Es war wie ein Wunder - Patricia Vandenberg - E-Book

Es war wie ein Wunder E-Book

Patricia Vandenberg

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Beschreibung

Für Dr. Norden ist kein Mensch nur ein 'Fall', er sieht immer den ganzen Menschen in seinem Patienten. Er gibt nicht auf, wenn er auf schwierige Fälle stößt, bei denen kein sichtbarer Erfolg der Heilung zu erkennen ist. Immer an seiner Seite ist seine Frau Fee, selbst eine großartige Ärztin, die ihn mit feinem, häufig detektivischem Spürsinn unterstützt. Dr. Norden ist die erfolgreichste Arztromanserie Deutschlands, und das schon seit Jahrzehnten. Mehr als 1.000 Romane wurden bereits geschrieben. Die Serie von Patricia Vandenberg befindet sich inzwischen in der zweiten Autoren- und auch Arztgeneration. Dr. Daniel Norden schickte sich an, die Praxis zu verlassen, als das Telefon läutete. Loni, seine Sekretärin, hatte den Hörer gerade erst aufgelegt. »Heut' geht es ja wieder zu«, murmelte sie, aber dann meldete sie sich gleich. Nachdem sie eine Sekunde gelauscht hatte, gab sie dem Arzt einen Wink, noch einen Augenblick zu warten. Da wusste Dr. Norden, dass es dringend war. »Gut, Josten, Lärchenweg fünfzehn«, wiederholte Loni. »Ich werde es Dr. Norden sagen, dass es dringend ist.« Er hatte es schon gehört, aber der Name Josten sagte ihm nichts, und am Lärchenweg war er auch noch nicht gewesen, aber er wusste, dass das eine neue Straße war und dort sehr komfortable Bauten standen. »Es handelt sich um einen sechsjährigen Jungen«, sagte Loni noch. »Hohes Fieber.« Es gab derzeit mehrere Fälle von Hirnhautentzündung. Dr. Norden, selbst besorgter Vater von fünf Kindern, fuhr zuerst zum Lärchenweg. Es war eine exklusive Wohnanlage. Die Frau mittleren Alters, die ihm die Tür öffnete, machte nicht den Eindruck, als würde sie sich diesen Luxus leisten können. Doch Dr. Norden erfuhr sogleich, dass es sich um die Hausangestellte handelte, und die junge Frau, die dann erschien, war atemberaubend beeindruckend. Kastanienbraunes Haar fiel bis auf die Schulter, das Oval des Gesichts war makellos und von nahezu klassischer Schönheit, und große dunkle Augen unter schön geschwungenen Brauen, wurden von dichten langen Wimpern umgeben. Beatrice Josten, so lautete ihr Name, war ziemlich groß und schlank. Ihre Stimme war dunkel und weich. »Herr Dr. Norden, ich bin sehr dankbar, dass Sie so schnell kommen, obgleich wir uns noch

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Dr. Norden Bestseller – 229–

Es war wie ein Wunder

Benedikt hat schon sehr viel Böses erleben müssen

Patricia Vandenberg

Dr. Daniel Norden schickte sich an, die Praxis zu verlassen, als das Telefon läutete. Loni, seine Sekretärin, hatte den Hörer gerade erst aufgelegt.

»Heut’ geht es ja wieder zu«, murmelte sie, aber dann meldete sie sich gleich. Nachdem sie eine Sekunde gelauscht hatte, gab sie dem Arzt einen Wink, noch einen Augenblick zu warten. Da wusste Dr. Norden, dass es dringend war.

»Gut, Josten, Lärchenweg fünfzehn«, wiederholte Loni. »Ich werde es Dr. Norden sagen, dass es dringend ist.«

Er hatte es schon gehört, aber der Name Josten sagte ihm nichts, und am Lärchenweg war er auch noch nicht gewesen, aber er wusste, dass das eine neue Straße war und dort sehr komfortable Bauten standen.

»Es handelt sich um einen sechsjährigen Jungen«, sagte Loni noch. »Hohes Fieber.«

Es gab derzeit mehrere Fälle von Hirnhautentzündung. Dr. Norden, selbst besorgter Vater von fünf Kindern, fuhr zuerst zum Lärchenweg.

