Falkan und das Erbe des Bösen - Gerhard Krieg - E-Book

Falkan und das Erbe des Bösen E-Book

Gerhard Krieg

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Beschreibung

Eine junge Frau bittet Falkan, ihr auf der Suche nach einem alten Familienrelikt behilflich zu sein. Eigentlich kein Fall für ihn, mehr ein Gefallen. Doch nachdem er in den Archiven des Geschichtsvereins erste Hinweise gefunden hat und diesen nachgeht, kommt ihm allmählich der Verdacht, dass an dem Gefallen doch mehr dran ist, als es zuerst den Anschein hatte. Nur scheibchenweise erfährt er von seiner Auftraggeberin die Wahrheit.

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Seitenzahl: 218

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Inhaltsverzeichnis

Der Fallschirm 1945

Vorfahren und Nachkommen.

Hofmanns Erzählungen

Ein unerwarteter Trittbrettfahrer

Ein trauriges Ende

Eine erste Spur

Hannes Undercover

Erste Verhältnisse klären sich

Die Falle schnappt zu

Goldgräberstimmung

1Der Fallschirm 1945

Karl Hofmann und Friedrich Semmel waren noch nicht alt genug, um das Geschehen um sie herum in seiner ganzen Tragweite begreifen zu können, doch in ihren jungen Herzen fühlten sie, dass die Welt sich in letzter Zeit anschickte, endlich wieder ein bisschen besser zu werden, auch wenn es zurzeit gar nicht danach aussah. Karls Mutter hatte ihnen wegen der Tiefflieger verboten, das Dorf zu verlassen, und sein Großvater würde ihnen sicherlich eine Tracht Prügel verpassen, wenn er sie jetzt sehen könnte, doch der Großvater und die Mutter saßen ihm Haus und warteten darauf, dass die Amis kamen.

Die Abenteuerlust hatte die beiden Jungs hinausgezogen. Sie wollten hinüber zum Entenweiher, wo vor ein paar Tagen ein deutscher Flieger abgestürzt war. Man hatte sich im Dorf erzählt, dass die Piloten grausig verbrannt waren.

Von Neugier getrieben schlichen die beiden Jungen durch die menschenleeren Gassen Altenhaßlaus. Manchmal trug der Westwind Motorengeräusche und das dumpfe Wummern explodierender Bomben aus Richtung Hanau herüber, aber Karl und Fritz hatten die langen Nächte im Luftschutzkeller satt und wollten endlich mal wieder durch die Felder laufen wie früher, bevor die Flugzeuge kamen, die Panzergräben gegraben wurden und die Menschen in Angst und Furcht lebten. Der Großvater hatte gesagt, dass in ein paar Tagen alles vorbei sein würde, und Karl glaubte alles, was sein Großvater ihm sagte. Also konnte gegen eine kleine Exkursion zum Entenweiher doch nichts zu sagen sein.

Als sie die letzten Häuser hinter sich gelassen hatten und sie schon so weit gelaufen waren, dass in der Ferne der dunkle Rumpf der abgestürzten Maschine zu sehen war, erschütterte ein besonders lauter Knall die Frühlingsluft. Irgendwo im Westen war etwas Großes getroffen worden. Die beiden zuckten zusammen und blickten hinter sich in den wolkenlosen Himmel. Karl zupfte Fritz am Jackenärmel.

„Vielleicht sollten wir doch heimgehen. Wir können uns den Flieger immer noch ansehen, wenn alles vorbei ist. Opa hat gesagt, es dauert nicht mehr lange.“

Fritz winkte tapfer ab.

„Quatsch. Dann holen sie das Ding sicherlich ab und bringen es wer weiß wohin. Komm. Es wird bald dunkel.“

Also liefen sie weiter zum Entenweiher hinüber. Im gesamten Wiesengrund und auf den Feldern ringsum regte sich kein Leben. Im letzten Jahr waren sie um diese Zeit noch mit der halben Klasse auf dem Leiterwagen vom alten Kultau mitgefahren, um auf den Feldern Unkraut zu rupfen, aber in diesem Frühjahr trauten sich die Menschen nicht aus den Mauern des Dorfes hinaus. Karl und Fritz fühlten sich wie Kundschafter in feindlichem Gebiet, und die Kampfgeräusche am Horizont verstärkten diesen Eindruck noch. Sie kamen sich verdammt mutig vor, doch Karls Mutter und der Großvater wären darüber bestimmt anderer Meinung.

