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Hauptkommissar im Ruhestand, Kurt Falkan, ist langweilig. Ihm fehlt es an kriminalistischer Herausforderung. Da kommt ihm ein Fund, den er im Gebüsch neben der Autobahn macht, gerade recht. Eine geheimnisvolle Tasche, verschlossen und scheinbar absichtlich weggeworfen, ist etwas, über das es sich nachzudenken lohnt. Mangels Kundschaft beginnt Falkan daher, der Herkunft seines Zufallsfunds auf den Grund zu gehen. Am Anfang ist es nur Beschäftigungstherapie, doch je tiefer er in die Vergangenheit der Tasche vordringt, desto mehr wird für ihn zur Gewissheit, dass ihr ehemaliger Besitzer in ein Verbrechen verwickelt sein muss.
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Seitenzahl: 236
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Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig oder gewollt
Die Tasche am Wegrand
Ein holpriger Anfang
Wo ist Jean Villeneuve?
Im Beaujolais
Eine Leiche wird gesucht
Ein erstes Rätsel wird gelöst
Es ist noch nicht vorbei
Spielchen
Riskantes Spiel
Weitere Informationen
Tiefes Bedauern und schmerzhafte Reue war das Erste, das Falkan empfand, als sein Geist erwachte und sein rechtes Auge versuchte, sich in der Welt zurechtzufinden. Das Linke war noch verklebt und ließ sich nicht öffnen. Er erblickte seine Hose, die zerknittert auf dem Boden lag, etwa drei Meter entfernt gleich neben der Tür. Ein Schuh ragte darunter hervor, in dem eine umgefallene Bierflasche steckte. Automatisch versuchte sein umnebeltes Polizistenhirn, den Tathergang, der zu dieser Situation geführt haben konnte, nachzuvollziehen. Ohne nähere Kenntnis der Umstände gelang dies jedoch nicht. Die einzig logische Erklärung, die ihm zu dieser frühen Stunde in den Sinn kam, war der Genuss einer ungehörigen Menge Alkohol.
Falkan gelang es, das zweite Auge zu öffnen. Hinter den Schleiern der Nacht konnte er die Leuchtziffern des Weckers erkennen und musste sich, was die frühe Stunde betraf, berichtigen. Es war bereits nach zwölf. In der Hoffnung, den bösen Geist, der ihn am Wickel hatte, etwas zu besänftigen, schloss er die Augen wieder, doch der Geist war übermächtig. Die Klaue, die er unbarmherzig um seinen Kopf gekrallt hatte, drückte auch im Dunkeln zu. Außerdem rumorte es im Erdgeschoss. Geschirr klapperte und das Radio war laut aufgedreht. Jemand machte sich in der Küche zu schaffen.
Trotz seiner miserablen geistigen und körperlichen Verfassung kam Falkan der Name Heinz Rübenstahl in den Sinn. Onkel Hein, wie er in Friedrichsens Verwandtschaft genannt wurde. Seine Einquartierung für letzte Nacht. Und, wie Falkan sich allmählich erinnerte, auch einer der Gründe für seinen außergewöhnlichen Kater. Sie hatten schon am `Steines´ mit Friesengeist angefangen, und Onkel Hein hatte noch eine Flasche davon im Gepäck gefunden, als sie von der Feier gekommen waren. Das war so etwa gegen drei, glaubte Falkan sich zu erinnern, und auch daran, dass er vielleicht den dazugehörigen Trinkspruch etwas zu wörtlich genommen hatte:
Wie Irrlicht im Moor, flackert’s empor, lösch aus, trink aus, genieße leise, auf echte Friesenweise, den Friesen zur Ehr, vom Friesengeist mehr.
Besonders die letzte Zeile schien ihm gut gelungen zu sein.
Dann war da noch ein längeres Gespräch auf der Veranda gewesen, es ging über Hasen und irgendwelches Gemüse, und dann war der Vorhang gefallen. Das Rätsel um die Bierflasche in seinem Schuh würde wohl ewig eines bleiben.
Falkan zwang ächzend die Beine unter der Decke hervor. Sie waren nackt wie der Rest von ihm, bis zum Schlafanzug hatte er es scheinbar nicht mehr geschafft. Als er von der Bettkante hochkam und das Blut aus dem Kopf hinunter in seine Waden schoss, wäre er beinahe rückwärts wieder umgekippt.
Die Unterhose befand sich noch in der Hose. Falkan stieg gerade so in beide hinein, wie er sie in der Nacht verlassen haben musste. Erst mal ins Bad, und dann runter zu Onkel Hein. Die Geräusche ließen auf frisch aufgebrühten Kaffee schließen.
