Falkan und der Kandidat - Gerhard Krieg - E-Book

Falkan und der Kandidat E-Book

Gerhard Krieg

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Beschreibung

Neuer Auftrag für Kurt Falkan. Eine Erbschaftssache, kein Problem für den erfahrenen Kriminalisten. Ein reicher Amerikaner sucht einen Erben, und Menschen zu suchen war schon immer Falkans täglich Brot. Doch die vermeintlich einfache Angelegenheit erweist sich nach anfänglich schnellem Erfolg als undurchsichtiges Spiel, in dem er selbst eine höchst zweifelhafte Rolle zu spielen scheint. Da Kriminalhauptkommissar im Ruhestand Kurt Falkan es jedoch so gar nicht leiden kann, wenn man ihn für obskure Zwecke benutzt, setzt er alles daran, die Machenschaften gewisser Leute aufzudecken.

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Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1: Ein einfacher Auftrag

Kapitel 2: Suche nach Doris

Kapitel 3: Falsches Spiel in Chicago

Kapitel 4: Alles auf Anfang

Kapitel 5: Dogans Geheimnis

Kapitel 6: Alte Kameraden

Kapitel 7: Die Mafia mischt mit

Kapitel 8: Der Köder

Kapitel 9: Überraschung in der Dämmerung

Kapitel 10: Ein kleines Happy End

1

Ein einfacher Auftrag

Falkan zog das Garagentor zu, schnappte sich seine Reisetasche und schlurfte mit müden Schritten hinter Fritz her in Richtung Haustüre. Hemd und Hose klebten ihm am Körper. Es war Mitte Juli, sie waren sechs Stunden in der sengenden Sonne unterwegs gewesen, und die Kunstledersitze des Firebird waren nicht eben besonders textilfreundlich bei Hitze. Im Vorübergehen fischte Falkan die Post, die sich seit Freitag angesammelt hatte, aus dem Briefkasten und betrat das Haus, in dem die letzten drei Tage kein Fenster offen gestanden hatte. Die dicke Luft trieb ihm den Schweiß auf die Stirn.

Achtlos warf Falkan die Post auf den Küchentisch und streckte den Kopf unter den Wasserhahn der Spüle. Das Wasser war abgestanden und warm, wurde aber nach zwei Litern kühl und erfrischend. Ein leises Winseln zu seinen Füßen erinnerte ihn daran, dass er nicht der Einzige war, der den halben Tag im Auto verbracht hatte.

„Entschuldige, mein Guter“, sagte er und befüllte eine Schale mit dem frischen Nass. Schlabbernd machte sich der Dackel über das Wasser her, während Falkan das Küchenfenster aufriss und sich ein kaltes Bier aus dem Kühlschrank nahm. Als der erste Schluck kalt und angenehm die aufgewärmte Kehle hinabrann, sah er zu Friedrichsens neuem Haus hinüber. Im Garten hatte sich seit letztem Jahr einiges getan. Um das Stückchen Rasen herum standen Stachel- und Johannisbeersträucher neben ein paar Reihen Salat, zwei Pfirsichbäumchen reckten ihre jungen Zweige der Sonne entgegen, und vor der Veranda hatte Friedrichsen eine Schaukel für seinen Sohn Paul aufgebaut.

Sie waren jetzt eine richtige kleine Familie da drüben, fast wie im Bilderbuch. Er selbst hatte die letzten beiden Tage bei einer nicht ganz so perfekten Art von Familie in München verbracht. Eine Oma, die halbtags arbeitete und sich den Rest der Zeit um die Enkelin kümmerte, eine Mutter, die die hohe Kunst der Schauspielerei erlernte, dabei jedoch vergessen hatte, dass das Leben auch finanziert werden wollte, und ein Vater, der sich so gut er konnte aus der ganzen Sache mit dem Baby heraushielt und sich neben der Schauspielschule mit Taxifahren und Gelegenheitsjobs über Wasser hielt. Ein guter Stoff für eine Fernsehserie, fürs richtige Leben nach Falkans Geschmack jedoch eindeutig nicht empfehlenswert.

Doch wer konnte es wissen? Vielleicht würde Natalie eines Tages eine berühmte Schauspielerin sein und in blitzlichtumflackerten Interviews den begierigen Reportern mit einem charmanten Lächeln auf den Lippen von der Zeit erzählen, als sie noch ein junges Ding ohne Geld, dafür aber mit vielen Träumen war. Britta würde glücklich hinter den Reihen der Reporter sitzen und ihrer Tochter beim Berühmtsein zugucken, während Nico, Natalies Freund und Vater ihres Kindes, sich als Actionheld in Babelsberg eine goldene Nase verdiente. Die Zukunft bot viele Möglichkeiten.

