Falkan und die Kunst - Gerhard Krieg - E-Book

Falkan und die Kunst E-Book

Gerhard Krieg

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Beschreibung

Bei seinem neuesten Fall muss Kriminalhauptkommissar im Ruhestand Kurt Falkan weit in die Vergangenheit reisen. Ein von der Wohnzimmerwand eines Bauernhofs im Spessart verschwundenes Gemälde taucht nach mehr als fünfzig Jahren wieder an der Wand einer Galerie in Frankfurt auf. Falkan bekommt den Auftrag, die Hintergründe aufzuklären und das Bild dem rechtmäßigen Eigentümer wieder zuzuführen. Auf seiner Reise durch die vergangenen Jahrzehnte stößt er auf den Mord an einem Frankfurter Kunsthändler und einen wegen Kunstdiebstahls verurteilten Knecht, dessen Tochter von der Unschuld ihres Vaters überzeugt ist. Um die Wahrheit herauszufinden, muss Falkan die Arbeit zu Ende führen, die seine Kollegen in den sechziger Jahren begonnen hatten.

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Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig oder gewollt

Erschienen 2019

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1: Zwei Aufträge sind besser als keiner

Kapitel 2: Spur in die Vergangenheit

Kapitel 3: Wie in alten Zeiten

Kapitel 4: Ein Erfolgserlebnis muss her

Kapitel 5: Ein Zeuge verschwindet

Kapitel 6: Geheimnisse im Spessart

Kapitel 7: Wo ist Henri Lakenfeld

Kapitel 8: Ein hilfreicher Trick

Kapitel 1 Zwei Aufträge sind besser als keiner

Falkan musste sich strecken, um den untersten der vier Äpfel zu erreichen, zu denen es seine Goldparmäne in ihrem fünften Jahr gebracht hatte. Er hatte das Bäumchen damals bei der allherbstlichen Verkaufsaktion der Gemeinde auf dem Bauhof erstanden und wartete seitdem jedes Jahr auf den ersten Erfolg. Diesen Herbst wurde seine Geduld endlich belohnt. Falkan fühlte fast so etwas wie Vaterstolz, als er eines seiner vier Kinder in der Hand hielt und von allen Seiten betrachtete. Der Apfel leuchtete rot und gelb in der Septembersonne und war eigentlich viel zu schade, um einfach hineinzubeißen. Dennoch tat er es, und nach einem kurzen Augenblick des Gefühls, etwas Böses getan zu haben, breitete sich das süße Aroma in seinem Mund aus und machte alle Bedenken zunichte. Der zweite Bissen fiel noch leichter, und nach einer halben Minute war nur noch der dürre Griebs übrig. Erst jetzt bemerkte Falkan die sehnsüchtigen Augen seines Dackels Fritz, der im Gras hockte und mit schiefgehaltenem Köpfchen zu ihm heraufblinzelte.

„Ach Gott, Fritzchen, dich hab’ ich ja in meiner Gier ganz vergessen. Entschuldige.“

Falkan streckte sich erneut, musste dann aber doch einen Gartenstuhl zu Hilfe nehmen, um die zweiten fünfundzwanzig Prozent der diesjährigen Apfelernte ergreifen zu können. Fritz dankte es ihm gleich darauf mit ordentlichem Schmatzen. Dass seine mittägliche Zwischenmahlzeit ein paar Wurmlöcher hatte, störte ihn nicht.

Falkan sah auf die Uhr. Es war schon nach zwölf, die Krannich würde heute wohl nicht mehr kommen, und wenn doch, sie hatte ja einen Schlüssel. Falkan hatte eine berufliche Verabredung im Dorf. Scheinbar nichts außergewöhnlich Aufregendes, aber immerhin Arbeit. Nachdem ihm sein letzter Fall beinahe ein Messer und eine Kugel in die Rippen eingebracht hatte, war sein Bedarf an Aufregung ohnehin fürs Erste gedeckt.

Er verließ seine `Apfelplantage´ und machte sich mit Fritz auf den Weg. Falkan wollte sich in zehn Minuten mit Hermann Brand in dessen Büro treffen. Brand besaß eine Anwaltskanzlei in der Eidengesäßer Straße und hatte Falkan bei ihrem letzten Zusammentreffen beim Hähnchenholen in der Gaststätte `Zum Steines´ von einer Sache berichtet, in der ein Privatdetektiv einem seiner Mandanten eventuell behilflich sein konnte. Die Einzelheiten dieser Sache wollten sie nun besprechen.

