ERINNERUNGEN AN DAS REICH TSCHAIKOWSKIS - Christian Dörge - E-Book

ERINNERUNGEN AN DAS REICH TSCHAIKOWSKIS E-Book

Christian Dörge

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Beschreibung

Linnet Restorick und ihr Mann Simon kommen als Sommergäste in das Haus Schwanensee – auf einer Insel an der englischen Westküste. Doch das idyllische Eiland und das düstere Haus verwandeln sich bald in eine Hölle aus Intrigen und Mord...

 

Mit dem Roman Erinnerungen an das Reich Tschaikowskis legt Christian Dörge, Autor u. a. der Krimi-Serien Die unheimlichen Fälle des Edgar Wallace, Ein Fall für Remigius Jungblut und Friesland, eine ebenso spannende wie nostalgische Hommage an das Werk Agatha Christies vor.

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Veröffentlichungsjahr: 2021

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CHRISTIAN DÖRGE

 

 

ERINNERUNGEN

AN DAS REICH TSCHAIKOWSKIS

 

 

Roman

 

 

 

 

Signum-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

Der Autor 

 

ERINNERUNGEN AN DAS REICH TSCHAIKOWSKIS 

 

Die Hauptpersonen dieses Romans 

Erstes Kapitel 

Zweites Kapitel 

Drittes Kapitel 

Viertes Kapitel 

Fünftes Kapitel 

Sechstes Kapitel 

Siebtes Kapitel 

Achtes Kapitel 

Neuntes Kapitel 

Zehntes Kapitel 

Elftes Kapitel 

Zwölftes Kapitel 

Dreizehntes Kapitel 

Vierzehntes Kapitel 

Fünfzehntes Kapitel 

Sechzehntes Kapitel 

Siebzehntes Kapitel 

Achtzehntes Kapitel 

Neunzehntes Kapitel 

Zwanzigstes Kapitel 

Das Buch

 

 

Linnet Restorick und ihr Mann Simon kommen als Sommergäste in das Haus Schwanensee – auf einer Insel an der englischen Westküste. Doch das idyllische Eiland und das düstere Haus verwandeln sich bald in eine Hölle aus Intrigen und Mord... 

 

Mit dem Roman Erinnerungen an das Reich Tschaikowskis legt Christian Dörge, Autor u. a. der Krimi-Serien Die unheimlichen Fälle des Edgar Wallace, Ein Fall für Remigius Jungblut und Friesland, eine ebenso spannende wie nostalgische Hommage an das Werk Agatha Christies vor. 

Der Autor

 

Christian Dörge, Jahrgang 1969.

Schriftsteller, Dramatiker, Musiker, Theater-Schauspieler und -Regisseur.

Erste Veröffentlichungen 1988 und 1989:  Phenomena (Roman), Opera (Texte).  

Von 1989 bis 1993 Leiter der Theatergruppe Orphée-Dramatiques und Inszenierung  

eigener Werke,  u.a. Eine Selbstspiegelung des Poeten (1990), Das Testament des Orpheus (1990), Das Gefängnis (1992) und Hamlet-Monologe (2014). 

1988 bis 2018: Diverse Veröffentlichungen in Anthologien und Literatur-Periodika.

Veröffentlichung der Textsammlungen Automatik (1991) sowie Gift und Lichter von Paris (beide 1993). 

Seit 1992 erfolgreich als Komponist und Sänger seiner Projekte Syria und Borgia Disco sowie als Spoken Words-Artist im Rahmen zahlreicher Literatur-Vertonungen; Veröffentlichung von über 60 Alben, u.a. Ozymandias Of Egypt (1994), Marrakesh Night Market (1995), Antiphon (1996), A Gift From Culture (1996), Metroland (1999), Slow Night (2003), Sixties Alien Love Story (2010), American Gothic (2011), Flower Mercy Needle Chain (2011), Analog (2010), Apotheosis (2011), Tristana 9212 (2012), On Glass (2014), The Sound Of Snow (2015), American Life (2015), Cyberpunk (2016), Ghost Of A Bad Idea – The Very Best Of Christian Dörge (2017). 

Rückkehr zur Literatur im Jahr 2013: Veröffentlichung der Theaterstücke Hamlet-Monologe und Macbeth-Monologe (beide 2015) und von Kopernikus 8818 – Eine Werkausgabe (2019), einer ersten umfangreichen Werkschau seiner experimentelleren Arbeiten.  

