Falkan und die Angst des Architekten - Gerhard Krieg - E-Book

Falkan und die Angst des Architekten E-Book

Gerhard Krieg

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Beschreibung

Es beginnt mit einem scheinbar harmlosen Scherz und endet mit Mord. Kurt Falkan, Kriminalbeamter im Ruhestand und Privatdetektiv aus Leidenschaft, wird vom Architekten Leonhard Wolf gebeten, den Absender einiger an ihn gerichteter verwirrender Botschaften zu ermitteln. Falkan übernimmt gerne, sind die Einträge in seinem Auftragsbuch zurzeit doch eher überschaulich. Er tut, was er sein Leben lang getan hat. Er fragt, er beobachtet, und er macht sich seine Gedanken. Dabei stößt Falkan in Wolfs Bekanntenkreis auf wenig Hilfsbereitschaft, und die Recherchen schleppen sich dahin. Dann jedoch sorgt ein Leichenfund dafür, dass seine Ermittlungen frischen, raueren Wind bekommen.

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Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Die Hand mit der Spritze zitterte, wurde erst ruhiger, als sich die Spitze in den Apfel gebohrt und der Kolben den Inhalt des Zylinders durch die Kanüle in das Fruchtfleisch gepresst hatte. Beinahe ehrfürchtig zog der Mann die Metallnadel wieder heraus und betrachtete sie mit einer Mischung aus Erstaunen und Erleichterung. Er konnte nicht wirklich glauben, was er soeben getan hatte, und doch war es die einzige Lösung für ihn, der einzige Ausweg. Er hatte nach einer anderen, besseren Möglichkeit gesucht, doch vergebens. Vielleicht würde er für das, was er im Begriff war zu tun, nach seinem Tod mit dem Teufel tanzen, doch bis dahin wollte er das Leben genießen. Letztendlich galt es, zwischen einem reinen Gewissen und der Wirklichkeit abzuwägen, und der bedrohliche Anruf von gestern Abend hatte ihm eindeutig klar gemacht, dass ein gutes Gewissen ihm weder Arme, noch Beine, noch das Leben ersetzen konnte.

Der Mann ließ die Spritze in die Tasche sinken, legte den Apfel zu den Bananen in die Obstschale zurück und verließ den Raum so leise, wie er gekommen war. Das Haus war noch ruhig, es war früher Morgen, und draußen herrschte Dämmerung. Als er die Tür hinter sich geschlossen hatte, atmete er einmal tief durch, um den Geschmack von Unmoral und Schlechtigkeit zu vertreiben, dann schlich er die Treppe nach oben und verkroch sich für den Rest der Nacht in dem Zimmer, das er für einige Tage bewohnte. Im Bett kam dann das Zittern zurück, und sein Mund war trocken von den schlimmen Gedanken, die ihn nicht mehr schlafen ließen. Mehr als einmal war er versucht, wieder nach unten zu gehen und den Apfel und mit ihm seine Schuld aus der Welt zu schaffen, doch als die ersten Sonnenstrahlen ins Zimmer fielen und aus dem Erdgeschoss Geräusche des Erwachens heraufdrangen, hatte er sich mit seinem selbst gewählten Schicksal abgefunden.

Kapitel 1

„Ihr habt diesen Bauplatz aber nicht nur deswegen ausgesucht, weil ihr eine billige und schnell verfügbare Arbeitskraft braucht, oder?“

Kurt Falkan stand, die Arme in die Seiten gestützt, am Rand der blumenübersäten Wiese und hatte sein eigenes Haus, ein paar Meter weiter schräg gegenüber, im Auge. Ein großes Schild neben ihm wies darauf hin, dass auf dem leeren Grundstück, das er seit Jahren vor der Nase hatte, bald ein Einfamilienhaus entstehen würde. Jeden Morgen, wenn er die Jalousien seines Schlafzimmerfensters öffnete, hatte er den freien Platz zwischen seiner Wohnung und der Gelnhäuser Straße im Blick.

„Das ist ein erfreulicher Nebeneffekt“, grinste Friedrichsen, Simone im Arm und ihre gemeinsame Zukunft im Kopf, „aber es war nicht der Hauptgrund. Weißt du, wie schwierig es zurzeit ist, einen Bauplatz zu bekommen, dort, wo man wohnen will?“ Er breitete die Arme aus, umschlang das Brachland vor sich wie einen dicken Freund, und stieß einen lautstarken Jodler aus, den er sich bei einem Volksfest im Bayrischen Wald abgekuckt hatte. „Das hier ist ein Geschenk des Himmels, Kurt, und wir lassen die Terrasse so bauen, dass der Duft vom Grill direkt zu dir rüber weht. Dann sparen wir uns die Telefonkosten.“

Simone lachte und packte Friedrichsen mit beiden Armen um den Bauch.

