Es gibt immer einen Ausweg - Patricia Vandenberg - E-Book

Es gibt immer einen Ausweg E-Book

Patricia Vandenberg

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Beschreibung

Für Dr. Norden ist kein Mensch nur ein 'Fall', er sieht immer den ganzen Menschen in seinem Patienten. Er gibt nicht auf, wenn er auf schwierige Fälle stößt, bei denen kein sichtbarer Erfolg der Heilung zu erkennen ist. Immer an seiner Seite ist seine Frau Fee, selbst eine großartige Ärztin, die ihn mit feinem, häufig detektivischem Spürsinn unterstützt. Dr. Norden ist die erfolgreichste Arztromanserie Deutschlands, und das schon seit Jahrzehnten. Mehr als 1.000 Romane wurden bereits geschrieben. Die Serie von Patricia Vandenberg befindet sich inzwischen in der zweiten Autoren- und auch Arztgeneration. Die S-Bahn war wieder mal übervoll, als Franziska Rühl am Hauptbahnhof einstieg. Es war morgendlicher Berufsverkehr, und den hätte sie gern gemieden. Aber sie sollte um acht Uhr in Dr. Nordens Praxis sein, nüchtern, da er sie gründlich durchuntersuchen wollte. Ihr Magen war leer, ihr feines Gesicht sehr blass, und schwach auf den Beinen war sie ohnehin, da sie gerade erst eine schwere Grippe überstanden hatte. Aber das war nicht das Einzige, was dieses zierliche Mädchen in den letzten Monaten durchmachen musste. Franziska schien vom Pech verfolgt zu sein. Jetzt stand sie zwischen kräftigen Männern und Burschen, eingeengt, wie auch eine ältere Dame, die ebenfalls keinen Sitzplatz bekommen hatte. Franziska wagte kaum zu atmen. Obgleich es noch so früh am Morgen war, schlug ihr schon Bierdunst ins Gesicht, und die lauten Stimmen dröhnten in ihren empfindlichen Ohren. Unflätige Ausdrücke erschreckten sie, und als dann auch noch eine Wolke von Knoblauchdunst sie umwehte, wurde ihr schwarz vor Augen. Sie sackte in sich zusammen. Auf den Boden fallen konnte sie nicht, dazu standen alle zu dicht gedrängt, und so wurde sie erst mal hin und her geschleudert. »He, Fräulein«, sagte ein gewichtiger Mann, »wie haben wir es denn?« »O Gott, o Gott«, flüsterte die ältere Dame, »sie ist ohnmächtig.« Dann hielt die Bahn. Es fanden sich doch zwei Burschen bereit, Franziska hinauszutragen und den Zugbegleiter zu verständigen. Aber auch sie wollten weiterfahren, um nicht zu spät zu ihrer Arbeit zu kommen. Franziska wurde auf eine Bank gebettet. »Man muss den Notarzt rufen«, sagte ein älterer Herr, der

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Dr. Norden Bestseller – 217 –

Es gibt immer einen Ausweg

Patricia Vandenberg

Die S-Bahn war wieder mal übervoll, als Franziska Rühl am Hauptbahnhof einstieg. Es war morgendlicher Berufsverkehr, und den hätte sie gern gemieden. Aber sie sollte um acht Uhr in Dr. Nordens Praxis sein, nüchtern, da er sie gründlich durchuntersuchen wollte. Ihr Magen war leer, ihr feines Gesicht sehr blass, und schwach auf den Beinen war sie ohnehin, da sie gerade erst eine schwere Grippe überstanden hatte. Aber das war nicht das Einzige, was dieses zierliche Mädchen in den letzten Monaten durchmachen musste. Franziska schien vom Pech verfolgt zu sein.