Vor der Haustür traf Falkan dann doch noch auf Birgit Krannich, seine Haushaltshilfe. Wenn er nicht aufpasste, würde sich seine Verabredung mit Brand auf unbestimmte Zeit nach hinten verschieben, denn Frau Krannich redete gerne viel und lange und hatte stets einiges zu sagen. Da Falkan jedoch Wert auf Pünktlichkeit legte, ließ er sie gar nicht erst zu Wort kommen.

„Guten Morgen, Frau Krannich, bin auf dem Sprung. Ihr Geld für letzte Woche liegt auf dem Küchentisch. Machen Sie’s gut.“

Sie konnte ihm nur noch ein enttäuschtes „Guten Tag“ hinterherrufen, da war er auch schon auf dem Weg hinauf zur Gelnhäuser Straße.

„Typisch Rentner“, murmelte sie und ging ins Haus, um ihr wöchentliches Werk zu vollbringen, während Falkan, glücklich über seine gelungene Flucht, seiner Verabredung mit Hermann Brand entgegenstrebte. Fritz war wieder in seinem Element, hatte der Regen gestern seine Welt doch auf den Hausflur und das Körbchen reduziert. Falkan hatte seine liebe Mühe, ihn zu bremsen.

„Ja, mein Guter, du bekommst nachher eine schöne Tour durch die Lande, aber erst mal muss Herrchen ein bisschen was gegen seine Langeweile tun.“

Nach zehn Minuten quer durchs Dorf erreichten sie die Kanzlei gegenüber dem Kriegerdenkmal.

„Hat ein bisschen was von ein Fall für Zwei“, begrüßte Falkan Brand. „Der Anwalt und sein Detektiv.“

„Ja, nur dass es bei meinem Fall kaum Mord und Totschlag geben dürfte“, lachte Brand und lotste den Gast in sein Büro. „Es geht schlicht um eine Behauptung und deren Widerlegung, mehr nicht.“

Falkan nahm Platz und schlug die Beine übereinander. Fritz lümmelte sich neben der Tür an die Wand.

„Wer behauptet was, und wie soll ich es widerlegen?“

Brand nahm eine Akte vom Schreibtisch und schlug sie auf.

„Mein Mandant heißt Michael Berger, Physiotherapeut. Unser Gegner ist Silvio Heineken, angehender Frührentner, wenn es nach ihm geht. Heineken hat’s in den Knochen und Berger hat ihn behandelt, über mehrere Monate hin. Nun behauptet Heineken, durch Bergers Behandlungsmethoden erst recht Schmerzen bekommen zu haben und kaum noch richtig laufen zu können. Kurz gesagt, er klagt auf Schmerzensgeld und hofft im Falle eines positiven Ausgangs auf die Frühverrentung. Was wir brauchen, ist der Beweis, dass der Mann simuliert.“

Falkan hatte mit etwas Ähnlichem gerechnet, konnte jedoch seine Enttäuschung gekonnt verbergen.

„Wurde er denn nicht von einem Arzt untersucht?“

„Wenn Heineken sagt, er hat Schmerzen, wer soll es ihm widerlegen? Er ist gut im Jammern, und ein bisschen Humpeln hat bei einer ärztlichen Begutachtung noch nie geschadet.“

„Ich soll ihn also beschatten und fotografieren, sobald er einen Hundertmeterlauf hinlegt. Das hört sich nicht besonders spektakulär an.“

Brand zuckte mit den Schultern.

„Ich hab’ ja gesagt, mit Mord und Totschlag kann ich dir nicht dienen, aber als du bei Abdel meintest, dir sei langweilig, hab’ ich gedacht, ist doch besser als nichts, oder?“

Falkan seufzte.