„Die Piloten sind weg“, bemerkte Karl enttäuscht, als sie an der ramponierten Maschine ankamen. Die Kanzel war zersplittert und die Sitze verbrannt und leer. Der Rumpf war schwarz vom Ruß. Die Propellerflügel waren abgebrochen und der Lauf des Maschinengewehrs deutete drohend gen Himmel.

„Ob wir das Ding abbauen können?“

Fritz rüttelte mit beiden Händen an dem Gewehr.

„Pass auf. Vielleicht geht es los.“ Karl zog Fritz an der Schulter zurück. Im Gegensatz zu seinem Freund, der immer hoppla hopp und ohne groß zu überlegen die Dinge anging, dachte Karl zuerst nach, bevor er zur Tat schritt.

„Hasenfuß“, grinste Fritz und betrachtete seine rußgeschwärzten Finger. Ein Schauer krabbelte seinen Nacken hinauf. „Kannst du dir vorstellen, wie das ist, wenn man verbrennt?“

Karl schüttelte wortlos den Kopf. Er wollte es sich gar nicht vorstellen und ging um die Maschine herum, um die Gedanken an brennende Menschen wieder aus dem Kopf zu bekommen.

„Hier drüben ist ein großes Loch in der Wand.“

„Das heißt Rumpf“, klugscheißerte Fritz, als er dem Freund auf die andere Seite gefolgt war. Um das zerfetzte Blech herum konnte man noch die Reste des Balkenkreuzes erkennen. „Das waren bestimmt die Amis. Dein Opa hat sicherlich recht. Lange wird’s nicht mehr dauern. Wird auch Zeit. Ich hab’ die verdammte Kellerhockerei satt.“

„Lass’ das bloß nicht den Hinkel hören, sonst setzt’s was.“

Herr Hinkel war seit dem Weggang von Hauptlehrer Landsiedel vor vier Jahren dessen Nachfolger an der Altenhaßlauer Schule und eingeschworenes Parteimitglied. Bei solch vaterlandsverräterischem Gerede verstand er keinen Spaß. Fritz winkte verächtlich ab.

„Pah, der Hinkel. Was meinst du, was die Amis mit dem machen, wenn sie ihn erwischen? Der hat uns die längste Zeit stramm stehen lassen, glaub’ mir.“

Fritz kletterte auf die rechte Tragfläche, um einen besseren Blick in die Pilotenkanzel werfen zu können. Trotz der Lebensmittelrationierungen der letzten Jahre brachte er ein beträchtliches Gewicht auf die Waage, wodurch er mit dieser Aktion die Maschine, deren Fahrwerk bei der Bruchlandung abgerissen war, ins Wanken brachte. Schreiend purzelte er über den Flügel hinunter auf den Boden und entlockte damit seinem Freund Karl ein schadenfrohes Grinsen. Fritz hatte schon einige deftige Flüche auf der Zunge, doch dann musste auch er lachen. Es war schließlich ein tolles Abenteuer und viel zu schade, um sich zu ärgern. Er rappelte sich hoch und versuchte erneut, diesmal jedoch seine Körperfülle berücksichtigend, die Tragfläche zu erklimmen. Er hing schon mit den Armen auf dem kalten Blech, als sich näherndes Motorengeräusch ihn wieder auf die Wiese gleiten ließ. Karls Grinsen war ebenfalls erloschen.

Tiefflieger.