Jetzt stand sie zwischen kräftigen Männern und Burschen, eingeengt, wie auch eine ältere Dame, die ebenfalls keinen Sitzplatz bekommen hatte. Franziska wagte kaum zu atmen. Obgleich es noch so früh am Morgen war, schlug ihr schon Bierdunst ins Gesicht, und die lauten Stimmen dröhnten in ihren empfindlichen Ohren. Unflätige Ausdrücke erschreckten sie, und als dann auch noch eine Wolke von Knoblauchdunst sie umwehte, wurde ihr schwarz vor Augen. Sie sackte in sich zusammen. Auf den Boden fallen konnte sie nicht, dazu standen alle zu dicht gedrängt, und so wurde sie erst mal hin und her geschleudert.

»He, Fräulein«, sagte ein gewichtiger Mann, »wie haben wir es denn?«

»O Gott, o Gott«, flüsterte die ältere Dame, »sie ist ohnmächtig.«

Dann hielt die Bahn. Es fanden sich doch zwei Burschen bereit, Franziska hinauszutragen und den Zugbegleiter zu verständigen. Aber auch sie wollten weiterfahren, um nicht zu spät zu ihrer Arbeit zu kommen.

Franziska wurde auf eine Bank gebettet. »Man muss den Notarzt rufen«, sagte ein älterer Herr, der auf eine andere S-Bahn wartete.

»Ist sie tot?«, fragte jemand.

»Vielleicht so eine Drogensüchtige«, sagte eine gehässige Stimme.

Ein nicht sehr vertrauenerweckender Mann griff nach Franziskas Schultertasche, aber da war plötzlich ein junges Mädchen zur Stelle. Jeans trug sie und eine Pelzjacke.

»Lassen Sie das«, fauchte sie den Mann an.

»Wollte ja nur gucken, ob sie Papiere bei sich hat«, brummte der Mann, der sich dann aber gleich entfernte.

»Ruft jetzt jemand den Notarzt?«, fragte das junge Mädchen. »Ich bin MTA in der Behnisch-Klinik. Ich kümmere mich indessen um die Kranke.«

»MTA, was ist denn das?«, fragte jetzt einer von den Neugierigen.

»Medizinisch technische Assistentin«, erwiderte das junge Mädchen. »Ist das erbärmlich, wenn man so was mal erlebt.«

Aber der Notarzt, vom Zugpersonal herbeigerufen, kam nun doch schon, und zwei Sanitäter mit einer Trage.

»Ich heiße Anna Franke«, sagte das Mädchen. »Bringen Sie die Patientin in die Behnisch-Klinik. Ich bin dort Angestellte.«

Der Arzt war jung und jetzt ziemlich unsicher. »Nun machen Sie schon«, sagte Anna, »oder soll das Mädchen erfrieren? Es ist nämlich verdammt kalt.«

Ja, es war kalt, ein eisiger Wind fegte über den Bahnsteig. »Sie können dann ja gleich mitkommen«, meinte der Arzt stockend.

»Worauf Sie sich verlassen können«, erwiderte Anna ironisch. »Sie haben wohl gerade erst Ihren Doktor gemacht.«

Nun schien er sich gefangen zu haben. »Sieht man mir das an?«, fragte er spöttisch.

»Lassen wir das«, sagte Anna, »kümmern Sie sich um die Patientin.«

*

Dr. Norden war pünktlich in der Praxis. Loni, seine getreue Hilfe, natürlich auch. Und es war acht Uhr.

»Frau Rühl ist noch nicht da«, sagte Loni. »Sie ist doch immer so pünktlich.«

»Kann ja sein, dass sie die S-Bahn verpasst hat«, sagte Dr. Norden. »Aber Herr Basler wird auch gleich kommen.«

»Ein armes Hascherl ist sie«, sagte Loni gedankenvoll. »Ist ein bisschen viel, was sie alles hat mitmachen müssen. Mir ist ein bisserl bange, Chef.«

Wohl war es ihm auch nicht, aber dann kam der Herr Basler, der sich auch mit leerem Magen der Blutabnahme unterziehen musste. Aber das war schnell geschehen, und Franziska war noch immer nicht gekommen. Doch da läutete das Telefon.

»Dr. Behnisch, Chef«, sagte Loni.

»Na, was ist denn da wieder los«, murmelte Daniel Norden. Er erfuhr es sofort und ganz knapp. »Komm mal vorbei, Daniel«, sagte Dieter Behnisch. »Mir haben sie eine Patientin von dir gebracht, die in der S-Bahn zusammengebrochen ist.«

»Franziska Rühl?«, fragte Daniel.

