Eric Holler: Glück Auf, Tod! - Roman Just - E-Book
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Roman Just

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Beschreibung

Inhalt: Privatdetektiv Eric Holler fängt in einem dubiosen Fall zu ermitteln an, ohne von einem Kunden einen Auftrag erhalten zu haben. Die Neugier drängt ihn, Ungeheuerliches zu entschlüsseln, wovon niemand etwas zu wissen scheint. Er geht die Angelegenheit gemächlich an, aber nachdem er Cornelia kennen und schätzen lernt, ist er überzeugt, durch Zufall einem Wahnsinnigen auf die Spur gekommen zu sein. Ist Eric paranoid oder hat er den Riecher eines Privatschnüfflers, der tatsächlich geschehene und weitere Verbrechen aufklären und verhindern kann?

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Inhaltsverzeichnis

01. Akt

Der Verdacht

Der Kontakt

Der Verlust

Amerika, Chapter One

02. Akt

Das Abkommen

Das Rätsel

Das Familiendrama

1. Advent

03. Akt

Verwandtschaftsverhältnisse

Gedankenqualen

Seelenqualen

Telefonterror

4. Akt

Sackgassen

Verschlossene Türen

Einbahnstraßen

Tod, Glück Auf!

Hinweise:

Veröffentlichungen des Autors

Kontakt zum Autor:

Impressum:

 

Eric Holler

Glück Auf, Tod!

 

Ein Gelsenkrimi

von

Roman Just

01. Akt

Der Verdacht

E

s war Oktober, und nach einigen trüben und regnerischen Tagen ließ sich endlich wieder die Sonne sehen. Zu Monatsbeginn war es kühl geworden, aber zur Monatsmitte wurden die Temperaturen angenehmer, dadurch auch die Leute auf der Straße freundlicher. Wildfremde Menschen fielen sich zwar nicht wie in der Veltins-Arena in die Arme, doch immerhin liefen die Passanten nicht mit verdrossenen Mienen achtlos aneinander vorbei. Ein Hallo da, ein Zuwinken dort, mittendrin ein paar lächelnde Gesichter, es war eindeutig: Das Wetter besaß einen hohen Einflussfaktor auf die Laune der Erdenbürger. In Gelsenkirchen war das nicht anders, allerdings waren die Gefühlswelten der Einheimischen nur an spielfreien Tagen des ansässigen Fußball-Bundesligisten vom Wetter abhängig. An Spieltagen konnte kein Sonnenstrahl die Stimmung eines Schalkers heben, wenn der Club verloren hatte.

Eric war Niederlagen gewohnt und konnte mit Rückschlägen umgehen. Die Befürchtung, dass der letzte Fall negative Auswirkungen auf seinen Ruf als Privatdetektiv nach sich ziehen könnte, war umsonst. Ohnehin hätte es ihn nicht berührt. Der Auftrag, der ihm ausgerechnet von Kriminalhauptkommissar Manfred Werthofen übertragen wurde, konnte nur als ein skurriler und absurder Flop bezeichnet werden. Immerhin, fast niemand war ernsthaft zu Schaden gekommen. Zudem hatte sich der Kripobeamte mit seinem Sohn versöhnt, der in seinen Augen den Rang des schwarzen Schafes in der Familie besaß. Dennoch konnte man nicht sagen: Ende gut, alles gut. Die Suche nach der Tochter des Kommissars beinhaltete Ereignisse, die mit Zufällen, Pech und Pannen verbunden waren. Sie unter den Teppich zu kehren, um den Leumund zu schützen und keine Probleme mit den Behörden zu bekommen, gestaltete sich einfach. Es hatte allerdings einen Nachteil: Durch das Verschweigen der persönlichen Fehler und Irrtümer verband Eric Holler und Manfred Werthofen fortan etwas, und das hatten beide nicht gewollt. Das traf insbesondere auf den Privatdetektiv zu. Dass jemand seine Schwächen kannte, war nie von Vorteil, das wusste Eric aus Erfahrung. Zwar sah er den Beamten nicht als Feind an und hatte auch keine Sorge, dass dieser es eines Tages werden würde, dennoch war es ein unbefriedigender Sachverhalt. Obwohl der Fall Lisa dem Privatschnüffler keine unsinnigen Gerüchte eingebracht hatte, gab es einen Mangel an Aufträgen. Es lag nicht an ihm und der Vergangenheit, sondern ausschließlich an der Gegenwart. Der Krieg in der Ukraine hatte die Preise für praktisch alles explodieren lassen, was in seiner Kanzlei eindeutig ersichtlich wurde. Selbst wenn er einen Auftrag abgelehnt oder ein Mandant nach einem Gespräch keinen erteilt hatte, bisher war fast täglich mindestens eine Person in seinem Büro aufgetaucht, um ihm ein Anliegen vorzutragen. Gegenwärtig kam jedoch niemand, dementsprechend gelangweilt saß er seit Tagen im Arbeitszimmer und hatte nichts Wichtigeres zu tun, als sich mit diversen Tageszeitungen und Wochenblättern aus der Region weiterzubilden.