Im Bad fand er Hemd und Fliege über der Dusche hängend. Der Weg von der Veranda ins Bett hatte scheinbar über die Toilette geführt. Falkan ließ sich kaltes Wasser übers Gesicht laufen, griff sich das oberste Unterhemd aus dem Schmutzwäschekorb und wackelte gottergeben die Treppe hinunter. Fritz sah aus seinem Körbchen mitleidig zu ihm hoch. Aus der Küche drang fröhliches Pfeifen zur Musik aus dem Radio.
Leise trat Falkan ein. Da stand Onkel Hein an der Kaffeemaschine, ein Mann von zweiundachtzig Jahren, dünn wie ein Seeaal und lang wie ein Leuchtturm. Und, wie Falkan voller Unverständnis feststellen musste, fit wie ein Turnschuh.
„Morgen“, krächze Falkan und versuchte, einen ausgeschlafenen Eindruck zu machen. Onkel Hein drehte sich um und grinste ihn mit seinen wenigen Zähnen an.
„Moin moin. Na, noch’n büschen duun?“ Er kicherte und bemerkte, dass er sein Gebiss noch nicht eingebaut hatte. Er griff in die Tasche und beförderte ein Taschentuch zum Vorschein, aus dem er zwei Reihen perlweißer Zähne herausholte. Falkan beobachtete schweigend, wie er sie mit gekonnten Griffen an Ort und Stelle platzierte.
„Ging mir schon besser“, gab Falkan zu und ging zum Fenster. Drüben, im Hause Friedrichsen, tanzten noch die Luftballone von Sonntagnachmittag im Herbstwind. Die Friedrichsens hatten sonntags geheiratet, was ungewöhnlich war, jedoch wegen Terminen des Pfarrers nicht anders möglich.
„Tscha, Friesengeist is nich jedermanns Sache. Aber wenn du erst Mal in mein Alter kommst, hast du dich dran gewöhnt.“
Er lachte und schenkte zwei Humpen Kaffee voll.
Falkan nahm dankend an und trank ihn gegen seine Gewohnheit schwarz. Milch schien ihm an diesem Morgen nicht hart genug im Kampf gegen die dicke Luft in seinem Kopf zu sein. Er erinnerte sich schwach daran, auf der nächtlichen Veranda mit Onkel Hein Brüderschaft getrunken zu haben.
„Hast du gut geschlafen?“
„Jau!“
Falkan war dankbar für die knappe Auskunft. Ihm war nicht nach Reden. Es zog ihn vielmehr an die frische Luft. Der kühle Herbstwind des ausgehenden Oktobers versprach Linderung seines Brummschädels. Schweigend tranken sie ihren heißen Kaffee, dann schlurfte Onkel Hein über die Straße zu seinem Neffen hinüber, um ihm beim Aufräumen zu helfen und, wie er mit einem satten Grinsen im Gesicht sagte, um zu gucken, ob nicht noch was rumsteht, das weg muss. Falkan sah ihm kopfschüttelnd hinterher. Zweiundachtzig und benimmt sich wie auf der ersten Klassenfahrt weit weg von zuhause.
Gegenüber empfing Simone Onkel Hein auf der Veranda und drückte ihn herzlich. Sie hatten sich erst gestern auf der Hochzeit kennengelernt, waren aber schon ein Herz und eine Seele. Simone sagte, Onkel Hein wäre so richtig einer zum Knuddeln, und das tat sie nun auch drüben mit aller Macht. Falkan winkte ihr durchs Küchenfenster zu und schleppte sich anschließend wieder nach oben, um sich für den Gang an die frische Luft fertigzumachen. Raus aus der zerknitterten Anzugshose und rein in Jeans und Pullover. Er hatte sich für eine kurze Runde mit dem Rad entschieden, um sich den Fahrtwind um die Ohren wehen zu lassen. Fritz fühlte sich um seinen Gassigang gebracht und sah ihm beleidigt nach.
Bereits nach fünf Minuten auf dem Rad musste Kriminalkommissar im Ruhestand Kurt Falkan jedoch feststellen, dass es ein paar Meter zu Fuß die Straße rauf und wieder runter auch getan hätten, immer schön in Reichweite des heimischen Sofas. Das Strampeln forderte seinen durch die gestrige Hochzeitsfeier arg lädierten Körper aufs Äußerste. Die Lunge hatte ihre liebe Last, und der Friesengeist musste sich mit seinen siebenundfünfzig Prozent in seine Knochen und Gelenke eingebrannt haben. Außerdem war man ja keine sechzig mehr. Doch er war inzwischen schon von der Lagerhausstraße auf den Fahrradweg nach Hailer abgebogen und wollte sich vor sich selbst keine Blöße geben. Bis zu den ersten Schrebergärten von Hailer, wo man nach links wieder zurück nach Altenhaßlau abbiegen konnte, waren es keine fünf Minuten. Außerdem ging es, wenn man unter der Westspangenbrücke durch war, ein kurzes Stück bergab, Zeit zum Verschnaufen. Allerdings nicht Zeit genug. Nach fünfzig Metern hielt er an und analysierte seinen Zustand. Die Kopfschmerzen waren nicht besser geworden, und die Couch wäre jetzt eine gute Alternative gewesen.