2021 veröffentlicht Christian Dörge den Giallo-Roman Das rote Trauma und startet drei Roman-Serien: Die unheimlichen Fälle des Edgar Wallace sowie München-Krimis um die Privatdetektive Jack Kandlbinder und Remigius Jungblut. 

ERINNERUNGEN

AN DAS REICH TSCHAIKOWSKIS

 

  Die Hauptpersonen dieses Romans

 

Simon Restorick: Professor für Geschichte, Psychologie und Soziologie.

Linnet Restorick: seine Frau.

Daisy Restorick: seine Tochter. 

Graham Marshall: Professor und Besitzer des Hauses Schwanensee. 

Arlena Marshall: seine Frau. 

Sam Castle: Doktorand bei Professor Marshall. 

Dr. Rex Vernon: Landarzt und Gerichtsmediziner. 

Dr. David Lee: Tierarzt. 

Veronica Christow: Krankenschwester. 

Alfred Stokes: Farmer. 

Tobias Stokes: sein Sohn. 

Detective Lieutenant Patrick Lee: Beamter der Grafschaftspolizei. 

Sergeant Paul Redfern: sein Assistent. 

Philip Craven: Chef der Ortspolizei. 

Steve Black: Pathologe. 

Simenon Marshall: Diplomat und Graham Marshalls ältester Bruder. 

 

 

Dieser Roman spielt auf einer Insel an der englischen Westküste im Jahre 1970.

  Erstes Kapitel

 

 

Die Restoricks wären zweifellos die glücklichsten Urlauber auf der Insel gewesen, wenn ihren Seelenfrieden weiter nichts beeinträchtigt hätte als die Straße zu Graham Marshalls Sommerhaus. Besagte Straße war dort, wo sie sich nicht steinig wölbte, tief zerfurcht, so überwuchert wie ein Pfad im Regenwald und fast so steil wie eine Wand. Das alte Auto zitterte wie ein ausgedientes Schlachtross, setzte zurück, schnaubte und mühte sich hinauf, es stieß vorn zischend Dampf aus, hinten schwarzen Qualm, während Linnet den Atem anhielt und Simon fluchend das Steuer umklammerte.

Ein Omen, dachte sie. Wären wir bloß nicht gekommen. Es wird nicht klappen. Kann es gar nicht... 

Auf halber Höhe des Hügels zweigte eine Fahrspur an einem verwitterten, unleserlichen Schild nach rechts ab, sie fuhren aber weiter hinauf und erreichten einen runden Platz, flach wie ein Teller voll gemischtem Salat. In der Mitte, von einem Sandring abgegrenzt, wucherten Brombeere und Geißblatt, niedrige Heidelbeersträucher, vorwitziger gelber Sonnenhut und schüchterne weiße Gänseblümchen. Dazwischen ragte eine zerzauste Kiefer auf, ebenso hartnäckig wie der Seewind, der sie deformiert hatte, und von einem aufgeregten Eichelhäher bewohnt wurde. Dahinter, an die andere Flanke des Hügels geschmiegt und dem glitzernden Meer zugewandt, lag ein langgestrecktes, niedriges Haus, dessen weiße Zedernschindeln jenen in England so begehrten Silberschimmer anzunehmen begannen.

»Gütiger Gott!«, stieß Simon schwitzend und keuchend aus, als sie vor der Hintertür hielten. »Marshall hat gesagt, man muss die Steigung im ersten Gang nehmen. Worin denn sonst, verdammt noch mal!«

»In einem neuen Wagen. Er kann es nur so gemeint haben.« Sie lachte, um ihre schon chronische Gereiztheit zu neutralisieren.

Er ging bemüht munter darauf ein. »Pass auf: Ich werde mein Möglichstes tun, um einen Wagen in der Tombola zu gewinnen, auf dem nächstbesten Volksfest. Was sagst du dazu?« Er wischte sich das Gesicht am Ärmel ab und grinste verlegen.

»Wie edelmütig von dir. Vielen Dank.« Sie spürte, wie sich ihr Gesicht zu einem schiefen Lächeln verzog.

Die Grundfesten ihrer Ehe bröckelten schon seit jener regnerischen Nacht in Cornwall, als Linnet hinter dem Steuer eingeschlafen war, und noch kein Rettungsversuch für ihre Ehe war derart von Angst bestimmt gewesen wie dieser. Da saßen sie nun und schauten sich um, wagten sich nicht zu bewegen, wagten nicht, sich der ungestörten Zweisamkeit auszuliefern, die ihnen zwei Wochen lang unter dem Dach der Marshalls bevorstand.