„Aber mit dem Grillen lassen wir’s erst mal ein bisschen langsamer angehen.“ Sie kniff ihren Freund in die Seite. „Zu viel Speck und zu hohe Baukosten, da ist für die nächste Zeit Rationierung angesagt.“

„Wann soll’s denn losgehen?“

„Der Architekt hat gesagt, dass der Bauantrag in ein paar Tagen durch ist. Nächste Woche können vielleicht die Bagger schon anrollen.“

Falkan klopfte seinem Freund auffordernd auf die Schulter.

„Kommt mit, ich lade euch zu einem Kaffee ein, ohne Milch und mit kalorienfreiem Süßstoff, damit ihr euch schon mal ans Rationieren gewöhnen könnt.“

Auf dem Weg zu seinem Haus beschlichen Falkan wehmütige Gedanken an die Zeit, als Sigi und er voller Vorfreude jedes Wochenende und manchmal auch noch nach Feierabend nach Altenhaßlau gekommen waren, um den Fortgang der Bauarbeiten zu verfolgen. Sie hatten sich den gemeinsamen Lebensabend in den schönsten Farben ausgemalt, doch Sigis früher Tod hatte den Träumen ein schnelles Ende bereitet. Im Stillen wünschte Falkan seinen beiden Freunden mehr Glück. Als sie vor Falkans Rosen standen, hielt ein Wagen gegenüber am Rand des Baugrundstücks.

„Das ist ja Wolf, unser Architekt.“

Ein korpulenter Mann in grauer Cordhose quälte sich aus dem Mercedes und winkte mit einem Papier. Simone winkte zurück und strahlte über das ganze Gesicht.

„Unser Antrag.“

Wolf kam herüber und nickte mit zurückhaltendem Lächeln. Seine Wangen leuchteten in der warmen Frühlingssonne wie zartrosa Marzipan.

„Richtig, der Antrag. Alles genehmigt, ich habe bereits mit der Baufirma telefoniert. Am Montag beginnt der Aushub, und wenn alles gut geht und das Wetter mitspielt, können Sie im September schon die ersten Sonnenuntergänge von der eigenen Terrasse aus bewundern.“

Bengt Friedrichsen gab seiner Simone einen Kuss, danach sahen sie schweigend und weltvergessen Arm in Arm zu der Stelle hin, wo einst ihr Freisitz sein würde. Erst Falkans Erinnerung an den wartenden Kaffee machte ihrem kurzen Tagtraum ein Ende.

„Sie sind also Privatdetektiv?“

Leonhard Wolf, Namensgeber und Firmengründer des Architekturbüros `Wolf und Partner´, war der Einladung in Falkans Küche ebenfalls gefolgt und begutachtete nun, die Tasse Kaffee in der Hand, mit fachmännischem Interesse Falkans Innenausstattung.

„Sieht man mir das an?“

„Ich habe das Schild an der Tür gesehen. Hauseingänge sind sozusagen mein Steckenpferd, ich habe immer ein besonderes Augenmerk darauf. Hauseingänge sagen einiges über die Leute aus, die dahinter wohnen.“

„Und was sagt meine Tür?“, fragte Falkan lachend.

„Dass Sie ein auf Sicherheit bedachter Mensch sind, es aber nicht damit übertreiben. Massive Eiche, ein dezentes Riegelsystem von hoher Qualität, aber keine Videokamera.“

„Sie sind ein schneller Beobachter, Herr Wolf. Wenn Sie mal keine Häuser mehr zeichnen wollen, kann ich Sie vielleicht gebrauchen.“

Friedrichsen hob abwehrend die Hand.

„Aber vorher lässt du ihn noch unser Nest bauen, klar? Außerdem hast du doch schon genug Helfer. Michael, Hannes, und – ich sage es äußerst ungern – auch mich.“Kriminalhauptkommissar Bengt Friedrichsen spielte mit dieser Bemerkung auf Falkans lästige Angewohnheit an, ihn immer wieder für seine privaten Ermittlungen zu missbrauchen.

Wolf lächelte, wobei sein breitgezogener Mund seinem rundlichen Gesicht das Aussehen einer buddhistischen Mönchsstatue verlieh.