Fast schien es so, als würde die neidische und gierige Wohlstandsgesellschaft in Krisenzeiten auf Intrigen und Spionage unter Hinzunahme eines Privatdetektivs verzichten wollen. Hätte Eric keinen Anstand, wäre sein Büro mit solchen Kunden auch während einer Weltwirtschaftskrise prall gefüllt. Der kalte, hartgesottene und undurchschaubare Privatschnüffler besaß Angewohnheiten, über die sich jeder gewundert hätte, der ihn nicht näher kannte. Grundsätzlich schlug er jede Art von Zeitschrift von hinten auf, las stets zuerst den Sportteil und widmete sich danach den Todesanzeigen. Ob für das merkwürdige Gebaren der Beruf verantwortlich war, vermochte das Umfeld von ihm nicht zu sagen. Noch seltsamer erschien der Umstand, dass Eric seit einigen Wochen dazu übergegangen war, sich manche der Todesfälle zu notieren, aber davon wussten weder Bekannte noch Freunde. Wobei hinzugefügt werden muss, dass Eric Holler in Gelsenkirchen-Buer keine Freunde hatte. Zu seinem sozialen Umfeld zählten ein paar Bekannte, zu denen Manfred Werthofen gehörte, aber das war es auch schon.

Die Nachrufe, die von Eric Holler festgehalten wurden, waren in einem Punkt identisch und zugleich bestürzend: Bei den Verstorbenen handelte es sich nicht um Menschen, die ihr Leben gelebt hatten, stattdessen starben Kinderseelen, denen offenbar durch eine höhere Macht keine Chance gegeben wurde, das Dasein kennenzulernen. Seltsamerweise war Eric in den vergangenen acht Wochen auf vier solcher Todesanzeigen gestoßen. Diskrete Recherchen, wegen der vorhandenen Zeit und Neugier seinerseits, hatten ergeben, dass alle Säuglinge innerhalb weniger Stunden oder Tage nach der Geburt gestorben waren. An und für sich wäre daran nichts Ungewöhnliches gewesen, wenn er nicht Ungereimtheiten entdeckt und sich mit Fragen dazu beschäftigt hätte. Eine davon lautete: Laut Todesanzeigen starben vier Babys, aber wie viele tatsächlich? Aus welchen Gründen auch immer, nicht jedes Elternpaar war imstande, einen Nachruf in der Zeitung drucken zu lassen. Die Trauer, der Schmerz, der frühzeitige Verlust eines Kindes, die Diskretion, der Schock und Selbstschutz, gelegentlich auch die finanziellen Mittel, all das und noch mehr konnte zu den Gründen gehören, weshalb auf eine Todesanzeige verzichtet worden war. Zunächst hatte sich der Privatdetektiv mit den Nachrufen nicht befasst. Sein Tatendrang und Wissensdurst wurden wegen der Anzahl der Todesfälle ausgelöst. Hinzu kamen der zeitliche Faktor und die Möglichkeit, dass mehr als vier Säuglinge betroffen sein könnten. Endgültig stutzig war Eric nach seinen rücksichtsvollen Nachforschungen geworden. Die Babys, von denen er wusste, waren in derselben Klinik für immer eingeschlafen. Hatte das Lebensschicksal für die Opfer und Eltern kein Mitleid gezeigt, oder verbarg sich mehr dahinter? Das war die Frage, auf die Eric aus persönlichen Motiven eine Antwort haben wollte. Zeit für Ermittlungen hatte er genug, schließlich war er gegenwärtig ein