»Warum sitzen wir hier, wenn das Haus wartet?«, fragte er nach einer Weile. »Sieht großartig aus. Richtig komfortabel. Passend zu einem Haus namens Schwanensee.«

»Ich weiß nicht, ob ich nicht auch dann hier sitzen würde, wenn dieses Wrack ein vollklimatisierter Rolls-Royce mit fließend kaltem und warmem Whisky wäre.«

»Spar dir deine Anwandlungen. Ich bin nicht in der Stimmung dafür. Ich bin weiß Gott noch müder als du.«

Ja, dachte sie. Es ist sehr anstrengend, mit einer Hand zu chauffieren, obwohl gerade das zu dem wenigen gehört, was du noch zu tun vermagst – und woran du mich unaufhörlich erinnerst. Auch so eine Eigenheit von dir, in der Wunde zu stochern. Ich leiste fünfmal mehr als früher, um die Lücken zu füllen. Vielleicht habe ich zu viel getan. Vielleicht war das falsch... 

Der Hund hinter ihnen regte sich, stand auf, um aus dem Fenster zu schauen, und Linnet lehnte sich nach hinten, um ihm die Tür zu öffnen. »Los, Frey«, forderte sie ihn auf. »Ein Spaziergang wird dir guttun.« Aber der Hund wandte sich desinteressiert von der Szenerie ab, ließ sich fallen, gähnte und schlief wieder ein. Simon gähnte, wie angesteckt, ebenfalls, und sie blieben noch sitzen und bewunderten die grüne, blühende Pracht ringsum.

»Unglaublich«, murmelte sie. »Hast du jemals so einen Garten gesehen? Hier war ein Genie am Werk. Der schönste Garten, den ich je hatte, war ein Schulhof, verglichen mit dem da. Scheußlich, die Ferien mit einem Minderwertigkeitskomplex zu beginnen. Wenn es drin genauso aussieht wie draußen, dann möchte ich lieber gleich wieder fort... Simon, was sind das für Leute, die Marshalls?«

»Seine Frau kenne ich nicht. Ihn selbst nur flüchtig. Aber er ist nett. Durchaus wohlgeraten. Freundlich. Langer, hagerer Bergsteigertyp, schätzungsweise fünfundfünfzig. Betriebsam bis dorthinaus. Ich mag ihn, und es tut mir leid, dass er seinen Abschied nimmt, jetzt, wo ich es endlich erreicht habe, an diese Universität zu gelangen. Ich habe es erst nach fünfzehn Jahren Lehrtätigkeit an allen möglichen Orten geschafft – ich werde nie meinen Abschied nehmen! Wie kann er  sich einbilden, jemals etwas zu finden, was der Universität gleichkommt oder sie gar übertrifft?«

Das fragte sie sich auch. Hort der Bildung hatte sie bei Simon immer geheißen. »Hat er sich dazu geäußert?«

»Ja. Nach fünfundzwanzig Jahren gelüstet es ihn nach Abwechslung, nach einem neuen Leben. Das kann ich ja verstehen, aber gleich so etwas! Er verzichtet aufs Dekanat und aufs Rampenlicht der Öffentlichkeit wegen einem mickrigen Schulinspektorposten in einem Nest wie Blakewell! Es geht ihm nicht ums Geld, obwohl er jetzt noch ein bisschen mehr bekommen wird, wie er sagt. Der schwimmt im Mammon – all die veröffentlichten Bücher, Gastvorlesungen und Vorträge. Außerdem hat er Privatvermögen – entstammt einer alten Londoner Familie. Aber ich halte ihn dennoch für verrückt!«

»Warum überlässt er uns das Haus?«

»Vermutlich eine Geste: ich komme, er geht. Zufällig habe ich erwähnt, dass wir noch keinen Urlaub gebucht haben, und da hat er gemeint, dann könnten wir ja hier auf Schwanensee wohnen, während er an der Universität seine Angelegenheiten regelt und umzieht.«

»Nette Geste – bei hundertfünfzig Pfund pro Woche.«

Drei Monate lang hatte er von Urlaub gesprochen, getan hatte er freilich nichts, aber ihr Angebot, sich darum zu kümmern, hatte Simon stets abgelehnt: Es gebe immer noch einiges, wozu auch ein Krüppel imstande sei, hatte er gesagt.