„Keine Angst, Herr Friedrichsen, ich bin nicht interessiert, obwohl mich das Kriminalistische schon immer fasziniert hat. Allerdings nur auf literarischer Basis. Die Klassiker, Miss Marple, Marlowe, der dünne Mann.“

„Alles berühmte Kollegen von mir.“ Falkan hielt die Kanne hoch. „ Möchte noch jemand Kaffee?“

Friedrichsen und Simone lehnten ab. Die Planung ihres Heims trieb sie zurzeit von Baumarkt zu Baumarkt. Wolf jedoch hielt die Tasse dankbar hin.

„Als ich vorhin Ihr Schild an der Haustür gesehen habe, ist mir ein Gedanke gekommen“, sagte Wolf, als sie kurz darauf alleine in der Küche saßen. „Ich wollte es vor Friedrichsen nicht erwähnen, er ist schließlich Polizist und hätte der Sache vielleicht gleich viel zu viel Bedeutung beigemessen. Es ist wahrscheinlich auch gar nichts, ein Scherz möglicherweise, nicht direkt beunruhigend, aber irgendwie doch – wie soll ich sagen – mysteriös. Wie der Beginn einer Kriminalgeschichte von Agatha Christie, könnte man sagen. Es macht mich nervös. Ich bin kein besonders heldenhaftes Exemplar der Gattung Mann, muss ich zugeben. Vielleicht hätte ich die Sache in ein paar Tagen auch schon wieder vergessen, aber wenn ich schon mal im Haus eines Privatdetektivs bin, kann ich mir ja gleich fachmännischen Rat holen.“

Er griff in die Tasche und brachte einen Fetzen schwarzen Stoff zum Vorschein.

„Haben Sie die Schatzinsel gelesen?“

Falkan nahm den Fetzen und betrachtete ihn verwundert.

„Ja, wie wohl jeder Junge, den es vom heimischen Sofa hinaus in die Welt zieht. Was ist das?“

„Für Sie nur ein abgerissenes Stück Leinen, für mich ist es eine Erinnerung an die Studentenzeit. Wir waren damals vier Jungs und zwei Mädchen, so was wie unsere eigene kleine Studentenverbindung. Hingen immer zusammen rum, machten alles gemeinsam. Saufen, kiffen, Amore, wenn Sie versehen. Wir haben alles etwas lockerer angehen lassen, und ich war damals noch ein sportlicher Typ, nicht so viel Fett, ein paar mehr Muskeln und gehörig Testosteron.“ Er lachte und klatschte sich mit der flachen Hand auf den nicht mehr so flachen Bauch. „Na ja, die Zeiten ändern sich. Jedenfalls ging es uns gut, und irgendwann, in einem Anfall von Langeweile oder was auch immer, in einem heißen Sommer, da kam Klaus auf die Idee, dass es uns manchmal einfach zu gut ginge. Winnie, einer aus unserer Gruppe, hatte damals Scheiße gebaut, und wir anderen waren wütend auf ihn. Wir haben heftig rumdiskutiert, und irgendwann riss Klaus sich ein Stück Stoff aus seinem schwarzen Hemd und presste es Winni in die Hand. Das sei der schwarze Fleck, hat er gesagt, und in der Schatzinsel von Stevenson sei das so was wie eine Ankündigung, eine Warnung oder eine Vorladung gewesen. Wer sich gegen die Gemeinschaft der Piraten vergangen habe, der habe den schwarzen Fleck überreicht bekommen und war damit auf die Konsequenzen, die er zu erwarten hatte, vorbereitet. Bei den Piraten waren das sicherlich unangenehme Konsequenzen, Bein ab, Tod oder Schlimmeres, aber für Winni sollte es fürs Erste reichen, wenn er die Zeche des Abends übernimmt. Winni hat das damals dann sogar gemacht, hat gemeckert, aber er hat bezahlt, war wahrscheinlich froh, dass keiner mehr auf ihn sauer war und der ganze Ärger damit aus der Welt geschafft war. Wir haben dann daraus so eine Art Tradition gemacht. Jedes Mal, wenn einer von uns über die Maßen aus der Reihe getanzt war, haben die anderen ihm einen schwarzen Fetzen in die Hand gedrückt und ihm erklärt, wie er die Sache bereinigen konnte. Mit der Zeit fanden wir das Ganze richtig spaßig, manchmal benahm sich sogar einer extra wie ein Idiot, damit mal wieder der schwarze Fleck in Aktion treten konnte. Ja, so war das damals, aber mit dem Ende unseres Studiums ist auch der schwarze Fleck in Vergessenheit geraten.“ Er deutete auf den Stofffetzen in Falkans Fingern. „Bis letzte Woche.“

„Wie haben Sie ihn denn überreicht bekommen?“

Ein Schatten flog über Wolfs gemütliches Gesicht.