Wie man ihnen oft genug eingebläut hatte, krochen die beiden ohne Zögern in die nächstbeste Deckung unter der Tragfläche des Flugzeugs. Sie war breit genug, um sie vor Sicht aus der Luft zu verbergen. Die Herzen der Jungen pochten heftig, als das Geräusch näher kam. Dann zerrissen Schüsse die Luft. Karl und Fritz kannten sich inzwischen gut genug aus, um herauszuhören, dass es ein Bordgeschütz war, das da wild in den anbrechenden Abend ratterte. Sie wagten nicht, ihre Köpfe aus der Deckung zu schieben, um sehen zu können, was sich in der Luft abspielte. Die Neugier und Abenteuerlust war der blanken Angst ums Überleben gewichen. Jetzt war das Dröhnen direkt über ihnen, und auch die Schüsse hallten beängstigend nah in ihren Ohren. Das Flugzeugwrack wurde jedoch nicht getroffen. Der Schütze musste ein anderes Ziel haben. Nach einer bangen Sekunde waren die Flieger – es waren eindeutig zwei – mit aufheulenden Motoren über sie hinweg. Trotz seines hämmernden Herzens und der Todesangst riskierte Karl einen Blick hinterher. Auch Fritz streckte jetzt den Kopf ins Freie. Die beiden Flugzeuge schossen drüben am Wald vor Höchst fast senkrecht in die Höhe, während das hintere auf das vordere feuerte. Die Entfernung und die anbrechende Dunkelheit ließen nicht erkennen, wer da auf wen feuerte, wer Freund und wer Feind war. Fasziniert und gebannt sahen die zwei Jungs dem tödlichen Schauspiel zu, das sich da vor ihren Augen abspielte. Jetzt machte die vordere Maschine einen halsbrecherischen Schlenker und setzte, wieder näherkommend, zum Sinkflug an. Der Verfolger konnte nicht schnell genug reagieren und geriet für einige Sekunden ins Trudeln. Karl und Fritz schoben sich wieder unter die Tragfläche, als der Flüchtende sich dem Wiesengrund erneut näherte. Dann, vielleicht hundert Meter entfernt, drehte er ab und schoss übers Kinzigtal in Richtung Osten davon. Der Verfolger hatte sich inzwischen wieder gefangen und setzte ihm in rasendem Flug nach. Die Sonne war inzwischen schon halb hinterm Horizont versunken. In der anbrechenden Dämmerung konnte man deutlich das Mündungsfeuer des Bordgeschützes erkennen.

„Mensch Meier“, sagte Karl erleichtert, aber mit immer noch zitternder Stimme, als sie wieder auf den Füßen standen. Fritz hatte seinen unbekümmerten Mut schnell wieder gefunden, als die beängstigenden Geräusche in der Ferne verebbt waren.

„Und du wolltest wieder heim zu Opa. Hasenfuß.“

„Pass bloß auf, du“, fauchte Karl und versetzte Fritz einen Stoß, der ihn auf die Wiese beförderte. Dann warf er sich nach vorne, um ihm zu zeigen, wer hier ein Hasenfuß war. Bevor das Ganze jedoch zu einer handfesten Rauferei ausarten konnte, entdeckten die beiden noch im Fallen einen dunklen Fleck am Himmel.

„Ein Fallschirm“, flüsterte Fritz und suchte gemeinsam mit Karl schnell wieder Schutz unter der Tragfläche. Man konnte ja nicht wissen, wer oder was da von oben herabgesegelt kam. Es konnte einer von den Eigenen sein, vielleicht aber auch eine Vorhut der Amerikaner. Aus ihrem sicheren Versteck heraus beobachteten sie, wie der Soldat keine fünfzig Meter entfernt zu Boden ging und dann noch ein paar Meter vom Schirm über die Wiese gezerrt wurde. Laut fluchend blieb er endlich liegen. Den unflätigen Worten nach handelte es sich eindeutig um einen Deutschen.

„Komm!“, sagte Fritz und schickte sich an, das Versteck zu verlassen, um den Ankömmling zu begrüßen.

„Warte noch“, flüsterte Karl, der sich darüber wunderte, warum jemand aus einem Flugzeug sprang, das noch fliegen konnte. Außerdem wussten sie ja nicht, ob er aus dem Flüchtenden oder dem Verfolger ausgestiegen war und was sich überhaupt dort oben zwischen den beiden Kampfhähnen abgespielt hatte. „Ich finde, wir sollten erstmal beobachten. Wer weiß, was der Kerl vorhat?“

„Aber er ist doch einer von uns“, protestierte Fritz.

„Vielleicht ist er aber auch ein Deserteur. Schon mal drüber nachgedacht, warum einer aus einem fliegenden Flugzeug springt?“

„Hm“, machte Fritz und duckte sich wieder unter den Flügel. Der Soldat war unterdessen damit beschäftigt, seinen Fallschirm zusammenzuraffen. Dann sah er sich suchend um, bis sein Blick an dem Flugzeugwrack hängen blieb. Die Jungen hielten den Atem an, als er auf sie zukam, dann jedoch Halt machte, sich nochmals umsah und dann auf eine dichte Brombeerhecke am Wiesenrand zuging. Er verbarg den Fallschirm im Gebüsch und ging dann mit langen Schritten auf das Dorf zu. Inzwischen war von der Sonne nur noch ein schmaler roter Streifen am Horizont zu sehen, und schon bald hatte ihn die Dämmerung verschluckt. Fritz wollte schon loslaufen, um sich den Schirm anzusehen, doch Karl hielt ihn zurück.