„Ja, das ist wohl so. Ist ja auch viel schöner auf der Welt, wenn nicht so viele Leute umgebracht werden. Was ich jetzt noch bräuchte, ist die Adresse von Heineken und eine Beschreibung. Dann werden mein Partner und ich uns gleich auf den Weg machen, um einen ersten Eindruck zu bekommen.“

„Wie steht’s mit deinem Honorar? Ich muss das bei der Versicherung angeben.“

„Hält sich in Grenzen, da werden wir uns schon einig. Ich hab’ beim letzten Auftrag erst einen schönen Batzen von deinen Kollegen aus Amerika bekommen, und der erste Tag ist frei. Fritz und ich müssen eh noch unsere Runde drehen.“

Der Rauhaardackel konnte sich an diesem Nachmittag wahrlich nicht über zu wenig Auslauf beschweren. Auf der Suche nach Heineken hatten sie eine lange Runde durch Gelnhausen gedreht, und ihn gegen vier Uhr in einer Kneipe in der Langgasse aufgestöbert. Seine orangefarbene Kreidler stand auf dem Kopfsteinpflaster davor.

Brands Mandant Berger hatte im Laufe von unzähligen Behandlungsstunden durch die Unterhaltungen mit Heineken einen ziemlich genauen Eindruck von dessen Tagesablauf bekommen, sodass Falkan nur die einschlägigen Kneipen ablaufen musste, um irgendwann auf Heinekens Mofa zu stoßen. Es gab nicht mehr viele orangefarbene Kreidler in der Gegend. Während Falkan von einem Straßencafé einige Meter weiter aus den Eingang der Kneipe im Auge behielt, erreichte ihn der Anruf eines Herrn Sommerfeld, welcher ebenfalls seine Dienste in Anspruch zu nehmen gedachte. Erfreut, dass die Geschäfte so gut liefen, ließ sich Falkan dessen Telefonnummer geben und versprach, sich nach Erledigung des Tagesgeschäfts zu melden.

Gegen fünf verließ Heineken dann die Kneipe. Sein Gang war leicht schräg und humpelnd, Falkan wollte jedoch nicht beurteilen, ob dies von schmerzenden Gliedern oder vom Alkohol kam. Mit leichter Schräglage lenkte Heineken dann sein Gefährt in Richtung Unterstadt davon, wo Falkan es kurz darauf in der Clamecystraße neben der Tür des Mietshauses stehend fand, wo Heineken wohnte.

Da es schon dunkel wurde und Falkan nicht annahm, dass der Mann nach einem anstrengenden Tag an den Theken der Stadt noch einen abendlichen Dauerlauf hinlegen würde, machte er sich auf den Heimweg und rief von zuhause wie versprochen seinen nächsten Kunden an. Der Mann hieß Leo Sommerfeld und hatte ein Problem, das er nicht im Beisein seiner Frau besprechen wollte. Da der lange Nachmittag Falkan hungrig gemacht und er keine Lust auf Kochen hatte, schlug er als Treffpunkt die Gaststätte `Buxbaum´ vor, wo man das Kulinarische mit dem Geschäftlichen verbinden konnte.

Eine halbe Stunde später hockte er auf einem der Barhocker im `Buxbaum´ und wartete darauf, dass ein Herr in seinem Alter mit schütterem Kraushaar sich zu ihm gesellte. Es dauerte ein halbes Bier, bis ein Mann, auf den Sommerfelds Beschreibung passte, durch die Tür kam. Falkan rutschte vom Hocker und stellte sich vor.

„Ich bin Kurt Falkan. Setzen wir uns dort in die Ecke.

Muss ja nicht jeder mitkriegen, um was es geht.“

Da sein zukünftiger Mandant seine Frau aus der Sache heraushalten wollte, handelte es sich wahrscheinlich wieder um das Übliche. Falkan würde seinen zeitweisen Mitarbeiter Hannes bitten müssen, zu helfen, denn die gleichzeitige Observierung von Heineken und einer treulosen Ehefrau war ihm dann doch zu viel. Man war schließlich nicht mehr der Jüngste.

„Oh, es ist ja nichts Ehrenrühriges, Herr Falkan. Nichts, das andere nicht hören dürften.“

Falkan war überrascht.

„Ich dachte nur, weil Sie sagten, dass Sie Ihre Frau …“

Sommerfeld lachte.

„Oje, aus dem Alter sind wir raus, Herr Falkan. Nein nein, ich wollte nur nicht, dass meine Frau mitbekommt, dass ich wegen dieser Sache jetzt sogar einen Privatdetektiv engagiere. Sie ist sowieso schon genervt genug, dass mir diese ganze Angelegenheit so wichtig ist.“

Sie nahmen trotzdem am Tisch in der Ecke Platz, und nachdem Sommerfeld eine große Apfelschorle und Falkan einen `Strammen Max´ mit viel Schinken bestellt hatten, erfuhr der private Ermittler, was seinen neuen Klienten umtrieb.