„Das ist ja das, was mich so, wie soll ich sagen … bedrückt. Er wurde nicht persönlich übergeben, wie wir das früher gemacht haben, hat einfach im Briefkasten gelegen.“

„Und dass der Lappen zufällig dort hineingeraten sein könnte. Vielleicht hat ihn eine Elster irgendwo geklaut und bei Ihnen fallen gelassen, vielleicht hat er in der Zeitung gesteckt, irgend so was.“

„Die ersten paar Tage hatte ich ja auch angenommen, es könnte ein dummer Zufall sein, aber gestern war wieder was im Briefkasten.“

Er gab Falkan einen zusammengefalteten Zettel.

„Wirst du die Konsequenzen für dein Handeln tragen?“, las Falkan laut und bemerkte, wie Wolf schluckte. „Das klingt nun wirklich nicht mehr wie ein gelungener Scherz. Haben Sie denn schon Ihre alten Kommilitonen gefragt, ob Sie vielleicht irgendeinen Jahrestag verpasst haben und nun einen ausgeben sollen? Das würde ja in die Tradition passen.“

Leonhard Wolf hatte bis dahin einen eher bedrückten Eindruck gemacht, nun jedoch erhellten sich seine Gesichtszüge zusehends.

„Mann, das könnte sein. Dass ich daran nicht selbst gedacht habe. Ist doch gut, wenn man einen Fachmann fragt.“ Er überlegte eine Weile, und die Sorge kehrte auf sein Antlitz zurück. „Obwohl, es fällt mir im Moment nichts ein, das es zu feiern gegeben hätte.“

„Haben Sie denn nun die anderen inzwischen gefragt?“

„Nein, wie gesagt, ich habe zuerst angenommen, dass es Zufall sei. Bei Gelegenheit wollte ich anrufen und mich mal wieder melden, wie das halt so ist. Erst durch den Zettel gestern habe ich begriffen, dass der Lumpen tatsächlich unser schwarzer Fleck sein soll und hatte mir vorgenommen, am Wochenende der Sache auf den Grund zu gehen.“

„Dann machen Sie das mal, und wenn es keiner Ihrer alten Piratenkumpels war, können Sie sich ja noch mal bei mir melden, in Ordnung?“

„So machen wir’s. Ich bin den Sommer über sowieso öfters in Ihrer Nachbarschaft. Friedrichsens Häuschen baut sich schließlich nicht von alleine.“

Wie angekündigt rollte der Bagger am Montag an. Dieseldröhnen und klirrendes Kettenrasseln veranlassten Falkan, früher als gewöhnlich aus dem Bett zu steigen. Müde sah er vom Fenster im ersten Stock hinüber zur Wiese, wo Arbeiter damit begonnen hatten, den Grundriss von Friedrichsens neuer Heimat im Gras abzustecken. Der Tieflader, der den Bagger gebracht hatte, fuhr soeben Richtung Hauptstraße davon, am gelben Stahl seines Baggers lehnte der Fahrer, rauchte, und sah zu, wie sein späteres Arbeitsgebiet markiert wurde. Auch Wolfs Mercedes parkte etwas weiter die Straße hinunter. Falkan ließ seinen Blick suchend kreisen und fand den Architekten im Gespräch mit einem Mann mit Helm, einen ausgebreiteten Plan in den Händen haltend. Die Sache mit dem schwarzen Fleck war Falkan das ganze Wochenende über nicht aus dem Kopf gegangen. Seit einem Vierteljahr hatte niemand mehr seine kriminalistische Hilfe in Anspruch genommen und er fürchtete allmählich, aus der Übung zu kommen. Ein anonymer Brief in Verbindung mit einer ebenfalls anonym hinterlegten Erinnerung an ein Ritual aus der Vergangenheit konnte durchaus erst mal als Bedrohung gewertet werden, der man nachgehen sollte. Auch wenn sich das Ganze wahrscheinlich als verspäteter Studentenstreich herausstellen würde, so war es doch eine willkommene Abwechslung im tristen Rentnerdasein.

In freudiger Erwartung kommender Aufgaben zog Falkan rasch das Notwendigste an, nahm seinen Dackel Fritz an die Leine und verließ das Haus in Richtung Bauplatz.

„Guten Morgen. Tolles Bauwetter.“

Wolf begrüßte ihn mit Handschlag und gab den Bauplan an den Polier zurück.