„Lass’ doch. Es ist schon spät. Wir müssten schon längst zuhause sein. Wird sowieso ein Donnerwetter geben. Morgen nehmen wir uns den Handwagen und holen das Ding. Ist bestimmt schwer.“

Beschwingt vom Eindruck ihres großen Abenteuers liefen sie ins Dorf zurück. Als sie an der Kirche vorbeikamen, warf Karl einen kurzen Blick hinauf zur Turmspitze. Irgendwer hatte in den letzten Tagen eine weiße Fahne, vielleicht ein Betttuch, dort oben aufgehängt, was die Amis aber nicht davon abgehalten hatte, ihre Artilleriegeschütze auf Altenhaßlau zu richten und Häuser und Scheunen in Schutt und Asche zu legen.

„Möchte nur mal wissen, wer das Ding dort oben hingehängt hat.“

„Der Hinkel war’s bestimmt nicht“, grinste Fritz und beide lachten. Dann verabredeten sie sich für den nächsten Mittag und gingen in verschiedene Richtungen davon.

Wochen später. Für die Menschen war es der schönste Frühling seit Jahren, denn es herrschte Frieden im Land. Keine Flugzeuge mehr im Anflug und kein Kanonendonner mehr in der Luft. Statt der deutschen trugen die Soldaten, die durch die Städte und Dörfer marschierten, jetzt amerikanische Uniformen, und die Panzer hatten einen Stern auf dem Stahl statt des Balkenkreuzes. Die ersten Kaugummis machten die Runde und an jeder Ecke hörte man englische Worte.

An einem verregneten Mittwoch im Juni kam ein roter Opel Olympia über die Landstraße aus Richtung Höchst ins Dorf gefahren und hielt mit laufendem Motor vor der Kirche. Ein Mann stieg aus, bedankte sich beim Fahrer und ging, einer Schar gackernder Gänse ausweichend, über die Hauptstraße davon. Der Opel setzte schnaufend seine Fahrt fort. Der Mann trug einen heruntergekommenen Zweireiher und hatte einen zerknautschten Filzhut auf dem Kopf. Als er am Straßenschild vorbeikam, musste er unwillkürlich grinsen. Wie schnell sich doch die Dinge ändern konnten. Das letzte Mal, als er nach seinem Absprung hier entlanggelaufen war, hatte die Straße noch den Namen des Führers getragen. Zielstrebig eilte er auf den Ortsrand zu. Er wusste genau, wohin er wollte. Als er zwei amerikanischen Soldaten begegnete, nuschelte er ein zerquetschtes „Hello“ und beschleunigte seine Schritte. Nachdem er die letzten Häuser hinter sich gelassen hatte, ging sein Blick dorthin, wo vor Wochen das Flugzeugwrack gelegen hatte. Es war verschwunden, dafür entdeckte er zwei Pferdefuhrwerke mit Leuten drauf. Einen leisen Fluch ausstoßend, ging er weiter, die Fuhrwerke nicht beachtend. Als er das letzte Mal hier war, war es schon ziemlich dunkel gewesen, doch Gott sei Dank gab es nicht allzu viele Gebüsche in der Gegend, und der Weiher diente ihm als Orientierungshilfe. Nach einer Viertelstunde glaubte er, das Gebüsch gefunden zu haben. Leise über seine blutigen Finger fluchend wühlte er sich durch die Dornen der Brombeeren, doch er fand nicht, was er suchte. Der Schirm war fort. Oder hatte er sich doch geirrt? Er sah sich um. Noch zwei Hecken waren da, aber er hatte sie größer in Erinnerung. Trotzdem durchsuchte er auch diese und fand nichts. Gehetzt sprang er nochmal zur Ersten zurück und suchte sich die Finger noch blutiger, doch der Fallschirm, den er vor Wochen hier versteckt hatte, war nicht mehr da. Sein Blick ging misstrauisch zu den Pferdefuhrwerken, die ein paar Hundert Meter entfernt im Feld standen. Irgendjemand aus dem Ort musste sein Versteck entdeckt haben.