„Ich muss vielleicht ein bisschen länger ausholen, Herr Falkan, genau genommen in die Zeit unserer Kindheit.“ `Scheint tatsächlich nicht um außerehelichen Beischlaf zu gehen´, dachte Falkan bei sich und nuckelte an seinem Bier, während Sommerfeld erzählte.

„Ich bin Lehrer, Deutsch und Geschichte, seit Anfang des Jahres pensioniert, aber das tut eigentlich nur insofern etwas zur Sache, dass ich seitdem mehr Zeit habe. Zeit, um Dinge zu tun, die ich mir für das Leben nach meinem Schuldienst aufgespart habe. Dinge wie Städtereisen zum Beispiel. Meine Frau und ich haben eine ganze Liste von Städten, die wir in den nächsten Jahren abhandeln wollen. Sie werden es nicht glauben, ich war in meinem ganzen Leben vielleicht erst zehn oder elf Mal in Frankfurt. Unglaublich, was? Ich wurde in Düsseldorf geboren und lebe schon seit über vierzig Jahren hier, aber Frankfurt war nie ein Sehnsuchtsort von mir. Daher war die erste Tour, die wir unternahmen, ein Trip durch Frankfurt. Das war letzte Woche. Und genau da ging es los.“ Je länger Falkan zuhörte, desto erwartungsvoller wurde er, was Leo Sommerfeld wohl von ihm wollen könnte. Er bestellte sich noch ein Bier und lauschte weiter. „Wir sind den ganzen Tag durch die Stadt gebummelt. Sachsenhausen, Eiserner Steg, Bahnhofsviertel, und dann natürlich auch die Zeil. Und da hab’ ich es gesehen.“

Manuela Kißner, die Frau hinter der Theke, brachte Falkans Bier und den Strammen Max mit viel Schinken.

„Lass’ dir’s schmecken, Kurt.“

Falkan lächelte ihr freundlich dankbar zu und machte sich ausgehungert über sein Abendessen her.

„Guten Appetit.“

„Danke. Und? Was haben Sie gesehen? Ich bin gespannt, muss ich gestehen.“

„Ich habe ein Bild gesehen. Ein Bild, das ich vor über fünfzig Jahren das letzte Mal zu Gesicht bekam. Damals sagte man mir, es sei gestohlen worden, und nun hängt es in einer Galerie auf der Zeil.“

Falkan hatte soeben mit einem Fetzen Schinken warmes Eigelb vom Teller gewischt und kaute genüsslich darauf herum.

„Was für ein Bild“, nuschelte er und schob einen Brocken Brot hinterher. Leo Sommerfelds Augen leuchteten beinahe verzückt, als er das Gemälde beschrieb.

„Es zeigt einen Dreimastsegler auf hoher See, seinen Kampf gegen die Wellen, die aufgeblähten, straff gespannten Segel, die sich gegen die Gewalt des Sturms stemmen, während das aufgewühlte Meer sich wie eine Mauer dem Schiff entgegenwirft. Ich war damals noch ein kleiner Junge, und dieses Bild hat mich bis tief in die Seele beeindruckt, vielleicht auch deshalb, weil es an einem Ort hing, der so gar nicht dazu passen wollte. Es hing auf dem Bauernhof meines Onkels, überall nur Kühe und Schweine und weit und breit kein Meer in Sicht.“ Sommerfeld lächelte versonnen. „Wir sind damals im Sommer immer zu unseren Verwandten nach Lettgenbrunn gefahren und haben dort einen Teil der Ferien verbracht. Mein Vater war auch Lehrer, stammte aber aus einer Bauernfamilie und half seinem Bruder immer bei der Ernte. Es waren die schönsten Ferien meines Lebens, auch wegen des Bildes. Wenn es zuhause hieß, wir fahren morgen wieder zu Onkel August, dann konnte ich mich nie entscheiden, worüber ich mich mehr freuen sollte. Über das Herumgerenne zwischen den Kühen auf der Weide oder darauf, endlich wieder vor diesem Bild an der Wohnzimmerwand zu stehen und vom Meer träumen zu können. Wenn ich es ansah, wusste ich, dass ich eines Tages zur See fahren würde. Na ja, daraus ist ja dann wohl nichts geworden. Die Richtung, die mein Vater für meine Zukunft vorgesehen hatte, war eine andere, weit weg vom Ozean.“ Er lachte. „Aber immerhin habe ich ein kleines Boot in Lohr liegen. Ein bisschen von meinem Traum ist also doch wahr geworden.“

„Und dieses Bild hängt jetzt in Frankfurt?“

Sommerfeld nickte eifrig.