Allerdings fragte sich Falkan, während er noch einen kühlen Schluck nahm und sich an den Tisch setzte, wo für ihn in dieser Zukunft Platz sein würde? Seit Britta ihre Wohnung in Altenhaßlau gekündigt hatte und nach München gezogen war, war alles ein wenig komplizierter geworden.

Würde er hinter den Reportern neben Britta sitzen oder weiter alleine seine Bahnen ziehen? Zurzeit war seine Zukunft ebenso offen wie die von Britta, Natalie und Nico. Nur hatten Natalie und Nico noch ein bisschen mehr Zukunft als Britta und er und konnten noch einiges davon verschwenden.

Mit einem leisen Seufzer stellte Falkan die Flasche auf die Tischplatte und griff sich die Post. Reklame, Rechnung, Rechnung, Reklame, nochmal Reklame, ein Brief von der Gemeinde – sicherlich die angekündigte Änderung der Müllgebühren – und ein schmaler Umschlag mit einer fremdländisch anmutenden Briefmarke. US-Mail, las Falkan am oberen Rand. Darunter prangte das kleine Abbild eines Indianerkopfes mit Federschmuck.

Wer schrieb ihm aus Amerika? Ihm war keine Verwandtschaft in den Staaten bekannt, weder von seiner noch von Sigis Seite her.

Ungeduldig riss Falkan mit dem Daumennagel den Umschlag auf und entnahm ein einzelnes Blatt mit dem Briefkopf einer Anwaltskanzlei aus Chicago.

Britten, Stanford & Doobey.

Der Briefkopf sah teuer aus, das Papier war dick und griffig, und das Schriftbild roch nach jahrhundertelanger Tradition.

Sehr geehrter Herr Falkan,

Immerhin redete man ihn auf Deutsch an. Das erleichterte die Sache, denn mit dem alten Ganovenenglisch seiner Dienstzeit würde er bei einem Anwaltsschreiben sicherlich nicht weit kommen.

die Kanzlei Britten, Stanford & Doobey wurde damit beauftragt, in einer Erb – und Vaterschaftsangelegenheit gewisse Erkundigungen einzuziehen. Ihre Detektei wurde uns von der Kanzlei Römer, deren Sitz sich in Aschaffenburg befindet, empfohlen.

Falkan ließ die grauen Gehirnzellen arbeiten, aber der Name sagte ihm nichts.

Unser Mandant, dessen Namen wir hier nicht nennen möchten, bat uns, ihm auf der Suche nach einer weiblichen Person behilflich zu sein, deren Bekanntschaft er in den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts die Freude hatte, machen zu dürfen.

Falkan musste grinsen.

Die Leute redeten so, wie es der Briefkopf versprach. Im Geiste sah er verschnörkelte Sekretäre mit schrägem Schreibpult, einen glänzenden Fußboden aus geschliffenen Paneelen und Bücherwände mit Gesetzestexten bis an die Decke, dazu drei Herren, alle in langem Gehrock und weißem Hemd mit gesteiftem Kragen.

Diese Person hatte ihren Wohnsitz damals in der ehemaligen Garnisonsstadt Gelnhausen. Unsere Bitte an Sie, sollten Sie den Auftrag übernehmen, wäre das Auffinden dieser Person und die Mitteilung an uns über ihren derzeitigen Aufenthalt.

Wieder musste Falkan schmunzeln. Die Formulierung legte die Vermutung nahe, dass der Schreiber zu viel Mission Impossible gesehen hatte. Fehlte nur noch, dass sich der Brief in seinen Händen nach dem Lesen in Rauch auflöste.

Im Falle, dass Sie Interesse an einer Zusammenarbeit haben, bitten wir Sie, sich umgehend unter der o.g. E-Mail Adresse mit uns in Verbindung zu setzen. Zur Abklärung der genaueren Einzelheiten wird einer unserer Mitarbeiter Sie dann in den nächsten Tagen persönlich aufsuchen.

Hochachtungsvoll

Gary Newman

Attorney at Law

Falkan stieß einen leisen Pfiff aus, der Fritz die Schnauze aus der Schale nehmen und die Augen erwartungsvoll zu ihm hochwandern ließ.

„Du warst nicht gemeint, Fritzchen“, beruhigte Falkan seinen Dackel und legte das Schreiben auf die Tischplatte.