Von Wut gepackt machte er sich auf den Weg zurück ins Dorf. Er wusste, er konnte nicht alle Häuser abklappern, aber er erinnerte sich an die beiden Gasthäuser mitten im Ort, an denen er damals nach seinem Absprung, auf dem Weg zu seinem Freund Emil in Meerholz, vorbeigekommen war. Wenn er es geschickt anstellte, konnte er vielleicht etwas erfahren. Ein in den letzten Kriegstagen am Ortsrand gefundener Fallschirm hatte sich doch bestimmt herumgesprochen. Die erste Gaststätte, gleich hinter der Bachbrücke, hieß `Hanauer Hof´. Es war später Nachmittag, und der Gastraum war noch spärlich gefüllt. Es roch nach Zigarrenqualm und Bier. Ein paar alte Männer saßen an den Tischen und sahen zu ihm herüber. Der Mann nickte, setzte sich an den benachbarten Tisch und bestellte einen Apfelwein. Während er trank, überlegte er, wie er es anstellen sollte, aber so lange er auch nachdachte, es fiel ihm einfach kein Weg ein, wie er ein Gespräch zufällig auf den Fallschirm bringen konnte. Daher entschied er sich für die einfache Variante. Sollten sie ihn doch für einen komischen Kauz halten und ihn dumm angucken. Er drehte sich zu den Männern um und hielt ihnen zum Prost das Glas hin.

„Wohlsein, die Herren. Ich hab’ mal eine Frage.“ Die alten Männer wandten ihm ihre schnauzbärtigen Gesichter zu und blickten ihn abwartend an. „Hat man vielleicht zufällig vor einigen Wochen hier in der Gegend einen Fallschirm gefunden?“

„Warum? Hast du deinen etwa verloren, mein Sohn?“

Der Mann stimmte in das Lachen der anderen ein, obwohl ihm gar nicht danach war. Er wollte jedoch einen unbedarften Eindruck machen.

„Könnte man so sagen. Ich musste aus meiner Maschine abspringen und hab ihn draußen im Feld lassen müssen. So ein Ding schleppt sich schlecht. Aber ich wollte ihn als Andenken für meine Zeit bei der Luftwaffe aufbewahren. Leider hab’ ich ihn da, wo ich ihn gelassen hatte, nicht mehr gefunden.“

Die Männer sahen sich an und schüttelten einträchtig die Köpfe.

„Emma, hast du was gehört?“

Die Wirtin hinter der Theke schüttelte ebenfalls stumm den Kopf.

„Versuchs mal drüben beim Metzger oder vorne im Schwan. Vielleicht hast du da mehr Glück, Kamerad.“

Der Mann dankte, zahlte und ging über die Straße. Doch auch in der Metzgerei Grieß wusste niemand etwas von einem gefundenen Fallschirm. Die Kundschaft, bestehend aus zwei Frauen und einem kleinen Jungen mit Einkaufszettel in der Hand, sahen ihn nur verwundert an. Die Frau hinter der Theke verneinte seine Frage ebenfalls.

„August!“, rief sie durch die Tür, die wohl ins Schlachthaus führte. Ein Mann mit Schürze und Zigarrenstummel im Mund erschien im Durchgang.

„Was ist, Lilli?“

„Hast du was gehört, dass jemand einen Fallschirm im Feld gefunden hat?“

Der Metzger schüttelte stumm den Kopf und verschwand wieder in seinem Reich. Gleich darauf erklangen die harten Schläge eines Schlachtermessers. Der Mann dankte griesgrämig und begab sich ins ein paar Meter entfernte Gasthaus `Zum Schwan´. Die Gänseschar war immer noch auf der Hauptstraße unterwegs und begleitete ihn gackernd.

Im Schankraum des `Schwans´ bot sich ihm das gleiche Bild wie gegenüber im `Hanauer Hof´. Ein paar ältere Männer, die zusammensaßen und Pfeife oder Zigarre rauchten und über alte Zeiten und den verlorenen Krieg redeten. Sie wurden sofort auf das fremde Gesicht aufmerksam, und auch der Wirt hinter der Theke sah den Ankömmling neugierig an.