Falkan hörte die Autos oben auf der Auffahrt zur A 66 vorbeirauschen und ließ nachdenklich seinen Blick die Autobahn in Richtung Frankfurt entlang schweifen. Es war doch noch ein ganz schönes Stück bis zu den Schrebergärten. Nicht an normalen Tagen natürlich, aber heute auf jeden Fall. Vielleicht, so gestand er sich etwas widerwillig ein, war es doch ratsamer, es erst mal bei einem kleinen Spaziergang zu belassen. Immerhin musste er auch an die Befindlichkeiten seines Dackels denken.
Zufrieden, die richtige Entscheidung getroffen zu haben, packte er das Fahrrad an Sattel und Lenker und drehte es um hundertachtzig Grad auf Heimatkurs. Dabei streiften seine Augen das Gebüsch an der Böschung hoch zur Autobahnauffahrt. Es war Ende Oktober, die dürren Bäume oben hatten schon das meiste Laub abgeworfen, und die Büsche darunter leuchteten in herbstlichem Gelb.
Zwischen den winzigen Blättern und den mageren Zweigen entdeckt Falkan bei seinem flüchtigen Blick etwas Hellbraunes, Eckiges, das nicht zum naturgewachsenen Gestrüpp passte. Er wusste von seinen zahllosen Radausflügen auf dem Weg an der Autobahn entlang, dass die Leute während der Fahrt alles Mögliche aus dem Fenster warfen. Die Böschung unterhalb der Leitplanke die Piste entlang war gepflastert mit Plastikflaschen, Papierfetzen und Joghurtbechern. Die Umrisse vor ihm im Gebüsch sahen allerdings nicht nach normalem, gedankenlos aus dem Autofenster geschmissenem Müll aus. Außerdem hatten die Leute, wenn sie auf die Autobahn auffuhren, normalerweise noch nicht genug Dreck angesammelt, um ihn entsorgen zu müssen.
Falkan klappte den Fahrradständer herunter und machte sich an den Aufstieg die Böschung hinauf. Trotz seiner selbst zugefügten körperlichen Defizite konnte Falkan nicht widerstehen, einen näheren Blick auf das Objekt zu werfen. Zu sehr war ihm die Neugierde nach im Verborgenen liegenden Dingen und Tatbeständen in vierzig Dienstjahren in Fleisch und Blut übergegangen. In drei Metern Höhe erkannte er, dass es sich um eine hellbraune Lederaktentasche handelte. Ihr Äußeres war durch Wind und Wetter arg in Mitleidenschaft gezogen. Sie musste schon geraume Zeit hier liegen. Allerdings war ihr trotz ihres traurigen Zustands anzusehen, dass sie einmal nicht billig gewesen war.
Kurz entschlossen packte Falkan den Griff und zerrte seinen Fund aus dem Gebüsch. Wieder unten, am Fahrrad angekommen, versuchte er, sie zu öffnen, doch die Schlösser hatten die Zeit der Einsamkeit gut überstanden, also klemmte er die Tasche auf den Gepäckträger und radelte eilig nach Hause. Die Frage, was sich in einer verschlossenen Aktentasche, gefunden im Gestrüpp am Rande einer Autobahn, wohl befinden mochte, ließ ihn seine Kopfschmerzen kurzzeitig vergessen.
Zuhause angekommen, trieb ihn die Neugier durch die Garage ins Haus, doch noch bevor er sein Mäppchen mit den Dietrichen aus der Schublade holen konnte, um das Geheimnis seines Funds zu erforschen, klingelte es an der Haustür. Ungern stellte er die Tasche neben Fritz’ Körbchen auf den Flurboden und öffnete. Es war Simone, seine Nachbarin von gegenüber und frischgebackene Frau Friedrichsen. Man konnte ihr die gestrige Hochzeit noch ansehen. Sie strahlte übers ganze Gesicht.
„Kommst du rüber, Kurt? Wir haben noch Reste vom Buffet, und Onkel Hein sagt, du könntest sicherlich was Festes gebrauchen.“
Dabei grinste sie so wissend, dass Falkan sich fragte, ob Hein irgendwelche Anekdoten von letzter Nacht zum Besten gegeben hatte, an die er sich nicht mehr erinnern konnte. Seine Kopfschmerzen fielen ihm wieder ein. Und sein leerer Magen. Das Abendessen in der Gaststätte `Zum Steines´ war schon über sechzehn Stunden her, und seitdem hatte nur flüssige Nahrung seine Kehle passiert.