Er begann sich allmählich zu langweilen und wurde nervös. »Wie sieht's aus? Gehen wir hinein?«

»Die Fischerhütte, in der wir im Vorjahr gewohnt haben, wäre mir lieber.« Sie seufzte und griff nach der Türklinke wie jemand, der entschlossen ist, den Sprung ins kalte Wasser zu wagen. »Komm, Kleiner«, sagte sie zu dem siebzig Kilo schweren Ungetüm auf dem Rücksitz. Ein feuchtbraunes Auge blinzelte ihr lustlos zu. Sie stieg aus, um nachzusehen, was mit dem Hund los war. »Hör mal, Frey, wenn du dieses Wrack nicht augenblicklich verlässt, dann gehst du in die Luft und explodierst«, warnte sie ihn, während sie ihm sanft die Hand auf die Stirn legte.

»Hat er Fieber?«, fragte Simon besorgt. Wenigstens an seiner Fürsorglichkeit und an seinem Gefühl für die Kinder hatte sich nichts geändert.

»Kaum. Kein heißer Glanz in den Augen. Na, komm schon, altes Haus, steh auf! So! So ist’s recht. Na, also.«

Frey tat, als hätte er noch nie staubigen Erdboden gesehen, und betrat ihn wie glühende Kohlen. Der Eichelhäher begann unverzüglich, ihn mit einem wahren Kugelhagel von Beschimpfungen zu überschütten. Frey ignorierte das indes majestätisch wie ein alternder Löwe und schritt gemächlich um das kleine Reich des Vogels. Sie schauten beunruhigt zu, doch als der Hund einem Schmetterling nachsetzte, sperrte Simon die Haustür auf. Sie traten ein.

Und blieben wie angewurzelt stehen.

 

 

 

 

  Zweites Kapitel

 

 

Die lange Diele war finster, da sämtliche Vorhänge in den Zimmern, die von hier ausgingen, zugezogen waren. Es schien, als habe der Raum die heiße, stickige Luft aus allen Himmelsrichtungen angesaugt. Die Atmosphäre war geradezu gesättigt mit den Ausdünstungen von feuchter Blumentopferde und Fäulnis. Die Ursache war ganz harmlos, wie sich bald herausstellen sollte. Aber Linnet zuckte zurück und berührte die Tür. Schlagartig... war der strahlende Nachmittag dahinter sehr weit entfernt.

Simon tastete nach dem Lichtschalter. »Um Gottes willen! Wir lüften zunächst einmal – und zwar schnellstens! Marshall hat gesagt, sein Hausmeister würde dies erledigen.«

Sie huschten von Zimmer zu Zimmer, zogen Vorhänge auseinander und rissen Fenster auf.

»Es ist absurd, aber mir ist, als täte ich etwas ganz und gar Verbotenes«, flüsterte sie und zuckte zusammen, als er sagte: »Du meine Güte, warum flüsterst du denn? Wir packen jetzt aus und essen etwas.«

»Zuerst schauen wir uns in aller Ruhe um. Wer weiß – vielleicht vergeht uns die Lust zu bleiben.« Sie schüttelte sich. »Es sind einfach zu viele Pflanzen da, und sie haben viel zu viel Wasser bekommen. Das riecht wie aus offenen Gräbern nach einem tropischen Sturm!«

Sie befanden sich in der geräumigen Küche, die um etwa einen halben Meter tiefer an der Hügelflanke lag als der Rest des Hauses. Bei geschlossenen Vorhängen hatte sie wie eine dunkle Höhle gewirkt, doch nun strömte das Licht von drei Seiten herein. Über dem Ausguss gab es zwei kleine Fenster, ihnen gegenüber eine Glastür mit sechs Scheiben, die zu einer Sonnenterrasse führte. Das Panoramafenster in der langen Wand gewährte Ausblick auf den grünen Hügel, der zum Meer abfiel: in flimmerndes Lavendelblau, das zu zartem Grau verblich und dann mit dem fernen Horizont verschmolz.

»Kein Wunder, dass sie uns erlaubt haben, Frey mitzunehmen«, sagte sie, auf einen leeren Vogelkäfig über dem Ausguss und mehrere Plastiknäpfe deutend. »Die müssen einen Zoo haben!«

Auf sämtlichen Fensterbrettern, auf Wandborden, Tisch und Hängeschränken standen Dutzende von genügsamen Begonien.

»Mein Gott, hat Mrs. Marshall nichts anderes zu tun, als sich darum zu kümmern?« Sie betrachtete unfreundlich die Haufen verwelkter Blüten, die diese Pflanze abgeworfen hatte. »Begonien sind mir ein Greuel. Komm, wir sehen mal nach, ob sie irgendwo einen Philodendron haben.« Sie ging erwartungsvoll über die Stufe ins Wohnzimmer, das sich unmittelbar an die Sonnenterrasse anschloss.