„Ja, so wünschen wir uns das. Mit so einem Wetter kann man planen und Termine einhalten. Leider ist der gute alte Petrus nicht vom Bau und nimmt nicht immer Rücksicht.“

Sie lachten, doch der Architekt wurde rasch wieder ernst.

„Ich habe meine Freunde angerufen, Sie wissen schon. Die haben mich alle ausgelacht, keiner will es gewesen sein. Es gab auch keinen Anlass, den ich vergessen haben könnte und dessentwegen man mir den schwarzen Fleck hätte überreichen müssen. Sie fanden es aber alle lustig, dass ich nach so langer Zeit noch daran gedacht habe.“ Er fischte den schwarzen Lumpen aus der Tasche. „Entweder ich habe doch an irgendetwas nicht gedacht, und sie haben sich alle gegen mich verschworen und wollen die Sache jetzt bis zum bittersüßen Ende auskosten, oder …“

Er zuckte mit den Schultern und sah Falkan hilfesuchend an.

„… oder jemand treibt ein Spielchen mit Ihnen“, vollendete Falkan Wolfs Befürchtungen, wurde sich jedoch gleich bewusst, dass ein sensibles Gemüt dieser Gedanke durchaus beunruhigen konnte. „Was natürlich kaum anzunehmen ist, Sie sind ja schließlich nicht bei der Mafia.“ Er hielt einen Moment inne, dachte nach und kam zu dem Schluss, dass die letzten drei Monate einer gewissen Eintönigkeit und Langeweile nicht entbehrt hatten und er einen greifbaren Grund finden musste, um dieser Eintönigkeit – wenn schon niemand auf seine Zeitungsannoncen antwortete – für eine Weile zu entkommen. „Oder haben Sie etwa irgendwelche wichtigen Bauprojekte in Arbeit, vielleicht Großbaustellen, bei denen es um öffentliche Gelder geht? Es ist ja bekannt, dass bei solchen Projekten die Vergabepraktiken manchmal recht zweifelhaft sind.“

„Nicht bei meinen Bauvorhaben“, entrüstete sich Wolf, in seiner Berufsehre gekränkt, wurde jedoch gleich wieder ruhig. „Ich meine, natürlich wird überall unter der Hand ein wenig hin und hergeschoben, aber das hält sich meistens im Rahmen. Eine Hand wäscht die andere, und wenn man’s nicht übertreibt, ist das doch sowieso die einzige Möglichkeit, wie die Menschen untereinander auskommen können.“ Er dachte eine Weile nach. „Ich habe im Moment zwei größere Geschichten am Laufen, bei denen es um viel Geld geht, auch um öffentliche Mittel, aber mir ist nichts zu Ohren gekommen, dass es mit der Finanzierung Schwierigkeiten oder andere Absonderlichkeiten geben würde. Natürlich, man steckt nicht drin, aber der Architekt sollte eigentlich bei sämtlichen Bauvorhaben über alles informiert sein.“

„Eigentlich“, gab Falkan zu bedenken.

„Eigentlich“, sagte Wolf mit schrägem Grinsen.

Falkan wartete einen Moment, ob Wolf die entscheidende Frage stellen würde, dann ergriff er selbst die Initiative, um seinem öden Rentnerdasein für die nächste Zeit ein Ende zu setzen.

„Was meinen Sie? Soll ich mal ein bisschen nachhaken?“

Es grenzte zwar fast schon an Bettelei, aber Falkans Lust, seinem angeborenen Spürsinn wieder etwas zu tun zu geben, war zu Frühlingsbeginn gemeinsam mit der restlichen Natur erwacht und drängte danach, kriminalistische Knospen erblühen lassen. Zu lange hatte das Telefon geschwiegen.

„Wenn ich genau darüber nachdenke, käme ich mir schon ein wenig kindisch vor, wenn ich einen Detektiv beauftrage, herauszufinden, wer mir einen schwarzen Lappen in den Briefkasten geschmissen hat.“

„Wir müssen ja keine offizielle Sache daraus machen.“ Falkan sah seine Felle davonschwimmen und versuchte, zu retten, was zu retten war. „Ich könnte mich einfach mal unverbindlich unter Ihren Bekannten und in der Baubranche umhören, sagen wir, aus reiner Neugierde. Sollte sich herausstellen – was wir nicht hoffen wollen – dass tatsächlich etwas Ernsteres hinter diesem Scherz steckt, werde ich meine Nachforschungen intensivieren.“ Wolf machte immer noch ein nachdenkliches Gesicht. „Und es ist ja nicht nur der schwarze Lumpen, es gibt ja auch noch diesen Brief, nicht wahr?“

Falkan hoffte, mit diesem Hinweis das Blatt zu seinen Gunsten zu wenden, und er hatte Glück.