„Das ist eine gute Idee, danke. Es wird sicherlich auch ein Bröckchen für Fritz abfallen.“
Er ging zum Körbchen, leinte Fritz an und warf dabei einen bedauernden Blick auf die Aktentasche. Dann folgten er und sein Dackel Simone in das vollbesetzte Wohnzimmer der Friedrichsens.
Die sechsköpfige Delegation war vor zwei Tagen zur Feier aus Norddeutschland angereist. Bis auf Onkel Hein hatten sie alle beim Hochzeitspaar Unterschlupf gefunden. Mit einigem Unbehagen sah Falkan die Flasche Küstennebel auf dem Tisch stehen. Er hatte bei der gestrigen Feier festgestellt, dass das Völkchen aus dem Norden ein äußerst trinkfreudiges war. Er selbst war einem oder zwei guten Tropfen auch nicht abgeneigt, doch zum jetzigen Zeitpunkt hoffte er inständig, dass ihn niemand zu einem Gläschen auffordern würde.
„Tach Kurt, na, alles klar?“, begrüßte ihn Hans-Jürgen, der Nachname war Falkan entfallen. Hans-Jürgen gehörte als einziger nicht zur Verwandtschaft. Er war ein alter Jugendfreund vom Bräutigam und Junggeselle aus Überzeugung. Die anderen Tanten und Schwestern nickten Falkan freundlich zu und machten sich wieder über die Reste vom Vortag her. Es hatte gemischte Platte mit mediterranem Flair gegeben, und das Wohnzimmer war erfüllt vom Duft nach Thymian und Meeresfrüchten.
„Moin Kurt“, begrüßte ihn sein Freund Bengt Friedrichsen, der in diesem Moment mit einem Topf heller Soße das Zimmer betrat. „Hau’ rein. Ist noch genug da.“
„Hallo allerseits.“
Falkan wedelte grüßend mit den Armen und ließ sich auf dem freien Platz neben Onkel Hein nieder. Fritz quetschte sich unter den Stuhl.
„Na Kurt, Fahrradtour beendet?“
„Ja Hein, hat nicht lange gedauert. Ich hab’ nun mal nicht deine Kondition.“
„Kommt noch, min Jung, kommt noch“, kicherte Hein, und es hörte sich gerade so an, als habe er die Zeit von Falkans Fahrradtour genutzt, um nachzutanken. Er griff nach der Flasche und hielt sie Falkan fragend vor die Nase.
„Bloß nicht“, wehrte dieser mit erhobener Hand ab und hielt der Tante in der Nähe der Fleischschüssel seinen Teller hin. Hein zuckte ungerührt mit den Schultern, schenkte sich sein Gläschen voll und kippte ab. Falkan wollte es nicht mit ansehen und konzentrierte sich auf seinen Teller, der soeben mit toskanischem Hähnchenauflauf gefüllt wurde. Simone versorgte unterdessen Fritz unterm Stuhl mit einer Schale Wurstbrocken.
Während Falkan sich die leckeren Reste von gestern schmecken ließ und die Welt um ihn herum in munteres plattdeutsches Geschnacke getaucht war, schweiften seine Gedanken immer wieder hin zur Tasche im Flur. Natürlich war es jedermann freigestellt, seine alte Aktentasche zu entsorgen, wenn auch nicht in der freien Natur. Aber würde man sich nicht im Normalfall vorher davon überzeugen, dass sich keine wichtigen Unterlagen mehr darin befanden? Und würde man, wenn man sich davon überzeugt hatte, sie vor dem Wegwerfen erst wieder sorgfältig abschließen?
Je länger Falkan über diese Fragen nachdachte, desto schneller verschwanden die Hähnchenstreifen in seinem Mund. Ihn erfasste diese Ungeduld, die er als kleiner Junge am Weihnachtsabend gespürt hatte, wenn sie beim Abendessen saßen und er genau wusste, dass die elektrische Eisenbahn im Wohnzimmer aufgebaut war und er erst damit spielen durfte, wenn er aufgegessen hatte.
So erfand er, als der Teller endlich leer war und er den Versuch der Tante, ihn nachzufüllen, erfolgreich abgewehrt hatte, die Ausrede vom wichtigen Telefonat, das sich nicht aufschieben ließ. Mit dem Versprechen, vor der Abreise der Festgesellschaft nochmal rüberzukommen, verabschiedete er sich über die Veranda durch den Garten in seinen Hausflur mit der dort auf ihn wartenden Aktentasche. Im ersten Stock dröhnte der Staubsauger. Birgit Krannich, seine Putzhilfe, hatte einen Schlüssel und war während seines Mittagessens gekommen. Montag war ihr Putztag. Falkan rief ihr keine Begrüßung die Treppe hoch, denn sicherlich hatte sie wieder einiges zu berichten, und für eine ihrer endlosen Erzählungen war er im Moment zu ungeduldig.