Er hatte ja auch das ein oder andere Buch von John Grisham gelesen und wusste, wie locker man in amerikanischen Anwaltskreisen mit dem Geld umging, aber dass dieser Britten und seine Kollegen extra jemanden über den großen Teich schickten, nur um ihm zu sagen, wen er in Gelnhausen und Umgebung finden sollte, erstaunte ihn dann doch. Zumal es seiner Meinung nach nicht um eine weltbewegende Sache gehen konnte. Den paar kurzen Zeilen nach zu schließen handelte es sich bei der ganzen Angelegenheit lediglich um die damals übliche Konstellation amerikanischer Soldat – deutsches Fräulein und das sich eventuell daraus ergebende Resultat, entweder Sohn oder Tochter.

Falkan stand auf und ging durch das Wohnzimmer in den Garten, um nach den Hasen zu sehen. Sein Freund und Nachbar Bengt Friedrichsen hatte den Auftrag gehabt, während seiner Abwesenheit für deren Wohl zu sorgen, was er, den munteren Blicken nach zu schließen, die Falkan entgegenflogen, auch getan hatte. Trotz der beiden geöffneten Fensterchen und der offenstehenden Tür war es in der kleinen Gartenhütte arg warm. Falkan beneidete seine Vierbeiner zu dieser Jahreszeit nicht um ihr dickes Fell. Er füllte die Wasserschälchen in den vier Ställen auf, ließ sich in den erstbesten Liegestuhl fallen und schloss die Augen. Natürlich würde er den Auftrag aus Amerika übernehmen, da bedurfte es keiner langen Überlegung. Es stand nichts anderes an, Britta war weit weg, und der Sommer war lang. Außerdem passten Auftraggeber und Dienstwagen endlich einmal zusammen. Dazu stammte sein Firebird auch noch aus derselben Zeit, in der der Mandant von Britten und Co. sich der holden deutschen Weiblichkeit gewidmet haben musste. Vielleicht hatte er sein Fräulein damals sogar in genau so einem Pontiac Firebird, wie Falkan ihn besaß, durchs Kinzigtal kutschiert und irgendwo auf einem einsamen Waldweg zwischen Vogelsberg und Spessart für den Grund gesorgt, dessentwegen sich nun die Anwaltskanzlei Britten, Stanford & Doobey mit der Privatdetektei Falkan in Verbindung gesetzt hatte.

Mit jugendlichem Elan hopste Falkan von der Liege und ging zum Computer. Warum auf die lange Bank schieben? Je eher der Ami bei ihm auf der Matte stand, desto eher gab es etwas zu tun, und die Suche nach der Person, deren Bekanntschaft zu machen der Mandant die Freude hatte, würde Falkan von den Gedanken an Britta und die ganze verfahrene Situation ablenken.

Zwei Tage darauf. Der Mann sah so gar nicht aus wie die glatten Anwälte, die Falkan beim Zappen durch die Programme manchmal über den Bildschirm stolzieren sah. Er trug eine ausgewaschene Jeans, ein blassgrünes T-Shirt und Turnschuhe von Adidas. Nicht einmal eine Aktentasche hatte er dabei, nur einen Rucksack. Er hatte sich als Lincoln Lloyd vorgestellt, was, so fand Falkan, ein guter Name für einen Rechtsanwalt war, aber ebenfalls nicht zu seinem Outfit passte. Er schätzte das Bürschchen auf nicht älter als dreißig Jahre.

„Kommen Sie rein“, forderte Falkan den Besucher auf und ging ins Arbeitszimmer voraus. Auf der Veranda waren es beinahe vierzig Grad, und die Küche schien ihm nicht der richtige Ort, um mit einem Anwalt – selbst in dieser Aufmachung – zu verhandeln. „Ich nehme an, Sie haben Durst?“

„Sie nehmen richtig an“, sagte Lloyd und ließ sich unaufgefordert auf einen der vier Sessel in der kleinen Sitzecke plumpsen. „Ihr habt’s verdammt warm hier.“

„Sie sprechen gut Deutsch.“

Falkan goss zwei Gläser Wasser ein und nahm ebenfalls Platz.

„Hab’ ein paar Semester in Heidelberg studiert. Ist ein bisschen was hängengeblieben. Sie waren Polizist?“

Falkan nickte.

„Sie sind gut informiert.“

„Ich bin erst seit einigen Wochen in der Firma, aber was ich so mitbekommen habe, entspricht es unserer Firmenpolitik, immer gut und über alles informiert zu sein.“

Falkan lächelte.

„Neu im Job und schon auf Reisen. Beneidenswert. Die weiteste Dienstreise, die ich je unternommen habe, war nach Hamburg.“

Lloyd lächelte zurück. Sein Lächeln hatte etwas unschuldig Hinterlistiges.