„Also schön, einverstanden. Aber seien Sie bitte so diskret wie möglich, ich möchte nicht als paranoid verschrien werden.“

Wolf kritzelte ein paar Namen und Adressen auf einen Schmierzettel, dann wurde die Abmachung per Handschlag besiegelt und Wolf kümmerte sich wieder um Friedrichsens neues Heim, während Falkan seinen Weg zur Dorfmitte fortsetzte.

Kapitel 2

Immer noch erschrak Falkan über die Stille beim Betreten des Ladens. Sie war ungewohnt, denn seit Ulla Liehm ihre Gemischtwarenhandlung verpachtet hatte, schwieg das tönende Ungetüm, das früher die Ankunft von Kunden bis in die hinterste Ecke des Hauses verkündet hatte. Sanfte Ruhe und der Duft von frischgebackenem Brot empfingen ihn. Die neuen Pächter, Alex Raszyk und Jenny Fuchs, hatten den Laden in eine Zweigstelle ihrer Hailerer Bäckerei verwandelt, wodurch sich der Schwerpunkt des Warenangebotes von gemischtem Allerlei zu Backwaren und Torten hin verlagert hatte. Falkans Kaufgewohnheiten waren davon jedoch nicht betroffen. „Zwei Brötchen und die Zeitung, bitte.“

„Also wie immer“, begrüßte ihn Ulla Liehm, die sich nach ihrer Geschäftsaufgabe nicht völlig aufs Rentnerleben hatte verlegen wollen und immer noch zeitweise hinter der Theke von `Alex backt’s stand.

„Ja, wie immer. Man ist jetzt langsam in einem Alter, in dem man Veränderungen mit Argwohn gegenübersteht. Die neue Eingangsglocke gefällt mir übrigens ausnehmend gut.“

Ulla Liehm grinste wissend.

„Ja ja, ich weiß, dass Sie das Ding genervt hat, aber für mich war’s praktisch. Nach diversen Diebstählen ist bei dem Krach niemand mehr unbemerkt an die hier gelagerten Schätze herangekommen.“

Falkan lachte.

„Apropos Schätze. Sie hatten mir doch letztes Jahr diese Kiste mit den Büchern gezeigt, die Sie gerne auf den Flohmarkt geben würden. Haben Sie die noch?“

„Steht auf dem Dachboden. Ich hab’ noch niemand gefunden, der sie haben will.“

„Wenn ich mich recht entsinne, war da auch eine alte Ausgabe der `Schatzinsel´ dabei.“

„Kann sein.“

„Die würde ich Ihnen gerne abkaufen.“

„Wollen Sie etwa von Kriminalist auf Abenteurer umsatteln?“

„Gott bewahre, nein, ich bin für die Südsee nicht gemacht. Ich will nur meine Kindheitserinnerungen ein wenig auffrischen. Es ist bestimmt über vierzig Jahre her, dass ich den Schmöker gelesen habe.“

Wenige Minuten später war Falkan um einen eingestaubten Klassiker und Ulla Liehm um zwei Euro reicher. Falkan wusste selbst nicht, was er sich vom Erwerb des Buches versprach, doch er hatte für seine Recherchen bisher nichts weiter als fünf Namen, die Adressen von zwei Großbaustellen und die Idee eines vor Jahrhunderten verstorbenen Schriftstellers.

Die Woche war vergangen. Friedrichsens Keller hatte Formen angenommen, das Regenwasser der letzten vier Tage sammelte sich in der Baugrube und die Arbeiten waren aufgrund der Wetterlage vorerst eingestellt worden.

Im Gegensatz zum Baugewerbe war Falkans Tätigkeit nicht von der Gunst des Himmels abhängig. Nach der Lektüre der `Schatzinsel´ hatte er damit begonnen, sich diskret im Leben von Leonhard Wolf umzusehen. Die Scheibenwischer des Firebird hatten während dieser Tage die Arbeit ihres Lebens zu verrichten und würden bald durch neue ersetzt werden müssen, doch Falkan fühlte sich nach der langen Zeit des Nichtstuns endlich wieder in seinem Element, während er erste Eindrücke aus dem Leben von Wolfs ehemaligen Kommilitonen sammelte. Am Ende der Reise, die ihn von Altenhaßlau über Geislitz und Lützelhausen bis nach Nidda und Gießen führte, war er zu dem Schluss gekommen, dass es die Gruppe um den schwarzen Fleck im Leben zu etwas gebracht hatte. Dem äußeren Anschein nach konnte keiner von Wolfs Kommilitonen sich über finanzielle Sorgen beklagen. Sie schienen alle ausgesorgt zu haben, zwei hatten eigene Firmen. Bis auf eine etwas dubiose Gesellschaft mit Namen `NMW Consulting´, die Miriam Nolde gehörte, gab es keine Besonderheiten. Und Frau Nolde hatte es immerhin bis zum Doktortitel geschafft.