Ehrfurchtsvoll hob Falkan die Tasche in die Höhe und betrachtete sie zum ersten Mal in aller Ruhe. Sie roch wie altes, vernachlässigtes Leder und sah auch so aus. In der Mitte, am Griff, waren noch zwei in das Material eingebrannte Buchstaben zu erkennen.
J.V.
Entweder war es das Logo des Herstellers oder die Initialen des Besitzers. Wer jedoch, so fragte sich Falkan, würde eine teure Aktentasche wegwerfen, auf der er sogar seine Anfangsbuchstaben verewigt hatte?
In der Schublade im Schränkchen unterhalb der Garderobe lag griffbereit das Mäppchen mit der großen Auswahl an Dietrichen, das vor Jahrzehnten seinen Weg aus der Asservatenkammer in seine Hände und nie wieder zurückgefunden hatte.
Mit geübtem Blick suchte sich Falkan die passenden Nachschlüssel aus und hatte bereits beim dritten Versuch Erfolg. Die angerosteten Schlösser ließen sich knirschend öffnen.
Zu Falkans Enttäuschung befanden sich aber nur ein paar Blätter Papier, eine Sonnenbrille, diverse Kugelschreiber und eine Tüte Eukalyptusbonbons darin. Seine heimliche Hoffnung, die Tasche könnte im Rahmen einer Entführung zur Übergabe des Lösegelds an der Böschung deponiert und dann nicht abgeholt worden sein, hatte sich nicht erfüllt.
Falkan fischte die Papiere heraus. Sie waren unversehrt und trocken, ein weiterer Beweis für die Qualität der Tasche. Vielleicht bargen die drei DIN A 4 Seiten ja ein Rätsel, das es zu lösen galt. Seit dem Fall mit der toten Tierärztin hatte er nur zwei kleinere Observationsaufträge bekommen, die seine kriminalistischen Fähigkeiten nicht über Gebühr beansprucht hatten. Es dürstete ihn schon seit Wochen nach anspruchsvoller Denkarbeit.
Die Blätter waren handbeschrieben. Auf einem waren diverse Namen aufgelistet, die meisten davon arabischer Couleur, aber auch einige osteuropäisch klingende. Hinter den Namen waren mehrstellige Zahlen vermerkt und jeweils ein Datum. Die Daten umfassten einen Zeitraum von mehreren Monaten, das letzte Datum stammte vom August letzten Jahres. Falkan fragte sich, ob dies ein erster Hinweis darauf sein könnte, wie lange die Tasche schon an der Böschung lag.
Auf dem zweiten Blatt hatte der Besitzer der Tasche einen Haufen Zahlen addiert, subtrahiert, dividiert und multipliziert. Am Ende der Rechnung standen eine sechsstellige Zahl und ein dickes Eurozeichen, fett unterstrichen. Was immer es war, es war um viel Geld gegangen, damals, vor über einem Jahr.
Blatt Nummer drei war ein offizieller Briefbogen einer gewissen Stellwage GmbH in Gelnhausen. Sie versprach in ihrem Briefkopf die Lösung von Problemen und Beratung in allen Angelegenheiten des geschäftlichen Lebens.
Falkan verzog argwöhnisch den Mund. So etwas konnte alles Mögliche bedeuten, vom Steuerberater mit umfassendem Service bis hin zum Mafiaclan mit bürgerlicher Firmenfassade. Falkan mochte Beratungsfirmen im Allgemeinen nicht. Menschen, die anderen Menschen für viel Geld beibringen wollten, wie sie ebenso viel Geld sparen konnten, waren ihm suspekt.
Dummerweise waren die wenigen Worte, die unter dem Briefkopf in eiliger Schrift hin gekritzelt waren, schlecht leserlich und dazu noch auf Französisch. Ungeduldig griff er zum Telefon. Michael Grebner, der Bruder von Simone, hatte ihm schon bei seinen ersten Ermittlungen auf französischem Boden sprachtechnisch zur Seite gestanden.
„Ist gerade ungünstig, Kurt“, flüsterte es aus dem Hörer von Falkans Hausanschluss. „Ich bin gerade in einer Vorlesung.“
Mike Grebner studierte Maschinenbau im letzten Semester. Was seine berufliche Zukunft betraf war er noch, wie er es nannte, am Schlingern. Er war für alles offen, von einer Zusammenarbeit als Juniorpartner in der Detektei Falkan, bis zum Rinderzüchter in Kenia, gemeinsam mit seiner Freundin Melinda.