„Da bin ich mir sicher. Ich habe es mir so oft und so lange angesehen, dass sich jede Welle und jede dunkle Wolke in mein Gehirn eingebrannt hat. Außerdem hat es die gleiche Signatur. Paul Bricks, 1878. Ein norddeutscher Maler, damals in seiner Gegend sehr berühmt. Malte hauptsächlich das Meer und alles, was damit zu tun hat. Ja, und eines Tages, als wir wieder mal zum Ernten nach Lettgenbrunn kamen, war das Bild weg. Es war gestohlen worden. Sie können sich nicht vorstellen, wie es in mir ausgesehen hat. Der ganze Sommer war für mich plötzlich wie verhagelt. Es war umso schlimmer, da mein Onkel mir im Vorjahr beim Abschied versprochen hatte, dass er es mir zu meinem zehnten Geburtstag schenken wollte. Ich weiß noch, dass ich stundenlang vor der leeren Stelle im Wohnzimmer gesessen und geheult habe. Wenn ich heute so drüber nachdenke, habe ich mich natürlich etwas töricht benommen. Alles nur wegen eines Bildes, könnte man sagen, aber eine Kinderseele ist nun einmal sehr verletzlich, und ich liebte dieses Bild.“

„Haben Sie denn in der Galerie nach der Herkunft gefragt?“

„Nun, ich wollte nicht mit der Tür ins Haus fallen. Es ist nicht meine Art, die Menschen vor den Kopf zu stoßen. Ich sagte nur, dass ich das Bild kenne und dass es seit meiner Kindheit auf unerklärliche Weise verschwunden sei. Der Verkäufer hat das jedoch scheinbar als unterschwelligen Vorwurf gewertet und den Chef geholt, der mir dann einen Vortrag über Paul Bricks und dessen Werke gehalten hat und darüber, dass Bricks’ Motive sich, wie bei vielen Malern, oft ähnelten und er Hunderte von Gemälden mit Schiffen geschaffen hätte.“

„Und das hat Sie nicht überzeugt, nehme ich an“, vermutete Falkan und kratzte das restliche Eigelb mit dem letzten Stückchen Brot vom Teller.

„Nein, denn sonst säßen wir jetzt nicht hier, Herr Falkan. Ich sagte ja, ich kenne jede Welle und jede Wolke auf dem Bild, und ich habe mir dann im Internet etliche Bilder von Brix angesehen. Viele waren sich ähnlich, und es waren auch viele Dreimaster dabei, aber der Himmel und das Wasser und auch die Schiffe haben doch immer einen eigenen Ausdruck, und das Bild aus Lettgenbrunn hatte eben diesen speziellen Ausdruck, an den ich mich erinnere. Besonders erinnere ich mich an den weitaufgerissenen Mund des Mannes im Krähennest, wie er gegen den Sturm anbrüllt, und an die Panik in seinem Gesicht. Nein, ich bin mir sicher, es ist das Bild, das rechtmäßig mir gehören sollte. Es ist also meine Bitte an Sie, herauszufinden, ob und wie ich zu meinem Recht kommen kann.“

„Und Ihre Frau findet das kindisch?“

Sommerfeld zuckte mit den Schultern.