Alles in allem, so sein Fazit der ersten Woche, gab es keine offensichtlichen Gründe, warum jemand die Ruhe und den Frieden von sechs sorglosen Leben durch einen alten Ulk aus der Vergangenheit durcheinanderbringen sollte. Und das, so sagte sich Falkan am Samstagabend bei einem Glas Rotwein auf seiner Veranda, war genau das, was ihn anspornen sollte. Irgendjemand wusste von der Sache mit dem schwarzen Fleck, und irgendjemand hatte aus unerfindlichen Gründen die alte Tradition wieder aufleben lassen. Wer und warum?

Die untergehende Sonne verzauberte die letzten schmutzigen Regenwolken am Himmel in rötlich schimmernde, flauschige Schafe, die durch das Kinzigtal gen Westen wanderten, um dem schönen Wetter der nächsten Tage Platz zu machen.

„Fritz, morgen werden wir uns mal wieder selbst anstrengen und nicht die Pferdchen unseres Firebird arbeiten lassen.“ Falkan kraulte das raue Fell seines Dackels, der auf den Verandaplatten lag und gemeinsam mit seinem Herrchen die Abendsonne genoss. „Ein paar Kilometer werden uns gut tun, was meinst du?“

Fritz gab durch beredtes Schweigen seine Zustimmung, wodurch der Plan für Sonntag im Kasten war. Als die Sonne glutrot hinter Hailer versank, verkündete leises Schnarchen, dass Falkan die erste Hälfte der lauen Frühlingsnacht im Freien verbringen würde. Das Bild eines versoffenen Seemanns in einer modrigen Spelunke im alten England vor Augen, war er dem dritten Glas Rotwein erlegen.

Die Kirchenuhr schlug neun, als Falkan am nächsten Morgen in voller Wandermontur am Grab seiner Frau Sigi stand. Es war Sonntag. Die Rose wurde von der frühen Sonne beschienen und glänzte in leuchtendem Purpur. Seit ihrem frühen Tod, wenige Wochen nach dem Umzug nach Linsengericht, legte Kurt Falkan als Zeichen, dass er an sie dachte, jede Woche eine Blume auf die kleine Marmorplatte zwischen den anderen Pflanzen. Sigi hatte Blumen gemocht, und Rosen waren ihr besonders ans Herz gewachsen. Sie hatte noch selbst die Rosenstöcke vor der Haustür gepflanzt.

„Es ist wieder mal so weit.“ Falkan warf einen langen Blick zwischen den Birkenzweigen in den Himmel hinauf. „Ein neuer Fall. Obwohl, wenn ich’s recht bedenke, ist es eigentlich gar kein richtiger Fall. Es ist mehr ein Spiel. Wer hat den Schwarzen Peter? Ich habe es nicht angefangen, das Spiel spielt ein anderer, aber ich wurde sozusagen als Joker eingebracht. Du würdest vielleicht sagen, es sei vergeudete Zeit, ich sollte etwas Sinnvolleres machen, und du hast wahrscheinlich recht. Aber woher ein richtiges Verbrechen nehmen, wenn keines greifbar ist? Du weißt, ich brauche Beschäftigung, sonst denke ich zu viel über Dinge nach, die mich traurig machen.“ Falkan senkte seinen Blick auf die Rose zu seinen Füßen. „Und du weißt, was ich damit meine.“

Er stand noch eine Weile schweigend, dann verließ er den in morgendlicher Stille ruhenden Friedhof, band Fritz von der Leine und machte sich auf den Weg. Die wärmende Sonne und das frühlingshafte Gefühl, das alles gut ist, beschleunigten seine Schritte, und keine zwanzig Minuten später saß er auf seiner Lieblingsbank oben am Wald, dort, wo sich der Wingertsweg gabelt und ein Weg zum Wald hinauf und ein anderer nach Eidengesäß hinüber führt. Er nahm das Brötchen aus dem Rucksack, teilte sich mit Fritz die mitgebrachte Fleischwursthälfte und genoss sein Frühstück an der frischen Luft.