„Macht nichts. Ich schick dir ein Foto von der Seite. Sieh’s dir an und melde dich.“
Während Falkan den Briefbogen fotografierte und das Bild an Mikes Handy sandte, fragte er sich, wie sie nur damals, in den frühen Achtzigern, ermittlungstechnisch über die Runden gekommen waren. Heutzutage war alles so viel einfacher, andererseits aber auch alles viel komplizierter. Versteh’ einer die Welt.
Nach einem letzten Blick verstaute Falkan die Papiere wieder in der Tasche und stellte sie neben die Garderobe. Trotz des guten Essens meldete sich sein Kater vom Morgen wieder zurück und forderte ihn auf, sich ein Stündchen aufs Ohr zu legen. Falkan gehorchte ohne Widerworte und war kurz darauf in einen erholsamen Mittagsschlaf versunken, aus dem ihn Stunden später das Summen seines Handys herausriss.
„Mike, was hast du?“
Falkan trat ans Fenster. Draußen war es bereits dunkel, und die beiden fremden Autos vor Friedrichsens Haus waren fort. Er hatte den Abschied verschlafen.
„Das Gekritzel ist schwer zu entziffern, Kurt, selbst für einen Franzosen. Ich schätze mal, es handelt sich um eine Ortsangabe oder so was. Oben das könnte Saint Trivier und irgendwas heißen, davon gibt’s einige in Frankreich, ich hab’s gegoogelt. Dann steht da noch was, das sieht aus wie tondu oder tondo, könnte auch Tonneau heißen, das bedeutet geschoren oder Fass. Könnte aber auch Tombeau sein, das wäre dann das Grab. Wenn es um eine Mordgeschichte geht, wäre das vielleicht das Naheliegendste.“
Falkan lachte.
„So weit sind wir noch nicht. Ich habe das Papier gefunden und war einfach mal neugierig, du kennst mich ja. Unter diesem tondo oder tondu steht doch noch was. Was ist damit?“
„Ist `ne ziemliche Sauklaue. Quatuor oder quatorze vielleicht, das bedeutet Quartett oder vierzehn. Das letzte Wort, Lommerché, kenn’ ich nicht. Ist vielleicht ein Name. Alles in allem könnten also vier Personen, was, wie man weiß, ein Quartett wäre, in einem Ort namens Saint Trivier an etwas beteiligt sein, das mit einem Fass oder einem Grab zu tun hat. Vielleicht geht es aber auch um vierzehn Gräber.“
Wieder musste Falkan lächeln. Mike hatte ihm schon bei so manchem Fall unter die Arme gegriffen, und einiges an kriminalistischem Denken war während dieser Zeit hängen geblieben.
„Das hört sich spannend an, wie ein alter Fall von Kommissar Maigret. Aber vorerst sind es nur ein paar Zettel, auf denen ein Unbekannter einige nichtssagende Notizen gemacht hat.“
Falkan beendete das Gespräch und ging in den Flur hinaus, wo die Tasche neben dem Schirmständer stand. Ein kleines, vernachlässigtes und von seinem Besitzer freiwillig oder unfreiwillig verstoßenes Ding. Falkan sehnte sich danach, wieder etwas anderes zu tun zu bekommen, als hinter untreuen Ehemännern her durch die Nacht zu kreuchen. Er hoffte daher inständig, dass der Besitzer seine Tasche nicht aus freien Stücken die Böschung hinuntergeworfen hatte, denn das würde bedeuten, dass er es aus einer Notlage heraus getan hatte. Und das wiederum würde auf ein Verbrechen oder zumindest auf eine unfreiwillige Zwangshandlung hindeuten.
Falkan ging ins Wohnzimmer, warf sich in den Sessel und begann, sich im Internet über den einzigen greifbaren Hinweis, den er bisher hatte, nämlich jene Stellwage GmbH, schlauzumachen.
Wie ein Wachhäuschen stand die Mobiltoilette auf der nachtschwarzen Wiese neben dem unverputzten Neubau. Irgendein Scherzkeks hatte einen ausrangierten Schalensessel davor gestellt, als gäbe es einen Wartebereich für Klogänger. Im Hintergrund streckte ein Bagger seine Schaufel dem Mond entgegen. Der hohe Erdhaufen daneben und das dunkle, viereckige Loch im Boden deuteten auf den Bau eines Swimmingpools und die gute Finanzlage des Bauherrn hin.