Es war eine exklusive Wohnanlage. Die Frau mittleren Alters, die ihm die Tür öffnete, machte nicht den Eindruck, als würde sie sich diesen Luxus leisten können. Doch Dr. Norden erfuhr sogleich, dass es sich um die Hausangestellte handelte, und die junge Frau, die dann erschien, war atemberaubend beeindruckend. Kastanienbraunes Haar fiel bis auf die Schulter, das Oval des Gesichts war makellos und von nahezu klassischer Schönheit, und große dunkle Augen unter schön geschwungenen Brauen, wurden von dichten langen Wimpern umgeben.

Beatrice Josten, so lautete ihr Name, war ziemlich groß und schlank. Ihre Stimme war dunkel und weich.

»Herr Dr. Norden, ich bin sehr dankbar, dass Sie so schnell kommen, obgleich wir uns noch nicht kennengelernt haben. Frau Munk war so freundlich, Sie anzurufen. Ich bin hier noch ziemlich fremd. Aber bitte, schauen Sie zuerst nach Benedikt. Er hat hohes Fieber.«

Die Wohnung war traumhaft schön eingerichtet, überaus kultiviert und dennoch nicht protzig. Und Beatrice Josten war eine Lady im besten Sinne des Wortes.

Das Kinderzimmer, das Dr. Norden nun betrat, war bezaubernd möbliert. Tapeten, Gardinen, Möbel, alles war aufeinander abgestimmt, und die Spielsachen, die zu sehen waren, stellten ein Vermögen dar. Dr. Norden konnte das beurteilen. Seine Frau Fee sagte auch manches Mal beklommen, was sich an Werten in ihren Kinderzimmern ansammelte, denn die Norden-Kinder bekamen von allen Seiten auch die schönsten Sachen geschenkt. Da wurde allerdings oft so manches an arme Kinder weitergegeben.

Der Junge, der in dem breiten Bett lag, das mit lustigen blauweißen Bezügen hergerichtet war, hatte blondes Haar. Ein hübscher Junge, recht zierlich für sein Alter, wie Dr. Norden dann rasch feststellte, aber vor allem machte es ihn stutzig, dass sein Körper Wundmale aufwies, die allerdings schon vernarbt waren. Er betastete diese Narben und sah Beatrice Josten fragend an.

»Wir hatten einen Unfall vor einigen Monaten«, erklärte sie überstürzt, »aber Benni hat sich sehr gut erholt. Wir sind erst vor drei Wochen hier eingezogen, und das Fieber kam ganz plötzlich.«

Dr. Norden tastete die Drüsen ab, und da schlug der Junge plötzlich die Augen auf. Es waren helle graue Augen.

»Mamili«, flüsterte er ängstlich.

»Ich bin ja da, Benni. Das ist Dr. Norden. Er wird dir helfen, dass das Fieber bald wieder weggeht.«

»Ich will hierbleiben, bei dir«, murmelte der Junge.

»Du bleibst hier«, sagte Beatrice betont. Und Benedikt schlief wieder ein.

»Er denkt wohl, dass er in die Klinik muss«, sagte Beatrice Josten leise.

»Es ist eine leichte Lungenentzündung«, sagte Dr. Norden. »Bei Kindern steigt die Temperatur schnell an. Sie brauchen sich nicht zu sehr zu sorgen, Frau Josten. Derzeit gibt es schwerere Erkrankungen, aber das wechselhafte Wetter bringt auch viele Erkältungskrankheiten mit sich. Er ist allerdings ein zartes Kind, und ich wüsste gern, wie er auf Impfungen reagiert hat und welche durchgeführt wurden. Ich bin gerade bei Kindern mit der Vergabe von Medikamenten sehr vorsichtig. Und ich möchte Sie auch bitten, mir zu sagen, welche Kinderkrankheiten er bereits gehabt hat.«

»Er wurde geimpft, wie jedes Kind«, sagte sie hastig. »Da bin ich ganz sicher.«

»Haben Sie einen Impfpass?«, fragte er.