„Was soll ich machen? Sie ist eine militante Realistin und hält nichts von Kindheitsträumen, schon gar nicht, wenn sie Geld kosten. Apropos, wie hoch ist denn Ihr Honorar?“

Entgegen seinen ersten Jahren als privater Ermittler hatte Falkan heute keinen festen Tarif mehr. Damals waren seine finanziellen Interessen noch von den `hundert Dollar plus Spesen´ Sprüchen eines Detektiv Rockford geprägt, doch inzwischen fasste er seine Nachforschungen mehr als Hobby und lohnende Freizeitbeschäftigung auf und ließ sich, neben den anfallenden Spesen, nur noch nach jeweiligem Ermessen und Sympathie für den Auftraggeber bezahlen. Da sein letzter größerer Auftraggeber, eine Anwaltskanzlei aus Chicago, ihn fürstlich entlohnt hatte – wofür er den Leuten dann auch noch das FBI auf den Hals gehetzt hatte – konnte er es bei Leo Sommerfeld und der Sache Heineken etwas moderater angehen. Außerdem war ihm Sommerfeld sympathisch. „Da werden wir uns einig. Hauptsache, die Spritkosten kommen raus, mein Auto schluckt nämlich nicht schlecht. Trinken wir auf unseren Geschäftsabschluss noch einen kleinen Braunen?“

Sommerfeld verzog säuerlich das Gesicht.

„Nein, danke. Ich trinke keinen Alkohol, höchstens Mal einen Wein zu besonderen Anlässen. Vielleicht könnte ich einen kleinen Orangensaft haben?“

Trotz des minimalen Sympathieverlusts, den Sommerfeld bei ihm durch diese Äußerung erlitt, bestellte Falkan einen Saft und einen Kokosnussrum, um mit seinem Klienten auf den zweiten Fall innerhalb eines Tages anzustoßen.

Falkan war wieder in seinem alten Revier, auch wenn sich die Zeil seit seinem Weggang verändert hatte. Das Glas ringsum war mehr geworden, und viele Geschäfte kannte er gar nicht mehr. Die Galerie Meininger war allerdings noch da, wo sie seit etwa sechzig Jahren stand. Ein nobles Geschäft in nobler Nachbarschaft. Im Gegensatz zu manch anderem Laden in der Frankfurter Kunstszene, hatte Falkan während seiner vierzig Dienstjahre noch nie im Hause Meininger zu tun gehabt, was auf ein hohes Maß an Seriosität schließen ließ. Doch die Zeiten konnten sich auch ändern, dachte Falkan und betrat den großen Verkaufsraum durch die schwere Tür aus Glas. Ein lichtdurchfluteter, weitläufiger Raum, vollgepackt mit Kunst, empfing ihn. Wände, Decke und Fußboden waren in Weiß gehalten und verliehen der Örtlichkeit etwas Blitzsauberes und Steriles. Das Licht strömte aus langen Reihen von Röhren und Strahlern an der Decke und erhellte eine Unzahl von Gemälden, Skulpturen und Grünpflanzen. Eine weiße Wendeltreppe führte zum ersten Stock hinauf. An den Pfeilern, die in der Mitte des Raums die Decke stützten, lehnten gelangweilt wirkende Figuren aus Bronze, wie Verkäufer, die auf Kundschaft warteten.

Ein echter Verkäufer war allerdings nicht in Sicht, also begab Falkan sich selbstständig auf Besichtigungstour. Sommerfeld hatte ihm genau beschrieben, wo sein Bricks hing. An der hinteren Wand, nicht zu übersehen. Zwischen der mannshohen Yucca Palme und der Vitrine mit den afrikanischen Götterköpfen hing jedoch etwas an der Wand, das wie verschüttete Tomatensuppe mit Schlagsahne aussah. Falkan sah sich in der Nachbarschaft um. Kein Dreimaster, nicht mal ein Segelboot hing in der Nähe.

„Kann ich helfen?“

Ein Mann in weißem Rollkragenpulli hatte sich unbemerkt zu der Yucca Palme gesellt und blinzelte Falkan freundlich an.

„Danke, ich will mich nur erst mal ein wenig umsehen.“

Sicherlich hörte der Verkäufer diese Aussage zum tausendsten Mal und ahnte, dass es zu keinem größeren Geschäftsabschluss kommen würde. Dennoch nickte er freundlich und zog sich dezent in den Hintergrund zurück, während Falkan, seinen Blick im Rücken fühlend, sich auf die Suche nach Sommerfelds Kindheitserinnerung machte. Langsam schlenderte er an den Wänden entlang, verweilte hier und da interessiert, und ging dann weiter, die Treppe hinauf zum ersten Stock und zu den anderen hundert Bildern, von denen keines Sommerfelds Beschreibung entsprach.