Falkan hatte vorhin die Homepage der Stellwage GmbH besucht und dabei einiges über die Firma erfahren. Da man im Hause Stellwage keine Probleme mit der Bekanntgabe persönlicher Daten zu haben schien, wusste er nun unter anderem, dass Frau Marion Lürsen zurzeit als persönliche Assistentin der Geschäftsleitung fungierte, da sich Silvia Liebermann im Schwangerschaftsurlaub befand und dass der Geschäftsführer, Herr Linus Stellwage, vor Kurzem von Hanau nach Altenhaßlau in seinen neu errichteten Bungalow ins Neubaugebiet hinter der Brentanoschule umgezogen war.
Da es ein schöner Herbstabend war, nicht zu kalt und nicht zu windig, hatte er daher kurz entschlossen Fritz an die Leine genommen, um sich noch ein wenig die Beine zu vertreten und dabei vielleicht aus reiner Neugierde einen Blick auf Stellwages neues Domizil zu werfen. Die Tasche hatte er zuhause gelassen. Es war vielleicht noch ein wenig früh, um Stellwage gleich am ersten Tag damit zu belästigen, und dann auch noch nach Feierabend.
Hinter den Vorhängen konnte Falkan Bewegung erkennen. Im ganzen Haus brannte Licht. Es schien so etwas wie eine Party im Gange zu sein. Vor dem Haus, auf der noch unbefestigten Straße, standen mehrere Autos. Eines davon, ein dunkelblauer Citroen C6, hatte französische Kennzeichen, passte also mit ein wenig Fantasie zur gefundenen Aktentasche. Gäbe es einen Fall `Aktentasche´, wäre das ein weiterer Punkt, der es wert gewesen wäre, auf einer Tapetenbahn im Arbeitszimmer schriftlich festgehalten zu werden. Aus alter Gewohnheit notierte sich Falkan die Autonummer auf einen Zettel, dann ging er davon. Fritz zog schon ungeduldig an der Leine, und Falkans Neugierde war fürs Erste befriedigt. Er wusste jetzt, wo Stellwage wohnte und dass er französische Freunde hatte, mehr konnte er für den Anfang nicht erwarten. Gleich auf eine Leiche zu stoßen, wäre sicherlich etwas vermessen gewesen.
Statt die Mühlenstraße entlang den Weg nach Hause zu suchen, bog Falkan wenig später in Richtung Sportplatz ab und betrat kurz darauf die Gaststätte `Zum Steines´. Es war Sonntagabend, Zeit, dem Magen etwas Gutes zu gönnen. Gleich beim Eintreten wehte ihm eine appetitanregende Wolke von Knoblauch um die Nase und bestärkte ihn in seinem Entschluss, sich passend zu diesem Duft ein halbes Hähnchen zu bestellen. Knoblauchhähnchen waren eine Spezialität im Hause Boutakhrit und eine von Falkans bevorzugten Leckereien.
An der Theke herrschte weniger Betrieb als wochentags. Die üblichen Feierabendgäste fehlten größtenteils und waren ausgetauscht gegen ein paar Zuschauer des heutigen Fußballspiels der SG Altenhaßlau/Eidengesäß. Falkan winkte zwei alten Bekannten zu. Manfred Krack und seine Frau Maria saßen an dem runden Tisch am Ende der Theke und schwärmten vom heute errungenen überragenden Sieg über den TSV Höchst. Falkan kannte Maria Krack noch aus den ersten Urlaubstagen im Linsengericht.
Als er und seine Frau Sigi vor vielen Jahren begonnen hatten, die Gegend zwischen Vogelsberg und Spessart zu bewandern, waren sie nach mancher Tour bei Maria eingekehrt, die damals noch die Gaststätte `Zum Steines´ gepachtet hatte. Nun ließ sie sich sonntags nach den Spielen die Pizza von ihrem Nachfolger Abdelhai Boutakhrit servieren und griff, wenn Not am Manne war, noch hin und wieder selbst zum Zapfhahn. Falkan ließ sich an seinem Lieblingstisch gegenüber der Theke nieder und nickte dem Wirt zu, der soeben mit zwei Tellern Calamari an ihm vorbeirauschte.
„Bin gleich bei dir, Kurt“, sagte Boutakhrit und verschwand im großen Gastraum nebenan. Als er zurückkam, gab Falkan die Bestellung für sich und Fritz unterm Tisch auf und sah gleich darauf sein Weizenbier unterm Zapfhahn wachsen. Das Schälchen Wasser für Fritz hatte Heidi Habenstein bereits serviert. Falkan vernahm zufriedenes Schlabbern zu seinen Füßen.