»Ja, sicher, ich muss ihn heraussuchen. Es geht alles noch ziemlich drunter und drüber, wie das bei einem Umzug ist.«

Er spürte, dass sie unsicher und nervös war, und er betrachtete wieder das Kind.

Dann schrieb er ein Rezept aus. »Dreimal einen Teelöffel von dem Saft und abends zehn Tropfen von dem Beruhigungsmittel im Tee«, sagte er, »ich komme am Abend nochmals vorbei, aber ich bin nicht dafür, gleich schwere Geschütze aufzufahren. Wadenwickel tun es auch. Und die Injektion wird bald wirken.«

Davon hatte der kleine Benedikt kaum etwas gespürt. Nur ein klein wenig war er zusammengezuckt. Dr. Norden machte sich seine Gedanken.

»Sie sagten, dass Sie einen Unfall gehabt hätten«, bemerkte er, als ­Beatrice Josten ihn zur Tür begleitete. »Könnte es sein, dass der Junge noch unter einem Schock leidet?«

Sie zuckte zusammen. »Ja, vielleicht könnte es so sein«, erwiderte sie tonlos, »aber vielleicht macht ihm auch der Klimawechsel zu schaffen.«

»Haben Sie im Süden gelebt?«, fragte Dr. Norden, und sie nickte.

»Fragen Sie jetzt bitte nicht, welchen Beruf mein Mann hat«, stieß sie dann plötzlich hervor. »Er lebt nicht mehr.«

Das hatte er gar nicht fragen wollen, aber wie sie es sagte, machte es ihn wieder stutzig. Sie war jung, höchstens dreißig Jahre und er konnte sich vorstellen, dass sie noch weitaus jünger aussehen würde, wenn sie nicht so ängstlich und erschöpft wäre. Geldsorgen hatte sie bestimmt nicht, wie diese Wohnung verriet. Und dann war da auch noch Tinka, die Haushälterin, die nun gleich zur Apotheke geschickt wurde.

»Und bringen Sie auch noch Säfte für Benni mit«, sagte Beatrice.

Tinka ging mit Dr. Norden hinaus. »Dem Jungen darf nichts passieren«, murmelte sie, »sonst dreht sie durch. Er ist ihr ein und alles.«

»Sind Sie schon länger bei der Familie?«, fragte Dr. Norden beiläufig.

»Nein, erst seit sie hier wohnen. Mich hat der Dr. Grasshoff vermittelt, aber eine bessere Stellung kann man sich nicht wünschen. Frau Josten ist ein Engel und die Bezahlung optimal. Der Junge ist ein liebes Kerlchen, aber Frau Josten darf sich nicht umdrehen, dann ruft er schon nach ihr. Mehr kann ich nicht sagen, Herr Doktor.«

Er hatte gar nicht damit gerechnet, dass sie so viel sagen würde, aber da er ein guter Menschenkenner war, spürte er, dass dieser Frau in diesem Haus wohl auch manches rätselhaft sein mochte.

Er wagte eine Frage. »Wissen Sie, wie lange Herr Josten schon nicht mehr lebt?«

Tinka schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung. Über ihn wird nicht gesprochen, der Junge fragt auch nicht nach ihm, aber heutzutage gibt es das ja öfter, dass nicht allein der Tod die Menschen trennt.«

Tinka hatte auch schon ihre Weisheit, aber nun sagte sie nichts mehr.

Dr. Norden fuhr heim. Dort wurde er auch – sehnlichst wie immer – erwartet. Seine Kinder waren wohlauf. Felix und Anneka hatten zwar auch gerade eine ziemliche Erkältung hinter sich gebracht, aber Danny und die Zwillinge waren verschont geblieben, bisher wenigstens, denn an diesem Tag machte Danny einen recht tristen Eindruck, und er zeigte auch nicht den Appetit wie sonst.

»Na, jetzt scheinst du was auszubrüten, Danny«, stellte Dr. Norden fest. »Da wollen wir doch gleich mal nachschauen.«

»Übermorgen haben wir Wandertag, da will ich nicht krank sein«, murmelte Danny.