„Weißt du, Fritz, es mag ja Leute geben, denen so ein Leben genügt. Ein schöner Tag, lecker Fresschen und nix zu tun außer Dolce Vita und Faulenzen. Aber für uns ist das nichts, was?“ Er beobachtete amüsiert seinen Dackel, der den Wurstbrocken gegen eine Schwadron vorübermarschierender Ameisen verteidigen musste. „Wir müssen immer was zu tun haben, wie diese Ameisen da, und jetzt haben wir wieder was zu tun, endlich. Wir müssen nur sehen, wie wir’s anpacken. Ich schätze mal, auf die diskrete Art, wie sich Herr Wolf das wünscht, geht da nichts. Schließlich hat er sein kleines Problemchen ja selbst schon an seine Studiengenossen hinausposaunt, also betreten wir bei unseren weiteren Ermittlungen nur bereits eingeschlagene Pfade.“ Er kaute eine Weile schweigend, sah dabei grübelnd einer sportlich gekleideten Joggerin hinterher, wie sie ihr nicht vorhandenes Übergewicht den Wingertsweg hinunter zu bekämpfen versuchte, und klopfte sich, als der letzte Wurstzipfel zwischen den Lippen verschwunden war, mit den Händen aufmunternd auf seine Oberschenkel. „Und mit den Männern fangen wir an. Männern traue ich eine solch abenteuerliche Inszenierung wie die mit diesem schwarzen Fleck eher zu, meinst du nicht auch? Die meisten Piraten waren schließlich Männer. Gleich morgen geht’s los.“

Er wartete noch, bis auch Fritz seine Ration verputzt hatte, dann setzten die beiden ihre Tour durch den Gerichtswald fort und waren pünktlich zur Mittagszeit zurück in Altenhaßlau, wo in der Gaststätte `Zum Steines´ ein üppiges Paprikaschnitzel und eine Schale Wasser auf sie warteten.

Leonhard Wolf brüllte gegen den Lärm einer Betonmischmaschine an und überhörte Falkans Gruß. Erst als dieser ihm auf die Schulter tippte, fuhr er wie von der Tarantel gestochen herum. In seinem Gesicht stand der Schreck geschrieben.

„Ich bin’s nur“, entschuldigte Falkan sein unbemerktes Näherkommen. Wolf nickte geistesabwesend und gab noch einige lautstarke Anweisungen an die Maurer, bevor er Falkan am Ärmel aus der Lärmzone führte und ein gefaltetes Papier aus der Tasche holte.

„Ich wollte sowieso gleich zu Ihnen rüberkommen. Das hier hat heute Morgen im Briefkasten gesteckt. Langsam wird mir komisch. Sie haben ja eben gemerkt, dass ich etwas nervös bin.“

„Du wirst die Konsequenzen für dein Handeln tragen“, las Falkan laut und legte den Brief zurück in Wolfs leicht zitternde Hand. „Der Schreiberling beantwortet sich damit seine Frage aus dem ersten Wisch selbst. Das könnte darauf hindeuten, dass er bereits einen festgelegten Plan hat.“ Falkan sah, wie Wolf blass wurde und relativierte seine Aussage sogleich. „Natürlich nur, wenn es sich nicht doch um einen üblen Ulk handelt. Um das herauszufinden, kann ich allerdings die geforderte Diskretion nicht versprechen.“ Wolf nickte eifrig.

„Tun Sie, was Sie für richtig halten. Meinen Segen haben Sie.“ Er wedelte mit dem Drohbrief durch die Luft. „Das hier ist schließlich eine eindeutige Einschüchterung, würde ich sagen. Niemand wird mich für paranoid halten, wenn ich wissen will, wer dafür verantwortlich ist.“

„Ich fände es auch besser, wenn Sie jetzt doch Anzeige gegen Unbekannt erstatten und das auch bekannt machen. Wenn der Schreiber hört, dass die Polizei eingeschaltet ist, bekommt er vielleicht kalte Füße und der Spuk hört auf.“

„Wenn Sie meinen. Friedrichsen kommt ohnehin in zehn Minuten her. Wir müssen noch mal über die Fenster reden, da kann ich die Sache gleich offiziell machen.“

Falkan schob das Fahrrad die letzten steilen Meter bis zum Haus von Klaus Herbold. Es sah zwar nach Regen aus, doch der Firebird machte in letzter Zeit undefinierbare Geräusche während der Fahrt, und Falkan wollte ihn bis zur Klärung von deren Herkunft möglichst schonen.