Während Falkan geduldig auf sein Essen wartete, beobachtete er das Kommen und Gehen an der Tür. Um diese Zeit gaben sich die Leute die Klinke in die Hand, Pizza und Hähnchen wurden in Kartons und Beuteln nach draußen getragen, und ständig klingelte das Telefon mit neuen Bestellungen. Es war die hektischste Zeit des Tages für den Wirt und seine Bedienung Heidi. Nach einer Viertelstunde, das Hähnchen konnte nicht mehr lange auf sich warten lassen, betraten zwei Männer den Raum. Falkan kannte keinen von beiden. Einer war ein langer, drahtiger Kerl mit glänzenden, nach hinten gekämmten dunkelblonden Haaren, der andere könnte vom Typ her Syrer oder Afghane sein. Allerdings war er für einen Flüchtling zu gut gekleidet, was Falkans geschulten Augen nicht entging.
Der Wirt begrüßte den Langen wie einen alten Bekannten, verschwand um die Ecke und kam kurz darauf mit einem Stapel Pizzakartons aus der Küche zurück. Als der Dunkelhäutige einige Wort auf Französisch zu seinem Begleiter sagte, verfiel Boutakhrit automatisch auch in diese in seinem Heimatland Marokko weit verbreitete Sprache, so dass Falkan außer einigen Zahlen von der kurzen Unterhaltung kein Wort mehr verstand. Nach einem lachenden „Au revoir“ verließen die beiden Männer, jeder fünf Kartons zwischen den Händen, das Lokal. Falkan erhob sich unauffällig und krabbelte auf die Sitzbank des Nebentischs, von der aus man auf den Parkplatz vorm Haus blicken konnte. Die zwei verfrachteten soeben die Pizzakartons auf den Rücksitz des dunkelblauen Citroen mit französischen Kennzeichen.
„Na Kurt, wieder dem Verbrechen auf der Spur?“
Ertappt rutschte Falkan von der Bank und grinste Andrè Mann vor der Theke verlegen an. Durch Manns Betätigung als örtlicher Leichenbestatter und Falkans Tätigkeit als Privatdetektiv hatten sie im Laufe der Jahre hin und wieder die gleiche Kundschaft und waren gute Bekannte geworden. Außerdem verkaufte Mann am Altenhaßlauer Weihnachtsmarkt eine Rotwurst, von der Fritz – und natürlich auch Falkan selbst – hellauf begeistert waren.
„Nee Andrè, bin nur neugierig. Will nicht aus der Übung kommen. Trinkst du ein Bier mit?“
Andrè Mann schüttelte den Kopf.
„Ich hab Pizza bestellt, sie warten zuhause schon.“
„Zweimal Nummer fünf und eine Dreizehn mit viel Knoblauch. Macht achtzehnvierzig.“
Der Wirt platzierte die Bestellung auf der Theke und nahm den Zwanziger entgegen.
„Stimmt so“, sagte Andrè Mann und verabschiedete sich eilig. Scheinbar hatten sie tatsächlich großen Hunger zuhause.
„Sag’ mal, die zwei Männer eben, kanntest du die?“, wollte Falkan wissen, während der Wirt das Geld in der Kasse verschwinden ließ.
„Den einen ja. Kommt immer mal und holt Pizza. Hat, glaub’ ich, eine Firma in Gelnhausen. Muss gut Geld haben, fährt einen Porsche, war aber heute bisschen besoffen, sie feiern eine Party. Den andern kenn’ ich nicht, hat nur den Fahrer gemacht.“ Boutakhrit grinste. „Und, hast du die Hochzeit gestern gut überstanden? Friesengeist muss man gewohnt sein.“
Falkan griff sich an den Kopf.
„Das Hämmern ist vorbei, aber ich denke mal, dass es heute bei einem Bier bleibt. Wie der Blonde heißt, weißt du nicht zufällig?“
Boutakhrit warf einen Blick auf einen der Bestellzettelchen, die noch auf der Theke lagen, und auf denen immer die Namen der Anrufer notiert wurden.
„Stelage oder so ähnlich, ich verstehe es am Telefon immer so schlecht. Wieso interessierst du dich für ihn? Hat er was ausgefressen?“
Falkan schüttelte stumm den Kopf und hockte sich wieder auf seinen Platz. Aus der Küche erscholl das typische `Essen ist fertig Klingeln´, und eine halbe Minute später stand das Hähnchen vor ihm auf dem Tisch.
Während Falkan es sich schmecken ließ, resümierte er in Gedanken, was er bis jetzt in der Angelegenheit `Aktentasche´ zusammengetragen hatte. Die Angelegenheit einen Fall zu nennen, wäre noch etwas verfrüht gewesen. Bisher war es reine Beschäftigungstherapie für Rentner, doch für einen einzigen Tag – noch dazu so einen verkaterten wie diesen – hatte er schon allerhand herausgefunden, mehr, als bei manch bisherigem richtigen Fall. Aber die Tapetenbahn würde er heute Abend noch nicht an die Wand des Arbeitszimmers heften. Erst einmal stand für morgen ein Besuch in Stellwages Firma auf dem Programm.