„Ja, ich finde das auch gut. Meinetwegen kann es die nächsten vierzig Jahre so weitergehen. Ich bin kein Karrieretyp. Aber ich bin gern unterwegs.“

Obwohl das Glas Wasser seines Gastes noch nicht halb geleert war, empfand Falkan bereits eine gewisse Sympathie für den jungen Mann. Er hatte so eine offene, für einen Rechtsanwalt untypische Art an sich. Andererseits hatte Falkan während seiner aktiven Jahre Rechtsanwälte kennengelernt, mit denen er sich in der Kantine des Polizeipräsidiums die Mütze begossen hatte und die ihm dann am nächsten Tag in der Gerichtsverhandlung den Dolch in den Rücken zu rammen versucht hatten. Man konnte nie wissen. Doch hier ging es schließlich nur um eine Erbschaftsangelegenheit oder etwas in der Art. Falkan war sich sicher, dass Britten, Stanford & Doobey ihm für so eine simple Sache keinen Schakal geschickt hatten.

„Was haben Sie für mich, Herr Lloyd?“

Lloyd zog den Reißverschluss seines Rucksacks auf und kramte zwischen einer Ersatzhose und anderem Kleinkram eine dünne Mappe hervor. Er schlug sie auf und überflog die scheinbar unwichtigen Einzelheiten. Dabei bewegte er die Lippen wie ein nach Luft schnappender Karpfen.

„Es geht um eine Frau namens Doris, der Nachname ist nicht bekannt. Sie war Mitte der siebziger Jahre eine enge Freundin unseres Mandanten.“ Lloyd grinste und machte eine eindeutige Geste mit Daumen zwischen den beiden umliegenden Fingern. „Nach Beendigung seiner Dienstzeit in Gelnhausen wurde unser Mandant nach Heidelberg und zwei Jahre später nach Fort Lauderdale versetzt. Erst später erfuhr er von einem Bekannten, dass seine Freundin eine Tochter bekommen habe. Er hat sich nie wieder bei ihr gemeldet, weiß also auch nicht, ob die Tochter seinen Lenden entsprungen ist. Das Mädchen muss damals in Soldatenkreisen eine bekannte und begehrte Persönlichkeit gewesen sein.“

Falkan musste grinsen.

„Ihr Deutsch ist wirklich sehr blumig. Sie haben gut aufgepasst in Heidelberg.“

Lloyd zuckte ungerührt mit den Schultern und schnippte mit dem Finger auf das Blatt vor sich.

„Ich versuche nur, das Bürokratengeschreibe hier ein wenig zu verschönern. Ich hatte auch zwei Semester Germanistik in Heidelberg.“

„Sie waren also nicht von Anfang an nur auf Jura fixiert?“

„Bin für alles offen, aber Jura schien mir der schnellste Weg, um Geld zu machen für die schönen Dinge des Lebens. Und man kann außerdem Menschen helfen. Britten und Partner ist für mich nur das Sprungbrett für was anderes. Ich weiß nur noch nicht genau für was.“

`Der Junge scheint die gleiche Lebensphilosophie zu haben wir Mike und Melinda´, dachte Falkan bei sich. Der Schwager seines Freundes Bengt Friedrichsen und dessen Freundin Melinda hatten auch ihr Studium abgeschlossen und noch keinen rechten Plan, wie es weitergehen sollte. Lloyd hatte immerhin schon eine feste Anstellung mit Gehalt. Falkan würde ihn bei nächster Gelegenheit als gutes Beispiel bei den beiden anbringen.

„Ich soll also diese Doris finden und sie fragen, ob Ihr Mandant der Vater ihrer Tochter ist?“

„Nicht ganz. Sie sollen sie nur ausfindig machen und uns dann benachrichtigen. Sie soll noch nicht erfahren, dass nach ihr gesucht wird. Soll wohl eine Überraschung werden.“

„Es dürfte schwierig sein, jemanden ausfindig zu machen, ohne Gründe zu nennen. Wie soll ich sie erkennen, wenn ich sie nicht nach den Bekanntschaften ihrer Jugendjahre fragen kann?“

Lloyd zuckte mit den Schultern.