»Meinetwegen brauchst du bestimmt nicht krank werden«, sagte Daniel, »ich habe auch so genug zu tun. Streck die Zunge raus und sag aaah.«

Danny folgte. »Die Mandeln sind es jedenfalls nicht«, stellte Daniel fest.

»Ich hab’ Bauchweh, sonst nichts, hab’ ich doch schon gesagt.« Ein bisschen wehleidig klang das schon.

»Könnte es der Blinddarm sein?«, fragte Fee.

»Ich untersuche ihn gründlich«, erklärte Daniel. »Und du machst jetzt keine Mätzchen, Danny, der Wandertag ist nicht so wichtig wie deine Gesundheit.«

Der Blinddarm war es auch nicht, aber dann kam es durch einen Anruf einer ebenfalls besorgten Mutter zutage, dass Danny mit zwei Schulfreunden an einem Kiosk Pizza gegessen hatte.

»Axel hat auch Bauchweh«, erklärte Daniel seinem Sohn, »und seine Mutter meint, dass es von der Piz­za kommen könnte. Du hast also auch welche gegessen.«

»Na ja, ist doch nichts dabei«, sagte Danny. »Rudi hat gesagt, dass die prima schmeckt, aber er hatte kein Geld dabei, da haben wir zusammengelegt. Axel und ich. Aber Rudi hat am meisten davon gegessen. Seine Mutter kommt doch erst nachmittags, und da hat er Hunger gehabt.«

»Dann wird er wohl auch Bauchschmerzen haben, wenn wirklich die Pizza schuld ist«, sagte Daniel. »Ich werde mich mal darum kümmern.«

»Mir hat sie ja nicht geschmeckt«, sagte Danny, »aber Rudi ist halt kein gutes Essen gewohnt wie wir, Papi.«

»Und jetzt kommst du dafür mit Axel in die Klinik zu Dieter, und es wird genau untersucht, und den Rudi hole ich auch. Wo wohnt er?«

»In der Beckerstraße drei.«

Dannys Stimme klang recht entsagungsvoll, aber allzu ernst konnte sein Zustand wohl nicht sein, doch da wollte sein Vater lieber ganz sicher gehen, auch weil Axels Mutter, Frau Kirst, überaus ängstlich war.

»Er mag doch Pizza gar nicht«, meinte Lenni kopfschüttelnd, als Daniel mit seinem Sohn losgefahren war.

»Wenn ein paar Buben beisammen sind, wird das vergessen«, sagte Fee.

»Er hat es doch gut gemeint, damit der Rudi was zu essen kriegt«, meldete sich Felix zu Wort. »Der hat doch kein Geld.«

»Aber Danny hätte das doch schon mal sagen können«, meinte Fee.

»Wir haben doch auch fünf Kinder«, stellte Felix fest. »Das ist schon asozial, sagt Rainers Vater.«

»Was?«, rief Lenni empört aus. Aber Fee lachte nur kurz auf. »Wenn jemand unsozial ist, ich sage nicht asozial, dann ist es Rainers Vater, der Herr Wurm«, sagte sie. »Ein richtiger Wurm«, fügte sie leise hinzu.

»Aber so etwas kann er doch nicht sagen, das kann man doch nicht hinnehmen«, sagte Lenni empört.

»Vielleicht ärgert es ihn, dass wir fünf gesunde und normale Kinder haben und er nur so einen Tunichtgut«, sagte Fee gleichmütig. »Ich rege mich über solches Gerede schon lange nicht mehr auf, Lenni.«

»Aber die Kinder kann es doch kränken«, meinte Lenni.

»Ach was, die Kinder wissen, dass es ihnen gut geht, und sie sind besser dran als der Rainer Wurm, weil sie mit uns reden können und weil es ihnen vor allem nicht an Liebe mangelt. Aber um den kleinen Rudi werden wir uns kümmern müssen.«

*

Da war Daniel Norden schon unterwegs. Er hatte erst Axel Kirst abgeholt, und dessen Mutter war mit in die Behnisch-Klinik gefahren. Sie wusste auch ein bisschen besser Bescheid über Rudi Weber und seine Mutter und hatte Daniel angedeutet, dass man darüber mal unter vier Augen sprechen sollte. Das wollte er auch tun, aber nun fuhr er zur Beckerstraße.