„Guten Tag. Einen Apfelwein bitte.“

„Und für uns auch noch mal eine Runde, Wilhelm“, bestellte einer der Pfeifenraucher und erntete dafür beifälliges Gemurmel seiner Freunde. Der Mann setzte sich ans Fenster zur Hauptstraße und sah den Gänsen draußen hinterher, wie sie wieder zurück zur Bachbrücke wackelten. Ein amerikanischer Armeelaster, der aus Richtung Kirche ankam, scheuchte sie mit brüllendem Motor nach beiden Seiten der Straße. Einer der Männer, ein bärtiger um die siebzig, drehte sich zu dem Fremden um.

„Warst du Soldat, Jungchen?“

Der Mann nickte freundlich, froh darüber, dass er das Gespräch nicht selbst eröffnen musste.

„Jawohl“, antwortete er militärisch knapp in der Hoffnung, den Alten, der bestimmt im vorigen Krieg auch gedient hatte, damit zu beeindrucken. „Luftwaffe.“

Der Wirt brachte den Apfelwein, und sie prosteten sich zu.

„Ein paar deiner Kameraden haben wir vor ein paar Monaten im Wiesengrund aus ihrer Junkers geholt. Tot. Verbrannt. Arme Kerle.“

„Ja, ich habe das Wrack gesehen. Bin in den letzten Kriegstagen dort mit dem Fallschirm in der Nähe eines Weihers abgesprungen.“ Das Gespräch nahm einen erfreulichen Verlauf. „Haben Sie vielleicht gehört, ob man in letzter Zeit dort einen Fallschirm gefunden hat? Ich wollte ihn nicht mitschleppen und hab’ ihn im Gebüsch versteckte, um ihn später zu holen. Jetzt ist er weg.“

Die Alten unterhielten sich eine Weile und zählten der Reihe nach die Namen der Bauern auf, die in der Nähe des Entenweihers Wiesen oder Äcker hatten. Drei von Ihnen hatten dort selbst ihr Vieh stehen, doch keiner erinnerte sich an einen Fallschirm in einem Gebüsch. Auch der Wirt und seine Frau Luise, die extra aus der Küche gekommen war, hatten nichts davon gehört. „Warum bist du eigentlich abgesprungen? Man hat von keinem anderen Flugzeugabsturz in der Gegend gehört.“

„Ist eine lange Geschichte. Ich erzähl’ sie vielleicht das nächste Mal, wenn ich vorbeikomme.“

Der Mann wollte sich nicht in ein Gespräch über die Umstände seines Absprungs verstricken lassen. Die gingen niemanden etwas an. Enttäuscht bestellte er noch einen Schnaps und verließ das Gasthaus. Draußen, auf der Straße, stand er eine Weile mit den Händen im Hosensäckel ratlos herum, dann ging er durch den einsetzenden Regen in Richtung Bahnhof davon. Er hatte sich seine Zukunft ein wenig anders vorgestellt.

Der Sommer war ins Land gekommen. Auf den Feldern im Linsengericht wuchs das Korn in den friedlichen Himmel hinein. Die Kirchenglocken läuteten wieder so frei und fröhlich wie früher, und die Menschen hatten sich an die Besatzungssoldaten gewöhnt. In Altenhaßlau und den umliegenden Orten gab es viele Einquartierungen.

Wieder kam ein Fremder ins Dorf, diesmal mit dem Motorrad. Hermann Weisung, noch vor einigen Monaten Oberleutnant der deutschen Luftwaffe, parkte die BMW R52, die sein Vater im Jahr `34 von dessen Chef zu einem äußerst günstigen Preis erstanden hatte, auf dem Hof des Gasthauses, von dem ihm sein Kriegskamerad Ludwig erzählt hatte. Er betrat jedoch nicht die Gaststätte, sondern machte sich zu Fuß auf den Weg durchs Dorf. Im Gegensatz zu Ludwig hatte er nämlich nicht die Absicht, den Schirm und die Fliegertasche als verloren zu betrachten. Sie waren sich darüber sogar in die Haare geraten, denn Ludwig hatte es als vollkommen aussichtslos angesehen, dass sie den Schirm jemals finden würden. Er könnte überall sein, hatte er gesagt, vielleicht sogar bei den Amis. Weisung hatte seinen ehemaligen Kameraden einen Feigling und einen lahmarschigen Idioten genannt, und sie waren im heftigen Streit auseinandergegangen. Ludwig war wieder heim nach Fulda gefahren, Hermann eine Woche später mit der BMW seines Vaters nach Altenhaßlau.