selbständiger Privatdetektiv ohne Aufträge. Sonnenklar, das Leben gab einem viel und nahm jedem alles, spätestens dann, wenn der Mensch auf dem Sterbebett lag. Eric hatte in Erfahrung gebracht, dass im besagten Kinderkrankenhaus von September bis zum aktuellen Datum sechzehn Säuglinge das Licht der Welt erblickt hatten. Vier davon waren in den darauffolgenden Stunden und Tagen gestorben. Warum? Das Verhältnis zwischen der Geburten- und Sterblichkeitsrate passte überhaupt nicht und war ihm ein Dorn im Auge. Schließlich besaßen fünfundzwanzig Prozent der Neugeborenen eine Lebenserwartung von maximal zweiundsiebzig Stunden. Die Zahlen hätten seiner Ansicht nach die Behörden längst alarmieren müssen, obwohl sie nur die vergangenen zwei Monate betrafen. Aber was war von Januar bis August auf der Säuglingsstation los, und wie würde es sich dort im November und Dezember verhalten?

Der Privatdetektiv hatte keine Anhaltspunkte gefunden, ebenso nicht einen Vorwurf von Eltern gehört, mit denen die Klinik in Bredouille geraten wäre. Die Ärzte und das Pflegepersonal genossen einen guten Ruf, alles schien in bester Ordnung zu sein. Trotzdem: Ihm wollte sich ein weiteres ergründetes Detail nicht erschließen. In dem Hospital mit der hohen Todesrate bei Säuglingen lagen die Mütter nach der Geburt ihres Kindes im Durchschnitt drei Tage länger auf der Entbindungsstation als anderswo. Den Gelsenkirchenern standen sechs Krankenhäuser zur Verfügung, und in keinem war die Aufenthaltsdauer für eine Schwangere nach der Niederkunft so lang wie in dem Gebäude, dass Eric ins Visier genommen hatte. Die Zahlen und die Verweildauer der Gebärenden waren Unregelmäßigkeiten, die seiner Ansicht verfolgt werden mussten.

Fast täglich stand er vor der Kinderklinik oder saß in der Kantine, die eigentlich nur den Patienten bis zum sechzehnten Lebensjahr, ihren Eltern und Besuchern vorbehalten war. Gebracht hatte es überhaupt nichts. Die hellen Tage wurden deutlich kürzer, erst recht, nachdem die Kirchenuhren die letzte Stunde der Sommerzeit eingeläutet hatten.

Was das Wetter betraf, begann der November nicht übel, doch der langersehnte Regen ließ auf sich warten. Zumindest in der Stadt der tausend Feuer, die aufgrund des Tabellenplatzes von Schalke keineswegs lichterloh brannten. Während die meisten Fans des Clubs ihre Hoffnung auf den Klassenerhalt noch nicht aufgegeben hatten, besann sich der zeitweise blaue Himmel und nahm ihre fußballerische Laune an. Die kurzen Tage wurden trüber, kälter und feucht, allerdings nicht so nass, wie es die Natur gebraucht hätte.

In einer dieser Stunden wurde Eric Holler bewusst, dass er mit der praktizierten Vorgehensweise keine Erfolge erzielen würde. Deswegen fing er Mitte des Monats schweren Herzens damit an, seine Strategie zu ändern. Der eingefleischte Einzelgänger ließ sich dazu herab, in der Klinik Kontakte zu knüpfen. Dabei kam ihm eine himmlische Fügung entgegen, die den netten Vornamen Cornelia trug.