„Nun, haben Sie nichts gefunden, was Sie anspricht?“

Falkan drehte sich erschrocken um, wobei er einen flüchtigen Blick auf die Füße des Verkäufers warf. Der Kerl war leise wie ein Indianer, trug jedoch, entgegen Falkans Erwartungen, keine Mokassins, sondern normale Straßenschuhe.

„Ehrlich gesagt ist mir alles etwas, wie soll ich sagen, zu ländlich, zu trocken. Ich suche etwas für einen Verwandten aus dem Hamburger Raum. Haben Sie nicht irgendetwas Maritimes, mit Schiffen und so?“

Der Verkäufer mochte ihn für einen künstlerischen Banausen halten – was er im Grunde genommen ja auch war – aber er ließ es sich mit keiner Miene anmerken. Er nickte nur nachdenklich und legte dabei den Zeigefinger auf die geschlossenen Lippen.

„Etwas Maritimes also. Hm, ehrlich gesagt, so etwas ist zurzeit nicht besonders gefragt. Der Kunstmarkt ist wie die Mode. Was in einem Jahr getragen wird, ist im nächsten total out. Aber unten müssten wir etwas haben. Ein schöner Dreimaster von Paul Bricks aus dem neunzehnten Jahrhundert. Ich hatte im August drei Wochen Urlaub, davor hing es jedenfalls noch. Gehen wir mal hinunter, ja?“ Falkan folgte ihm die Treppe hinunter zur Yucca Palme neben den afrikanischen Götterköpfen. „Ach, hier haben wir uns ja vorhin schon getroffen, nicht wahr? Als hätten Sie’s geahnt, dass hier etwas hing, dass Sie suchen. Aber es ist weg, entweder verkauft, oder der Chef hat es wieder ins Archiv verfrachtet. Wie gesagt, ich hatte drei Wochen Urlaub. Warten Sie mal, ich frage gleich mal nach.“

Der Verkäufer verschwand mit tänzelnden Schritten zwischen den Säulen und kam kurz darauf mit einem braun gebrannten Mann zurück, dessen wallendes schwarzes Haar auf das feine Tuch eines nadelgestreiften Anzugs fiel. Er wirkte wie ein Surfer, dem sie am Strand die Klamotten geklaut hatten und der sich dann das erstbeste gegriffen hatte, was rumlag. Der Sonnyboy begrüßte Falkan mit festem Handschlag.

„Hallo, ich bin Gerald Meininger. Herr Walluf sagte, Sie suchen etwas Besonderes?“

„Nun, es muss nichts Besonderes sein, aber etwas mit Schiffen eben. Und Meer. Es ist für ein Nordlicht aus unserer Familie.“

„Da muss ich Sie leider enttäuschen. Das Maritime ist zurzeit nicht besonders gefragt. Ich könnte Ihnen aber etwas besorgen. Wir haben einen Katalog, auch mit Gemälden norddeutscher Maler.“

„Herr Walluf sagte, Sie hätten hier ein Bild von einem Dreimaster hängen gehabt.“

Falkan deutete auf die Tomatensuppe mit Schlagsahne.

„Der ist weg, wurde verkauft, als Herr Walluf in Urlaub war. Es war das Letzte dieser Art, aber wie gesagt, wir haben einen Katalog, da …“

„Nein, nein, Katalog nutzt mir nichts, ich bräuchte das Bild nämlich schon heute Abend.“

Meininger und Walluf zuckten gleichzeitig bedauernd mit den Schultern.

„Versuchen Sie es doch mal bei Lorentzen. Die haben eine etwas bodenständigere Auswahl als wir. Möglich, dass Sie dort fündig werden.“

Falkan nickte dankend und verabschiedete sich. Draußen hockte er sich gegenüber der Galerie auf eine Bank und streckte die Beine von sich. Was hatte Meininger gesagt? Das Bild sei verkauft worden, als sein Kollege Walluf in Urlaub war, aber Walluf sagte, er habe im August Urlaub gehabt. Jetzt war es Mitte September, und Leo Sommerfeld hatte letzte Woche seinen Stadtbummel durch Frankfurt gemacht. Da passte etwas mir der zeitlichen Abfolge nicht.