Ein gepflegter einzelner Philodendron hing von einer Konsole neben dem riesigen Panoramafenster herab, das eine großartige Aussicht auf Himmel und Meer einrahmte, aber es gab noch andere Pflanzen, vorwiegend Begonien. Sie standen in einer langen Reihe unter dem Fenster, auf dem Kaminsims, auf dem Kaffeetisch und über die vollgestopften Bücherregale verteilt, die eine ganze Wand einnahmen. Die Übertöpfe, eine ansehnliche und phantasievolle Sammlung, waren nicht nur unter den Händen eifrig experimentierender Einheimischer entstanden, sondern auch am anderen Ende der Welt auf Töpferscheiben, die schon seit fünfhundert Jahren stillstanden.

Die Möbel ergaben eine angenehme Mixtur aus Rattan, Eisen, antikem Kirschbaum- und Ahornholz. Der Kaffeetisch war aus einem gewaltigen, wunderschönen Stück Treibholz gefertigt und wog mindestens einhundertvierzig Kilo. Ein dicker Strukturteppich bedeckte den gebohnerten Hartholzboden. Zu beiden Seiten des Kamins stand je eine Liege aus Flechtwerk, die eine groß, die andere klein. Alles war angenehm sauber und ordentlich, und vereinzelter Kleinkram, der sich im Laufe des Lebens angesammelt hatte, verlieh dem Raum ein behagliches Aussehen.

»Aber kein warmes, kein einladendes«, murmelte sie, als Simon ging, um die Couch auszuprobieren. Sie wandte sich den Büchern zu, als könnten die ihr verraten, warum es sich so verhielt. Aber sie entdeckte nur, dass die Marshalls alles lasen – angefangen von Archäologie über Botanik, Pädagogik, Psychologie, Rechtswissenschaft und Sexualkunde bis hin zur Zoologie. Und sie gruppierten die Bücher kurios: Lassie stand eingeklemmt zwischen Der nackte Affe und Der Menschenzoo von Desmond Morris, drei Ian Flemings und zwei Mickey Spillanes in bunten Schutzumschlägen steckten kühn zwischen Asimov, Kafka und Lessing.

»Tja, jetzt kann ich mir selbst antworten«, sagte sie nachdenklich. »Machen wir weiter, bevor ich...« Sie hielt inne.

»Bevor du – was? Ist ja auch egal!«, meinte er gereizt. »Ich möchte auspacken, etwas essen und mich dann ein bisschen hinlegen. Diese Couch ist recht anständig. Nur nicht lang genug.«

»So ein Pech«, sagte sie ungehalten und ging in die Diele. »Hier stinkt es noch immer fürchterlich. Hat er gesagt, wo wir schlafen dürfen?«

»Warum sollte er? Wir benutzen natürlich das Schlafzimmer. Es muss das hier sein, hier links.«

»Klar! Es hat ein eigenes Bad.«

»Was passt dir schon wieder nicht?«, brauste er auf, aber sie gab keine Antwort, denn er wollte es zweifellos im Grunde gar nicht wissen.

Stumm, durch eine praktisch unüberbrückbare Kluft getrennt, besichtigten sie Schlafzimmer und Bad, und dann las Linnet die Titel der Bücher, die sich auf dem einen Nachtkästchen stapelten, und fragte sich, wer von den Marshalls sich mit Jurisprudenz befasste. Simon betrachtete unterdessen einen dekorativ gerahmten Stammbaum, der gegenüber des Bettes hing.

In der linken unteren Ecke, in spinnwebfeiner, mit einer gespaltenen Feder ausgeführter altmodischen Handschrift, stand die Signatur Simenon Nathaniel Marshall mit dem Datum 25. Dezember 1912. Die früheste Jahreszahl auf dem Stammbaum war 1674 (Aaron Marshall), die letzte 1957 (Edward Marshall).

»Hier ist Graham«, sagte er, und deutete auf die Tafel. »1916. Verheiratet mit Arlena Carbury. Er ist also der Großonkel des jungen Edward. Hm... Merkwürdig.«

»Was ist daran merkwürdig?«, fragte sie, ein bisschen hysterisch. »Und hier drin sind noch neun triefnasse Pflanzen und drei im Bad! Auf dem Wassertank ebenfalls drei!« Sie setzte sich verdrossen aufs Bett.