 

 

 

Der Kontakt

C

ornelia kam in der Kantine des Krankenhauses an den Tisch von Eric, als ob sie sich verlaufen hätte, dabei kannte sie die Lokalitäten in- und auswendig. Der Privatdetektiv war ihr in den Tagen zuvor aufgefallen, allein deshalb, weil sie nach Feierabend nie einen Glatzkopf in der Lokalität sitzen gesehen hatte, wobei die Uhrzeit unwichtig war. Er saß immer da, ob vor- oder nachmittags, offenbar war er ein Obdachloser, der in dem Etablissement eine Zuflucht vor dem zunehmend schlechter werdenden Wetter gefunden hatte. Für die Umstände sah er verdammt gut aus, was sie zu der Aktion veranlasste. Ohne zu fragen, nahm sie, mit einer Kaffeetasse in der Hand, gegenüber dem Schnüffler an dem runden Tisch Platz und gab sich so, als ob Eric nicht anwesend wäre. Die Taktik hätte bei jedem anderen Mann schlagartig Erfolg gehabt, aber nicht bei einem Privatdetektiv, der dem Liebesleben nahezu auf ewig Adieu gesagt hatte.

Zwei Komponenten waren ausschlaggebend, durch die eine scheinbar harmlose Situation einen Lauf annahm, die selbst von einem Hellseher nicht vorausgesagt worden wäre: Erstens war Eric ein Mann, der nahezu jedem körperlichen Kontakt eine Absage erteilt hatte, und zweitens besaß Cornelia alles, was sich ein Kerl für ein One-Night-Stand wünschen konnte. Allerdings war Cornelia nicht auf ein Lakenabenteuer erpicht. Die Neugier und das Aussehen von Eric hatten sie zu dem Tisch gelotst. Nachdem sie ihren Kaffee zur Hälfte getrunken hatte, war ihre Überzeugung, dass der Privatschnüffler eine Unterhaltung beginnen würde, unter den Nullpunkt gesunken. Der Effekt der Enttäuschung ließ ihr Interesse an Eric wachsen. Dass sie von einem Kerl ignoriert und in einer solchen Situation nicht angesprochen wurde, war ihr zum letzten Mal in der siebten Klasse widerfahren, als sie noch eine Zahnspange getragen hatte. Cornelia konnte nicht ahnen, dass die Reaktion des Privatdetektivs ein mit Absicht vorgetragenes Theaterstück war. Sie zu übersehen und ihr keinen verstohlenen Blick aus den Augenwinkeln zuzuwerfen wäre jedem Mann schwergefallen, weswegen Hollywood Erics Verhalten als eine sagenhafte Leistung bewertet und ihm den Oscar verliehen hätte. Aus dieser Perspektive blieb für Krankenschwester Cornelia wegen der Missachtung ihrer Person nur die Goldene Himbeere übrig. Dabei war sie attraktiv, weder dick noch dünn, stattdessen mit der idealen Figur für ihre Körpergröße ausgestattet. Ihre achtundsechzig Kilo waren auf einer Länge von einhundertfünfundsiebzig Zentimetern perfekt verteilt, was ihr von ihrem Umfeld täglich bestätigt wurde. Es gab wenige Kollegen, Ärzte und Patienten, die sie nicht auf plumpe Art angebaggert hatten. Deshalb kam ihr das Verhalten des Tischgenossen sonderbar vor. Ohne ein Wort zu sagen, erhob sie sich, holte sich frischen Kaffee, kam zurück, blieb jedoch stehen und fragte: »Darf ich?«

Eric Holler, der scheinheilig in eine Tageszeitung vertieft zu sein schien, sah auf. »Bitte, nehmen Sie Platz«, antwortete er und faltete die Zeitung zusammen.