Dort standen die alten Häuschen aus der Nachkriegszeit. Flüchtlingssiedlung hatte man diesen Ortsteil früher bezeichnet. Mittlerweile waren aber auch dort schöne große Häuser gebaut worden, und die alten waren zum größten Teil renoviert. Aber die Nummer drei sah doch recht erbärmlich aus.

Dr. Norden läutete, aber es öffnete niemand. Er drückte gegen die Gartentür, und sie sprang auch sofort auf. Es waren nur ein paar Schritte zum Haus, aber er vernahm jetzt ein lautes Stöhnen.

Er stellte sich dicht an die Tür. »Rudi, hörst du mich«, rief er laut, »hier spricht Dr. Norden, Dannys Vater. Bitte, mach die Tür auf, ich muss nach dir sehen.«

»Kann nicht«, tönte es kläglich an sein Ohr.

»Nimm mal alle Kraft zusammen und öffne die Tür. Ich will dir helfen. Danny und Axel sind schon in der Klinik.«

Da kroch drinnen, von Schmerzen geplagt, Rudi auf allen vieren zur Tür, und es gelang ihm dann auch, unter schmerzvollem Stöhnen, die Tür zu öffnen, aber dann sank er Dr. Norden schon halb bewusstlos in die Arme.

Es hatte keinen Sinn, hier noch etwas zu unternehmen. Der Junge musste schnellstens in klinische Behandlung. Er war weit schlimmer dran als Danny und Axel, aber wahrscheinlich hatte er auch nicht so gute Abwehrkräfte.

»Das ist der sechste Fall«, sagte Dr. Jenny Behnisch. »Die Polizei ist schon verständigt. Wir werden sehen, woran es liegt. Danny und Axel sind schon versorgt, aber wir behalten sie zur Kontrolle noch hier. Der Kleine schaut schlimmer aus.«

Aber nun wurde auch für Rudi alles getan. Er bekam davon nichts mit, und Frau Kirst erzählte Dr. Norden hastig, was sie über Rudi und seine Mutter Helga Weber wusste.

»Sie ist eine nette fleißige Frau, aber was soll sie machen? Seit drei Jahren geschieden, der Mann zahlt keinen Unterhalt, sie hat noch keine feste Stellung bekommen und macht alles, was sich bietet. Wie sie das durchhält, ist mir ein Rätsel. Axel hat Rudi schon öfter zum Essen mitgebracht, aber Frau Weber ist das peinlich, und Rudi ist sehr folgsam. Es ist ja auch nicht so, dass wir nicht rechnen müssen, Herr Dr. Norden. Die Miete frisst so viel weg, und wir müssen auch noch meine Schwiegermutter unterstützen.«

Dr. Norden wusste um viele Nöte, und auch hier in dieser Villengegend gab es genug davon. Renate Kirst war eine nette Frau, und er war ihr dankbar, dass er so sachlich über Helga Webers Probleme informiert wurde. Er wusste ja schon, dass da geholfen werden musste, und wenn Dr. Norden so etwas wusste, dann wurde auch mit der Hilfe nicht lange gewartet.

Nun wurde erst einmal bekannt, wodurch die Pizza verdorben war. Sie war unsachgemäß behandelt worden. Sie war aufgetaut, eingefroren und wieder aufgetaut worden, und dadurch wurden Bakterien freigesetzt. Für den Kioskinhaber hatte es zur Folge, dass sein Geschäft gleich geschlossen worden war, und etwa sechzehn Menschen mussten ärztlich behandelt werden. Lebensgefährlich waren die Erkrankungen nicht, abgesehen von dem kleinen Rudi, aber bei dem wurde zusätzlich ein grippaler Infekt diagnostiziert.

Frau Kirst hatte es übernommen, Frau Weber einen Zettel an die Tür zu heften. Helga Weber kam gleich nach sechs Uhr, noch ahnungslos und in der Annahme, dass Rudi mit Axel spielte, wie es schon öfter der Fall gewesen war.