»Genau. In ihrer Tasche war ein Terminzettel von dir.«

»Ich bin schon unterwegs«, erwiderte Daniel.

Loni sah ihn bestürzt an. »Was ist mit dem Dirndl?«, fragte sie.

»In der S-Bahn zusammengebrochen«, erwiderte Daniel Norden kurz. »Die Patienten müssen warten, und wer nicht warten kann, soll sich einen anderen Termin geben lassen. Dieter muss wissen, was mit dem Mädchen los ist.«

»Hoffentlich ist es nicht schlimm«, sagte Loni seufzend.

In der Behnisch-Klinik hatte man sich um das Mädchen bemüht. Der Notarzt hieß Dr. Dietz. Dr. Behnisch kannte ihn schon. Er war nicht voreingenommen, weil Volker Dietz noch so jungenhaft ausschaute. Er wusste bereits, wie ernst dieser junge Arzt seinen Beruf nahm.

Anna hatte ihrem Unwillen indessen bereits Ausdruck gegeben. »Das blöde Volk steht nur herum und schaut dumm aus der Wäsche«, hatte sie erbost geschimpft.

»Ist ja gut, dass Sie zur Stelle waren, Anna«, sagte Dr. Jenny Behnisch, die es dem Mädchen nicht übel nahm, wenn es sich drastisch äußerte. Anna gehörte zu der forschen jungen Generation, die auf freie Meinungsäußerung beharrte, aber sie war in ihrem Beruf zielbewusst und zuverlässig.

Und Anna schimpfte weiter. »Da wird immer getönt, dass man die Autos stehen lassen soll, aber ein paar Wagen mehr können sie nicht anhängen. Ich werde heilfroh sein, wenn ich einen eigenen fahrbaren Untersatz zusammengespart habe.«

Aber dann ging sie an die Arbeit, und die machte sie so gewissenhaft wie immer. Währenddessen sagte allerdings Dr. Dietz zu Jenny Behnisch, dass sie eine sehr resolute Mitarbeiterin hätten.

Jenny lächelte.

»Hat sie Sie auch eingeschüchtert, Kollege? Sie hält nichts von Männern. Sie ist emanzipiert, aber wir können nichts an ihr aussetzen. Ein tüchtiges Mädchen.«

Dann aber kam Dr. Norden. »Ach, der Volker war wieder mal im Einsatz«, sagte er atemlos. »Aber mir pressiert es leider. Wo ist die Patientin?«

Dr. Volker Dietz verabschiedete sich. Auf ihn warteten bestimmt noch mehr Einsätze an diesem Tag.

Dr. Daniel Norden wollte nun seine Patientin sehen, aber Dieter Behnisch sagte ihm, dass sie noch immer nicht bei Bewusstsein wäre.

»Erzähl mir was über sie, damit ich weiß, was ich schnell tun kann«, sagte Dieter.

»Franziska Rühl, einundzwanzig, Musikstudentin bislang«, erklärte Daniel hastig.

»Wieso bislang?«

»Sie studierte Violine. Vor drei Monaten rutschte sie in der Musikhochschule auf der Treppe aus und brach sich den rechten Arm. Studium adieu, wenigstens vorerst. Sie hatte keine Kraft mehr. Hinzu kamen die häuslichen Verhältnisse. Ihre Eltern leben in Scheidung. Dauernd Krach, sie ist ausgezogen. Jetzt kriegt sie kein Geld mehr von ihrem Vater, weil er eine anspruchsvolle Freundin hat. Die Mutter ist verbittert und jammert ihr nur die Ohren voll, wenn sie beisammen sind. Dann hat Franziska eine Grippe erwischt, und viel Abwehrkräfte hatte sie nicht mehr. Ich hatte sie heute nüchtern bestellt, um ihr Blut abzunehmen für eine gründliche Untersuchung. Die kannst du ja jetzt vornehmen. Ich kümmere mich natürlich auch um sie. Kann ich sie jetzt sehen?«

»Ist doch klar!«

Sie gingen gemeinsam zu Franziska. Und als spüre sie Dr. Nordens Nähe, schlug sie die Augen auf.