Cornelia stellte die Kaffeetasse auf den Tisch, lächelte Eric an und sah gelangweilt auf die Zeitschrift, die er eben zur Seite gelegt hatte. »Steht etwas Interessantes drin?«, erkundigte sie sich und sah von den Buchstaben in sein Gesicht, das ihr wie ein fremdes ABC vorkam. »Sind Sie Patient?«, fügte sie hinzu, als durch den Angesprochenen endlich ein Blickkontakt hergestellt worden war.

»Zu Frage eins: In dem Käseblatt gibt es nur eine Rubrik, die von Belang sein könnte und der Wahrheit entspricht, es sind die Todesanzeigen. Zu Frage zwei: Nein, ich bin nicht stationär hier. Sie?«, äußerte er eine Gegenfrage, obwohl er annahm, dass die Frau eine Mitarbeiterin der Klinik war. Zu oft hatte er sie in letzter Zeit kommen und gehen sehen, somit konnte er nichts anderes vermuten.

Cornelia hatte sich nach dem wohlverdienten Feierabend umgezogen und erst danach die Kantine aufgesucht. Deswegen konnte Eric nicht mit Gewissheit sagen, dass sie eine der Angestellten war. »Zur Antwort eins: Was haben Sie an der ›Westdeutschen‹ auszusetzen? Meine nächste Frage: Was finden Sie an Todesinseraten interessant? Zu Ihrer Frage: Nein, ich bin Krankenschwester und arbeite hier.«

Schlagfertigkeit mochte Eric Holler, aber noch war er nicht so weit, um der Fragestellerin ein Lächeln zu schenken. »Die WAZ ist die einzige Zeitung in der Bundesrepublik, in der ich den Sportteil überspringe. Ich kaufe sie tatsächlich nur wegen der regionalen Inhalte. Ihre nächste Frage kann ich einzig und allein mit dem Wort Neugier beantworten.« Bewusst verzichtete er darauf, die Krankenschwester über ihr Tätigkeitsfeld auszufragen. Nicht aus Anstand, Rücksicht oder Zuneigung, sondern wegen eines Gefühls in der Magengegend, welches es ihm durch ein Anklopfen vorschlug.

Cornelia schien die Konversation Vergnügen zu bereiten. »Neue Frage: Was in Gottes Namen wecken Nachrufe für eine Neugier bei einem Menschen im besten Alter?«

»Was mich betrifft, ist es das Alter der Verblichenen und die Todesart, falls sie erwähnt wird. Entschuldigen Sie mich kurz, ich hole mir noch einen Kaffee. Möchten Sie auch einen?«

»Nein, danke. Aber vielleicht könnten Sie mir ein Mineralwasser mitbringen.« Eric nickte, trabte davon und wurde von Cornelia nicht aus den Augen gelassen. Als er ihr wieder gegenübersaß, sie sich für das Wasser bedankt hatte, kam ihre Wissbegierde zum Vorschein. »Wenn Sie kein Patient sind, warum halten Sie sich in der Kantine einer Klinik auf? Gibt es nicht angenehmere Orte und Lokale, wo eine Zeitung gelesen werden kann? Ich habe Sie in den letzten Tagen häufiger hier sitzen sehen, jedoch nicht wahrgenommen, dass Sie einen Patienten besuchen. Irre ich mich?«

Diesmal lächelte Eric zaghaft, nicht anhimmelnd, eher anerkennend. »Sie verstehen es ausgezeichnet, mehrere Fragen auf einmal zu stellen.«

»Eine Gabe, über die Krankenschwestern mit mehrjähriger Erfahrung verfügen.«

»Okay, zur Kenntnis genommen. Nein, glücklicherweise ist kein Bekannter stationär in Behandlung. Ja, es gibt gemütlichere Lokalitäten, in denen ich meine Tageslektüre studieren könnte.

Cornelia, die mit Familiennamen Hansen hieß, gab sich mit den Antworten unzufrieden. »Erfreulich für Sie, aber eine Auskunft wurde mir vorenthalten«, stellte sie fest.