Sie war zuerst voller Entsetzen, was geschehen war, und dann niedergeschlagen.

»Man muss ja annehmen, dass ich mich überhaupt nicht um Rudi kümmere«, flüsterte sie, »aber was soll ich denn tun? Ich muss doch wenigstens soviel verdienen, dass wir über die Runden kommen.«

Sie sah selbst zum Gotterbarmen aus. Renate Kirst fuhr Helga Weber zur Behnisch-Klinik. Ihren Axel konnte sie schon wieder mitnehmen. Er war zwar recht schwach, aber nun vor allem müde. Er wollte heim, während Danny sich mal wieder als richtiger Arztsohn zeigte und noch bei Rudi bleiben wollte, der wieder zu sich gekommen war, aber ziemlich heftig fieberte.

Und Danny fühlte sich auch gleich verpflichtet, Rudi in Schutz zu nehmen.

»Axel und ich haben die Pizza gekauft«, erklärte er, »und Rudi hat bloß mitgegessen, weil es so viel war.«

»Ich hatte Hunger, Mutti«, murmelte der Junge. »Bitte, sei nicht böse.«

»Mein Papi ist auch nicht böse«, sagte Danny rasch. »Der Pepe hätte die Pizza nämlich gar nicht mehr verkaufen dürfen, aber das konnten wir ja nicht wissen. Sie soll immer ganz gut gewesen sein. Und außerdem hat Rudi auch noch ein bisschen Grippe, deshalb ist es bei ihm schlimmer.«

Für Helga Weber war es sogar tröstlich, dass er nun ein paar Tage in der Klinik bleiben konnte und gepflegt wurde. Mit aller Behutsamkeit hatte Dr. Norden sie zum Reden gebracht, und sie konnte nun einmal ihr Herz bei einem Menschen ausschütten, der großes Verständnis für ihre Situation aufbrachte. Sie erzählte, dass sie vor ihrer Heirat Telefonistin in einem großen Hotel gewesen sei. Dann hatte sie den Taxiunternehmer Robert Weber kennengelernt und es war auch alles ganz gutgegangen, bis ihm ein Freund einen Floh ins Ohr gesetzt hatte. Im Süden leben, ein Haus kaufen, Urlauber aufnehmen.

»Und ausnehmen«, sagte Helga bitter. »Ich kann so was nicht, und das ist auch bald schiefgegangen. Jedenfalls war auch alles Ersparte futsch, und ich konnte froh sein, dass meine Eltern mir das Häuschen hinterlassen hatten. Aber eine Stellung als Telefonistin bekam ich nicht. Im Hotel hätten sie mich schon genommen, aber da hätte ich Schichtdienst machen müssen, und nachts wollte ich Rudi wirklich nicht allein lassen. Mit einer Halbtagsstellung hätte ich aber auch nicht genug verdient, um unseren Lebensunterhalt zu bestreiten. So großartig wird da nicht gezahlt, und außerdem muss ich immer noch Schulden abzahlen, die ich wegen Robert aufgenommen hatte.«

»Und wo steckt er?«, fragte Dr. Norden.

Helga Weber zuckte die Schultern. »Keine Ahnung. Er ist verschollen oder untergetaucht.«

»Seine Eltern wissen auch nichts?«

»Seine Mutter ist schon lange tot, und sein Vater ist vor zwei Jahren gestorben. Er hat wenigstens immer noch für den Jungen ein bisschen Geld geschickt, aber von seiner Rente konnte er auch nichts sparen, und dann ist ja nichts übriggeblieben.« Sie senkte den Kopf. »Ich konnte Rudi heute kein Geld geben. Ich hatte selbst keins mehr. Und von zwei trockenen Brötchen wird er eben nicht satt. Er ist im Wachsen. Übermorgen bekomme ich Gehalt, dann ist das Schlimmste wieder überwunden. Ich musste Strom und Wasser zahlen, das summiert sich doch gleich. Und wenn jetzt hier die Kanalisation kommt, muss ich sowieso kapitulieren. Dann weiß ich gar nicht, wohin.«

Dr. Norden betrachtete sie nachdenklich.