»Sieh dir das an! Es wird von Zeit zu Zeit heruntergenommen und ergänzt. Hier die Eintragungen sind mit anderer Tinte gemacht, angefangen bei der Nachkommenschaft von Simenon senior, zu der auch Graham gehört. Simenon junior – 1900 –, der dies im Alter von zwölf Jahren angefertigt hat, wollte es seinen Eltern offenbar zu Weihnachten schenken. Aber seine Frau und seine Kinder sowie deren Gattinnen und Kinder hat man mit einer anderen Tinte eingetragen, mit blauer, zusammen mit den Geburtsjahren. Nur Arlenas Geburtsjahr fehlt.«

Sie stand auf, um sich das anzusehen.

»Kein Geburtsjahr – und keine Nachkommen. Dachte ich's mir doch.« Sie starrte traurig den Zweig des Baumes an, der nicht mehr gedieh und keine Früchte mehr trug.

»Wieso? Und was denkst du jetzt?«, höhnte er.

»Wenn es dich interessieren würde, wäre ich gern bereit, es dir zu verraten.« Ach Gott, warum habe ich das gesagt, dachte sie. »Komm, damit wir die Besichtigungstour beenden.«

In einem kurzen schmalen Gang, der rechtwinklig von der Diele abzweigte, entdeckten sie zwei einander gegenüberliegende Türen. Der Raum hinter der einen war karg möbliert und enthielt keine Pflanzen. Ganz eindeutig das Gästezimmer, wie sich an dem ausziehbaren Bett erkennen ließ.

Hinter der anderen befand sich ein Studierzimmer, unverkennbar maskulin und von so starker privater Ausstrahlung, dass Linnet zunächst zögernd auf der Schwelle verharrte. Dann jedoch marschierte sie zum Fenster, streckte sich über eine abgewetzte, bequeme Couch hinweg, zog die Vorhänge auseinander und stieß das Fenster übertrieben heftig auf, um die Rechtmäßigkeit ihres – wenngleich nicht angestrebten – Hierseins zu dokumentieren.

»Gott sei Dank, hier sind auch keine Pflanzen!«, sagte sie zornig und dankbar zugleich.

Der einzige bemerkenswerte Gegenstand war ein Steckbrett, das fast eine ganze Wand einnahm und in gefälliger Anordnung all das zeigte, was die Marshalls im Laufe der Zeit auf der Insel gefunden hatten. Steine, verschiedene Mineralien, getrocknete Pflanzen, Muscheln, winzige, von der Sonne gedörrte Skelette, Schmetterlinge und Nachtfalter und vieles mehr. Bis auf ein uraltes Feuersteinmesser war nichts für sich genommen wertvoll. Aber alles zusammen, als Verherrlichung der Schätze der Erde, war geradezu eine Kostbarkeit, denn es verriet die Liebe der Marshalls zu dieser Insel, von der alles stammte.

»Beachtliche Leistung«, fand er.

Linette stand da wie eine Statue. »Ob Marshall je daran gedacht hat, das auf einer Kirmes auszustellen?«

»Und ob, Professor Restorick. Er tut's jedes Jahr, seit sie das Haus hier haben«, sagte eine näselnde Stimme in schleppendem, familiärem Ton. »Hat’s vor vierzehn Tagen hergebracht. Macht auch bei der Pferdeschau mit.«

Sie fuhren erschrocken herum und erblickten einen mageren kleinen Mann mit faltigem Hals, der in dreckigen Klamotten am Türrahmen lehnte und an einem Strohhalm kaute. Obwohl ein offensichtlich arbeitsamer, gutsituierter Farmer, sah er aus wie eine Wasserratte, die vor Jahren angespült worden war.

»Ich bin der Hausmeister von Professor Marshall, Alfred Stokes, aus dem Dorf. Wollte nur mal sehen, ob ihr gut angekommen seid. Meine Stute hat heute in aller Herrgottsfrühe ein Fohlen geworfen, und da konnte ich nicht zum Auslüften kommen wie sonst. Hab’ gestern aber alle Pflanzen gegossen. Wenn euch was fehlt, braucht ihr nur zu rufen. Vielleicht gibt’s Scherereien mit dem Bad in der Diele. Mein Sohn Tobias ist Installateur. Hat dran gearbeitet, ist aber noch nicht zufrieden.«

Seine ruhelosen Augen, die lauernde Kopfhaltung und die Unverschämtheit in Ton und Gebaren standen in krassem Widerspruch zu den freundlichen Worten. Er machte den Eindruck, als hätte er die beiden schon recht lange beobachtet.