„Sie sind doch Privatdetektiv. Im Fernsehen sind die immer äußerst clever. Also nur finden, nicht mehr. Alle weiteren Schritte wird dann die Kanzlei unternehmen.“ Er reichte Falkan die Mappe. „Hier steht alles drin, was Sie wissen müssen. Wo unser Mandant gewohnt hat, die Orte an denen er sich damals mit der Frau getroffen hat, Kneipen, Kino und so was, Bekannte, an deren Namen er sich noch erinnert, sie soll wohl in einem Ort namens Roth gewohnt haben, und ein Foto ist auch dabei.“

Falkan nahm die Mappe und überflog die Zeilen. Dann nahm er das Bild. Es zeigte eine junge Frau auf der Motorhaube eines alten Buick. Auf der Rückseite stand in verblasster Schrift:

`Doris and my good old Buick´

„Wer ist Ihr Mandant und warum bekommt er erst nach vierzig Jahren Vatergefühle?“

„Er möchte nicht genannt werden. Nennen wir ihn Mister X. Er ist heute ein hohes Tier in der Industrie und war damals Sergeant in der 3rd Armored Division. Es geht wohl darum, dass er sich mit seinen Kindern überworfen hat und daher nach einer Möglichkeit sucht, sein Vermögen nach seinem Tod jemand anderem zu hinterlassen, vielleicht einer unehelichen Tochter in Deutschland. Mehr hat man mir nicht gesagt. Ich bin in diesem Fall wirklich nur der Laufbursche.“ Er setzte wieder sein hintersinniges Grinsen auf. „Allerdings der Laufbursche mit dem Ticket für die erste Klasse und dem kostenlosen Europaaufenthalt.“

Falkan schüttelte verständnislos den Kopf.

„Ich bin ja auch ein Freund des persönlichen Wortes, aber dennoch frage ich mich, warum man einen Mann tausende von Kilometern weit schickt, nur um mir mitzuteilen, wo diese Doris vor vierzig Jahren mit ihrem Freund herumgehangen hat. Eine einfache E-Mail hätte es auch getan.“

„Wie gesagt, dieser Mister X ist heute eine ziemlich wichtige Persönlichkeit. Da geht es um den Ruf und um Privatsphäre und solche Dinge. Man will wohl so wenig wie möglich über das weltweite Netz erledigen. Sie wissen ja, wer da alles heutzutage mit drinhängt. Am Ende erfahren es noch die Russen oder die CIA, und dann ist die Kacke am Dampfen.“

„Lernt man solche Begriffe auch in Germanistik?“

„Was man nach der Schule alles so aufschnappt, bleibt auch hängen. Wann fangen Sie an?“

„Es ist Samstag. Vor Montag machen die Behörden nicht auf, und als erstes werde ich mich natürlich beim Einwohnermeldeamt erkundigen. Vielleicht finden die im Archiv etwas über die Mädchen mit Namen Doris, die in den infrage kommenden Jahren geboren wurden, das wäre das Einfachste. Apropos einfach. Warum hat sich Ihre Kanzlei oder Ihr Mandant nicht offiziell an das Einwohnermeldeamt gewandt, oder an die amerikanische Botschaft? Die hätten sich doch auf dem Amtsweg erkundigen können.“

„Es ist nur der Name Doris bekannt, da dürfte es auf dem schriftlichen Weg schwierig und langwierig sein, etwas zu erreichen. Ein Mann vor Ort, der sich auskennt, ist da weitaus besser. Und wie gesagt, es geht um Diskretion. Es sollen so wenig offizielle Stellen wie möglich beteiligt werden.“

Falkan nickte, auch wenn er kein Freund solcher konspirativen Geschäfte war.

„Also gut, ich werde mich am Montag gleich an die Arbeit machen. Wie soll ich Ihre Kanzlei von meinen Resultaten in Kenntnis setzen? E-Mail ist doch sicherlich zu gefährlich.“

Er konnte sich einen ironischen Unterton nicht verkneifen.

„Das wird nicht nötig sein. Ich werde Sie bei Ihren Recherchen begleiten, hatte ich das noch nicht erwähnt? Meine Chefs wollen, dass immer jemand von der Kanzlei dabei ist, um dafür zu sorgen, dass die Diskretion gewährleistet wird. Und dass Sie am Montag erst anfangen, passt mir ganz gut. Da werde ich den Sonntag in Heidelberg verbringen und alte Erinnerungen auffrischen. Mit dem Taxi sind es eineinhalb Stunden. Die Firma bezahlt ja.“

Der Biergarten war bis auf den letzten Platz besetzt. Der Tag war noch nicht merklich abgekühlt und die Leute genossen ihre kalten Getränke im lauen Abendwind. Friedrichsen und Falkan mussten sich mit einem Platz an der stickigen Theke begnügen. Die Tische im Schankraum waren leer. Die Bundesliga hatte Sommerpause, und auf den beiden Bildschirmen tummelten sich Schlagersänger in knallbunten Bildern.

„Wir hätten auf deiner Veranda bleiben sollen“, sagte Falkan und nippte an seinem Weizenbier. Friedrichsen stupste ihn am Arm an.

