigung, Misshandlung oder Ermordung von Kindern intensiv diskutiert.
Bei der skizzierten Defizitorientierung wird ignoriert, dass weiterhin der größte Teil der Familien ihre Erziehungsfunktion erfüllt. Das schließt natürlich nicht aus, dass Eltern manchmal unsicher sind oder Fehler machen. Kinder brauchen aber keine perfekten Eltern; sie benötigen nur relativ gute. Und das dürften mindestens 75 Prozent aller Eltern sein – zumindest sind nur zwischen 20 und 25 Prozent der Kinder im Schulalter verhaltensauffällig, also durch familiale (oder andere!) Einflüsse geschädigt worden. In den meisten Familien werden die Kinder hingegen so erzogen, dass sie zu psychisch gesunden Menschen heranwachsen und interpersonale Kompetenzen ausbilden.
Aus den skizzierten wissenschaftlichen Erkenntnissen über die Bildungs- und Erziehungsmacht der Familie ergeben sich zwei bisher weitgehend ignorierte Konsequenzen für die Schule:
Die Leistungen erziehungs- und bildungsmächtiger Familien sollten angemessen gewürdigt werden
.
Erziehungs- und bildungsschwache Familien müssen besonders intensiv unterstützt werden:
Einerseits sollten die Eltern Kompetenzen erwerben, die es ihnen ermöglichen, die Entwicklung ihrer Kinder besser zu fördern.
Andererseits sollten für die Kinder kompensatorische Maßnahmen angeboten werden
, durch die Entwicklungsverzögerungen frühestmöglich abgebaut werden und eine mangelnde Stimulierung ausgeglichen wird.
Damit Schulen entsprechend handeln können, müssen die notwendigen Ressourcen