Linnet fand ihn sofort unsympathisch. Diese Sorte Mensch war ihr durchaus nicht unbekannt.

»Danke, Mr. Stokes«, sagte Simon, »das ist sehr aufmerksam von Ihnen. Ich glaube, wir werden ganz gut zurechtkommen. Doktor Marshall hat mir Ihre Telefonnummer gegeben. Wir haben die Fenster geöffnet und uns umgesehen.«

»Ja, da gibt’s eine Menge zu sehen, in diesem Haus«, stimmte der Farmer zu, und wieder hörte Linnet einen anzüglichen Unterton heraus. »Na ja, dann geh' ich jetzt.« Er nickte ihnen zu, fasste sich an den alten Hut und verschwand so lautlos, wie er gekommen war.

»Wie hat er denn das gemeint?«

»Was weiß denn ich? Linnet, was ist denn los mit dir? Er wollte bloß nett sein. Das Haus ist groß...«

»So? Hast du gehört, was er gesagt hat? Die Marshalls wollen das Steckbrett ausstellen und bei der Pferdeschau mitmachen, Simon. Werden die Marshalls hier sein – mit uns? Hast du das arrangiert? Ohne mir etwas davon zu sagen? Wozu sind wir dann weggefahren? Auf diese Weise werden wir unsere Probleme nicht lösen.«

»Es war nicht fest ausgemacht. Vielleicht kommen sie morgen Nachmittag«, sagte er ausweichend. »Aber was macht das schon? Sie bleiben ja nur bis Sonntagnachmittag oder -abend. Wir können doch nicht erwarten, dass sie sich woanders einquartieren, wenn wir ohnehin nur ein Zimmer beziehen. Wir können uns verdammt glücklich schätzen...«

»In der Tat? Es kommt mir nicht darauf an, wie lange die Marshalls bleiben. Mir kommt es auf etwas völlig anderes an!«

»Um Himmels willen, verschone mich! Es ist einfach zu heiß.«

Ihr kurzes, lockiges Haar versprühte rote Funken, aber ihre großen grauen Augen, ansonsten so glasklar, waren jetzt dunkel vor Tränen. »Ja, natürlich. Und im Januar war es zu kalt. Oder du warst zu beschäftigt oder zu müde oder sonst was; in den letzten drei Jahren hast du dich nur immer vor allem gedrückt! Es ist ein Pech, dass das meiste von dem, was dich beansprucht, was deine Aufmerksamkeit von uns ablenkt, nicht eben unwichtig ist. Angenommen, es klappt endlich mit dem Lehrgang in Afrika? Oder man möchte es in Oxford noch einmal versuchen? Dann müsstest du gehen! Nur – was ist dir mehr wert, deine Karriere oder unsere Ehe? Seit wir uns kennen, weigerst du dich einzusehen, dass auch du deine Fehler hast. An jedem Krach, an jedem Missgeschick war nur ich schuld. Immer! Was du dir von dem Unfall gemerkt hast, ist, dass ich den Wagen gefahren habe. Dabei habe ich dich angefleht, irgendwo anzuhalten, weil wir beide übermüdet waren und ich dich eigentlich nicht am Steuer ablösen wollte – aber du hast dich geweigert. Wie hätte ich, ich allein, dich aus dem Wagen ziehen sollen? Hast du das auch bedacht? Und da glaubst du, vierzehn Tage – weniger! – in einem Sommerhaus, das fremden Leuten gehört, würden uns genügen? Für die Miete, die wir hier zahlen, und für das Geld, das wir hier noch brauchen werden, könnten wir uns eine ausgiebige Behandlung leisten...«

»Lass das. Wir brauchen keinen Psychotherapeuten.« Er knöpfte sein kurzärmeliges Hemd auf und zog es aus, wobei er es mit übertriebener Sorgfalt über den Stumpf seines linken Armes streifte. Er hatte sich fast alle Hemden und Jackettärmel kürzen lassen, um die Verstümmelung sichtbar zu machen. Um sie vor allem ihr ständig vor Augen zu halten. Den Haken oder die Prothese trug er nur selten. »Was wir zu tun haben, können wir auch selbst tun.«

»Wie? Indem wir hier für unsere Streitereien bezahlen? Oder dafür, dass wir uns gegenseitig anschweigen? Da hätten wir ebenso gut zu Hause bleiben und uns einen neuen Wagen kaufen können. Du redest ja nicht, du klagst an! Alles ist schlimmer geworden, nicht besser«, sagte sie niedergeschlagen. »Ich habe dich um Verzeihung gebeten, ich habe alles nur Erdenkliche getan, um dich zu entschädigen...«

»Da müsstest du dich schon verdammt anstrengen, um mich für das hier zu entschädigen!«, schrie er, den Armstumpf vorgestreckt.