„Du wirst doch jetzt nicht schon in das Alter kommen, wo man Samstagabend lieber daheim bleibt, Kurt?“

„Warum nicht? Ich bin ja auch scheinbar in dem Alter, in dem man für seine Arbeit einen Aufpasser braucht.“

„Das mit dem jungen Advokatenbürschchen stinkt dir gewaltig, was?“

Falkan hatte Friedrichsen am Nachmittag in dessen Garten von seinem neuen Auftrag berichtet und ihm dabei in Aussicht gestellt, dass er eventuell bei seinen Nachforschungen beim Einwohnermeldeamt die Hilfe einer offiziellen Stelle benötigen würde. Friedrichsen hatte sich überraschenderweise nicht sofort vehement gegen die Inanspruchnahme des Dienstweges durch eine Privatperson gewehrt, wie es sonst seine Art war, sondern hatte seine Mithilfe ebenfalls in Aussicht gestellt, allerdings unter der Voraussetzung, dass Falkan am Abend die Zeche zahlen müsse.

„Ich bin es nun mal nicht gewohnt, dass man mir bei der Arbeit über die Schulter guckt. Manu, mach’ nochmal zwei Kurze.“

Manuela Kissner, die seit der Übernahme der Gaststätte vom ehemaligen Wirt den Laden schmiss, hatte heute Thekendienst, während Ralf Buxa, der Vorbesitzer, zwischen den Tischen draußen herumwuselte und die Gäste versorgte. Manuela nickte wissend, griff in das obere Regal und goss zwei Braune ein. Rum mit Kokosnuss, Falkans Lieblingsspirituose im `Buxbaum´. „Wie war es eigentlich in München?“

Falkan wartete, bis er seinen Schnaps getrunken hatte, als müsse er sich für die Antwort Mut antrinken.

„Ich weiß nicht. Das ist irgendwie alles nicht so, wie ich mir das vorgestellt habe, und das Blöde ist, ich weiß nicht mal, was ich mir eigentlich vorgestellt habe. Britta und Natalie kommen mir dort unten wie ganz andere Menschen vor. Hier waren sie noch zwei Leute mit normalen Problemen. Die Großstadt hat sie verändert, und ich weiß nicht, ob ich da noch dazu passe. Mit Nico kann ich sowieso nix anfangen. Und als Opa mach’ ich mich glaub’ ich auch nicht besonders. Ich hab’s nun mal nicht gelernt.“

Nun kippte auch Friedrichsen den Rest seines Schnapses hinunter.

„Bevor du jetzt wieder deinen Moralischen bekommst, muss ich dir sagen, dass du ein ganz prima Opa bist. Da gibt’s nichts zu meckern. Frag’ Paul oder Simone, die werden es dir bestätigen.“

Falkan lächelte über das Kompliment. Ja, mit Friedrichsens Junior konnte er wirklich gut, doch das lag auch mit an der ganzen Konstellation. Die Falkans hatten keine Kinder, und seit er Bengt Friedrichsen vor Jahren wieder getroffen hatte, war der so etwas wie der Sohn geworden, den er nie hatte. Dann kam Simone dazu, und dann kam Paul. Alles hatte sich in seinem Umfeld abgespielt, alles kam der Reihe nach und war überschaubar. Man hatte sich auf alles, was kam, einstellen können.

Brittas Welt in München dagegen war das genaue Gegenteil. Stets gab es Überraschungen, nicht immer von der guten Sorte, und alles, was passierte, geschah spontan und undurchdacht. Chaotisch war der passende Begriff für Brittas neue Welt, und so etwas war so gar nicht Falkans Art, das Leben anzugehen. Er hatte es lieber ruhig und übersichtlich.

„Na ja, die nächste Zeit werde ich wohl keinen Abstecher nach München mehr machen, und zu tun hab’ ich ja auch erst mal. Obwohl, die Sache könnte vielleicht ganz schnell erledigt sein, wenn das Einwohnermeldeamt mitspielt. Da könnte ich übrigens, wie gesagt, ein wenig Hilfe von offizieller Seite gebrauchen. Ich brauche ein paar Daten aus den fünfziger und sechziger Jahren. Ihr habt doch Zugriff auf die Dateien der Stadt?“

„Aber nicht auf so’n alten Kram. Was du suchst, das findet man nur im Archiv. Da musst du schon direkt dort anfragen.“

„Ich kenne aber niemanden bei der Gelnhäuser Stadtverwaltung.“

Friedrichsen nickte verstehend. Mit zwei erhobenen Fingern bestellte er noch eine Runde für sich und Falkan, dazu noch eine doppelte Portion Frikadellen mit viel Zwiebeln. Falkan musste zahlen, und Friedrichsen wollte sich so teuer wie möglich verkaufen.