Es war kurz nach acht in der Früh, und es waren schon einige Leute im Dorf unterwegs. Hermann hatte sich vorgenommen, jeden, den er traf, auf den Fallschirm anzusprechen. Wenn er nur genügend Leute fragte, würde irgendwann einer etwas wissen, davon war er überzeugt. Und er hatte Zeit. Wenn es sein musste, kam er jeden Tag von Hanau herüber, um die Straßen und Häuser abzuklappern.

Ein Mann, der einen Handwagen mit einem Fass drauf über die holprige Straße zog, war der erste, den er ansprach, doch der Mann mit blauer Schürze und einer alten, abgewetzten Armeemütze auf dem Kopf schüttelte nur stumm den Kopf und sah ihm verwundert hinterher. Nun, man konnte ja nicht annehmen, gleich beim ersten Mal Glück zu haben, sagte sich Hermann und wanderte wie ein Sommerfrischler weiter, fragte Frauen mit Einkaufstaschen, Bauern auf den Kutschböcken ihrer Leiterwagen, Kinder mit Ranzen auf dem Weg zur Schule, er klopfte an Haustüren und fragte im Lebensmittelladen und bei einem Friseur nach, doch überall erhielt er die gleiche Antwort. Niemand hatte etwas gehört und niemand hatte etwas gesehen. Die meisten Menschen schüttelten nur verwundert den Kopf und sahen ihn wie ein fremdländisches Fabelwesen an.

Gegen Abend, er hatte nur ein mitgebrachtes Wurstbrot gegessen, machte er sich auf den Heimweg nach Hanau, kam jedoch am nächsten Morgen pünktlich um acht wieder auf den Hof der Gaststätte `Zum Schwan´ gefahren, um seine Suche diesmal in die andere Richtung fortzusetzen. Um die Mittagszeit sah er eine Frau, die hinter dem Gartenzaun mit der Harke durch die Erde fuhr und sprach sie an.

„Einen Fallschirm?“ Die Frau lachte. „Sie können aber Fragen stellen. Was war denn an dem so besonders, wenn Sie den unbedingt wiederhaben wollen?“

Hermann hatte längst aufgegeben, den Leuten irgendwelche langwierigen Begründungen zu geben. Stattdessen sagte er immer nur, dass der Schirm ein Andenken an seine Soldatenzeit sei und dass er ihm immerhin das Leben gerettet hätte. Aber auch die Frau im Garten schüttelte nach seinen erklärenden Worten nur bedauernd den Kopf. Hermann wollte schon weitergehen, als hinter ihr im Eingang der Scheune ein amerikanischer Soldat erschien und herüberkam. Die Frau sagte etwas in gebrochenem Englisch zu ihm und lachte. Der Offizier, Hermann erkannte an den Rangabzeichen den Major, sah ihn prüfend an. Hermann fühlte sich unter dem Blick äußerst unwohl, denn das Letzte, das er gebrauchen konnte, war ein Ami, der sich mit seinem Problem beschäftigte.

„Einen Fallschirm suchen Sie?“, sagte der Amerikaner mit breitem Akzent. „Wo haben Sie den denn verloren?“

Hermann glaubte, so etwas wie Misstrauen herauszuhören. Vielleicht wusste der Kerl ja etwas. Vielleicht hatten die Amis den Schirm und die Tasche tatsächlich gefunden und würden ihm unangenehme Fragen stellen, wenn er nicht schleunigst das Weite suchte. Er tippte zum Abschied mit dem Finger an die Stirn und tummelte sich in Richtung Ortsmittelpunkt.