»Mir ist so schlecht«, murmelte sie. »Ich weiß nicht mehr, wie ich zu Ihnen gelangt bin, Dr. Norden.«

»Sind Sie nicht, Frau Rühl. Sie sind in der Behnisch-Klinik. Aber hier werden Sie gut versorgt.«

»Bezahlt das auch die Kasse?«, fragte sie leise.

»Natürlich bezahlt es die Kasse. Sie sind in der S-Bahn ohnmächtig geworden.«

»Es war so eng, und es hat so gestunken. Nach Bier und Knoblauch, ich darf gar nicht daran denken.«

»Sollen Sie auch nicht«, meinte Daniel Norden aufmunternd. »Mir ist es auch bedeutend lieber, dass Sie jetzt in der Behnisch-Klinik durchgecheckt und danach aufgepäppelt werden. Mit Gewalt kann man eben nicht gesund werden.«

»Aber ich muss mir doch eine Stellung suchen«, flüsterte sie.

»Jetzt müssen Sie mal ganz vernünftig sein, Mädchen«, sagte er fürsorglich. »Zuerst zu Kräften kommen, und dann eine Stellung.«

Und so einfach wird das gar nicht sein, dachte er für sich.

Bürokenntnisse hat sie nicht, da bekommt man jetzt noch am ehesten etwas. Und wenn man so zum Umblasen aussah, wurde es erst recht schwierig. Aber für ihn war es jetzt weitaus wichtiger, dass dem Mädchen wieder auf die Beine geholfen wurde.

»Das Zimmer wurde mir auch gekündigt«, sagte sie leise. »Die Miete ist so erhöht worden, dass ich sie nicht mehr bezahlen kann.«

»Jetzt machen Sie sich keine Gedanken. Es gibt immer einen Weg. Ich komme heute abend wieder vorbei. Jetzt schlafen Sie sich mal richtig aus und denken an gar nichts mehr.«

Das war leichter gesagt, als getan. Franziska Rühl war nicht so wie Anna Franke. Sie hatte nicht diese Ellenbogen, diese Durchsetzungskraft.

»Meinst du, dass sich die Anna mal ein bisschen um Frau Rühl kümmern könnte, Dieter?«, fragte Dr. Norden seinen Freund.

»Das wird sie sich schon nicht mehr nehmen lassen«, erwiderte Dieter lächelnd. »Frau Rühl ist doch ihr Schützling. Weißt du, Daniel, sie ist ein prima Kumpel, aufmüpfig zwar, aber immer zur Stelle, wenn sie helfen kann. Sie glotzt nicht dumm und quatscht nicht. Sie handelt, das hat sie ja heute wieder bewiesen. Sprich mal selber mit ihr. Du kennst Franziska Rühl besser als ich.«

»Ich komme in der Mittagspause noch mal her. Jetzt muss ich in die Sprechstunde. Bei uns ist auch viel los.«

Fee Norden und ihre Kinderschar mussten an diesem Tag wieder lange auf den Papi warten, aber die gute Lenni schien schon so was geahnt zu haben, denn sie hatte ein Essen zubereitet, das man leicht warmhalten konnte. Es gab Rahmgulasch und Spätzle.

Dr. Norden war gleich nach der Sprechstunde zur Behnisch-Klinik gefahren, weil er in der Gegend sowieso noch einen Krankenbesuch machen musste. Franziska schlief jetzt. Sie hatte etwas gegessen, und es ging ihr nun schon besser. Befunde gab es noch nicht, aber Dr. Norden konnte sich ein paar Minuten mit Anna unterhalten.