KHK Friedrichsen legte den Telefonhörer auf und warf Falkan einen skeptischen Blick zu.

„Die Möglichkeit besteht, sagte die Dame, aber so etwas hatten sie noch nicht. Und herauszufinden, wo die Frauen heute wohnen, ob sie weggezogen sind oder geheiratet haben, dürfte eine ziemlich zeitaufwendige Arbeit sein, daher hätten sie gerne eine offizielle schriftliche Anfrage. Dann werden sie gerne versuchen, was möglich ist.“

Falkan machte ein Gesicht, das seiner Verwunderung Ausdruck verleihen sollte, warum Friedrichsen noch nicht mit der Formulierung dieser Anfrage begonnen hatte.

„Und vielleicht könntest du noch reinschreiben, dass es dringend wäre, nicht, dass die da einen Lehrling dransetzen, damit der die nächsten drei Wochen was zu tun hat.“

„Sonst noch was?“

Trotz der enormen Zeche am gestrigen Abend war Friedrichsen genervt. Er hatte sich teuer verkauft, aber eine offizielle Anfrage barg immer die Gefahr, dass der Chef etwas mitbekam. Und Kriminalrat Kern war alles andere als ein Fan seines Freundes Kurt.

„Wenn du schon fragst. Erkundige dich doch gleich, wie lange es ungefähr dauert. Vielleicht kann ich ja drauf warten.“

Friedrichsen schnaufte unwirsch und fing an, die Tastatur seines Computers zu bearbeiten.

„Du hast doch bestimmt noch was zu erledigen, Kurt. Ich ruf’ dich an, wenn die Antwort da ist. Und sieh’ zu, dass du beim Rausgehen Kern nicht über den Weg läufst.“

Die Mittagshitze lag drückend über dem Kinzigtal. Falkan lief das Wasser in kleinen Bächlein die Schläfen hinunter, als er mit dem Rad von der Westspange in die Lagerhausstraße abbog. Das kleine Stück bergab und der Fahrtwind sorgten kurzzeitig für Abkühlung. Falkans Ziel war die Metzgerstraße. Laut Informationen von Britten und Co. war der junge Mr. X in den Siebzigern für ein paar Monate dort bei einer Familie Hellmann einquartiert. Es war zwar wenig wahrscheinlich, aber möglicherweise erinnerte man sich dort ja an die Amouren des Amerikaners.

Im Schweiße seines Angesichts erreichte Falkan wenig später die Metzgerstraße und begab sich auf die Suche. Die Hausnummer war nicht bekannt, nur, dass das Haus ziemlich in der Mitte lag und einen großen Garten hatte. Falkan klapperte alle Namensschilder an den Haustüren ab, doch der Name Hellmann war nicht darunter. Nach einer erfolglosen halben Stunde klingelte er daher bei Zellmann. Vielleicht hatte Mr. X im Laufe von vierzig Jahren die Anfangsbuchstaben verwechselt.

„Nein, wir hatten nie Amis bei uns“, enttäuschte ihn eine mittelalte Dame in Kittelschürze auf seine Frage hin. „Aber es gab mal eine Familie Hellmann hier, die haben dort drüben gewohnt.“ Sie deutete auf ein Haus schräg gegenüber. „Ich weiß noch, da gab es immer mal wieder Verwechslungen mit der Post. Aber die sind schon vor Jahren weggezogen, haben irgendwo gebaut, glaube ich. Aber fragen Sie mich nicht, wo.“

Falkan nickte dankend und schob sein Rad zu dem bedeuteten Haus mit dem großen Garten an der Seite. Ein Mann in Falkans Alter war soeben mit dem Spaten zugange.

„Hallo!“

Der Mann sah auf und hob grüßend die Hand.

„Tach.“

„Ist es nicht ein bisschen warm zum Graben?“

Der Mann winkte ab.

„Halb so wild. Ich vertrage ein paar Grade. Hab’ lange in Südafrika gelebt.“

Falkan zog das Türchen auf und betrat den Weg, der am Haus vorbei zum Garten führte.

„Mein Name ist Kurt Falkan. Ich suche eine Familie Hellmann, die soll früher mal hier gewohnt haben.“

Der Mann zog den Handschuh aus und reichte Falkan die Rechte.