»Die Antwort auf die Frage, warum ich in dieser Kantine häufig zugegen bin, erhalten Sie beim Abendessen. Oder haben Sie etwas anderes vor?«

Die Krankenschwester hatte an diesem kalten Abend keine anderen Pläne. Der Einladung wäre sie auch dann gefolgt, wenn in ihrem Kopfkalender ein anderes Abendprogramm sie daran zu hindern versucht hätte. Die wenigen Sätze, die mit Eric bis dahin ausgetauscht worden waren, besaßen nicht die Wucht, um ihr den Kopf zu verdrehen, allerdings die magische Kraft, seine Nähe genießen zu wollen. Sie war beeindruckt von seinem Verhalten, insbesondere davon, wie er, ohne ein Wort zu sagen, sie dazu bewogen hatte, einen Neustart am Tisch zu wagen. Von jedem anderen Kerl wäre sie innerhalb der ersten Minute angesprochen worden. Drei Gründe bestärkten Cornelia darin, der Offerte zu folgen: Es war seine Ausdrucksweise, auch sein Äußeres und schließlich das Motiv, das ihn in der Klinikkantine regelmäßig zugegen sein ließ. Geschah es wegen irgendeines Vorgangs im Krankenhaus, von dem sie keine Ahnung hatte? Kam er vielleicht sogar ihretwegen so oft, oder ging etwas vor, das ihren Arbeitsplatz gefährden könnte?

E

ric Holler hatte gehört, dass die Gaststätte »Erholung« zum Jahresende geschlossen werden sollte. Deswegen fuhr er mit Cornelia in die Hülserstraße, um dort ein letztes Mal das hervorragende Essen zu genießen. Ohne sein Wissen ereignete sich während der Fahrt im Kinderkrankenhaus ein Vorfall, der tragisch und herzzerreißend war. Erneut hatte ein Neugeborenes in der Kinderklinik »Kindertraum« das Zeitliche gesegnet. Zu Beginn des vierten Lebenstages hatte der Säugling zu atmen aufgehört, und niemand konnte erklären, warum das geschehen war. Das Kind wurde bei der Geburt problemlos zu einem Erdenbürger und schien gesund zu sein. Atmung, Puls, Gewicht, Größe und Geschrei, nichts besaß besorgniserregende Werte, außer dem Geplärr, das bereits hervorragende Stimmbänder und eine überdurchschnittliche Kondition andeuteten. Ein paar Stunden nach der Entbindung hatte der Vater die Ehre, das Baby in die Arme der Mutter zu legen. Anwesende Angehörige und Freunde ließen die Eltern und ihren Nachwuchs hochleben, was nicht in gewohnter Art geschah, sondern durch ein zigfaches »Glück Auf!« durchgeführt wurde. So verlangte es der Brauch, doch dann war das Kind unter rätselhaften Umständen gestorben.

Den Eltern, zunächst der Mutter und dann dem Vater, die Nachricht zu überbringen schlug in ein Drama um, bei dem es zu Konflikten und Vorwürfen kam. Während die Mutter in eine Schockstarre verfiel, rastete der Vater komplett aus und hätte in seinem Wahn beinahe einen Arzt umgebracht. Aufgrund dessen wurde er von der herbeigerufenen Polizei in Gewahrsam genommen. Der Verhaftete konnte von den Beamten trotzdem nicht beruhigt und zum Vorfall vernommen werden, landete deshalb in einer Zelle, wo er ungestört weiter randalieren durfte, es aber nichts zu zerstören gab.

Richard Tröger hieß der Inhaftierte, der sich zunächst austoben und am nächsten Tag Kriminalhauptkommissar Manfred Werthofen Rede und Antwort stehen sollte. So schnell war es möglich, dass aus bemitleidenswerten Opfern Täter wurden. Bei einem Kontrollrundgang gegen acht Uhr verwandelte sich die Tragödie in eine Katastrophe.

---ENDE DER LESEPROBE---