»Ich hatte zuerst nur eine Mordswut auf die Gaffer, weil ich gar nicht richtig mitgekriegt hatte, worum es ging«, sagte Anna, »aber dann sah ich das Mädchen, und schon kam so ein Widerling daher und wollte ihr die Tasche klauen. Aber er ist verschwunden, als ich ihn angefaucht habe. Nur mal nachsehen, ob sie Papiere bei sich hat, wollte er angeblich. Aber ich kenne solche Typen, denen möcht ich nicht im Dunkeln begegnen.«

Eine flinke Zunge hatte sie, und mit ihrer Meinung hielt sie nicht zurück, aber Dr. Norden gefiel das trotzdem, weil sie nicht ordinär wurde, sondern eben ein hellwaches Mädchen war, das mit beiden Beinen fest im Leben stand.

»Na, und dann kam der Notarzt, dieses Büberl«, fuhr Anna fort. »Ich war heilfroh. Ich habe schon gemerkt, dass es gar nicht gut ausschaute.«

»Dr. Dietz ist zwar jung, aber schon ein tüchtiger Arzt«, erklärte Dr. Norden.

»Aber er schaut halt noch aus wie ein Student, da kann man doch nicht gleich Vertrauen haben«, meinte Anna.

»Ich hoffe für den jungen Kollegen, dass nicht alle so denken«, stellte Dr. Norden fest. »Aller Anfang ist nicht leicht, Anna, und auch für Franziska Rühl wird es nicht leicht sein, einen neuen Weg zu finden.«

»Wieso einen neuen?«, fragte Anna.

»Sie hat Musik studiert, Violine, dann ist sie über eine Treppe gestürzt und hat sich den Arm gebrochen. Mit dem Geige spielen ist es vorerst vorbei. Und dann hat sie auch noch eine schwere Virusgrippe bekommen, die sie sehr geschwächt hat.«

»Armes Hascherl, tut mir leid«, sagte Anna mitleidvoll. »So was nimmt mich immer mit. Sie ist auch bestimmt so ein Sensibelchen, so wie sie ausschaut.«

»Sie haben recht, und es wäre sehr nett, wenn Sie mit Ihrer gesunden Einstellung ihr ein bisserl helfen würden«, sagte Daniel. »Sie braucht einen Menschen, der ihr Mut macht.«

»Wenn sie es mag, an mir soll es nicht liegen. Ich mag klassische Musik, und man findet selten jemand, mit dem man vernünftig reden kann. Die meisten sind ja eh nur aufs Geld aus, das am besten vom Himmel schneien sollte, oder sie gammeln herum, möchten nur reisen, und vielleicht mal ab und zu ein bisschen studieren, damit sie als Intellektuelle gelten. Beachtet wollen sie werden, aber richtig arbeiten wollen sie auch nicht.«

Da klang allerlei Verächtlichkeit heraus, und Dr. Norden fragte sich, wie viel negative Erfahrungen auch Anna schon gemacht hätte. Aber darüber wollte er jetzt nicht mit ihr reden.

»Ich werde schon mit ihr reden«, sagte Anna, »und wenn sie mich mag, dann kommen wir auch klar, Dr. Norden.«

»Das würde mich sehr freuen«, erwiderte er, »zu allem, was sie durchgemacht hat, muss sie nämlich auch noch ihr Zimmer aufgeben, weil die Miete erhöht worden ist.«

»Da könnte ich gleich helfen. Ich habe ja eine kleine Wohnung«, überlegte Anna. »Nicht gerade komfortabel, aber zwei hätten darin auch Platz, vorausgesetzt, dass man sich versteht. Mit jedem mag man ja nicht zusammenhausen. Ich habe es schon einmal versucht, aber es war ein Fiasko. Aber so, wie sie ausschaut, werden wir schon klarkommen.«

»Das ist sehr lieb von Ihnen, Anna«, sagte Dr. Norden.

»Der Meinung sind aber ganz wenige«, antwortete sie gleichmütig.

»Ich weiß, wie die Behnischs über Sie denken, und ich bin auch ein ganz guter Menschenkenner. Wir mögen ehrliche Menschen.«

»Auch wenn sie eine große Klappe haben?«, fragte sie verschmitzt.