Diese melodramatische Szene war ihr nicht neu. »So?«, fragte sie ruhig. »Was soll ich denn tun? Ich bin zu allem bereit.«

»Was ist bloß in dich gefahren? Willst du dreiundzwanzig Jahre Ehe und die Kinder einfach wegwerfen, wegen ein paar Streitereien?«

»Und du?«

»Wovon redest du? Daisy und Hector...«

»Daisy und Hector sind alt genug, um auf eigenen Füßen zu stehen. Entweder wir begeben uns – gemeinsam – in Behandlung, oder ich verlasse dich. Ist das klar?«

»Ich gehe jetzt auspacken«, beschloss er wütend. »Und wir benutzen das Gästezimmer, bis die Marshalls wieder abgereist sind. Sie haben Anspruch auf ihr eigenes Zimmer. Du kannst machen, was du willst.« Er stapfte hinaus.

Sie blieb einen Moment lang niedergeschlagen stehen und ging dann, weil ihr ohnehin nichts anderes übrigblieb, hinaus zum Wagen, um ihm zu helfen.

Frey lag auf den kühlen Stufen und zog bei jedem keuchenden Atemzug pfeifend die Luft ein, daher scheuchten sie ihn nicht auf. Aber es war sehr heiß, und nachdem Simon mehrmals mit hochbeladenem Arm über ihn hinweggestiegen war, fuhr er ihn unbeherrscht an.

»Könntest du nicht ausnahmsweise deine Prothese benutzen?«, schrie sie. »Was ist denn mit dir los? Du siehst doch, dass er sich nicht wohl fühlt!« Sie riss eine Schublade der Kommode im Gästezimmer auf, während er die Schranktür öffnete.

»Was machen wir jetzt? Die Schubladen sind voll!«

»Der Schrank ebenfalls.« Er nahm einen teuren, hochmodischen Anzug heraus. »Gehört wohl Graham – entspricht ganz seiner Größe und seinem Stil. Die anderen Sachen auch.«

»Anscheinend ist alles da, was er besitzt. Ich möchte mich hier ja nicht breitmachen, aber ich weigere mich, vierzehn Tage lang aus dem Koffer zu leben. Wir werden also doch in ihrem Schlafzimmer Platz für uns machen müssen.«

Der Schlafzimmerschrank war nicht so voll. »Aber eine komplette Garderobe ist da«, sagte sie. »Kleider, Blusen, Hosen...« Sie nahm eine Hose vom Bügel und hielt sie sich an, hängte sie kopfschüttelnd auf und musterte die Schuhe. »Graham Marshall mag der reinste Kleiderständer sein, aber seine Arlena ist, fürchte ich, ein Mastodon.«

»Wem gehört denn das hier?«, fragte er, schwarze Spitzenunterwäsche hochhaltend. Dann faltete er sie auseinander. »Reizwäsche – Marke Strichmädchen. Mit besticktem Schlitz im Zwickel. Todschick. Davon ist ein ganzer Stoß da. Wir erklärst du dir das?«

Tiefste Melancholie erfasste sie plötzlich. »Wunschträume vermutlich«, sagte sie langsam, während er die Spitzenhöschen zusammenfaltete und zurücklegte. »Sieht auch so aus, als schliefen die beiden in getrennten Räumen. Simon, müssen wir hierbleiben? Können wir nicht...?«

»Was fällt dir ein? Was geht es mich an, was die Marshalls miteinander haben oder nicht haben? Wir machen es uns gemütlich...«

»Wie denn? Wie können wir etwas für unsere Ehe tun an einem Ort, wo es allem Anschein nach ähnliche Probleme gibt? Das ganze Haus war mir gleich unheimlich. Zwischen den beiden muss tiefe Uneinigkeit herrschen – all die Pflanzen, außer in seinen beiden Zimmern. Irgendetwas...«

»Wenn du nicht bleiben willst, dann bringe ich dich zur Fähre, und du kannst mit dem Bus heimfahren. Ich bleibe jedenfalls. Ich esse jetzt einen Bissen, und dann strecke ich mich auf der Couch aus.«

Frey begann wild zu bellen.