Falkan nahm sein bereits für den Fall Sommerfeld angelegtes schwarzes Büchlein zur Hand und notierte sich die kleine Ungereimtheit. Dann legte er die Arme links und rechts auf die Rückenlehne der Bank und beobachtete in einem Anflug von Nostalgie die Menschenmassen, die an ihm und den Schaufenstern vorüberzogen. Früher war er ein Teil dieser Massen gewesen, und es hatte ihm nichts ausgemacht. Er hatte es nicht anders gekannt, doch seit er und Sigi ihre Urlaube ins Linsengericht verlegt hatten, war ihre Sehnsucht nach etwas mehr Ruhe erwacht. So hatten sie sich nach seiner Pensionierung das Haus in `Elf Morgen´ gebaut, um den Rest ihrer Tage etwas näher zur Natur zu verbringen. Leider hatte es das Schicksal anders gewollt, und Falkan hatte von einem schrecklichen Tag auf den anderen mehr Ruhe, als ihm lieb gewesen wäre.

Falkans Gedanken drohten schon, wieder ins Melancholische abzugleiten, als gegenüber die Tür zur Galerie geöffnete wurde und Meininger mit einem in Packpapier eingewickelten Gegenstand aus dem Haus kam. Er ging zu einem einige Meter weiter geparkten VW Bus und verfrachtete das Bild – was sonst konnte es sein – in den Laderaum. Dann fuhr er davon. Falkan wünschte, er wäre das Risiko eingegangen, statt im Parkhaus irgendwo hier im absoluten Halteverbot zu parken. So musste er dem Wagen tatenlos hinterhersehen, und er hätte doch zu gerne gewusst, was in das braune Packpapier eingewickelt war.

Erneut zückte er sein Büchlein und fügte der ersten eine zweite Notiz hinzu.

„Wo bist du?“

Falkan lehnte im Parkhaus am Firebird und telefonierte mit seinem Mitarbeiter Hannes.

„Er ist wieder in der Kneipe in der Langgasse, schon seit einer Stunde. Bislang keine Auffälligkeiten, nix zum Fotografieren.“

Die Detektei Falkan hatte sich den Roller von Michael Grebners Freundin Melinda ausgeliehen, um besser für die Observation von Silvio Heineken gerüstet zu sein.

Eine Kreidler war zwar keine Rennmaschine, aber mit dem Fahrrad und in seinem Alter hätte Larrosch keine Chance gehabt, und Melindas Roller stand seit ihrer Abreise nach Kenia ungenutzt in Friedrichsens Garage herum.

„Geh’ doch mal rein. Vielleicht machen die da drinnen ja Armdrücken oder so was“, schlug Falkan vor.

„Ich weiß nicht, Kurt“, antwortete Larrosch zögerlich. „Als ich das letzte Mal in deinem Auftrag in eine Kneipe gegangen bin, hätte man mich fast verprügelt.“

Er erinnerte sich nur mit Grausen daran, wie der besoffene John Dogan ihn in der `Landebahn´ in Erlensee am Kragen gepackt und angebrüllt hatte und er nur durch das Eingreifen von Dogans Saufkumpanen vor Schlimmerem bewahrt worden war.

„Ach was. Heineken ist kein ehemaliger Soldat, Heineken ist Lagerist in einem Möbelladen. Die sind ungefährlich.“

„Wenn einer Sofas stemmt, ist mit dem bestimmt auch nicht zu spaßen, Kurt.“

Falkan verdrehte die Augen.

„Also schön, bleib draußen. Ich bin in einer Stunde daheim, dann lös’ ich dich ab, wenn er noch da ist.“

Auf Höhe des Hanauer Kreuzes klingelte das Telefon.

Vorschriftswidrig nahm Falkan es ans Ohr.

„Hannes?“

„Er ist weg, Kurt, mit einem seiner Kumpels und dem Auto. Da konnte ich nicht mehr hinterher, sie haben mich an der Kreuzung an der Westspange abgehängt. Das Mofa steht noch.“

„Macht nichts, Hannes. Dann lassen wir’s für heute gut sein, und ich kümmere mich erst mal um die andere Sache. Hast du das Kennzeichen?“

„Bin doch kein Anfänger“, maulte Larrosch beleidigt. „Klar hab’ ich das.“

„Gut“, grinste Falkan und drückte auf die Taste mit dem roten Telefon, gerade noch rechtzeitig, um im