»Man spürt, was sich dahinter versteckt, Anna. Aber wenn Ihnen Dr. Dietz noch einmal über den Weg läuft, betrachten Sie ihn nicht als Büberl. Er ist auch so ehrlich wie Sie, nur fehlt es ihm ein bisschen an Zungenfertigkeit.«

Sie blickte zu Boden. »Manchmal rede ich ja auch Stuss, wenn ich gerade eine Wut im Bauch habe, und grad in so einem Fall. Mir ist es nämlich mal passiert, dass mich zwei üble Kadetten in der Bar überfallen haben, und da haben die Leute zugeschaut und blöd geredet, als würde es mir Spaß machen. Ich habe hinterher nicht gerade hübsch ausgesehen, als ich mich mit Händen und Füßen und dem Regenschirm gewehrt habe. Aber dass sie dann mit meiner Tasche und allem Geld, was ich noch hatte, abgehauen sind, hat auch keinen geniert. Bloß weil ich Jeans trug und so eine poppige Jacke, haben sie mich gleich als Flittchen bezeichnet. Irgendwo hört bei mir das Verstehen auf, verstehen Sie das auch?«

»Ja, das verstehe ich sehr gut, Anna. Aber es ist gut, dass Sie dennoch anderen helfen.«

»Es kommt bei mir jetzt aber auch darauf an, wem ich helfen will.«

Ja, sie hatte bereits genügend Lehrgeld bezahlen müssen. Seit ihrem achtzehnten Lebensjahr musste sie allein für sich sorgen. Der Vater war gestorben, die Mutter hatte sich bald wieder verheiratet. Sie war gern gegangen, denn mit dem Mann hätte sie sich nicht verstanden. Aber man musste Anna erst genauer kennenlernen, um zu erfahren, was an diesem Mädchen so liebenswert war. Franziska sollte es kennenlernen.

Als Anna mit ihrer Arbeit fertig war, ging sie zu Franziska. Vorher hatte sie noch mit Jenny Behnisch gesprochen, um zu fragen, wie sie sich verhalten solle.

»Ganz unbefangen, Anna«, sagte Jenny. »Sie werden schon die richtigen Worte finden.«

»Danke für Ihr Vertrauen«, sagte Anna.

Auf Zehenspitzen trat sie dann an das Bett, in dem Franziska mit geschlossenen Augen lag. Wie zart sie ist, dachte Anna. Sie wird es nicht leicht haben im Leben.

Franziska schlug die Augen auf. »Hallo«, rief Anna weich, »ich bin Anna Franke. Geht es schon besser?«

»Sie haben mir geholfen, Dr. Behnisch hat es mir gesagt«, flüsterte Franziska. »Vielen Dank.«

»Keine Ursache, war ganz selbstverständlich«, erwiderte Anna.

»So denken die meisten Menschen aber nicht«, sagte Franziska. »Es war so ein Gestank um mich herum und diese ordinären Reden. Und so eng war es. Ich kann es nicht ertragen, ich bekomme Platzangst.«

»Das geht mir auch so, aber ich habe gelernt, die Ellenbogen zu gebrauchen. Aber wenn ich mit nüchternem Magen in diese stinkende Bahn müsste, würde ich auch umfallen.«

»Sie sind nett«, sagte Franziska. »Ich sollte doch nüchtern zur Untersuchung kommen. Für ein Taxi reicht das Geld nicht.«

»Dr. Norden hat ein wenig angedeutet, dass Sie Sorgen haben, Franziska. Sie sind ihm doch deswegen nicht böse. Er weiß nämlich, dass ich Platz in meiner Wohnung habe und gerne darin nicht allein leben würde. Aber ich habe noch nicht die richtige Partnerin gefunden. Wir würden uns sicher verstehen.«

Franziska sah sie staunend an. »Sie kennen mich doch gar nicht«, sagte sie leise.

»Oh, ich kenne Sie jetzt schon ganz gut. Und Dr. Norden kennt Sie sehr gut. Aber wir können uns noch näherkommen. Jetzt bleiben Sie erst mal einige Tage hier, bis Sie wirklich bei Kräften sind.«

»Ich muss aber eine Stellung finden, bevor ich Miete bezahlen kann«, sagte Franziska bebend.