„Becker. Hellmanns, ja von denen haben wir damals das Haus gekauft. Das war Ende der Neunziger, da wurde ich von Kapstadt wieder nach Deutschland versetzt. War `ne ganz schöne Umstellung. Aber im Winter fliegen wir immer noch runter, Sonne tanken. Und seit ich in Rente bin, bleiben wir immer ein paar Wochen länger. Ich kenne dort unten noch eine Menge Leute, auch wenn es schon beinahe zwanzig Jahre her ist, seit ich den Betrieb in Hanau übernommen habe. Ist immer wieder schön in Afrika. Wir hatten sogar überlegt, jetzt, wo ich in Rente bin, dass wir wieder ganz runterziehen könnten, aber meine Frau wollte nicht so weit von unseren Enkeln weg sein. Die sind jetzt vier und sechs, Laura und Marie, zwei liebe Kinder, kommen ganz nach dem Opa.“

Er lachte und holte Luft für weitere Einzelheiten aus seinem ereignisreichen Leben, doch Falkan bremste ihn aus. Er war nicht gekommen, um die Familienchronik der Beckers kennenzulernen, sondern um etwas über den Verbleib der Hellmanns zu erfahren.

„Und was war mit den Hellmanns?“

Herr Becker schien ein wenig enttäuscht über die erzwungene Änderung des Themas.

„Die Hellmanns, ja, da weiß ich leider gar nichts. Soweit ich mich erinnere, ging das damals alles über einen Makler. Wir haben die Vorbesitzer nur einmal bei der offiziellen Übergabe getroffen. Ich weiß noch, dass meine Frau damals Kaffee und Kuchen gemacht hat und sich Frau Hellmann wunderte, dass man in ihrer alten Küche so eine Schwarzwälder Kirschtorte hinbekommen kann. Meine Frau ist nämlich eine Koryphäe, was das Backen betrifft. An jedem Geburtstag…“

„Sie wissen also nicht, wo die Hellmanns hingezogen sind?“

Becker blickte wieder irritiert drein. Scheinbar war er es von seinen Bekannten und Verwandten nicht gewohnt, in seinem Redefluss unterbrochen zu werden.

„Keine Ahnung. Wie gesagt, wir haben sie nur einmal gesehen. Ich weiß nur noch, dass sie mit einem Auto kamen, das kein Kennzeichen von hier hatte. Wir hatten damals selbst noch die Schilder aus Südafrika drauf. Mann, das war vielleicht ein Akt, bis wir unser Auto umgeschrieben bekommen haben. Ich weiß noch, dass ich drei Stunden auf der Zulassungsstelle …“

„Danke, Herr Becker, ich muss dann mal“, unterbrach ihn Falkan erneut und trat den Rückzug aus dem Garten an. Noch auf der Straße hörte er Becker mit sich selbst reden. Der Mann wusste scheinbar nicht, wohin mit all den Worten in ihm.

Falkan klapperte noch die Häuser in der Nachbarschaft ab, doch niemand erinnerte sich daran, wohin die Hellmanns vor zwanzig Jahren gezogen waren. Ergebnislos und hungrig machte er sich auf den Heimweg.

Friedrichsens Anruf erreichte ihn am späten Nachmittag beim Einkaufen. Der Rucksack war voller als sonst, schließlich hatte er jetzt selbst eine amerikanische Einquartierung. Im Gegensatz zu sonst ließ er sich an der Kasse die Belege geben. Die Firma zahlte ja.

„Kurt, ich hab’ die Liste. Zwölf Namen, viel Spaß. Ich bringe sie nach Feierabend mit, es sei denn, du kannst es nicht erwarten.“

„Ich kann“, sagte Falkan und sah auf die Uhr. Es war schon zu spät, um jetzt noch mit der Suche nach Doris zu beginnen.

Als er gegen sechs nach Hause kam, wartete bereits Besuch auf ihn. Lincoln Lloyd hatte es sich in der Abendsonne auf der Veranda bequem gemacht. Der junge Amerikaner kannte scheinbar keinerlei Berührungsängste, lag in der Liege und hatte die Beine weit von sich gestreckt. Der Rucksack lag auf dem Boden.

„Wie war’s in Heidelberg?“

„Lange Nacht, viel Bier. Haben Sie vielleicht was Kaltes?“

Falkan ging ins Haus und kam mit einer Flasche Wasser und zwei Gläsern zurück.

„Haben Sie schon ein Hotelzimmer?“

Lloyd schüttelte den Kopf und deutete mit dem Daumen hinter sich auf die Verandatür.

„Es wäre doch das Einfachste, wenn ich hier wohne. Dann können wir unsere Erkundungszüge gemeinsam starten. Erleichtert die Arbeit, finde ich.“

Falkan hatte genau mit dieser Antwort gerechnet. Der Junge kannte wirklich keine Berührungsängste.