„Hey, warten Sie doch mal!“, rief ihm der Major hinterher und trat durch das Türchen auf die Straße. Hermann beschleunigte seine Schritte und fing an zu laufen, als er bemerkte, dass der Ami ihm hinterherkam. „Wait“, schrie es hinter ihm, und „Stop, bloody hell, stop.“

Hermann war noch ein junger Mann, gerade Mal fünfundzwanzig geworden, und der Major hatte schon einige Dienstjahre mehr auf dem Buckel und einige Kilos mehr unter der Uniform. Es dauerte keine Minute, da erreichte Hermann sein Motorrad und trat eiligst den Starter durch. Als er vom Hof fuhr, hatte der Major gerade schnaufend das erste Fenster des Gasthauses erreicht. Hermann gab Gas und schoss über die holprige Hauptstraße davon. Er erreichte die Bachbrücke und warf einen schnellen Blick nach hinten, denn er hatte am Gürtel des Offiziers eine Pistole baumeln sehen. Doch der Major stand immer noch vor der Gaststätte und blickte ihm hinterher. Erleichtert drehte Hermann den Kopf wieder in Fahrtrichtung und sah gerade noch den Kühler eines amerikanischen Militärlasters auf sich zukommen. Dann wurde es dunkel um ihn.

2Vorfahren und Nachkommen

„Wir hätten uns einen besseren Besichtigungstag aussuchen sollen“, sagte Kurt Falkan und folgte August Krieg über den matschigen Weg, der zwischen altem Bauschutt und anderem Gerümpel zu der Halle hinführte, vor der Falkans Objekt der Begierde auf einem wackligen Holzgestell ruhte. Fritz lief nebenher und war sichtlich angetan von den kleinen Pfützen, durch die er mit seinen Pfötchen trippeln musste.

„Als Sie gestern angerufen haben, hat die Sonne geschienen. Kann man nichts machen.“

Der alte Lagerplatz am Blumenweg diente der Baufirma Krieg nur noch als Abstellmöglichkeit für Dinge, die nicht mehr benötigt wurden. Dazu gehörte auch ein Sechshundertliterfass, das Falkan auf einem seiner Spaziergänge neulich entdeckt hatte und das er sich gut als Wasserreservoir für seinen wachsenden Garten vorstellen konnte.

„Kann ich den Schlauch auch haben?“, fragte Falkan, als sie bei dem bauchigen Behältnis angekommen waren.

„Was Sie wollen. Ich weiß nur nicht, ob er noch dicht ist.“ August Krieg grinste verlegen. „Was übrigens auch für das Fass gilt.“

„Einem geschenkten Gaul schaut man nicht ins Maul“, zitierte Falkan und klatschte mit der Hand besitzergreifend auf das gelbe Plastik. „Für meine Zwecke wird’s schon reichen. Zur Not klebe ich ein Heftpflaster drauf.“

„Brauchen Sie vielleicht auch noch ein Klohäuschen?“, fragte Krieg und zeigte mit dem Kopf auf die silberne Blechlatrine, keine zwei Meter entfernt. „Ist noch nicht mal so alt. Und im Garten muss man doch schließlich auch mal.“

Falkan hatte zwar keine Kaufabsichten – so riesig war der Garten nun auch wieder nicht – stiefelte aber aus reiner Neugierde über einen unübersichtlichen Haufen Holzlatten und Eisengitter zu dem Häuschen hin.

„Eine eigene Toilette im Garten. Was für ein Luxus?“

„Passen Sie auf. Die Latten dort auf dem Boden sind morsch und brüchig. Am besten gehen sie vorsichtig am Rand, sonst brechen Sie ein. Da hat sich schon mal einer den Fuß drin gebrochen.“

Falkan tat wie ihm geheißen und zog die Tür auf. Der Plastiksitz lag neben der verdreckten Schüssel. Das Örtchen sah im Allgemeinen nicht besonders einladend aus. Er ließ die Tür wieder zurückfallen.

„Ach, ich glaube, ich schaffe es von den Tomaten noch schnell genug bis ins Haus.“

August Krieg lachte verstehend.

„Na ja, vielleicht bring’ ich das Ding nächstes Jahr zum Altmetall. Für irgendwas muss es ja noch gut sein.“ Sie gingen wieder zum Eingang zurück. „Wann wollen Sie das Fass holen?“

„Ich wollte eigentlich bis zum Frühjahr warten. Muss erst noch ein Gestell basteln.“

„Alles klar. Wir können es ja dann auf unseren Laster werfen. Sagen Sie Bescheid.“

„In Ordnung.“ Falkan bedankte sich mit Handschlag. „Jetzt muss ich noch zu Ihrem Bruder. Mein Fernseher hat gestern den Geist aufgegeben.“

„Soll ich Sie mitnehmen?“